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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Invocavit

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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am Sonntage Invocavit.

2. Cor. 6, 1–10.
1. Wir ermahnen aber euch, als Mithelfer, daß ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfanget. 2. Denn er spricht: Ich habe dich in der angenehmen Zeit erhöret, und habe dir am Tage des Heils geholfen, Sehet jetzt ist die angenehme Zeit, jetzt ist der Tag des Heils. 3. Laßet uns aber Niemand irgend ein Aergernis geben, auf daß unser Amt nicht verlästert werde. 4. Sondern in allen Dingen laßet uns beweisen als die Diener Gottes, in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöthen, in Aengsten, 5. In Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhren, in Arbeit, in Wachen und Fasten, 6. In Keuschheit, in Erkenntnis, in Langmuth, in Freundlichkeit, in dem heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, 7. In dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, durch Waffen der Gerechtigkeit, zur Rechten und zur Linken; 8. Durch Ehre und Schande, durch böse Gerüchte und gute Gerüchte; als die Verführer, und doch wahrhaftig; 9. Als die Unbekannten, und doch bekannt;| als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht ertödtet; 10. Als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts inne haben, und doch alles haben.

 UNsere Landeskirche feiert an dem heutigen Sonntag ihren jährlichen Bußtag. Im Allgemeinen spricht sie damit einen uralten Gedanken aus, nemlich daß die Passionszeit, wie eine Gedächtniszeit der Leiden JEsu, so auch eine Zeit der Buße sein solle. Was jedoch die Wahl des Tages insonderheit anbetrifft, so würde man in früheren Zeiten überhaupt keinen Sonntag, auch keinen Sonntag der Passionszeit zum Bußtage gemacht haben. Man war früherhin zu sehr gewohnt, jeden Sonntag als einen Bruder des Ostertages mit Freuden zu begehen, und das Gedächtnis der in Christo JEsu auferstandenen Menschheit mit dem Anfang jeder Woche zu verbinden, als daß man die öffentliche Bußandacht des Jahres auf einen Sonntag hätte legen können. Tritt doch sogar in den sonntäglichen Evangelien und Episteln der Passionszeit der Gedanke der Leiden JEsu in einem gewissen Maße zurück, wie ihr dies alle gewis schon oft bemerkt und hie und da einer unter euch es vielleicht auch schon getadelt haben wird, weil er den Sinn und Gedanken der alten Kirche bei der Textwahl nicht recht erkannte. Anstatt des Sonntags feierte man früherhin vom Aschermittwoch an alle Tage mit Ausnahme der Sonntage als Buß- und Fastenzeit; insonderheit aber war der Aschermittwoch, der erste von den vierzig Tagen, durch Bußfeier ausgezeichnet, wie sich denn dieser Tag jedenfalls am besten zum allgemeinen Bußtag eignen würde, wenn man nicht lieber und beßer die vier Quatembertage des Jahres, nach alter, heiliger und wohlbedachter Sitte der Kirche, der Buße weihen wollte. Indes sei das nun wie es will, bei uns ist heute Bußtag. Da die ganze Landeskirche Bußtag hält, ist es beßer uns mit derselben zu gleichem Zwecke zu vereinen, als im Andenken beßerer Zeiten und Ordnungen das zu versäumen, was uns und allen ohne Ausnahme noth thut, nemlich Buße. – Für diesen unsern Bußtag sind uns keine eigenen Texte vorgeschrieben, und wir können daher um so leichter bei den altgewohnten Sonntagstexten bleiben. Am Bußtag gedenkt man der allgemeinen Sündhaftigkeit und der besondern Sünden, welche in der Landeskirche der man angehört, und in der Zeit in welcher man lebt, die herrschenden geworden sind. Mögen nun diese sein welche sie wollen, so wird man doch kaum aus den Evangelien einen paßenderen Text zum Zwecke des Bußtags wählen können, als den von der großen Versuchung Christi, welchen man am Sonntag Invocavit gewohnt ist zu lesen. Nicht blos sieht man da den HErrn JEsus am Ende einer vierzigtägigen Fastenzeit, wie wir am Anfang einer solchen stehen; sondern man sieht Ihn auch in der Versuchung, ja in dämonischen Versuchungen, die für die Lage des HErrn gar nicht unverständig vom Teufel ausgesucht waren. Der zweite Adam in Versuchung: Was für ein Thema, zumal wenn man am Bußtag an die Versuchung und den Fall des ersten Adams und an unsre eignen täglichen Versuchungen denkt. Der zweite Adam in Versuchung ohne Sünde, und in welchen Versuchungen ohne Sünde: Wahrlich auch das ist wie ein greller Lichtstrahl in unsre Sündennacht und sehr geeignet, Scham und Reue für unsern Sündendienst, unsre schnöde Sklaverei zu erwecken. Da gibt es zu predigen, anzuwenden, zu vergleichen und zu deuten genug. Aber auch die Epistel, meine lieben Brüder, schließt sich würdig ans Evangelium an. Zwar handelt sie im Grunde ganz und gar, wie wir das sehen werden, von den Aposteln und Lehrern der Kirche; aber wie das Evangelium Christum in der Versuchung, im Kampfe mit dem Satan und in der Mühseligkeit dieses Kampfes zeigt, so sehen wir in der Epistel neben Ihm Seine Diener einhergehen, gleichfalls in Versuchung, in Kampf, in Mühsal, aber doch auch, wie Christus selbst im Evangelium, in heiliger Bewährung, in Sieg, in Segen. Dabei wird uns ein so reicher Spiegel apostolischer Tugend und Treue vor die Seele gehalten, daß sich auch ohne Bußtag unsre Seele zur Buße, zum bußfertigen Vergleich unsres sündhaften Wandels mit dem der Apostel würde aufgefordert fühlen. Da laßt uns denn um so mehr am Bußtag in diesen Spiegel schauen, und den Geist bitten, von dem alle Weißagung und Schriftauslegung kommt, daß wir nicht schnell vorüber gehen und vergeßen wie wir gestaltet sind, sondern Fleiß anwenden, uns ernstlich über den Spiegel hin bücken, und nicht ablaßen, bis wir nach| den Worten St. Jacobi durchgedrungen sind in das vollkommene Gesetz der Freiheit. Das wäre unsres Bußtags größter Sieg und Segen.

 Indem ich nun zur Betrachtung des Textes komme, bitte ich euch, unsre eben ausgesprochene Absicht auch dann nicht zu vergeßen, wenn es eine Zeit lang scheinen sollte, als hätte ich sie vergeßen. Denn die Auslegung des Textes verlangt es, daß ich nicht allein die Verwandtschaft der Epistel mit dem Evangelium zeige, nicht blos die Apostel und Diener als des HErrn JEsu würdigen Nachfolger in Mühsal und Versuchung kennen, sondern den Text, so wie er daliegt, anschauen lehre. Da kommt denn auch anderes vor, als die Vergleichung der Diener und des HErrn; und dies Andre ist von der Art, daß es erkannt sein muß, wenn man auch nur diese Vergleichung finden soll. Darum ist es sogar für unsern Zweck ganz nöthig und unvermeidlich, den Text kennen zu lernen so wie er vorliegt.

 Dieser Text ist nach seinem engeren Zusammenhang nichts anderes, als eine Ermahnung des Apostels an die Corinther, die Gnade, welche sie empfangen haben, nicht vergeblich oder unnütz sein zu laßen. Die Ermahnung stützt sich aber auf das Wohlverhalten des Apostels und überhaupt der Amtsträger Christi, durch deren Wort und Dienst ihnen die Gnade zugekommen ist. Weil sie solche Lehrer und Seelsorger haben, deshalb sollen sie die Gnade nicht vergeblich sein laßen: es möchte sie sonst bei dem HErrn der Herrlichkeit jede einzelne Tugend ihrer Lehrer und Seelsorger verklagen, ihr Weh und ihre Verdammnis desto größer werden. Es ist ganz richtig, daß das Wort Gottes im Munde der verschiedensten Lehrer, ja auch sehr ungetreuer Lehrer dennoch rein und auch wirksam sein kann. Wenn aber eine Gemeinde Lehrer hat, die nicht blos im Allgemeinen recht predigen und das Amt wohl verwalten, sondern auch durch ihr Beispiel, durch ihre Aufopferung und ihre Begabung die Menschen einladen das Wort aufzunehmen, und es ihnen dadurch auch leicht machen; so ist das noch eine besondere Gnade Gottes, für deren Gebrauch der HErr Verantwortung fordern wird. Je größer der Lehrer ist, desto verdammlicher wird der Jünger, wenn er sein Wort nicht annimmt. Es ist also keineswegs ein gesuchter, weit entlegener, sondern namentlich bei den Corinthern ein sehr nahe liegender und gewaltiger Grund, wenn St. Paulus sagt, sie sollen die empfangene Gnade deshalb nicht an sich vergeblich sein laßen, weil sie ihnen durch so große Lehrer vermittelt ist. Wir dürfen daher auch die Begründung der apostolischen Vermahnung nicht so leichthin übersehen, sondern es ist unsre heilige Pflicht, uns dieselbe anzueignen.

 Indem ich das sage, denke ich mir den Fall, daß irgend jemand unter euch bei meinen Worten das Auge im Texte hat, und mich sodann befremdet und zweifelnd ansieht, weil er zwar die Vermahnung, von der ich rede, aber keine Begründung der Art findet, wie ich sie angebe. Es sollte mich ein solches Befremden, wenn es vorkäme, nicht im mindesten Wunder nehmen; wohl aber müßte ich mich wundern, wenn irgend ein aufmerksamer Leser das Befremden nicht theilen würde, da der deutsche Text allerdings von der wirklich vorhandenen Begründung Pauli gar nichts merken läßt. Die Ermahnung findet sich nemlich in den beiden ersten Versen, die Begründung aber in den acht übrigen. Nach Luthers Uebersetzung jedoch heißt der dritte Vers: „laßt uns niemand irgend ein Aergernis geben, auf daß unser Amt nicht verläßtert werde“, – eine Uebersetzung, bei welcher die Begründung St. Pauli selbst zu einer Vermahnung an die Corinther geworden ist, während der Zusammenhang nach den Worten Pauli ein ganz andrer ist. Der zweite Vers unterbricht nemlich den Zusammenhang, während der dritte sich eng an den ersten anschließt, und ungefähr die folgende Auffassung verlangt: „Als Mitarbeiter vermahnen wir euch aber auch, daß ihr die Gnade Gottes, die ihr empfangen habt, nicht vergeblich sein laßet, da wir euch ja in nichts auch nur den geringsten Anstoß geben (damit das Amt nicht verläßtert werde), sondern uns in allen Stücken als Diener Gottes empfehlen“ u. s. f. Daß dieses der Sinn sei, geht aus dem griechischen Texte so unzweifelig hervor, daß ihr euch dafür leicht Zeugnis genug verschaffen könnt. Es läßt sich auch unsre deutsche Uebersetzung kaum anders erklären, als aus der durch die Uebersetzung der römisch katholischen Kirche herkömmlichen Auffaßung. Nehmen wir also unsern Text so, wie er genommen werden muß, so ergeben sich die oben angedeuteten beiden Theile, eine apostolische Ermahnung die empfangene Gnade nicht vergeblich sein zu laßen, und eine Begründung| derselben durch Hinweisung auf die Größe der Lehrer, welche die Corinther hatten.
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 Die Begründung überwiegt die Ermahnung selbst durch die herrliche Ausführlichkeit ihres Inhalts und man könnte sich, zumal wenn man unsre Absicht hat, veranlaßt sehen, sich ganz allein an die Begründung zu halten, die Ermahnung Pauli aber als einen bloßen Eingang zu derselben zu behandeln. Indes haben wir dazu doch die Erlaubnis nicht, am allerwenigsten aber heute am ersten Sonntag in der vierzigtägigen Fastenzeit. Die alte Kirche hat bei ihrer Wahl des heutigen apostolischen Textes wohl schwerlich allein auf die Vergleichung gesehen, welche sich nach unsrem Eingang zwischen JEsus Christus und Seinen versuchten Aposteln und Dienern anstellen läßt. Sie hat die ersten beiden Verse des Textes, die Ermahnung Pauli, recht im Sinne ihrer Passionsfeier aufgefaßt. Die Passionsfeier der alten Zeit ist allerdings von der unsrigen vielfach verschieden, aber sie ist tief, ernst, reich und erstreckt sich auf alle die vierzig Tage, deren jeder zu einem Buß- und Bettag wurde; jeder hatte seine eignen Texte, jeder seine kirchliche Feier. Die vierzig Tage wurden durch Wort und Sacrament zu einer reichen Gnadenzeit. Auch war das Altertum von der Herrlichkeit und dem Segen seiner Quadragesima selbst so ergriffen, daß es kühn alle Heiden heraus forderte, etwas von der Art in allen andern Religionen aufzuzeigen. Es ist daher auch schwerlich eine bloße Wahrscheinlichkeit, wenn man behauptet, die uralte Kirche habe bei den zwei ersten Versen des Textes ganz eigentlich an die Gnade der Passionsfeier und an die Passionszeit gedacht. „Als Gottes Mitarbeiter ermahnen wir euch, die empfangene Gnade nicht vergeblich sein zu laßen“, sagt der Apostel; die Kirche aber bei ihrer Anwendung des Textes auf den heutigen Tag, denkt sich unter der Gnade, die nicht vergeblich sein und bleiben soll, zunächst nichts anderes, als die reiche Gnade ihrer Passionsfeier, in welcher sich alle Liebe Gottes in Christo JEsu der Gemeinde offenbarte und an’s Herz legte. Und wenn der Apostel im zweiten Verse den ersten weiter ausführt, und die Zeit beachten lehrt, indem er spricht: „Denn er sagt (Jes. 49, 8): In der angenehmen Zeit habe ich dich erhöret, und am Tage des Heiles habe ich dir geholfen; sieh nun ist die wohl angenehme Zeit, sieh nun ist ein Tag des Heils“; so deutet auch diesen Vers die textwählende Kirche auf die Passionszeit. St. Paulus, wie der Prophet Jesaias verstehen unter der angenehmen Zeit, unter dem Tage des Heils die Fülle der Zeit, die Zeit, da die Weißagung hinausgeht und JEsus Christus alle Hilfe bringt. Die Kirche aber bei ihrer Textwahl sieht in der angenehmen Zeit zunächst nur das Stückchen Zeit, das jedes christliche Geschlecht nach Gottes Willen zu seinem Heile zu durchleben hat, von dieser Lebenszeit aber wieder ganz besonders die feierliche Passionszeit: diese heißt die angenehme Zeit und der Tag des Heils, und die Kirche wollte mit den zwei ersten Versen unsres Textes, deren allgemeinerer Sinn durchaus nicht bestritten werden sollte, vor allem andern nur recht mütterlich auf alle die Gnade aufmerksam machen, welche in der reichen Feier dargeboten wurde, und die Christen ermahnen, diese Gnadenzeit recht ernstlich zu benutzen. – zugleich liegt in der Anwendung, die von dem Propheten Jesaia 49, 8 gemacht wird, eine Hinweisung auf die Nothwendigkeit des Gebetes, wenn man den Segen des Wortes und Sacramentes recht empfangen will. Gott hat in der angenehmen Zeit erhört, und am Tag des Heils geholfen. Da war also eine Hilfe nöthig gewesen und erfleht worden, und so begegnet man in allen Fällen der Hilfe und Heimsuchung am besten mit einem betenden Geist und einem stehenden Herzen. So viel Gnade es regne und so viel Kräfte der zukünftigen Welt uns überfluthen mögen, wir bleiben doch für ihren großen Segen verschloßen, wie Steine und Felsen und tragen keine Frucht, und es bleibt alle Gnade Gottes vergeblich, es sei denn, daß unser Herz seine Noth bußfertig fühle und betend sich zum innerlichen Empfang des göttlichen Segens bereite. Die geistliche Bereitung ist ein großes Stück der Gottseligkeit, die Gottseligkeit selbst aber hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens. – Damit habe ich euch, meine lieben Brüder, wie ich meine, die passionsmäßige Auffaßung der zwei ersten Textesverse gezeigt, und ich dürfte wohl dabei ohne Sorgen sein, ob euch in meinen Worten der allgemeinere Sinn St. Pauli nicht etwa mehr verborgen als enthüllt worden ist. Wer seine Zeit und immer am meisten jeden Theil von ihr, in welchem er gerade lebt,| als eine Gnadenzeit und als einen Tag des Heils erkennt, der steht mit dem Apostel in keinem Widerspruch, wenn derselbe die ganze neutestamentliche Zeit eine Gnadenzeit und einen Tag des Heiles nennt. Es ist eine allgemeine Regel, daß vom Theile gilt, was vom Ganzen gesagt ist.

 Dennoch aber haben wir nach Darlegung der altkirchlichen Deutung mit unsern Gedanken zu der allgemeineren Auffaßung des Apostels zurück zu kehren, wenn uns der zweite Theil des Textes in seiner begründenden Kraft und in seinem Zusammenhange recht klar werden soll. Vergeßen wir also nicht, daß unsre Zeit eine Gnadenzeit wird durch Wort und Sakrament, ein Tag der Erhörung, der Hilfe und des Heils durch die gütigen Kräfte des göttlichen Worts und Sacraments, die Kräfte der zukünftigen Welt, – daß wir die Gnade vergeblich empfangen, wenn wir Wort, Sacrament und Gotteskraft auf uns nicht wirken laßen, und daß wir deshalb um so größere Verantwortung haben, je vortrefflicher die Diener und Haushalter Gottes sind, durch welche uns die himmlischen Schätze und Gnaden mitgetheilt werden. Hier stehen wir nun wieder beim zweiten Theile unsres Textes und schauen mit einander die apostolische Größe St. Pauli an, welche nicht allein die Corinther, sondern auch wir verachten, wenn wir die von ihm uns dargebotenen himmlischen Schätze und Gnadengüter umsonst empfangen.

 Die ganze Stelle, zu deren Betrachtung wir uns jetzt anschicken, hat eine gewisse Aehnlichkeit mit dem epistolischen Texte des Sonntags Sexagesima. Auch dort, also nach der Reihe unsrer Lectionen vor 14 Tagen, hatte der Apostel Paulus Ursache gefunden seine Amtsführung und seinen Wandel den Corinthern vorzustellen. Manches Wort, das wir dort gelesen haben, erinnert stark an Worte der heutigen Epistel. Es kann uns das nur um so lieber sein. Was St. Paulus mehrere Male geschrieben hat, dürfen wir auch mehrfach lesen und betrachten; es wird uns auch mehrfach nöthig sein. Wir erinnern uns dabei an die eigenen Worte des Apostels, die wir einmal in seinen Schriften lesen: „Daß ich euch immer einerlei schreibe, verdrießt mich nicht und macht euch desto gewisser.“ – Die Darstellung des apostolischen Wandels Pauli hat in unsrem Texte zuerst ein allgemeines Thema, oder wenn man lieber will, einen allgemeinen Eingang und verläuft dann selbst in drei Abtheilungen. Die erste Abtheilung legt uns die Geduld Pauli vor, die zweite seine Amtstugenden und Gaben, die dritte sein Verhalten gegenüber den Gerüchten, die ihn so wenig als andre Lehrer verschonten.

 In dem allgemeinen Eingang sagt er, seine Ermahnung an die Gemeinde zu Corinth solle um so gewisser aufgenommen werden, weil sie von ihm käme, von ihm, der ihnen mit nichts irgend einen Anstoß gebe, immer darüber wache, daß auf sein Amt und seinen Dienst unter ihnen kein Flecken oder gerechter Tadel falle, dagegen aber sich ihnen durch seinen ganzen Wandel und sein Verhalten als Diener Gottes beweise. Bei der Lehre des heiligen Paulus nicht blos über das sittliche Verderben des menschlichen Herzens, sondern auch über die Schwierigkeit der Heiligung, wie er sie zum Beispiel im 7. Kapitel an die Römer vorlegt, erscheint eine Selbstbeurtheilung wie die in unserm Texte auf den ersten Augenblick schier wie ein Widerspruch. Während er im 7. Kapitel an die Römer über die Macht des Sündengesetzes in seinen Gliedern klagt, sich einen elenden Menschen nennt und voll Sehnsucht nach Erlösung von dem Todesleibe ist, spricht er hier und anderwärts in den stärksten Ausdrücken, die nicht im mindesten den Reden Hiobs von seiner Gerechtigkeit nachstehen, über seine unanstößige, unsträfliche, untadeliche, eines Dieners Gottes völlig würdige Amts- und Lebensführung. Das thut er, während er doch wißen kann, daß die lauernden Ohren seiner corinthischen Feinde begierig auf alles lauschen werden, was sie ihm zum Nachtheil wenden und drehen können. Er muß also nicht gefürchtet haben, durch so verschiedene Aeußerungen ihnen eine willkommne Gelegenheit zur Verdrehung und Verfälschung seiner Meinung und zur Lästerung zu geben. Sein Selbstgericht muß so gerecht gewesen sein, daß es der corinthischen Gemeinde und selbst seinen Feinden ins Gewißen fallen und sie zu Zeugen der Wahrheit auffordern konnte. Wenn aber das der Fall ist, so ist allerdings die apostolische Würde St. Pauli schon durch diesen allgemeinen Eingang so ins Licht gesetzt, daß sie seiner Vermahnung an die Corinther großen Nachdruck geben mußte. Aber nicht blos das, sondern es ist alsdann ein helles Zeugnis von der Macht der Gnade gegeben, von ihrem heiligenden Einfluß auf| den Menschen und von dem wichtigen Satze, daß neben einer hohen Stufe sittlicher Vollendung, ja in der innersten Mitte derselben, das strengste, bußfertigste Selbstgericht, wie es sich Röm. 7 ausspricht, einher gehen kann. Die Gnade Gottes wirkt also nicht blos rechtfertigend, sondern wirklich heiligend auf den Christen; Heiligung und Tugend sind keine leeren Namen, und es liegt darin ein großer Trost für die Kinder der Kirche, die dann weder andre bis ins Grab nur im Stande zunehmender Sünde und Sündengefangenschaft erkennen, noch auch von sich selbst die Hoffnung der Heiligung und Beßerung aufgeben müßen. Es kann, es soll, es wird anders, es wird beßer werden, und das zunehmende Gefühl der Sünde ist nicht ein Gegenbeweis, sondern ein Beweis für den Satz. Ja man kann geradezu sagen und wiederholen, daß der Gradmeßer der Sündenerkenntnis zugleich der Gradmeßer der Heiligung sei, und daß der Christ, je heiliger und höher sich sein Gang hebt, innerlich desto zerschlagener werde. Man darf auch nicht einmal sagen, daß bei den Gläubigen doch der Fall nicht vorkomme, wie bei St. Paulo, daß sie neben dem tiefsten Sündengefühl, doch auch eine so ruhige und zuversichtliche Einsicht in den Fortschritt ihrer Heiligung und den Stand ihrer Vollendung hätten. Es kann tausend Christen geben, an denen andre nur immer Fortschritt sehen, während sie selbst immer von Rückschritt reden und ihnen der Stand ihrer Heiligung verschloßen ist. Gott kann eine heilige Absicht haben, warum er vielen die Erkenntnis ihrer Heiligung und ihres Fortschritts versagt. Dagegen aber kann es auch jetzt noch Menschen geben und gibt sie auch, die nach zweien Seiten hin völlig klar sehen, ihr Verderben immer tiefer erkennen und dennoch ihren Feinden gegenüber den vollen Trost St. Pauli haben, niemand Anstoß gegeben, unsträflich und würdiglich als Diener Gottes gewandelt zu haben. Nicht einem jeden ist diese Erkenntnisstufe verliehen, wer sie aber hat, der kann in Wahrheit und Demuth so von sich reden, wie St. Paulus und ist ein Wunder in den eignen und in fremden Augen, eben weil sich solche Gegensätze friedlich in ihm vereinen. –
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 Nachdem wir den Wandel St. Pauli im Allgemeinen betrachtet haben, kommen wir zum ersten Theile der Ausführung im Einzelnen. Alles, was in diesem ersten Theile aufgezählt ist, faßt sich in den Namen derjenigen Tugend zusammen, die zuerst genannt wird. St. Paulus sagt nemlich: „Wir empfehlen uns als Diener Gottes in allen Stücken, in vieler Geduld“; und nachdem er auf diese Weise eingeleitet, nennt er all das Unglück und darnach die Hauptsachen der Mühseligkeiten, unter welchen sich seine Geduld bewährte. Bei Aufzählung des Ungemachs und Unglücks steigt er wie an einer Leiter empor und zeigt uns immer eine größere Noth nach der kleineren. An erster Stelle nennt er die äußeren Verfolgungen, an der zweiten die schweren bedrängten Umstände, die Nöthen, welche aus den Verfolgungen kommen, an der dritten die Aengsten, welche aus Verfolgung für das Herz und innere Befinden kommen. Dann geht er weiter und zeigt wie die Verfolgung zu ihrem Ziele schreitet, Noth und Angst nicht ohne Ursache ist, er redet von den Schlägen, die sein Leib um Christi willen auszuhalten hat, sodann von den Gefängnissen, in die er geführt worden ist, und endlich von den Schrecken des Aufruhrs, der sich so manchmal um seinet- und seines Evangeliums willen erhoben hat. Damit beschließt er die Reihe aller der Unglücksfälle, die ihm schon um Christi willen zugekommen sind, und es ist, meine lieben Brüder, kein Zweifel, daß wir diese Reihe aus der Epistel des Sonntags Sexagesima noch vermehren können. Hierauf nennt er noch drei besondere Mühseligkeiten, deren eine jede ihm oft genug in Erfahrung gekommen ist. Er nennt nemlich: mühselige Arbeit, oftmaliges Wachen und Fasten. In allen diesen schweren und lastenden Fällen des Lebens schreibt sich der Apostel Geduld zu. So wie ein Lastthier stille steht und sich beladen läßt mit dieser und jener Last, ohne auch nur Miene zu machen, sich derselben zu entziehen; so wie es daher geht, all seine Kräfte anstrengt um sich aufrecht zu halten und die Last fortzubewegen, der Aufgabe nicht ungetreu wird, die ihm gestellt ist: so entzieht sich der Apostel allen den Leiden nicht, geht ihnen alle Tage wieder mit Ruhe und Freudigkeit entgegen, bleibt aufrecht, wird nicht laß noch müde, so sehr sich auch Hände und Kniee nach Ruhe, die Augen nach Schlaf, der Leib nach Speise, die Seele nach einer Zeit der Erleichterung und Erquickung sehnt. Es laßen sich wohl noch viele andre Proben der Geduld denken, aber es läßt sich auch nicht leugnen, daß die angeführte Reihe eine ausgesuchte, auserwählte ist, eine hohe Schule der| Geduld, und daß derjenige groß im Dulden geworden sein muß, der sich in dieser Reihe geübt, und eine Meisterschaft errungen hat. Auch muß es eine große Sache sein, um deren willen man sich all dem hingeben soll, einmal und immer aufs Neue. Und wenn nun St. Paulus um der Ausrichtung seines Amtes willen diese Lasten immer aufs Neue sich auferlegen läßt, und diese Mühseligkeiten erduldet, da er sich ihnen doch entziehen konnte, wenn er Beruf und Predigt ließ, so ist es am Tage, was für ein großer und treuer Diener JEsu er ist, und wie er durch so viele Leiden und große Geduld den Gemeinden hätte empfohlen werden sollen.
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 Bei der Vorlegung der Amtstugenden und Gaben des Apostels steht an der Spitze das griechische Wort, für welches unsre Uebersetzung das deutsche Wort „Keuschheit“ setzt, obwohl dies Wort zu eng und kurz ist für den Umfang des griechischen Wortes, welches keineswegs allein eine Reinigung der Seele in geschlechtlichen Dingen, sondern überhaupt eine Heiligung und Reinigung aller Begier der Seele andeutet, und etwa mit Reinheit oder ungefälschter Lauterkeit der Seele wiedergegeben werden könnte. Prüfen wir uns nun beim Ueberblick aller der Tugenden und Gaben, die St. Paulus nennt, ob auch wir die göttliche Lauterkeit und Reinheit der Begier vorne an als Chorführerin, als Grundtugend, ja als Bedingungen der übrigen gestellt haben würden, so werden wir vielleicht in eine Verlegenheit kommen. Wir machen gern eine andre Ordnung. Sicherlich würden wir den heiligen Geist, der erst an fünfter Stelle steht, an die erste, die Erkenntnis an die zweite, dann vielleicht die heilige Lauterkeit an die dritte Stelle gebracht haben. Nun aber sehen wir zwar die Erkenntnis auch an zweiter Stelle, an der ersten aber die Lauterkeit des Willens und der Begier. Diese Stellung, die an und für sich selber richtig sein muß, weil ja St. Paulus den Geist des HErrn hat, rechtfertigt sich bei einiger Ueberlegung schnell auch vor unserm Verstande. Ohne Lauterkeit der Begier gibt es in göttlichen und geistlichen Dingen keine rechte Erkenntnis. Diese Erkenntnis ist zu sehr ein Stück des Lebens, als daß sie von andern los getrennt werden könnte. Es gibt schon eine Verstandeserkenntnis und eine Gelehrsamkeit, die ohne Tugend entsteht und wächst und groß wird; wie viele besitzen sie und verzichten in der Ruhe, die sie darauf liegend halten, auf Beßeres und Größeres. Aber dies fahle, todte Licht des menschlichen Verstandes ist von dem göttlichen Lichte der Seelen, welches auf dem Wege unsrer christlichen Erkenntnis und Vollendung „Erkenntnis“ heißt, sehr verschieden. Keine wahre Erkenntnis ohne ein lauteres Herz; Finsternis ist im Innern, so lang der Wille nicht entschieden zum Guten sich neigt. Es ist eine Thatsache, die kein Erfahrner leugnet, daß oft eine lautere Willenskraft vorhanden ist, während ihr doch noch Licht, Weg und Ziel mangelt. Daher geht allerdings unser Weg von der Lauterkeit zur Erkenntnis. An der dritten Stelle bringt uns dann der Apostel Langmuth, an der vierten Freundlichkeit. Wie in der vorigen Epistel von der Liebe gesagt wird, sie sei erstens langmüthig, zweitens aber freundlich; so ist auch hier die Freundlichkeit nach der Langmuth gesetzt. Was wäre auch eine Freundlichkeit ohne Langmuth? Kann man eine Tugend hoch anschlagen, die keine Dauer hat, sondern schnell wieder dahinstirbt; kann jemand die bleibende andauernde Tugend der Freundlichkeit besitzen, ohne die Macht in seiner Seele zu haben, vermöge deren man alle Schwachheit des Nächsten und jedes Hindernis der Liebe überwindet? Wahrlich ein guter langer Muth, ein ausdauerndes unermüdliches Wohlwollen bedarf derjenige, bei welchem die Freundlichkeit nicht pur Aprilwetter und vergängliche Laune sein soll. Die geistliche Tugend der Langmüthigkeit aber, die Mutter der Freundlichkeit, verdankt ihr ganzes Leben dem lauteren Willen und der denselben begleitenden klaren Einsicht. Bei unlauteren, falschen Herzen, so wie bei dunkler und wandelbarer Erkenntnis gibts weder Langmuth noch wahre Freundlichkeit, du müßtest denn die angeborenen temperamentlichen Tugenden gleichen Namens mit den geistlichen Tugenden vermengen. Nunmehr folgt, an fünfter Stelle der heilige Geist. Es versteht sich von selbst, daß unter dem heiligen Geiste hier an dieser Stelle nicht im Allgemeinen die dritte Person der Gottheit gemeint sein kann. Wie würde auch der, welcher ein Quell und Meister alles Guten ist, in irgend einer Reihe die fünfte Stelle einnehmen können? Es muß hier unter dem Namen „heiliger Geist“ irgend etwas, irgend eine Wirkung des vorhandenen heiligen Geistes gemeint sein, die an fünfter Stelle stehen kann, die zu dem bereits Angeführten in einem Verhältnis des Fortschritts,| zu dem aber was nachfolgt, im Verhältnis der Ursache zur Wirkung steht. So ist es auch. Hat der heilige Geist lauteren Willen, Licht der Seelen, Langmuth und Freundlichkeit geschenkt, so mehrt sich nun das Leben; der Geist des HErrn, der zuvor zündete und den Anfang machte, tritt jetzt mit Flammen hervor ins Bewußtsein der Seele, und wie ein sprühender, feuriger Quell, so daß sich die vorgenannten Erstlingstugenden wiederholen und zu einer neuen Stufe der Verklärung gefördert werden. Da wird also durch die neue Kraft und Wirkung des heiligen Geistes aus der Lauterkeit und heiligen Stille der Begier die ungefälschte Liebe, die lautere, brennende Begier, die nach dem Heile der Brüder hungert und dürstet; aus der Erkenntnis wird nun die Offenbarung, das Wort der Wahrheit, und was zuvor eine schwache Erkenntnis war, wird nun zur göttlichen Gewisheit. An die Stelle der Langmuth tritt nun die Kraft des HErrn, und aus der Freundlichkeit hervor hebt sich eine gewaffnete Gerechtigkeit, welche rechts und links den Feinden trotzt, und ihnen ein Zeugnis wird, daß hie ist Immanuel. So sind also zweimal vier Gaben genannt, die je nach Zahl und Reihe mit einander in inniger Verbindung stehen, und von deren erstem Vier der heilige Geist mit neuer zuvor nicht vorhanden gewesener Ergießung und Erfahrung den Weg zum zweiten bahnt. Man lese einmal in stiller eigner Betrachtung das erste Quadrat der Tugenden; man sehe dann wie im zweiten sehr verwandten, aus jeder vorhandenen Tugend sich eine große Gabe entwickelt, die selbst nicht ohne Tugend ist. Man denke sich, daß der Apostel sich selbst alle diese Tugenden und Gaben zueignet, zueignen darf, und gegenüber seinen Feinden zueignen muß; man laße sich nicht wieder aufs Neue von dem peinigenden Gedanken irren, als habe der Apostel durch Aufzählung dieser Tugenden sein Herz befleckt, gesündigt. Man laße ihm seine besondere Kunst sagen zu können und zu dürfen, was zu sagen wir armen Leute gar nicht in die Versuchung kommen, und es wird auch ohne Verbindung mit den bereits aufgezählten Tugenden der Geduld, jedermann den Gedanken faßen müßen, daß St. Paulus ein hehrer, heiliger Mann gewesen sein müße, von welchem man nur nicht begreifen kann, wie Christenmenschen jener Zeiten an ihm irre werden und sich von ihm abwenden konnten. Erkennen wir nun aber vollends die Geduld mit ihren Tugenden und die Tugenden des sechsten und siebenten Verses als Eigentum Eines Mannes und Apostels, so muß uns derselbe wie zu einer leuchtenden Sonne werden, vor welcher sich ein jeder von uns verbergen muß, wie die Nachteule, wenn der Morgen kommt. So außerordentlich ist die Aufzählung der Tugenden Pauli, daß man es gar nicht verantwortlich finden könnte, wenn er uns hätte dies sein Bildnis vorenthalten wollen und doch wird dies erst recht vollständig durch die letzten Verse unsrer Epistel.
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 In diesen letzten Versen erscheint der Held der Geduld, der tugend- und gabenreiche Apostel in der zwiespältigen Beurtheilung der Menschenkinder. So oft sagt man von einem Menschen, den man recht hoch stellen will: „Es ist nur Eine Stimme über ihn, der Mann genießt eine allgemeine Anerkennung“. Die das sagen, pflegen zu übertreiben. Im Bewußtsein ihrer eignen, willigen Anerkennung des Mannes, von dem etwa die Rede ist, vergeßen sie die Feinde, die er hat und alle die übrigen, die in keiner Verbindung mit ihm stehen, ihn nur aus der Ferne sehen, ein leichtsinniges, gleichgiltiges, wegwerfendes oder sonst irgend ein Urtheil haben, das mit dem ihrigen nicht stimmt. Ich weiß überhaupt nur einen einzigen Menschen zu nennen, über welchen nur Eine Stimme gewesen ist; diese Stimme aber war keine Stimme der allgemeinen Anerkennung, sondern eher des Gegentheils. Der Mensch, den ich meine, heißt JEsus, die Uebereinstimmung des Himmels, der Hölle und der Welt tritt am Charfreitag hervor, und ist eine Uebereinstimmung darin, daß er sterben soll, eine Uebereinstimmung, die auf den verschiedensten, ja entgegengesetztesten Gründen beruhte, und welche doch auch nicht einmal eine völlig allgemeine war, weil es ja doch auch einige Menschen gab, die den Rath Gottes nicht verstanden und zu dem Urtheil keineswegs Ja und Amen sagten. Eine Uebereinstimmung des Lobes und der Anerkennung aber hat es nie gegeben, und wird es nie geben, so gewis die Einsicht der Menschen eine verschiedene ist und bleibt, und so gewis es bis ans Ende einen Gegensatz der Guten und Bösen geben wird. Fromme Menschen kommen aus Mangel gleicher Einsicht sehr oft zu keiner Uebereinstimmung des Urtheils, die Welt aber und die Kirche können niemals einig sein und werden, wie der Apostel noch in unserm Texte im 15. Verse sagt: „Was für eine Uebereinstimmung| soll zwischen Christus und Belial sein, oder was für Theil hat der Gläubige mit dem Ungläubigen“? Ist einer ein Kind Belials, so lobt ihn die ganze Kirche nicht, ist er aber ein Kind Gottes, oder gar wie St. Paulus ein strahlender Diener und Amtsträger Christi, so schäumt der ganze Abgrund und seine Synagoge wider ihn: das ist so, und darf nicht anders sein. Unerfahrene Neulinge im Christentum träumen sichs anders, um so mehr als sie ja wißen und fühlen, wie sie beßer werden. Kommt ihnen nun das Gegentheil zu Handen, so zuckt der Mundwinkel, bittre Zähren der Enttäuschung und tiefer Kränkung rinnen über die Wangen; manchen werden auch kleine Erfahrungen dieser Art so sehr zum Aergernis, daß sie an ihrem ganzen Christenwege irre werden. So haben sies ja nicht gemeint; wenns ihnen so geht, und sie so verkehrte Urtheile hinnehmen sollen, so scheints als wäre der Weg nicht recht, sie haben sich auf alles gefaßt gemacht, aber Anerkennung, Anerkennung, Anerkennung hat der eitle Thor im Herzen doch gehofft; und nun geht es ihm so! Sie wollen das Gute und streben darnach; da schiebt man ihnen böse Absichten unter, da werden sie verläumdet, Lügen werden von ihnen ausgesprengt, und zum Schrecken sehen sie, daß diese auch zum Theil geglaubt werden, nicht blos von Bösen, sondern gar von ihren Brüdern und Mitchristen. Da gehe nun einer hin und tröste solch ein eitles, hochmüthiges, brechendes Herz in seiner Aufregung und fieberhaften Wallung! Da wird man bald sehen, daß man eher die Fiebergluth der Phantasien eines Kranken, als das Hochmuth- und Eitelkeitsfieber eines Herzens zur Ruhe bringen kann, das nach Gottes Meinung auf diesem Wege seiner selbst los werden soll, nach seiner eignen Meinung aber diese Lection am wenigsten bedurft hätte. Dazu kommt noch die Macht angeerbter Vorurtheile und Sprichwörter. Die Sprichwörter der Alten gelten bei vielen wie eine Art von göttlicher Offenbarung, auf sie bezieht man selbst ein Sprichwort, nemlich: daß des Volkes Stimme Gottes Stimme sei. Und doch, was sind Sprichwörter? Erfahrungssätze und Witzworte, die in einem gewissen Kreise ihre Wahrheit und Geltung haben, aber zu Lügen werden, so wie man sie auf Alles und auf alle Fälle anwenden will. Zum Sprichwort gehört eine Grenze und überdies dazu ein Schlüßel, und wer das nicht beobachtet, kann sich selbst mit den besten Sprüchen, ja mit den Sprüchen Salomonis und Christi die Seele verwunden, wie Kinder mit dem Messer die Haut. Das gilt denn auch für die Zeit der Verläumdung und des Urtheils. Ein Gerücht wird ausgebreitet, ein Geschrei erhebt sich; der arme Mensch, den es betrifft, weiß nicht, wie ihm geschieht; Traurigkeit befällt ihn, und vollends verwirrt wird er, wenn ihn ein Sprichwort umschwärmt, wie im Sommer eine stechende Mücke. Das Sprichwort, das ich meine, ist so alt, daß es schon aus dem lateinischen stammt; es heißt: „Es bleibt immer etwas davon hängen“, oder: „Etwas ist immer daran“. Ist nun aber irgend ein Sprichwort übertrieben, misgeformt und misrathen, so ist es das. Es ist nicht wahr, daß immer etwas an jedem Gerüchte ist; der Teufel liebt es zwar, seinen Lügen durch Beimischung von ein wenig Wahrheit Glauben zu verschaffen, aber er ist auch frech genug, ein Gerücht geradezu aus der Luft zu greifen, und rein zu erdichten, denn er ist ein Lügner von Anfang. Kein größerer Mann seit der Apostel Zeiten, kein ernsterer Heiliger und verehrungswürdigerer Wohlthäter der Kirche, als der Patriarch Athanasius von Alexandrien. Den haben seine Feinde und zwar Christen, Lehrer, Bischöffe auf öffentlicher Kirchenversammlung angeklagt, er habe einem die Hand abgehauen, und mit einer Buhldirne gehurt. Hätte man denken sollen, daß so etwas in der Christenheit ohne Grund gesagt werden dürfte? Und doch wurde es gesagt. Es war so aus der Luft gegriffen, daß Athanasius den versammelten Bischöffen die Hand, welche er abgehauen haben, und den Menschen, welchem ers gethan haben sollte, lebendig vorzeigen konnte; daß er ihnen den handgreiflichen Beweis zu liefern vermochte, daß ihn die Buhldirne, die zur Stelle war, sogar nie gesehen hatte, und ihn weder kannte noch erkannte. Dennoch konnte man so etwas gegen den Mann aussprengen, auf deßen zwei offnen Augen damals die reine Lehre und die ganze Kirche stand. Wir brauchen aber gar keine Beispiele aus der Kirchengeschichte aufzuführen. Man sehe ganz einfach in den heutigen Text und sammele die Namen zusammen, mit denen man in der apostolischen Zeit Apostel zu betiteln wagte. Man nannte sie „Verführer, unbedeutende, unbekannte obscure Leute, dem Tod geweihte, Sterbende, die man| nicht leben laßen sollte, Leute, die immer in der Strafe seien und in der Züchtigung, die ein trauriges Leben hätten, und des Jammers nicht los würden, elende Bettler, die sich in der Welt herum trieben, nichts hätten, und nichts zu Wege brächten“. Allerdings sind manche von diesen Namen an und für sich gar nicht ehrenrührig. So z. B. besaßen ja die Apostel wirklich nichts, und sollten nach Christi Sinn nichts haben. Aber das ist eben auch eine von den satanischen Künsten, einem unverfänglichen wahren Worte einen solchen Anstrich geben, daß es zu einem Vorwurf wird und wie eine Beleidigung aussieht. Es gehört auch wirklich zu den spitzigsten Stacheln der Seele, wenn sie mit der Wahrheit geschimpft wird. Das kann aber alles gar nicht anders sein. „Haben sie den Hausvater Beelzebub geheißen, was werden sie den Hausgenoßen thun.“ Ein Kind Gottes und ein Knecht Christi geben keinerlei Anstoß; sie suchen nichts mehr zu verhüten, als daß Amt und Bekenntnis verlästert werde. Gelingt es aber bei allem Fleiße nicht, so lernen sie das Uebel tragen, gewinnen eine schöne Fertigkeit darinnen, und bringen es am Ende so weit, daß sie sichs zur Ehre rechnen, ja daß sie sich freuen und jauchzen, wenn sie gewürdigt werden, um des Namen JEsu und um der Gerechtigkeit willen Schmach zu leiden. Frei und ungehudelt von der elenden Empfindlichkeit des eitlen alten Menschen, fühlen sie keine Schmerzen mehr bei den Stichen der Welt, wißen aus Lügen und Verleumdungen den Honig süßer Buße zu saugen, und gehen unter dem Koth und den Steinwürfen Simeis nicht blos mit David bekennend und reuend, sondern nach Christi Worten fröhlich und lustig über den Oelberg. „Freuet euch und jauchzt, spricht der HErr Matth. 5, 11. 12, wenn man euch schimpft und verfolgt und allerlei Böses wider euch sagt mit Lügen um meinetwillen; so verfolgten sie die Propheten vor euch auch, euer Lohn ist groß im Himmel.“ So sagt Christus, und St. Paulus ist ein gereifter, erfahrener Jünger in Christi Schule. Der hats gelernt, im Triumphton durch den Hagel feuriger Pfeile zu gehen. Es braucht dafür kein Zeugnis weiter, seine Worte im Texte singen es mehr als sie es sagen; denn das ist ein Gesang der verfolgten Knechte Gottes auf Erden, den man alternirend beten und singen kann: „Durch Ehre und Schande, durch böse Gerüchte und gute Gerüchte, als Verführer und doch wahrhaftig, als unbekannte und doch weit berühmt, als Sterbende und siehe, wir leben, als Gezüchtigte und doch mit nichten ertödtet, als Traurige und doch immer voll Freuden, als Bettler, die aber viele reich machen, als die da nichts haben und doch am Ende alles besitzen.“ So geht man durch Dornen, durch Hecken, durch Wespen, durch Zungen, durch Ruthen; so geht man zur Ruh; so eilt man auf der Laufbahn zum Kleinod, so singt, so jauchzt, so triumphirt man, wenn man mit letzter Anstrengung das letzte Stück des Gipfels emporklimmt, das zu den Bergen und den Freuden der Kinder Gottes führt. Und das ist St. Pauli hehrer, preiswürdiger Gang und Weg.
 Es ist eine Gewohnheit der Menschen alles auf sich zu beziehen, und bei einer jeden Aeußerung, die über andere fällt, eine Vergleichung zu machen zwischen der Person, von welcher die Rede ist, und sich selbst. Unzählige Male kann man aus dem Munde derer, mit denen man umgeht, hören: „Ich möchte das nicht, bei mir ist es anders, ich bin nicht so u. s. w.“ Zwar könnte schon eine etwas größere Bildung von dieser Vergleichung aller Dinge mit sich, dieser Einmengung der eignen Person in alle Gespräche, befreien; allein wenn es gegen die Selbstsucht angeht, hat die Bildung schwere Arbeit, und wie in der Fabel die Eselsohren über die Löwenhaut, so ragt das eitle geckenhafte Ich, auch bei sonst gebildeten Menschen aus aller Bildung heraus. Und doch vergleicht sich der Mensch nach einer Seite hin mit andern zu wenig; nemlich mit beßeren als er selbst ist. So lange er hoffen kann, bei dem Vergleiche mit andern selbst zu gewinnen, vergleicht er. Strahlt ihm hingegen von irgend einer Person ein Licht entgegen, in Anbetracht deßen er gar zu gering erscheint, und in einen gar zu dunkeln Schatten tritt, so geht er weiter und sucht sich eine dem Hochmuth schmeichelndere Vergleichung auf. Etwas von der Art zeigt sich namentlich bei Betrachtung biblischer Charaktere, theilweise auch solcher Menschen, die erst nach den Aposteln in den ersten Jahrhunderten der Christenheit lebten. Diesen Charakteren läßt man ihren eigenthümlichen Werth, man räumt ihnen einen besonderen hohen Platz in der Gesellschaft ein, man läßt ihre Vortrefflichkeit so sehr gelten, daß man sich| auch gar kein Bild von ihnen machen will, die scheinbar große Verehrung bewirkt eine solche Entfernung von ihnen, die man Kälte und Gleichgiltigkeit nennen muß. Würde man sich mit biblischen Charakteren vergleichen, so würde man nicht allein sich bußfertig vor ihnen schämen lernen, sondern man würde sich auch zur Nachahmung gedrungen fühlen. Das aber scheut man gerade. Solche Muster stehen zu hoch und zu fern; wer ihnen nachstreben wollte, den hielte man für einen Schwärmer, der nach einiger Zeit und gemachter Erfahrung schon wieder umkehren, und seine Vorbilder sich in den Kreisen des gewöhnlichen Lebens suchen wird. Gerade das aber ist ein rechter Flecken der gewöhnlichen, protestantischen Gemeinden; man wählt seine Vorbilder aus zu niedrigen Sphären und die Menschen haben daher von sich selbst und machen auf andre den Eindruck, daß sie gewöhnliche, gemeine Leute seien. – Hier, meine Freunde, könnten wir eine protestantische Sünde finden, die man am Bußtag wohl hervorheben und zu Gemüthe führen dürfte; der Mensch bedarf Vorbilder, Beispiele denen er nachwandeln kann. Von seinen Vorbildern und Beispielen hängt der Schwung ab, den sein Leben aufwärts, oder ins flache Weite, oder in die dunkle Tiefe nimmt. Es lautet erstaunlich schwung- und geistreich, zu sagen, man möge sich keine andern Vorbilder wählen als JEsum Christum selber; in der Regel aber ist dahinter gar nichts; es ist das meistens weiter nichts als eine hohle, leere Phrase und eine Beziehung auf Christum, die gewöhnlich nicht die geringste Wahrheit in sich trägt. Es wird kein Mensch leugnen können, daß die Nachfolge Christi ein biblischer Gedanke sei; aber es werden auch wenige Menschen sich jemals die Frage gelöst haben, ob man Christo in allen Stücken nachahmen dürfe und könne und solle, und in welchem Sinn uns der Befehl gegeben ist, Christo nachzufolgen. Ist es einem ein Ernst ein Nachfolger Christi zu sein, und hat man wirklich Lust Ihm nachzuahmen, worin man soll, nemlich in der Selbstverleugnung und Demuth, so freut man sich auch geringerer Vorbilder und Beispiele. Da sieht man etwa das Beispiel Pauli an, wie er selbst es in unsrem Texte zeigt, erkennt ihm gegenüber die eigene Armuth, das eigne pure Nichts, und läßt sich durch die Zerknirschung, von der man ergriffen wird, zu einem neuen Lebensanfang leiten. Und das ists, meine Freunde, was ich euch Angesichts unsrer Epistel wünsche, so wünsche, daß ich gar nichts dagegen hätte, wenn ihr mir auf meinen Wunsch mit Buße, Beichten und Seufzen antwortetet. St. Pauli Beispiel ist groß und hehr: bei seiner Betrachtung können wir uns allerdings schämen lernen.

 Aber nicht bloß das. St. Paulus erzählt seinen Lebenslauf in unserm Texte zu dem Ende, daß sich die Corinther beeifern sollen, die empfangene Gnade Gottes nicht ohne Frucht der Heiligung sein zu laßen. Wenn man ein Schüler eines solchen Lehrers ist, hat man Ursache, es mit der That zu beweisen, nicht aber gegen die vorhandenen göttlichen Kräfte auszuschlagen und sich ihnen zu widersetzen. Allein da stehen wir wieder vor einer unter uns gewöhnlichen, unerkannten Sünde, die man am Bußtage auch gar wohl nennen kann und soll. Fern liegt es, uns St. Pauli Beispiel anzueignen, ihn zum Vorbild zu nehmen, und nicht minder fern liegt uns der Gedanke, daß Paulus auch unser Lehrer sei, und deshalb schon, nicht blos wegen der hohen Vortrefflichkeit seines Beispiels, wir schuldig seien, uns ihm nachziehen und die Gnade nicht vergeblich sein zu laßen. Zwar werden uns immer St. Pauli Episteln gelesen, und wir laßen uns von ihm belehren; er lebt für uns, weil seine Worte bei uns im Schwange gehen; die lutherische Kirche nennt sich auch gerne im Bewußtsein ihrer Treue gegen die Rechtfertigungslehre des großen Apostels eine paulinische Kirche. Deshalb aber kommt es dennoch selten einmal einem Menschen bei, sich einen Schüler Pauli zu nennen, und ihn seinen Lehrer. Der Apostel ist gewis vermöge seiner Schriften nicht minder jetzt ein Lehrer der Völker und Heiden zu nennen, als früherhin; aber weil er nicht mehr persönlich unter uns steht, und man seine Stimme blos sieht und nicht mehr hört, so legt man auf die Jüngerschaft Pauli gar keinen Werth, und man kann leicht auf die Worte eines jetzt lebenden geringen Predigers oder Lehrers mehr Gewicht legen, als auf die Worte Pauli. Weil man nun die rechten Lehrer nicht nahe weiß, und sich mit ihnen in keiner Verbindung und in keinem Verhältnis fühlt, so fühlt man sich auch nicht angemahnt zum Gebrauch der empfangenen göttlichen Gnade, wenn einem die hohe Gestalt des Apostels in aller apostolischen Würde mit aufgehobenem Finger vor Augen tritt.

 Möge sich das bei uns ändern. St. Paulus| ruht wohl in seinem Grabe, aber sein Geist lebt ja doch, er selbst lebt. Möge uns der HErr verleihen durch eine innige Auffaßung und eifrige Aneignung der paulinischen Lehre, Paulo selbst näher zu kommen und uns als seine Schüler zu erkennen, und wir je länger je mehr von dem hohen Meister lernen, mit dem wir durch Einen Geist und Glauben verbunden sind.

 Diese beiden Gedanken sind Bußgedanken, sie sind uns nütze zur Strafe. Aber es ist die angenehme Zeit, es ist der Tag des Heils, es wird viel gepredigt, und zwar jetzt vom süßesten Thema, den Leiden JEsu, und die Einladung zu einem gesegneten Gebrauch des heiligen Sacramentes tritt mächtiger an unser Herz. Gottes Mittel und Hebel sind in Bewegung, es wird gewaltig an uns gearbeitet, es ist eine schöne, segensreiche Zeit. Da mögen uns denn zunächst gegeben werden Augen für Pauli Beispiel, Ohren für seine Vermahnung, Macht und Kraft nicht vergeblich die Gnade Gottes zu empfangen. Die Reue grüne und thaue, die Gerechtigkeit blühe, und die Nachfolge Pauli reife als zeitgemäße Frucht der durchgreifenden mächtigen Arbeit Pauli an unsrer Zeit und unserm Geschlechte. Amen.




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