Eines deutschen Technikers Lehr- und Meisterjahre
Es giebt noch keinen Ruhm für den deutschen Techniker! Noch sind die Herolde beim großen deutschen Geistesturnier nicht geneigt den neuen Kämpfer als ebenbürtig anerkannt mit den alten Disciplinen des Wissens in die Schranken treten zu lassen.
Die Gründe dafür liegen nahe und sind tief im Charakter des Volkes begründet. Jede Civilisation ist partiell, jede hat ihre schwachen Seiten und Lücken, und die ideale Richtung des deutschen Genius ist die Wurzel der Mängel deutscher Cultur, wie ihrer höchsten Blüthen. Mehr als andere Völker haben wir lange Zeit über das Wissen das Können vergessen. Die Technik ist aber das verkörperte Können, und da sie nun plötzlich an der Hand des Geistes der Zeit unwiderstehlich in unsere Mitte tritt, da rümpfen die alten Wissens-Branchen von tausend Ahnen, die Theologie und die Medicin, die Juristerei und die Kunst, die der Kräfte des jungen Riesen nicht mehr entbehren, sich seiner nicht mehr erwehren können, wenigstens die Nase über seine Abkunft und fragen: „Was will der Schmied, der Maurergesell, der rußige Gießer in unserer Mitte? Das Geld, das er erwirbt, soll ihm gegönnt sein, Ruhm, Ehre, Unsterblichkeit gehören uns allein!“ Sie vergessen dabei, daß alle geistigen Thätigkeiten, mögen [520] sie sich nun in Kunstwerken, guten Büchern, guten Predigten, guten Heilungen oder im Bau solider Straßen, kühner Brücken, sinnreicher Maschinen, wunderbarer Apparate kundgeben, zu gleich tüchtigen Leistungen gleiche Maße von geistigen Kräften erfordern und nur ein Endziel, die Befreiung des Menschengeistes, haben! Die Thatsache ist indeß frappant.
Fragt in Deutschland jeden mittelmäßig Gebildeten nach unsern Dichtern, unsern Malern, unsern Philosophen vierten und fünften Rangs, er wird euch Bescheid thun, ihre Namen, ihre Werke kennen; schlagt eine unserer wenigst vollständigen Encyclopädieen, eine kurzgefaßte Culturgeschichte auf, und eine Fülle von Stoff aus allen Disciplinen quillt Euch entgegen. Der Ruhm hat die Namen der Erbauer jedes Kirchleins, der Maler jedes mittelmäßigen Bildes verzeichnet, und der unsterblichen Namen ist kein Ende. – Und dann fragt den allergebildetsten Deutschen, die besten Encyclopädieen, die ausführlichste Culturgeschichte nach dem Namen des Erbauers der kühnsten Eisenbahn, der stolzesten Brücke, der segensreichsten Eindämmung oder Entwässerung, fragt nach dem Erfinder der Locomotive, die Euch zieht, des Webstuhls, der die Kleider auf Euerem Leibe webt, des Gaslichtes, das Euere Städte durchstrahlt, – – – und sie werden Euch die Antwort schuldig bleiben oder Euch dürftig berichten! –
Noch denkt sich selbst der gebildete Deutsche den praktischen Techniker als eine Art höheren Schlossers, Schmieds oder Maurers, ja er mißtraut daher dessen Tüchtigkeit, wenn derselbe die Lebensformen der gebildeten Welt, saubere Wäsche und unverarbeitete Hände zeigt. Daß gar ein Genie, welches jedem Andern ebenbürtig ist, ihm beiwohnen, er vielleicht sogar zu den Trägern des Ruhms des Vaterlandes gehören könne, erscheint noch fast belächelnswerth. Unsere Nachbarvölker gen Westen sind uns in der Erkenntniß der Würde der Technik als Verlebendigung des großen civilisatorischen Agens der Zeit, der Stellung, welche die Techniker im Volksleben einzunehmen haben, weit voraus. Sie haben längst Technik und Techniker als erwachsene Kinder der Zeit mündig erklärt!
Das ist eine der Haupt-Lücken in der deutschen Cultur.
Wenn wir daher heute von einem Manne erzählen wollen, der der deutschen Technik den größten Dienst geleistet, mit großem Talente das deutsche Eisenbahnwesen von fremden Einflüssen frei gehalten, die bis heute gültigen Grundprincipien des deutschen Eisenbahnbaues zuerst verkörpert, dessen Organisation zum Theil geschaffen, die erste große mit Dampf befahrene Eisenbahn selbst gebaut, und in den Männern, die ihn als Jünger umstanden, die Ausbildner eines großen Theils des deutschen Eisenbahnsystems hinterlassen hat: so erwarten wir nicht, daß das deutsche Volk seinen Namen kennen werde. Aber wir halten es für Pflicht, von ihm zu erzählen, was er, dessen Fachgenossen in Frankreich und England, die nicht mehr werth waren denn er, als Millionäre starben, als guter Deutscher leistete, wie er rang und litt. Unser wenn auch schwaches Wort, soll mahnen, daß das deutsche Volk die Männer, welche in den neuen Thätigkeitskreisen der Technik für seine Wohlfahrt denken und wirken, kennen und schätzen lernen und ihnen die Ehren gewähren möge, mit denen es so bereitwillig, wenn auch meist zu spät, seine „Dichter und Denker“ krönt.
Es war im Sommer 1811. Napoleon zog die Wolken zu dem großen Gewitter von 1812 zusammen, und sein Zauberwort hatte auch die bis dahin lässig betriebenen Arbeiten am Bau von Torgau’s Festungswerken in fieberhafte Hast gejagt. Des Gouverneurs, Oberst von Boblick, scharfes Commando, des Obersten von Langenau gefürchtete Inspektion und des wilden Major Coudray polterndes und schreiendes Scheltwort jagten Officiere und Mannschaften trotz glühenden Sonnenbrandes im Geschwindschritt zur Arbeit und schweißtriefend von derselben. Erschöpft und nach einer Labung lechzend füllten die Junker, Lieutenants und Capitäns vom Dienst rasselnd zur Frühstückszeit das Delicatessenzimmer des Italieners Petacca am Markt.
In der bequemsten Ecke sitzt da bereits ein alter Mann in Bauerntracht der Leipziger Gegend, den breiten dreieckigen Hut neben dem Glase auf dem Tische, die Füße mit den derben Schnallenschuhen weit von sich gestreckt, den Quersack neben dem Stuhle; eine prächtige, kräftige, aufrechte Greisengestalt mit klaren, offenen Augen. Der letzte der eintretenden Officiere, ein kleiner, blatternarbiger Lieutenant mit breiten Schultern und gedrungenem Körper, dessen sonst unschönes Gesicht zwei wunderbar kluge, kleine Augen mit Humor und Güte zugleich überblitzen, eilt auf den Alten zu, umarmt und küßt ihn und sitzt bei ihm und schenkt ihm ein und läßt ihn nicht, bis die Trommel wieder zur Arbeit ruft. – Im Anfang wollen die Cameraden Spottblicke auf das Paar werfen, der junge Officier sieht ihnen aber so muthig in die Augen und steht trotz seiner Jugend in so hohem Ansehen unter ihnen, der alte Mann spricht so gemüthvoll, klug und unterhaltend mit den Herren, daß sie ihn bald umringen, wenn sie kommen, und ihm die Hand schütteln, wenn sie gehen. Der Alte ist der Leinweber, Häusler und Acciseinnehmer Andreas Kunz zu Dürrweitzschen bei Leisnig, ein eifriger Musikus und jovialer Mann, der mit anderen Gleichgesinnten auf den Dörfern die Jugend nach seiner Musik springen läßt und mit Quersack und Geige zu Fuß nach Torgau gewandert ist, um seinen Enkel, den kleinen Carl Theodor, einmal mit den dicken Lieutenants-Epaulettes und dem Portepée zu sehen.
Der aber ist ein munterer, zwanzigjähriger Unterlieutenant, der noch keinen Bart, aber Muth und Entschlossenheit für drei bärtige Männer, Thatkraft und Umsicht für eine Brigade hat, den seine Cameraden lieben und schätzen, seine Untergebenen, die er kurz hält und fuchtelt, auf Händen tragen, für dessen Großvater die Officiere endlich Tänze abschreiben, um den prächtigen Alten lachen zu sehen – weil es dem jungen Cameraden Freude macht!
Nach diesen Tänzen sollte keine Dorfjugend sich mehr drehen, der Alte starb, den Quersack auf dem Rücken auf einem Feldrain sitzend, in der Nähe der Heimath einen seligen Tod am Schlage; aber er hatte den geliebten Enkel noch einmal gesehen, der ihn für allen Kummer, den seines Sohnes Geschick ihm bereitete, so fröhlich schadlos hielt und kein Anderer war, als der Erbauer der ersten großen deutschen Eisenbahn. – Hinter dem jungen Officiere, der so leichtlebig und schon damals in Torgau unglaublich thatkräftig auf seinen derben Schultern den halben Dienst seines hypochondrischen Hauptmann Essenius, des bequemen Premier-Lieutenant Hermann und des lüderlichen Collegen Vitzthum mit übertrug, lag eine Jugend voll trüber Leiden, in deren Gluth aber der gute Stahl seines Charakters zu einer geschmeidig schneidigen Klinge für den Kampf des Lebens gehärtet worden war.
Sein Vater, Gottlob Friedrich Kunz, hatte zu der Armuth einer Canzelistenstelle im damaligen sächsischen Geheimen Finanz-Collegium die Armuth einer jungen Verwandten, Wilhelmine Michaelis, geheirathet. Mußte aber auch selbst die Aussteuer und erste dürftige Einrichtung durch spärliche Hülfe kaum wohlhabenderer Angehöriger beschafft werden, so brachte ihm Wilhelmine doch einen solchen Schatz an Edelsinn, Dulderkraft und Tüchtigkeit zu, daß er, auf den ältesten Sprossen dieser Ehe, Carl Theodor, vererbt, hinreichte, diesem das volle Anrecht auf die Würde eines bedeutenden Menschen zu erwerben.
Die rasch aufeinanderfolgende Geburt mehrerer Kinder, Krankheiten aller Art (von den Blattern wurde das Gesicht Carl Theodor’s in seinen Formen sehr zum Nachtheil gänzlich verändert), endlich Kriegsverläufe drückten das Jammerleben der Familie des Canzellisten bis auf die unterste Grenze tragbaren Elends herab. Dem Manne brach die Unablässigkeit der Schicksalsschläge die Kraft; er fügte durch das Sinken seines Charakters neue Last auf die gebeugten Schultern seines armen Weibes. Die gläubige Dulderin aber verließ das Gottvertrauen nicht. Als sie kein Kleid mehr hatte, in dem sie sich ohne Scham geschmückten Kirchengehern zugesellen konnte, schlich sie in der Morgendämmerung zum Frühgottesdienst, um Kraft zu finden, ungebrochenen Herzens das Schwarzbrod zum Frühstück, die Kartoffeln mit Salz zum Mittag unter die mattäugigen Kinder auszutheilen und aus ihren Lumpen, mit Geschmack sogar, immer wieder etwas halbweg Tragbares zusammen zu stoppeln, aus verschluckten bitteren Thränen immer wieder Stärkung zu einem Lächeln für ihre Kleinen zu saugen. Sie war ein Held im Ringen mit den Prüfungen Gottes! Carl Theodor schrieb später in seiner kräftig tiefen Weise: „Meine Mutter war ein Engel. Die himmlische Gerechtigkeit muß ihr jenseits durch den höchsten Grad der Seligkeit vergolten haben, was sie hier für Mann und Kinder that!“
Ein verkommener, aber nicht unwissender Candidat der Theologie, der, wo möglich noch ärmer als die Kunz’sche Familie, sein jämmerliches Lager in einer von dieser ermietheten Kammer aufgeschlagen hatte, auf dem er sich mit seinem abgeschabten Röckchen [521] zudeckte, wurde, mit den Kartoffeln des Mittagstisches und dann und wann einem Dreierdütchen des von ihm leidenschaftlich geliebten Schnupftabaks honorirt, Carl Theodor’s erster Lehrer, bis es durch Hülfe eines Oheims möglich wurde, ihn die Neustadt-Dresdener Bürgerschule besuchen zu lassen. Dem armen, in Elend verkümmerten Candidaten verdankte Carl Theodor seinen Respect vor classischem Wissen und die Keime seiner Kenntniß hierin.
Schon in der Schule galt er nicht allein für einen guten Kopf, sondern die Kraft seines sich rasch und im starken Anspannen gegen den Druck seiner Lage entwickelnden Charakters und sein frühreifes Talent, die Verhältnisse zu überschauen und zu beherrschen, machten ihn in allen Classen zum selbstverständlich gewählten Mittelpunkte der jugendlichen Bestrebungen, mochten sie nun auf eine organisirte Prügelei oder ein systematisches „Nachreiten“ vor den Examinibus gerichtet sein. Seine rührige Gefälligkeit eroberte ihm die Alten, und der Gewinn der Neigung des bejahrten Bibliothekar Daßdorf stellte die Schätze der königlichen Bibliothek zur Verfügung des geistvollen Knaben, dem eine trigonometrische Formel den Schlaf rauben konnte, der um ein physikalisches Experiment die schönsten Spiele im Stiche ließ und, auf einem Baume in seines Onkels Michaelis Garten sitzend, in Ludwig’s „Reichshistorie“ vertieft, oft umsonst zum Mittagsessen erwartet wurde. Noten copiren und Accisebücher verificiren mußte nebenher in den Nächten die Mittel zur Erwerbung des Confirmations-Rockes liefern.
Wen Mathematik, Physik, Geschichte und Geographie erfüllten, für den gab es damals nur einen Beruf, in dem er Talente und Lust zur Geltung bringen konnte. Es war der militärische. Carl Theodor, den geistige Richtung und körperliche Kraft gemeinschaftlich dafür eigneten, wurde seiner Prädestination inne, als die Neutralitätsdurchmärsche vor der Schlacht bei Jena und des Prinzen Louis Ferdinand glänzendes Feldherrnbild, das leider in den letzten Stunden von dessen Anwesenheit in Dresden durch den Eindruck seiner bis auf die Straße herab gespielten Bacchanale befleckt wurde, des Jünglings ehrbedürftige Seele mit lockenden Erscheinungen füllte.
Der Rath des alten trefflichen Generals Aster, dessen Familie den strebenden Knaben lieb gewonnen hatte, führte ihn vor dem Eintritte in das Corps der Ingenieur-Scholaren, den Carl Theodor’s Jugend und Armuth verhinderte, in die unentgeltlich unterrichtende Bauakademie. Nur sein immer regeres Interesse am technischen Wissen und die freundliche Forthülfe älterer Mitschüler ließen seinem organisatorischen Genius den systematischen Unterricht an dieser Anstalt, die ein Director Hölzer im Sinne seines Namens verwaltete, nicht unerträglich werden.
Als er seine Studien im Gefühle, nicht mehr weiter zu kommen, hier schloß, waren seine Verhältnisse dieselben geblieben, und die ihm so golden schimmernde Traube des „Corps der Ingenieurscholaren“ hing immer noch zu hoch.
Armuth zog überall die Schlagbäume vor die Pfade, auf denen der nun Siebzehnjährige ausschaute, Armuth hing als schweres Gewicht an seiner fleißigen, so gern gerührten Hand, Armuth deutete mit eisernem Finger auf die allerunterste Thür zur Staffelleiter seiner Wünsche. Es fand sich kein Protector für ihn. Carl Theodor hat immer Kopf und Arm, selten Gönner, fast niemals Glück gehabt.
Also Soldat! Aber nicht Ingenieur, sondern aus Gefälligkeit gegen Aster aufgenommener „übercompleter Unterkanonier“ in der Compagnie des Artillerie-Capitäns Tüllmann zu Frankenberg!
„Einzutreffen am 3. Oktober mit den Laufordonnanzen von Dresden!“ Ein Paar Hemden in einem alten Schulbücherranzen, die Stiefeln neu besohlt, einen Thaler Geld im Lederbeutelchen, wandert der erste deutsche Eisenbahn-Ingenieur mit Thränen in den Augen und schmerzenden Füßen hinaus in die große Weltschule, die an ihm einen ihrer ausgezeichnetsten Schüler ziehen sollte. Ein alter Oberkanonier, Schulze, nimmt sich des schüchternen Rekruten an, bei einem jungen Sergeant-Major Richter, einem verdrossenen Mann, den eine Liebesheirath um die Carriere gebracht, findet er billige Kost und ein hartes, im Winter durch die lockern Ziegel mit Schnee bestreutes Bett unterm Dach. Die Officiere der Compagnie, der finstre Tüllmann, der behagliche von Hanmann, der wackere von Schirnding und Knauth stoßen ihm zwar das dreieckige Hütchen, dessen richtiger Sitz niemals ergründet worden ist, Jeder nach seinem Gesichtspunkte correct auf den Kopf, werden aber bald des aufgeweckten „Stiftes“ froh, der spielend den Dienst lernt und dem auch das „verdammte Zeichnen und Studiren“, ja selbst die erste Liebe zum hübschen Kinde des Materialisten der Hauptwache, das ihm Rosinen und Aepfel und wohl auch Brod unter ihren Küssen zusteckt, nicht die „Attention“ beim Exerciren mit Commißgewehr und der alten achtpfündigen Uebungshaubitze verdirbt.
Und dennoch war es eine schwere Zeit bei den Hungernachrichten von daheim und der Vereinsamung des Geistes, die Zeit des Gehorchenlernens! – jene bedeutungsvolle Periode in Carl Theodor’s Leben, die ihn so meisterlich befehlen lehrte. Kaum aus dem Rohstoffe des Menschen in der Glühhitze der Rekrutenzeit zum Soldaten geschmiedet, führt ihn der Donau-Marsch des Rheinbundcontingents und Napoleon’s kategorisches Breve: „Ersatzbataillone in aller Eile, gleichviel, aus welchen Leuten, zu bilden“, nach Dresden. Hessen, Braunschweiger, Oesterreicher rückten in Sachsen ein, der König floh nach Frankfurt und die Reservebataillone, -Schwadronen und -Batterien wurden à tout prix und unter Verwendung des Abhubs und Rostes alles Materials an Menschen und Waffen aus der Erde gestampft.
Die ältesten Officiere, Invaliden und unreife Knaben commandirten. Die Artillerie hatte fast keine Geschütze, die Infanterie miserable Gewehre, die Cavallerie nur zum Theil roh vom Acker geholte Pferde. Die traurige, vielgeplünderte Rückzugscolonne sammelte sich, von dem steinalten, täglich auf dem Pferde festgeschnallten General Niesemeuschel und dem schielenden Low geführt, bei Weißenfels.
Die Gelegenheit zum Avancement war gut; Carl Theodor aber hatte kein Glück! Die rath- und kopflosen Maßnahmen der alten Kriegsberather mit wackelnden Köpfen erregten oft höchst undisciplinarische Gelächter, zu denen Carl Theodor, dessen genialem Dispositionssinn bei aller seiner Unerfahrenheit die Komik der Situation nicht entging, oft genug das Signal gab. Das Talent kam bei der Anhäufung von „Kehricht“, dem der große Besen so nahe stand, zur Geltung. Der Oberkanonier Kunz hatte bei dem Oberstlieutenant v. Mosel die Funktionen von Stabssecretair, Adjutant und Instructor zugleich, Kenntniß von schriftlichem Dienst aus dem Vollen schöpfend.
Der Schluß der traurigen Affaire führte ihn 1810 als Corporal nach Dresden zurück, und die erregte Aufmerksamkeit bahnte ihm den Weg zur Artillerieschule. General Rouvroy theilt ihm mit, daß er Officier werden könne, wenn er im Stande sei, die Studien vor Mitte nächsten Jahres zu beenden. Er beschließt, das Unmögliche möglich zu machen! Um keinen Augenblick des Studiums zu missen, quartiert er sich nun in der Kaserne ein, und wir sehen ihn, zehn Monate lang, fast ununterbrochen über Reißbret und Buch gebeugt. Die Wache muß den auf seinen Papieren Entschlafenen wecken, die Arzte schütteln den Kopf und mahnen ihn, das Seelenfieber zu mäßigen; aber er eilt von der schlechten, am Arbeitstische eingenommenen Kost, die Unterrichtsstunden zu geben, die ihm den kargen Lebensunterhalt liefern, um rastlos zur Arbeit zurückzukehren, bis die physische Unmöglichkeit allem Weitern ein Ende macht. Erst dann gönnt er sich einige Stunden Ruhe.
Vom Studium augenkrank, mit Scropheln behaftet, zum starken Tabakschnupfer geworden, an Leib und Seele elend, besteht er das Officiersexamen glänzend, erhält die erste Censur – hält das Officierspatent und die ersehnten sechszehn Thaler Gage in Händen – da wird ein Graf Vitzthum, bis dahin Schüler des Gymnasiums zum Kreuz, ohne alle militärische Vorbereitung, in die Reihe der Ernannten eingeschoben, und Carl Theodor mit seiner auch der Zeit nach ersten Censur wird dadurch – aggregirter Lieutenant – ohne Gehalt!!
Also Officier und tiefer im Elend, als je zuvor!
Er verzagte nicht. Auf Wucherzinsen schießt ihm ein Hoflakai die nicht unbeträchtliche Summe zur Equipirung vor (die Epaulettes kosteten allein 45 Thaler), und Unterricht, zum bescheidensten Preise von zwei Groschen die Stunde gegeben, muß wieder nähren. Zur Armirung der mit unerhörter Eile verstärkten Festung Torgau war ein Pulvertransport hinabzubringen. Der jüngste Artillerie-Lieutenant muß doch für alt an Muth und Umsicht gegolten haben. Er erhielt das Commando der gefährlichen Sendung und landete seine Pulvertonnen nach drei Tagen unbehaglicher Fahrt vor der alten Festung. Hier wurde im Sturm gebaut und im Sturm gelebt. Es mangelte an Officieren für die [522] Leitung der Arbeitermassen, die bis zur Erschöpfung angespannt wurden, denn „der Kaiser“ hatte befohlen! Die Artillerieofficiere wurden zur Assistenz der Ingenieure commandirt, und hier in Torgau war es, wo Kunz zum ersten Male in die Sphäre trat, in der seine großen Fähigkeiten bei aller Leistung doch niemals vollkommen zur Ausnutzung gekommen sind.
Mit Anleitung der Arbeiten an der Elbe beauftragt, entwickelte er bald sein Dispositionstalent, seine Gabe, die Leute zu befeuern, Ideen zu benutzen und Individualitäten zu durchschauen. Der rapide Fortschritt seiner Ausführungen, seine Disciplin entgingen seinen Vorgesetzten nicht, und bald sah er sich als Rathgeber seiner ältern Collegen allenthalben in Anspruch genommen und weit über seine Stellung in der Meinung erhoben.
Am häufigsten aber trat, wenn der junge Officier Bettungen legte, Schießscharten einschnitt, Wallgeschütze aufbrachte, Grabenböschungen, Escarpen und Contrescarpen mit Faschinen revetirte und Alles den Leuten nach seinem Commandoworte von den Händen zu fliegen schien, nie eine Anordnung sich widerrief, keine die andere hinderte, ein großer, starker Mann im Civilrocke mit einem Orden darauf, aufmerksam an die wimmelnden und doch so wohlgeordneten Ameisenhaufen bei der Arbeit heran, oft lächelnd und billigend mit dem Kopfe nickend. Bald wurde er mit dem selbst Hand anlegenden kleinen Lieutenant, der im Regen und Schneegestöber der Erste und Letzte bei der Arbeit war, bekannt, und der Umgang des älteren Mannes, welches der sächs. Wasserbaudirector Wagner war, fesselte den Müden oft an einem Ecktischchen bei Petacca im lehrreichen Gespräch, während die Cameraden an der Tafel lustig die Würfel springen ließen. Kunz trat im Jahre 1811 zu Torgau zum ersten Male in’s Leben der Gesellschaft, das dem Unterofficiere verschlossen geblieben war. Der Krieg stand in Aussicht, die körperliche Zucht fiel an Werth! In hohem Maße charakteristisch für die fast schroffe Keuschheit von Kunz’s Individualität war, daß er zwar dem Spiel erlag und sein kleines Hab und Gut und viel darüber verlor, immer jedoch sich mit Ekel von Orgien wandte, bei denen das Weib, das er mit einer, seinem Wesen seltsam anstehenden Schwärmerei feierte, in den Schlamm der Gemeinheit sank. Später, mit einer religiös gepflegten Neigung im Herzen, reihte er all sein kräftiges Denken und Fühlen wie Edelsteine um das geliebte Bild, das ihn gleich einem Amulette auch später bei den Versuchungen in Frankreich vor jeder Wüstheit schützte. Torgau wurde in jeder Beziehung bedeutungsvoll für sein späteres Leben.
Als Trainführer bei der Batterie des Hauptmann Essenius finden wir ihn, immer noch jüngster Lieutenant, auf dem Marsche nach der pommerschen Ostseeküste, wo eine Abtheilung der sächs. Armee mit ein paar Tausend französischer Mariniers, Douaniers etc. die zweite Abtheilung des Armeecorps Augereau’s, Herzog von Castiglione, bilden sollte, an der Tafel dieses geistvollen Feldherrn in Berlin. Heiter, aber zum Entsetzen und schämigen Erröthen der adligen deutschen Officiere, erzählte dieser, wie er als armer Sohn eines Maurergesellen und einer Hökerin, vor der franz. Revolution im sächsischen Regimente Prinz Max, als gemeiner Grenadier mit dem nachmaligen Bischofe Mauermann als Nebenmann, gestanden habe. General Morand, ein roher aber kluger Haudegen, commandirte in Stralsund und Rügen. Ein gewaltiger Sturm wirft eine Flotille von vierzehn feindlichen Kauffahrern an den Strand bei Jasmund. Kunz zeichnet sich beim Bergen der reichen Beute und der Mannschaft aus, von Morand bemerkt, der ihm sein „tüchtig Theil“ an ersterer selbst verspricht. Der gewaltige Erlös der russischen Waaren ward vierzehn Tage später unter die Franzosen allein vertheilt, und Kunz’s Theil besteht in nichts, als – einem englischen Reitzeuge!
Das berühmte 29. Bulletin von der großen Armee ändert Scenerie und Gemüther. Die hochfahrenden, brüsken Franzosen werden geschmeidig, das unwiderstehliche „Vorwärts“ wandelt sich in eiliges „Zurück“. Cassen, Kostbarkeiten und Zugthiere werden zusammengerafft, und vier Wochen lang ununterbrochen wälzt sich das Armeecorps durch die grundlosen Moorwege des Thauwetters und die schneidenden Eiskrusten der Frühlingsfröste, seinen Weg mit Fieberkranken und Erfrierenden bezeichnend, rastlos der Elbe zu. Immer noch commandirt Kunz den Train der Brigade Essenius. Er findet unermüdet allenthalben Pferde für seine Geschütze, seine Karren. Gleichmüthig spannt er, trotz des Zeterschreis der Lakaien, die Paradepferde aus dem Marstalle des Mecklenburger Großherzogs im Gallageschirr neben den todtmüden Ackergaul der Bauern, ohne Unterschied bettet er seine triefenden Leute, die Pistole in der Faust, in die Salons der stolzen Krautjunker wie in den Stall des Leibeigenen. Bald belegen und behängen sich seine Wagen, ja die Geschütze selbst, mit todtmatten Kranken, die um Gotteswillen um ein Plätzchen auf einem Tritte, einer Deichsel bitten.
Kosakenangriffe, unaufhörlicher Regen und Kälte haben das Elend hoch gesteigert, als das Corps die Elbe bei Zollenspieker nahe Hamburg erreicht, sie überschreiten soll und die Fahrzeuge im eistreibenden Strome versenkt findet. Hier ist es Kunz, der die Fahrzeuge im Wasser entdeckt, Mittel zu ihrer Hebung angiebt, einen, die Batterie Essenius anprallenden Kosakenangriff durch einen eigenmächtig abgefeuerten, glücklichen Kanonenschuß und indem er seine Kranken unter Gewehr treten läßt, zurückschlägt. Er ist es, der beim endlichen, unsäglich mühsamen Ueberschiffen der Artillerie so hervorstehende Dienste thut, daß der General Morand, der, einer der Letzten an die letzten Pontons reit und dessen bäumendes Pferd Kunz bändigt, sein Kreuz von der Brust reißt und es ihm reichen will. Da trifft ein Karabinerschuß eines Kosaken das Pferd, das sich überschlägt. Der General ist betäubt, im Tumult geht das Kreuz verloren, das Kunz, zu stolz an Dienste zu erinnern, nie erhalten hat.
Am 1. April 1813 fiel Lüneburg, von Sachsen und Franzosen gehalten, von den Preußen und Russen gestürmt. Hier war es unser junger Lieutenant, der die letzten sächsischen Geschütze am Bremer Thore gegen die in den Straßen quellende Sturmcolonne, trotz des von allen Seiten von fliehenden Cohorten ausgestoßenen Geschreies „Ne tirez plus!“, mit blutendem Herzen, aber entschlossener Hand auf die Kinder seines Vaterlandes losbrannte. Im Augenblicke, wo er sie mit einem zerbrochenen Ladestocke vernagelt hatte, wurde er von Kosaken gefangen, mit den Pferdesträngen an sein Geschütz gebunden. Sie rissen ihm die Epaulettes vom Leibe, Geld und Uhr aus der Tasche. Zwischen Dragonern wurden die sächs. Gefangenen, oft hungernd und Alles entbehrend, durch die wild aufgeregten feindlichen Provinzen getrieben. Die Truppen, die sie auch „Verräther“ schimpften und mißhandelten, hatten oft Mühe, sie vor dem Fanatismus des Pöbels zu schützen, der in Berlin, durch das sie im traurigen Triumphzuge marschiren mußten, seinen Höhepunkt erreichte. Doch still und Schleier über diese Schrecken des Bruderkrieges! Kunz ruft aus: „Unsere Brüder unter den Waffen sind glücklich. Sie haben das schöne Loos, für den König zu bluten, wir können hier nichts thun, als für ihn beten, leiden und – hungern!“
Wahrlich, Kunzen’s Vaterlandsliebe zeigte sich auf dem Prüfstein dieser Leiden echt und fern von jenem „patriotisme d’antichambre“, der wie ein Hund zwischen Treppe und Boudoir im Fürstenpalaste oder im Vorzimmer der Minister liegt. Alle Aufforderungen, preußische Dienste zu nehmen, wies Carl Theodor entschieden zurück. Diese Gefangenen waren nach Rußland zu transportiren!
Zweitausend Werste Steppenreise, Elend, Sibirien – sie wußten es nicht, ob sie dem nicht entgegengingen, als sie jenseits Königsberg über die russische Grenze getrieben, auf livländischen Dörfern einquartiert wurden. Die Russen waren ohne Bitterkeit gegen den unbekannten kleinen Feind, und als die Stunde der Auswechselung im September 1814 schlug, da hatte der junge Officier eine große Rundreise auf heitern, prächtigen Landsitzen in Mitaus Umgegend zu machen, von denen er mit Schmerzen schied.
Die Heimath hatte deren kaum weniger für ihn, als die Gefangenschaft. Der Drang die Welt zu sehen ließ ihn die Theilnahme am Feldzuge in Frankreich suchen. Wer den ernsten, scharfkrystallisirten Erbauer der ersten großen deutschen Eisenbahn gekannt, liest nicht ohne tiefe Rührung die Niederschriften aus den Jahren 1816–1818, in denen eine treue, hohe Neigung zu einem edeln Mädchen die Schwärmereien in den alten Schlössern am Rhein, die Tugendkämpfe in dem lockern Frankreich, die Klagen um ein verfehltes Dasein, unbefriedigten Wissenstrieb und über das Sclavenjoch der Folgen des Leichtsinns verklärt, ja ihm sogar die hohe Kraft verleiht, der Gefahr des Erblindens, die ihm in Folge einer Pulververbrennung droht, ohne Verzweiflung in’s Auge zu sehen. Wer von uns sächsischen Eisenbahntechnikern vermag sich den strengen „Vater Kunz“, mit der Guitarre am blauen Bande, durch die Vogesenthäler streifend, hier Orgel spielend, dort Verse in ein Fenster ritzend, zu denken?! Citate aus allen guten Schriftstellern zeigen seine Belesenheit, die Wahl seiner Lieblinge seinen Geschmack!
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Drei Jahre Einsamkeit und Beschaulichkeit unter fernstehenden Cameraden im monotonen Quartierleben läutern und prüfen ihn. 1819 finden wir Kunz in Sachsen wieder, „in Ansehung von Talent und Tapferkeit“ nach zehnjährigem Lieutenantsdienste zum Premier-Lieutenant und Adjutanten ernannt. Acht Jahre folgen dann, wo er Oberlieutenant, und der bravsten und fleißigsten einer, ist und lernte – was er als solcher nicht brauchen konnte. Was er aber trieb und studirte, das wußte der alte Wasserbaudirector Wagner am besten. Er war des genial anstelligen, breitschultrigen Torgauer Officiers unvergessen. Die Rührigkeit der Faschinenmesser vor Zinna, das rüstige Schaffen der klingenden Spaten vor Siptitz, die Unermüdlichkeit des Rammschlags und des Kreischens der Pumpen an den Ravelins des Brückenkopfs – wenn des kleinen Kunz markige „Bravos“ und „Donnerwetters“ in der Luft schwebten – bauten jetzt sein Leben aus.
Der Friede hatte den Verkehr belebt, die große Wasserstraße Sachsens stieg an Werth, die Regierung wandte der Regulirung des Stromlaufs und der Sicherung der Ufer neue Kräfte zu, und als Ende der zwanziger Jahre der rasche Gang der Zeit die Lebensformen und den Ideenschritt des alten Wasserbaudirectors Wagner überflügelte, verlangte dieser selbst den kleinen Torgauer Lieutenant zum Gehülfen. 1827 wurde er, nach erfolgtem Austritte aus der Armee, mit dem Charakter eines Capitäns der Infanterie, zum Adjuncten des Wasserbaudirectors mit 800 Thaler Gehalt ernannt. Es fiel ihm nicht der leichteste Theil von dessen Pflichten zu. Aber sein ganzes Leben und Streben, von dem [537] Elende der Officiersprüfung an, durch zwanzigjährige Abhärtung der Seele und des Leibes, war ja nur niedere und hohe Schule, mit unerbittlich strengen Meistern, für seinen eigentlichen Beruf, den des Bautechnikers, gewesen, in den er nunmehr eintrat.
Das Hochgefühl dieses Bewußtseins war für den Preis einer Jugend nicht zu hoch erkauft. Nicht daß der damalige sächsische Staatsdienst einem Talente gestattet hätte, allzuhurtig die Falten aus den Flügeln zu schütteln. Immerhin galt es aber mit der Wissenschaft und Erfahrung gegen Naturkräfte zu kämpfen, die der „heilsam schaffenden Gewalt“ der Civilisation im ehrlichen Kampfe sich entgegenstemmten. Die Kraftempfindung hiervon mußte die lähmende Misère des Dikasterientreibens und des Streits mit der Jämmerlichkeit der eingepferchten Menschennatur übertragen.
Carl Theodor Kuuz gehörte zu den Glücklichen, die aus allem Ringen, mag es ein Gulliverkampf mit Liliputanern, oder ein ebenbürtiges Geistes-Turnier auf Tod und Leben sein, gekräftigt hervorgehen. Seine Antäusnatur fand überall die Mutter Erde, die ihm neue Stärkung verlieh. Den trefflichsten, kraftspendenden Boden schuf Carl Theodor sich selbst, als er, im Jahre 1828, an den selbstbegründeten, eigenen Heerd ein Mädchen führte, dessen Neigung schon lange sein guter Stern gewesen war. Wie genügsam mußte das edle Paar in Liebe zusammenrücken! Von den 800 Thalern Gehalt des Wasserbau-Adjuncten waren volle 300 jährlich zum Tilgen seiner alten und neuen Schulden à priori zurückzulegen. Sein spiritus familiaris, die Armuth, neckte den Redlichen, dem sein Amt so manche Nebenerwerbsquellen, deren Trübe den Dürftigen damals nicht zu schrecken pflegte, lockend zeigte, qualvoll. Nach einer im Jahre 1829 unternommenen, für die Erweiterung seines technischen Gesichtskreises wirksamsten Bereisung der Elbe und ihrer Zuflüsse bis zum Meere, wurde Kunz 1831 an des quiescirten, wackern Wagner Stelle zum Wasserbau-Director mit 1000 Thaler Gehalt ernannt.
Der Donner der Kanonen der Julirevolution, das Freiheitsgeschrei der Völker, das, wie Wellen um einen in die Fluth geworfenen Stein, von Paris aus sich über Europa hin verbreitete, waren die Weherufe, unter denen unsere Zeit ihren größten Sohn, den Genius der Association, gebar. Dem Geiste jeder Zeit geht die Erfindung, die er bedarf, voraus.
Verbrüderung, Verkehr war das Schiboleth der großen Staatswirthschaft geworden, und Georg Stephenson hatte seine Eisenbahn geschaffen! Der Zeitgeist sandte seine Apostel und Märtyrer aus. War der eiserne Brindley in Großbritannien Petrus gewesen, so wurde Friedrich List zum Paulus unter den Heiden Deutschlands, die ihn zehn Jahre früher flüchtig über den Ocean gejagt hatten. Sein Ephesus hieß Leipzig. Seine agitatorische und rhetorische Kraft ohne Gleichen schuf, mit Gustav Harkort’s Ansehen und andern offenen Intelligenzen und pekuniären Potenzen im Verein, die die weitaus großartigste bis dahin in Deutschland dagewesene Verlebendigung der Ideen der Zeit, die Leipzig-Dresdner Eisenbahn. Was vorher an Eisenbahnen bei Linz, Nürnberg, Prag, Dürrenberg etc. in Deutschland geschaffen worden war, konnte nach Tendenz, Dimension und technischem Charakter nicht einmal entfernt als Staffel gelten, die zur Erreichung der Höhe des Gedankens an diese Unternehmung gedient haben könnte!
Das war’s, was Kunzens großer Thatkraft bei der Sache so lockend und begeisternd anmuthete. Dem Manne, der alle seine Mußestunden mit warmem Eifer über den Büchern lag, die den Fortschritt der von ihm mit so viel Begeisterung gepflegten Ingenieurkunst lehrten, waren die großen Arbeiten von Wood, Gerstner, Dempry und Andern nicht entgangen.
Als die ersten Gerüchte von dem Plane eines Eisenbahnbaues zwischen Leipzig und Dresden an sein Ohr schlugen, hatte er die Gegend mit seinem genialen Blicke bereist, vor dessen Massen-, Höhen- und Tiefenschätzungen sich die Eisenbahnlinie zwischen den sanften Wellen des sächsischen Flachlandes hinwand. Dann war er mit seinen jungen Wasserbaugehülfen und Instrumenten gekommen, hatte das mit dem Instinct des Talents Gefundene geprüft, und fast auf den ersten Wurf war die Linie entdeckt, wie sie mit wenigen Abweichungen ausgeführt wurde. Ehe man ihn gefragt hatte, war seine Antwort fertig!
Noch hatte Kunz keine Eisenbahnschiene gesehen, als er, auf des verdienstvollen von Langenn Rath, mit Schönerer, Brendel, Lohrmann, Friedr. Harkort und Andern, zum technischen Ehrenmitgliede des Gründungscomité’s der Bahn ernannt wurde. Von dem Tage an war er der Arm des Unternehmenn, dessen Kopf Gustav Harkort, dessen Nervensystem bis zu seinem Ausscheiden List war.
Die Bearbeitung des von ihm vorgeschlagenen Bahntractes wurde ihm übertragen. Man wußte damals in Deutschland fast so gut als heute, wie die Erdwerke, Brücken, Durchlässe, Auf- und Abträge des Bahnkörpers auszuführen waren, man verstand es, das Ganze bis zur Bahnplaine herzustellen – was aber auf dieser liegen, stehen, fungiren, rollen sollte – davon hatte fast Niemand etwas gesehen.
Kunz war zu geistvoll, um nicht zu begreifen, daß es im ersten Augenblicke bei seinem Projecte ebensowenig, wie bei dem Projecte des Comité’s auf Kenntniß alles Details ankommen könne. Genug, wenn das Unternehmen überhaupt zu Stande kam!
Vorwärts war die Losung!
Ohne unpolitische und thörichte Scrupel that er daher seine Griffe in die Hypothesen über Preise und Constructionen, producirte er einen Kostenanschlag von 1,800,000 Thalern für seinen Bahntract. Eben so klar erkannte er aber auch, daß es für die technische Verlebendigung der Idee ohne Anschauung von schon ausgeführten Eisenbahnen und vor Allem ohne regsten Verkehr mit deren Schöpfern nicht abgehen könne.
Eine Reise nach England und Belgien, vom 17. Juli bis 15. August 1835 unternommen, sollte das geistige Material liefern; zugleich sollten Verbindungen angeknüpft, Schienen, Locomotiven, Wagen, kurz, die von England zu beziehenden Objecte bestellt werden. Solche Bestellungen pflegten damals die entscheidenden Techniker reich zu machen. Kunz blieb sein Familienkobold, die Armuth, und sein guter Geist, die Redlichkeit, getreu! Reich aber kam er mit Schätzen beladen zurück, die Andern zu Gute kommen sollten.
Das unermeßliche Panorama des Industrie- und Volkslebens Englands hatte sich, mit glänzenden Lichtern und tiefen Schatten, vor seinem scharf- und tiefblickenden Auge entrollt, seine stets den Typus der Freiheit von Herkommen und Schlendrian an sich tragenden Anschauungsformen hatten sich bis zur Großartigkeit entwickelt. Er kam als ein Mann zurück, wie ihn die Zeit brauchte; ein Mann, der sich nicht im Spinngewebe kleinherzigen deutschen Formenwesens fangen ließ und wenigstens in der neuen Sphäre der Eisenbahnen ein System edler Vertrauensverwaltung, raschen, selbstständigen Entschlusses an dessen Stelle zu setzen verstand.
Die Aufzeichnungen von der Reise zeigen in ihrer lebendigen Theilnahme für alles Große, sei es nun der Kölner Dom, ein Altarbild von Quintin Messis, die London Bridge oder der Wellenbrecher von Dover, daß Kunz schon damals das später so oft seinen Schülern eingeprägte Princip: „Kein halber Mensch kann ein ganzer Techniker sein!“ im ganzen Umfange selbst zur Erscheinung brachte.
In klarer Erkenntniß des Möglichen benutzte er die vier Wochen der Reise, die zur Sammlung gediegener Kenntnisse nicht ausreichen konnten, dazu, sich Quellen zum Schöpfen reinsten Wissens zu öffnen. Er trat mit Stephenson, Cubitt, Manby, Hawthorne, Kirtley, Lindley, Bery und besonders dem erfahrenen und liebenswürdigen Walker, dem Erbauer der Leeds-Selby-Bahn, in nahe Beziehung, orientirte sich in den Bezugsarten der hauptsächlichsten Materialien und sonderte mit dem Feingefühle des Genies das für deutsche Verhältnisse und die Kräfte der deutschen Technik, des deutschen Verkehrs und deutscher pecuniärer Kräfte Brauchbare aus der imposanten Masse der blendenden Erscheinungen britischer Kraft.
Er kam zurück mit der weisen Maxime, daß für Deutschlands werdendes Volks-, Industrie- und Handelsleben die wohlfeile, in allen Theilen auf Melioration und Ausdehnung construirte Eisenbahn-Anlageform die einzig richtige sei.
Er schuf daher, nach einer an sich unreifen Idee von Vignoles, nachdem sich das noch wohlfeilere amerikanische Plattschienensystem als zu unsolid gezeigt hatte, das Oberbausystem mit Schienen ohne Stuhlunterlagen und breitem, unmittelbar auf die Schwellen genageltem Fuße, nach dem der Weg der meisten deutschen Eisenbahnen ausgeführt worden ist und das, in Beziehung auf Preis und Stabilität, die Mitte zwischen dem englischen und dem amerikanischen Systeme hält. Er war es, der das noch jetzt in Deutschland übliche Princip der Hochlegung der Eisenbahnlinie im Terrain, so daß Tunnels und tiefe Einschnitte thunlichst vermieden und an ihrer Stelle die wohlfeilern Brücken erforderlich werden, selbstständig, [538] von der Praxis der Engländer und Belgier abweichend, zur Geltung brachte. Er widerstrebte, so lange es an ihm war, den Einflüssen der später durch den Bezug amerikanischer Betriebsmittel bedingten Betriebsformen und Constructionen der Stationen, indem er das Betriebsmaterial der Leipzig-Dresdner Bahn, ganz nach den so ungemein praktischen englischen Principien, mit kleinen Wagen von kurzem Radstande ausrüsten ließ, die eine so große Beweglichkeit und Handlichkeit gewähren. Diese construirte er, ebenfalls nach englischem Systeme, mit einer großen Anzahl kleiner Drehscheiben, die den Betrieb, ohne ihn, wie man sehr irrig meint, gefährlich zu machen, so sicher, geschmeidig und führig gestalten.
Von allen Nachtheilen, die dem deutschen Eisenbahnwesen anhaften, datiren neun Zehntel von dem Abweichen von diesem Principe. Es ist hier nicht der Ort, dies näher auszuführen.
Die Gesellschaft bedurfte einer Autorität zur Consolidirung der öffentlichen Meinung in Bezug auf die von ihr adoptirte Kunze’sche Linie über Würzen, Dahlen, Strehla (Riesa) und von da an auf dem rechten Elbufer über Oberau. Die Beziehungen der Reise trugen Früchte. Dem großen Ingenieur Walker war Kunz lieb geworden, und er verstand sich dazu, nach Sachsen zu kommen und die Linie zu prüfen. Der berühmte Engländer gewann, auf denselben Pfaden gehend, die der geistvolle Deutsche ihm vorgeschritten war, dieselben Ueberzeugungen. Er billigte Kunz’s Linie mit einer einzigen kleinen Abweichung.
Der nationalökonomische Fernblick der Männer, die an der Spitze des Unternehmens standen, ist nicht genug zu preisen. Was wäre die auf dem linken Elbufer geführte kürzere Leipzig-Dresdner Bahn gewesen, als eine Binnenbahn, bald ausgeschlossen aus dem großen Ost-West-Strome des europäischen Verkehrs!
Im November 1835 wurde Kunz zum Ober-Ingenieur der Bahn ernannt. Tüchtige und geistvolle Arbeitsgenossen wurden ihm zur Seite gestellt. Die Arbeiten begannen, und in kaum hoch genug zu schätzender und geschätzter Weise entwickelte sich unter den Händen des Mannes, der nie eine Eisenbahn hatte bauen sehen, wie durch Divination ein Organismus der Arbeiten, der selten an praktischer Brauchbarkeit von einem andern übertroffen worden, in seinen Hauptzügen für den Bau der meisten Bahnen noch mustergültig und, wo es geschah, meist nur zum Nachtheil der Sache verlassen worden ist. Die ganze Ueberzeugungskraft von Kunz’s persönlicher Autorität gehörte dazu, die vor der unerhörten Größe der Massen und Summen zurückschreckenden Bauunternehmer dazu zu bewegen, sich mit den gewaltigen Erd- und Felsenarbeiten zu befassen. Die Schnelligkeit der Herstellungen ließ die Dorfbewohner nach den Bauten hinauslaufen, „um sie wachsen zu sehen“. Die Brücken über die Elbe, die Mulde und das Zschöllauthal, der Viaduct bei Röderau, der Einschnitt bei Machern, der Tunnel bei Oberau wurden mit Armeen von Arbeitern gefördert, daß besorgte Polizeibeamte die Köpfe schüttelten. Die Gesichtspunkte für das Mögliche verschoben sich dem ruhigen Sachsenvölkchen. Die Eisenbahn schritt wie ein unwiderstehliches Etwas durch die Gemüther, so wie ihre mächtigen Dämme das Land wie Bergstürze verschütteten, ihre Tunnel und Einschnitte durch Fels und Höhen brachen.
Kein Geweck, kein Geschäft, kein Wissen, keine Kunst blieb unbeansprucht, Talente und Kräfte erstanden wie durch Zauber unter dem Blicke des geistvollen Mannes, der mit unerhörten Anstrengungen und Opfern an Lebenskraft sich zum Allgegenwärtigen auf der ganzen Linie seiner Thätigkeit machte, wie das Vertrauen des Directoriums ihn zum Allmächtigen gestempelt hatte. Vertrauen besitzen ist keine Ehre, und es nicht besitzen keine Schande, je nach der Capacität des Empfängers und Spenders. Nie ist Vertrauen besser placirt gewesen, als das des Directoriums der Leipzig-Dresdner Bahn zu Kunz.
Kein Genie ist seltener, als das des Regierens, weil es das Genie des Vertrauens einschließt. Es giebt keinen großen Dirigenten ohne das Genie des Vertrauens, das instinctiv und untrüglich Natur und Intensität jeder sich ihm bietenden Kraft erkennt. Der Verfasser, der das Glück hat fast alle bedeutenden Techniker der Zeit persönlich zu kennen, hat unter ihnen drei ganz hervorragende Dirigenten gefunden: Kingdom Brunel, August Borsig und Carl Theodor Kunz. Der Erbauer der Great Western-Bahn und des Leviathan, der Schöpfer der größten Locomotivenfabrik der Welt und der Erbauer der ersten großen deutschen Eisenbahn hatten gleichmäßig die Fähigkeit, dem vor sie Hintretenden durch Hirn, Herz und Nieren zu blicken. Wo sie ihn hinstellten, da paßte der Mann. Sie waren eben Meister!
Kunz war ein Dirigent, ein Kraftausnutzer im vollsten Sinne des Worts. Das Leben hatte ihn dazu gemacht. Sein breitschultriger, gedrungener Körper kannte kein Ermüden, und das machte ihn oft unbarmherzig gegen Andere. Die Festigkeit, auf die der breitgewölbte Schädel mit frühergrautem Haar auf kurzem starrem Nacken deutete, ließ ihn schroff und unduldsam gegen Mattherzigkeit erscheinen. Sein Motto: „Ein fest durchgeführter Fehler ist zehn schwankend verfolgte Wahrheiten werth!“ ist das aller bedeutenden Leiter. Den Blick der kleinen, blitzenden Augen fühlte man in den Eingeweiden, und Betrüger und Lügner zitterten darunter. Wohl dem, dem er einmal Unrecht gethan hatte; er wurde nicht müde, es mit dem ganzen Aufwande seiner Liebenswürdigkeit gut zu machen. Dem Wackern unter seinen Leuten war er ein Schild, der sich lieber zerbrechen als jenen schädigen ließ.
Was Wunder, daß ihn seine Untergebenen liebten! Er aber liebte es mit ihnen tüchtig zu arbeiten und in ihrer Mitte, wenn Noth an Mann ging, wohl selbst einmal Hand anzulegen, aber auch fröhlich zu tafeln, und wenn sie dann, im Weine froh, von der Leber weg sprachen, da spitzte er das Ohr und nahm sich das Beste aus der ungewaschenen Wahrheit, die der Wein plauderte.
„Einen großen Fehler,“ pflegte er zu sagen, „kann jeder begehen und der kann ihm allenfalls verziehen werden, aber fünf Erbärmlichkeiten machen einen Wicht, den ich zum Teufel jage.“
Die Gebildeten, Strebsamen, Rüstigen unter seinen Technikern waren seine Jünger. Er stand in ihrer Mitte rathend, helfend, fördernd, strafend, wie etwa ein alter Künstler des 15. Jahrhunderts in Italien unter seinen Schülern gestanden haben mag, halb ihr Vater, halb ihr Fürst. „Das schlechteste Regiment,“ pflegte er zu sagen, „ist das nach Subalternansichten! Man muß sie halb hören, halb glauben und gar nicht befolgen! Wer nicht selbst weiß was Noth thut, mag das Dirigiren lassen!“
Die Arbeiten am Baue der Bahn förderte er mit unglaublicher Energie. Mit dem Blicke überall, ließ er den Vertrauenswerthen ungestört schalten, ohne ihn durch einen Wust von Anordnungen zu lähmen, durch dickleibige Instruktionen zu verwirren. Alle Formen des Transports, durch welche die Bewegung unerhört großer Massen in unerhört kleiner Zeit ermöglicht werden konnten, kamen, je nach der Localität, in passendste Anwendung. Hier wimmelten die von ihm erst einexercirten Colonnen der simpeln Schubkarrenführer in scheinbar wirren und doch so genau vorgeschriebenen Linien durcheinander, dort zogen in endlosen Reihen die pferdebespannten Kippwagen zunächst auf Bohlenbahnen, dann mechanisch construirte Karren auf Schienengleisen in karawanenartigen Zügen dahin. Endlich mußte selbst die Locomotive zur Massenbewegung starke Hand anlegen.
Die Form und Methode des Eisenbahnbaues selbst hat seit der Ausführung der Leipzig-Dresdner Bahn keine bedeutsame neue Seite und auch erst in der allerletzten Zeit mächtige neue mechanische Hülfsmittel erhalten.
Im Jahre 1837 konnte die erste Bahnstrecke von Leipzig aus, am 19. Juli 1838 eine Meile von Dresden aus befahren werden. Eisendröhnende, funkensprühende Mirakel rollten die Züge zwischen unabsehbaren Reihen Staunender hindurch, die dem herandonnernden Ungeheuer jauchzend entgegenwinkten und denen sein Vorüberbrausen den Athem versetzte! Die da auf den Zügen saßen, schauten stolz, als trüge sie der Zeitgeist selbst auf Feuerflügeln, auf die, welche unten standen, herab! – Auch von der Leitung des Marstalls der edeln Feuerpferde hielt Kunz’s Autorität fremdländischen Einfluß mit großer Kühnheit fern. Zaghaft vertraute man das wichtige Amt einem damals unerfahrenen jungen Deutschen, Heinrich Kirchweger, an, der jetzt zu den ersten Maschinentechnikern unserer Zeit gehört. Rasch folgte nun die Eröffnung von Strecke auf Strecke. Unsere Kinder, die das Eisenbahnwesen nicht jung gesehen haben, wissen nicht, wie die Erscheinung zu unserer Zeit uns ahnungsmächtig an die Herzen griff!! –
Das war auch die Glorienzeit in Kunz’s Leben, wo jeder Tag ihm neues Gelingen, neues Bewähren, neue Ehren brachte. Wäre er kein bescheidener Deutscher, kein deutscher Techniker gewesen, sie hätte ihn auch für alle Zeiten zum behaglich wohlhäbigen Genießer reichen Ruhms machen, seinen Namen in jeden deutschen Mund legen müssen. Die Compagnie honorirte seine Thätigkeit, im Sinne [539] der Zeit und der Anschauungsformen reich, mit 10,000 Thalern.[1] Das schienen dem Armgewohnten unerschöpfliche Schätze. Allzugutmüthig, wie alle großen Charaktere, half er über seine Kräfte. Von seinem angebornen und geschulten Geschmacke verleitet, begann er den Bau eines weit über seine Verhältnisse kostspieligen Wohnsitzes in reizendster Lage Dresdens. Hatte er doch Stephenson’s fürstlichen Landsitz zu Tapton gesehen! Ganz im Kleinen und Bescheidenen blos wollte er dem großen Engländer nachleben und vergaß nur dabei die Kleinigkeit, daß Leisten und Bezahlen in England ganz andere Begriffe als in Deutschland sind. Als der letzte Posten der Summe, die ihm unerschöpflich geschienen hatte, ausgezahlt wurde, war sie und noch weit mehr verausgabt, und – sein spiritus familiaris zeigte sich ihm wieder treu geblieben. Der Höhepunkt von Kunz’s Leben fällt mit der Vollendung der Leipzig-Dresdner Bahn zusammen. Vom 9. April 1839 an, sehen wir ihn, ungebeugten Nackens und Muthes, ungeminderten Talents, dessen Proportionen aber dem Prokrustesbette der neuen Verhältnisse, in die er trat, nur durch Abhauen von mächtigen Gliedern gemäß gemacht werden konnten, – abwärts steigen!
Das „Genie des Vertrauens“ der kühnen Bauherren der Leipzig-Dresdner Bahn hatte es überdauert, daß sich das veranschlagte Anlagecapital dieses Baues unter Kunz’s Händen verdreifachte; die Anschauungsweise der Leiter einer neuen Unternehmung konnte sich einer Wiederholung dieses Mißgriffs nicht accommodiren. Der Bau der Sächsisch-Baierischen Bahn wurde für den Meister eine Kette von Mißhelligkeiten, Differenzen und Kränkungen. Im erfolglosen Kampfe mit dem immer tiefer hereinbrechenden Ruin seiner Privatverhältnisse gohren die bitteren Elemente in dem alternden Manne empor, die das sonst so schön angelegte Bild seiner großartigen Natur jetzt oft verzerrten und edle Züge carrikirten. Sein Selbstvertrauen wurde um so schroffer zum Abweisen jedes Rathes, als er, zornig gegen sich selbst, immer deutlicher fühlte, daß die Motive seines Leidens zum großen Theile in ihm selbst ruhten. Mit Ingrimm sah er das Sinken seines Ansehens, und das Ringen um die Erhaltung der Grenzen seiner dictatorisch geübten Autorität brachte ihn in immer um so verletzendere Conflicte, je weniger er die Talente der meisten der Gegner, die ihn lähmten, den seinen ebenbürtig sah. Den Höhepunkt der Schmerzlichkeit erreichten dieselben, als, bei Gelegenheit der großen Frage, auf welche Weise die beiden tiefen Thäler der Göltzsch und Elster am besten für die Eisenbahn überschreitbar gemacht werden könnten, sein Wirken öffentlich verdächtigt und desselben, sogar in den sächsischen Kammern im Jahre 1848, mit Spott und Ironie gedacht wurde.
Schon 1844 hatte man, zur Lösung der Disharmonie zwischen seiner Seelenstimmung und den Nothwendigkeiten und Individualitäten des praktischen Eisenbahnlebens jener Zeit in Sachsen, seine unmittelbaren Beziehungen zu diesem ehrenvoll gelöst und ihn, als technischen Rath, in das Ministerium berufen. Doch Kunz war ein Mann der grünen Welt, aber nicht des grünen Tisches! Bericht und Referat hatten keinen Ausdruck für Kunz’s Talente. Selbst die Formen seines klaren, prächtigen Styls widersetzten sich spröde dem Canon behördlicher Darstellung. Er, der Meister im freien Befehlen, war außer Stande einen Beschluß formell correct zu Papier zu bringen. Er und sein jetzt auch verstorbener Chef, dessen Bildung eine der seinigen diametral entgegengesetzte gewesen war, dem vor allen die Wanderjahre in der Lehrzeit fehlten, sprachen in verschiedenen Idiomen. Die Hand, gewohnt den Degen zu führen und sich zum Befehl zu heben, verkümmerte geistig und körperlich beim Führen der Feder. Das edle Metall, das der alternde Meister noch in Haupt und Herz besaß, konnte in dem Reiche, in dem er jetzt lebte, nicht mehr gültig ausgemünzt werden. Die Folgen des Ringens in Leiden und des Leistens über alle Kraft stellten sich ein!
Gichtisch, verbittert, mit sich und der Welt zerfallen, deren Dankbarkeit zu preisen er allerdings keine Ursache hatte, selbst von denen verlassen, denen er Lebenspfade so gut wie jene erste Eisenbahn gebaut, sahen wir ihn die letzten Jahre unter uns wandeln. Einer der Besten und doch verschwunden, als sei er längst verstorben. So sahen wir ihn auch begraben! Der Leichenzug eines Vergessenen! Gegen den scharfen Nordost des zweiten Januar schritten wir dem prunklosen Sarge schweigend nach. Wenige, sehr wenige waren wir dabei, die ihn lieb gehabt. Von Hunderten, die ihm Alles dankten, waren nicht zehn da. Das Vaterland hatte kein Wort des Danks für einen seiner muthigsten, thatkräftigsten Söhne Er hat als Deutscher geleistet und gelitten. Drei Schollen der Erde, von der auf seinen Wink einst Berge wandeln gingen, deckten den Sarg des Erbauers der ersten großen deutschen Eisenbahn!
- ↑ Noch viel später hat sie edelherzig den Verdienten mehrfach durch reiche Ehrengeschenke erfreut.D. Verf.