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Eine vergessene Jugendschriftstellerin

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Textdaten
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Titel: Eine vergessene Jugendschriftstellerin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 851
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[851] Eine vergessene Jugendschriftstellerin. Auch auf dem Gebiete der Jugendlitteratur wechselt die Mode, und es lösen sich die Herren und Damen ab, welche die Kleinen zu sich kommen lassen. Es gab eine Zeit, wo Agnes Franz auf diesem Gebiete so vielgenannt und beliebt war, wie etwa jetzt Ottilie Wildermuth. Doch obwohl Agnes Franz, die auch als Dichterin und Romanschriftstellerin auf dem Büchermarkte erschien, erst im Jahre 1843 starb, so sind doch ihre einst so beliebten Jugend- und Kinderschriften jetzt durch einen zahlreichen Nachwuchs verdrängt worden. Glücklicherweise traf es sich, daß sie in Breslau längere Zeit mit Gustav Freytag, der damals Privatdocent war, in einem Hause wohnte, und dieser berühmte Autor hat in den „Erinnerungen aus seinem Leben“ seiner Hausgenossin einige der anziehendsten Seiten seiner Selbstbiographie gewidmet.

„Von Aussehen war sie ein ältliches, verwachsenes Fräulein mit einem etwas großen Kopf und etwas kurzem Hals; sie trug eine schwarzseidene Mantille mit Krausen, welche leise und geisterhaft raschelte, wenn sie in Bewegung gerieth. Eine Schwester hatte ihr auf dem Todtenbett vier kleine Waisen vermacht, welche ihre Familie bildeten; sie bewohnte daher drei Treppen hoch eine Kinderstube und eine gute Stube, die als Salon betrachtet wurde. Ein großes Mansardenfenster mit Epheu umzogen, ein altes Fortepiano, ein Bücherschrank und ein kleiner Schreibtisch gaben dem bescheidenen Raum ein wohnliches und poetisches Aussehen. In der Stube erzog sie die Kinder und empfing ihre Freunde beim Thee. Mochte sie aber thun, was sie wollte: es lag sehr viel Frieden, Freude und Seligkeit auf ihrem gar nicht hübschen Gesichte. Auch wenn sie weinte, sah sie zufrieden und glücklich aus. Und was merkwürdig war, wer in ihre Nähe kam, gerieth in eine ähnliche zufriedene Stimmung. In der Stube roch es durch das ganze Jahr nach Wachsstock und Tanne; die Bretzeln auf dem Teller hatten ein so schlaues Aussehen, eine Zauberbrille, die man nur auf die Nase zu setzen braucht, um Elfen tanzen zu sehen, und man mußte sich sorgfältig hüten, irgend etwas, das an irgend einem Orte lag, anzusehen, weil man zu befürchten hatte, daß es ein kleines Geschenk sei, welches die Freundin bis zum rechten Augenblick versteckt hielt.

„Ich untersuchte auch gern ihren Büchertisch, auf dem um Weihnachten die neuen Kinderbücher aufgethürmt standen, welche ihr gefällige Freunde und Buchhandlungen zugesandt hatten. Noch fehlte sehr der Bilderreichthum und die schöne Kunst, woran sich unsere Kinder freuen sollen; aber die Erzählungen und spielenden Nachbildungen echter Märchen waren nicht viel anders, als sie jetzt in der Mehrzahl sind. Doch alle kritischen Bedenken mußten schweigen gegenüber der frohen Wärme, mit welcher die Freundin ihre Schätze vorzeigte, vornehme Kinderschriften von starkem Leibchen mit schönem bemalten Mantel und arme dünne Bettelmannsbüchel mit grauem Papier und undeutlichen Holzschnitten. Noch gab es in ihrem Bücherhaufen rothkämmige Hähne, welche Groschen auskrähten; unartige Jungen fuhren auf Kähnen oder kletterten auf Bäume oder neckten böse Hunde, bis sie zum warnenden Beispiel für ihr Jahrhundert ins Wasser fielen, Beine brachen und gebissen wurden; artige Mädchen spielten mit ihren Puppen, während sich rothe Bänder in kühnen Windungen um die weißen Kleider schlängelten; schwarze Köhler verwandelten sich in gute Berggeister, welche hungernden Eltern goldene Aepfel bescherten: unbegreiflich und höchst überraschend wurde die allerverborgenste Tugend an das hellste Licht gebracht und das kleinste Unrecht auf das Allergenaueste bestraft. Und wie verständig und wohlwollend benahmen sich selbst die Thiere jeder Art! Was der Hund sagte und der Frosch erzählte, was das Rothkehlchen erlebte, und das Pferd gegen das Zebra äußerte, es war Alles unglaublich verständig und gebildet. Sogar die Figuren ihrer Märchenwelt! Viele Prinzen in rothen Sammethosen bestanden Abenteuer, in denen jeder Andere stecken bliebe; ihnen aber war die Sache Kleinigkeit, weil sie unermeßlich tapfer waren und vortreffliche Zauberhilfe hatten. Was konnte uns der gräuliche Drache mit seinem feurigen Maul ängstigen oder der schändliche Oger, welcher sich bemüßigt sah, kleine Kinder zu fressen! Wir wußten recht gut, daß diesen Bösewichtern zuletzt von unseren Lieblingen der Kopf abgeschlagen wurde. Vollends die kleinen braunen Männchen und die Feen und die guten Zauberer! Wie freundlich sie hin- und hertrappelten, wie sie mir gerade zur rechten Zeit erschienen, welche nützliche Geschenke sie zu geben wußten, kleine Nüsse, in denen ungeheure Zelte steckten, und wandelnde Stecknadeln, welche selbständig den Feind in die Beine stachen. Eine solche Fee war die Fränzel selbst, die gute Frau Holle in ihrer kleinen verkrausten Geisterwelt.“

Und nach dieser schalkhaft anmuthigen Plauderei mit dem eigenartigen Gepräge der Freytag’schen Muse widmet der Dichter seiner Hausgenossin noch einen rührenden Nachruf: „Gute Freundin! Deine Bücher für Kinder sind von vielen vergessen, Du selbst schläfst seit Jahren den ewigen Schlaf, doch wie auch die Gegenwart unsere Seele in Anspruch nimmt, wenn Weihnacht herankommt, der Schnee an den Fenstern hängt und die Klingel die Gegenwart des Christkindes meldet, dann wenigstens werden die Alten, die Dich geliebt haben, Deiner gedenken!“ †