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Eine goldene Hochzeit mit der Wissenschaft

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Titel: Eine goldene Hochzeit mit der Wissenschaft
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aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 100–103
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Zum Doktorjubiläum von Leopold Ranke
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Eine goldene Hochzeit mit der Wissenschaft.


Als nach den Tagen des Wiener Congresses unserer Nation, welche die Schlachten der Freiheitskriege geschlagen, ein großes und freies politisches Dasein versagt blieb, da wandten sich die ersten Geister unter dem aufwachsenden Geschlechte der Wissenschaft zu; mit ungetheilter Kraft haben sie die stillen Jahrzehnte hindurch auf allen Gebieten der Naturforschung, der Sprach- und Alterthumskunde, der Rechtswissenschaft wie der Geschichte rastlos gearbeitet und so durch ihre Werke, während kaum erst die wundervolle Blüthe unserer Dichtung und Philosophie abstarb, eine neue Blüthe deutschen Geistes gezeitigt, die der realen Wissenschaften. Wohl sind manche von den Meistern auf diesen fruchtreichen Wirkungsfeldern längst dahingeschieden, doch andere leben und wirken, wiewohl hoch in Jahren, noch fort in dem geistigen Berufe, der ihnen das Leben selbst, uns Allen den Werth ihres Lebens bedeutet.

In diesen Tagen nun, am 20. Februar, feiert einer unter ihnen, Leopold Ranke, sein fünfzigjähriges Doctorjubiläum; seine Schüler bringen ihm von nah und fern ihre Glückwünsche [101] dar zur goldenen Hochzeit mit der Wissenschaft. Aber müssen sich nicht viele Andere mit als seine Schüler bekennen? Auch die Leser der Gartenlaube dürfen sein Ehrenfest mitbegehen, denn wer möchte sich nicht des noch rüstigen Lehrers erfreuen und sein Leben und Wirken sich nicht in’s Leben zurückrufen?

Leopold Ranke.

Von Leopold Ranke’s äußerem Leben ist freilich wenig zu erzählen! Daß er am 21. December 1795 zu Wiehe in Thüringen geboren, nach mannigfachen historischen, philologischen und theologischen Studien in Leipzig 1817 promovirt worden; daß er zuerst am Gymnasium zu Frankfurt an der Oder gelehrt, darauf 1825 als außerordentlicher Professor der Geschichte an die Berliner Hochschule berufen, dort bald Mitglied der Akademie der Wissenschaften, ordentlicher Professor, endlich Historiograph der preußischen Monarchie, Mitglied des Staatsrathes und Geheimer Regierungsrath geworden; daß er Königen nahe gestanden, mit hohen Orden ausgezeichnet, am Ende gar in den Adelsstand versetzt worden: dieser sein officieller Lebenslauf ist es nicht, was uns anzieht. Wir fühlen uns als das Publicum, mit dem er in freiem geistigen Verkehre gestanden; dieser Verkehr selbst und der Gewinn, der uns daraus erwachsen, das ist es, was wir heute mit unbefangener Dankbarkeit schätzen.

Fast alle unsere wissenschaftlichen Bestrebungen seit 1815 tragen einen historischen Charakter; mußte da nicht die reine Geschichte selbst eine ganz hervorragende Stellung einnehmen? Sie dahin zu erheben, war vor allen Anderen Ranke bemüht. Er verband nämlich mit dem Rufe des Historikers durchaus nicht das Amt, die Vergangenheit zu richten und die Mitwelt zum Nutzen künftiger Jahre zu belehren, sondern er stellte sich die offenbar weit schwierigere Aufgabe, einfach zu sagen, „wie es eigentlich gewesen“. Denn dazu bedarf es eines den ganzen Stoff umfassenden, für alles wahrhaft Bedeutende empfänglichen Blickes, wie einer gesunden und scharfen Kritik sämmtlicher Quellen. Beide Eigenschaften bewährte Ranke schon in seinem ersten Werke, der „Geschichte der romanischen und germanischen Völkerschaften von 1494 bis 1535“. Indem er die Romanen und Germanen Europas als ein Ganzes betrachtet, sondert er sie von allen übrigen Völkern, sieht in ihnen die Träger der Cultur und der allgemeinen Geschichte, welche ihm eben die Geschichte der ununterbrochenen Entwicklung menschlicher Cultur ist; er begründet kurz ihre Einheit aus ihren gemeinsamen Thaten im Mittelalter, um dann zur Darstellung ihres vielfach entzweiten und doch verwandten und verbundenen Lebens in der Neuzeit überzugehen. Dieselbe Aufgabe und ihre vollständige Lösung in seinen späteren Hauptwerken, als da sind: seine „Fürsten und Völker Südeuropas“, seine „französische“, seine „englische Geschichte“, immer vornehmlich im sechszehnten und siebenzehnten Jahrhundert, seine „deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“ und seine „neun Bücher preußischer Geschichte“. Wenn ihm noch vergönnt wird, nach Vollendung der englischen auch die scandinavische Historie hereinzuziehen, so wäre damit der große Kreis romanisch-germanischer Geschichten vom sechszehnten bis in’s achtzehnte Jahrhundert, wo ein neues Weltalter anhebt, geschlossen. Wir dürfen diese Werke, wie sie eine Einheit bilden, auch nur in ihrer Gesammtheit betrachten.

Vielleicht die Hauptfrage jener Zeiten ist die religiöse; in ihrer Behandlung gerade liegt Ranke’s größte Meisterschaft. Die deutsche That der Reformation, ihr Zug durch Europa, die gewaltige Gegenrüstung des Katholicismus, der Kampf der Bekenntnisse, hier der Sieg des einen, da des anderen, dort endlich Friede und Anerkennung, diese welthistorischen Ereignisse bilden den vornehmsten Inhalt, wie jener Epoche, so ihrer Darstellung durch Ranke. Ein zweites großes Moment, doch rein politischer Natur bildet in den Ranke’schen Geschichten der europäische Streit zwischen der spanisch-habsburgischen und der französischen Macht, ein drittes das Ringen der modernen Monarchie mit den ständisch-aristokratischen Gewalten. Letztere sehen wir in Spanien und Frankreich unterliegen, in England durch die Revolution die Oberhand gewinnen, während sie bei uns schon in der Reformationszeit die Territorialherrschaft an sich reißen und dem Kaiserthume gegenüber das Feld behaupten.

Und dabei erinnern wir uns alsbald, daß wir hier vor der Blüthezeit der absoluten Monarchie, der Zeit der großen Autokraten, der Höfe mit ihren Intriguen, der Cabinetspolitik, der Diplomatie stehen; daraus ergiebt sich denn die Weise der Arbeit für den Historiker. Die echten Denkmale der Verhandlungen selber, Actenstücke, Gesandschaftsberichte, Briefe muß er aufsuchen, die Gewölbe der Archive danach durchwühlen! Es ist dies vor und nach Ranke geschehen, aber Niemand hat vielleicht mit solcher Ausdauer, solcher Virtuosität aus Hunderten von Folianten, Tausenden von Actenstößen das Wesentliche sich zu eigen gemacht, wie gerade er. Er fühlt sich wohl in dieser Luft: „Man bedauere den nicht,“ ruft er aus, „der sich mit diesen anscheinend trocknen Studien beschäftigt und darüber den Genuß manches heitern Tages versäumt! Es ist wahr, es sind todte Papiere, aber sie sind Ueberreste eines Lebens, dessen Anschauung dem Geiste nach und nach aus ihnen emporsteigt.“

Da ist es nun für Ranke und durch ihn für die Wissenschaft [102] von der höchsten Bedeutung geworden, daß er zuerst es unternahm, die Relationen venetianischer Gesandten von allen Höfen Europas, die handschriftlich in den Bibliotheken brach lagen, für die Geschichte auszubeuten. Denn aus ihnen ergab sich ihm nicht nur, wie aus anderen Archivalien, der Gang der Verhandlungen, das Spiel der diplomatischen Künste; nichts war der Beobachtung dieser scharfsinnigen, kaufmännisch-wachsamen Italiener entgangen: über Person und Charakter der Fürsten und Minister, über Hof und Verwaltung, Finanzen und Kriegsmacht, Gesinnung der Unterthanen erstatteten sie ihrer Signoria ausführlichen Bericht, so wenig auch den Fremden solche Anatomie ihrer Höfe, wie sie es nannten, behagen mochte. Es ist gar nicht zu sagen, wie durch diese Hülfsmittel Ranke’s natürliches Talent zu lebendiger Charakteristik, zu anschaulicher Detailmalerei gefördert worden. Die Lectüre dieser Ranke’schen Bücher übt daher einen zwiefachen Reiz auf uns aus: wir überschauen von hohen Standorten aus die gewaltigen historischen Bewegungen und bekommen doch auch einen Einblick in das innere Leben der einzelnen Staaten, ja der handelnden Individuen selber; wir treiben große Politik und lernen zugleich das tägliche Gebahren der Menschen wie aus persönlichem Umgange kennen.

Auch Stil und Form der Darstellung dienen vortrefflich, die Vorzüge des Inhalts in’s Licht zu setzen. Die Sprache fließt rein und munter dahin, bald in gelenken Perioden, bald behend in kurzen Sätzen; häufig wird eine Frage aufgeworfen, wie eine leichte Welle, hier und da ein lebhafter Ausruf. Nirgends trifft man eine schwere Bildersprache; der eigentliche Ausdruck in seiner Einfalt ist der Schmuck der Rede. Ungemein reich an Sentenzen ist die Darstellung; aber sie schießen auf, natürlich, wie Blumen am Rande des Baches. Es sind allgemeine Bemerkungen concreten Inhalts, wie sie sich gleichsam unwillkürlich an jedem Punkte der Erzählung einstellen. Denn nichts liegt diesem Historiker ferner, als abstracte Sätze von außen her in seinen Stoff hineinzutragen. Und das führt uns auf die merkwürdigste Eigenthümlichkeit Ranke’s, die von jeher die verschiedenste Beurtheilung erfahren hat.

Immerdar nämlich hielt er fest an jenem Ideale der reinen Geschichte, wie er es ursprünglich ergriffen, daß sie nur zu sagen habe, wie es eigentlich gewesen, nur das Ereigniß in seinem wirklichen Verlaufe herausarbeiten müsse aus der Vergessenheit oder den Irrthümern der Ueberlieferung; alles Urtheilsprechens aber nach unseren eigenen Meinungen und Wünschen glaubt er sich streng enthalten zu müssen. Ueberaus gewissenhaft trachtet er dem Wahlspruche nach: „Ohne Groll oder Vorliebe!“ Man hat deshalb häufig seine Geschichtschreibung eine charakterlose genannt; und das wenigstens müssen wir bekennen: in den Ranke’schen Schriften scheint die bewegliche Seele des Autors an den Felswänden der Ereignisse zu zerrinnen. Man wird dabei wohl an die Weise Goethe’scher Romane, etwa die Wahlverwandtschaften, erinnert: die Begebenheit rollt an uns vorüber wie eine Naturerscheinung, unbekümmert, ob wir Ja oder Nein dazu sagen.

Zwar muß man sich die Objectivität Ranke’s nicht durchaus als eine grenzenlose vorstellen; erstaunlich unparteilich geht er namentlich in confessionellen Fragen zu Werke; denn so innig er in der deutschen Geschichte das Wesen Luther’s erfaßt, so großartig weiß er in seinen Päpsten die katholische Restauration zu schildern, wodurch ihm freilich die Ehre, auf dem römischen Index zu prangen, nicht erspart worden. Allein neben jener inneren Religiosität, die wir an ihm wahrnehmen, verräth sich uns doch auch noch eine andere persönliche Seite des Verfassers, ich meine die entschiedene Vorliebe für die große politische Erscheinung seiner Epoche, für die legitime Monarchie, das starke Königthum, das im Besitze der höchsten Autorität, erhaben über den Hader der Parteien, den Bürgerzwist schlichtet, die Geister führt, das Königthum, wie es in Heinrich dem Vierten, in Elisabeth, in Friedrich dem Großen hervorleuchtet. Von dieser warmen Theilnahme fallen sogar einige Strahlen auf minder würdige Vertreter der legitimen Selbstherrschaft, wie z. B. auf die letzten Stuarts, bei denen uns doch nicht einmal große politische Gedanken für die dürftige Treulosigkeit ihres Charakters entschädigen.

Auch wird man gerade, wenn man die Geschichte der englischen Revolution bei Ranke liest, an einen anderen Vorwurf erinnert, der ihm zuweilen gemacht worden, daß er von den tiefen Bewegungen des eigentlichen Volksgeistes keine rechte Anschauung habe oder gebe. In der That, von der enthusiastischen Erregung der Massen ist in seiner Darstellung der Cromwell’schen Zeit gar wenig zu spüren; vielleicht hätte er überhaupt seine englische wie seine französische Geschichte treffender mit dem Titel „Geschichte der englischen, der französischen Monarchie“ bezeichnet. Dennoch beweist seine deutsche Geschichte, daß er gar wohl in den Kreisen des Volkes heimisch sein kann; die Abschnitte über den Bauernkrieg oder über die Reformation in den Reichsstädten und den Landgemeinden wird Niemand ohne herzliche Theilnahme lesen. Und ist nicht Luther selbst die populärste Gestalt, der größte Volksmann, der jemals unter uns aufgetreten? Es bleibt daher diese deutsche Geschichte, wenn auch die der Päpste durch den fast romanhaften Reiz der Contraste auf den ersten Blick noch glänzender sich ausnimmt, dennoch Ranke’s gediegenstes Werk, eine wahrhaft nationale That, für die ihm jeder Deutsche zu Dank verpflichtet ist.

Zum Schluß möchte es an der Zeit sein, von Ranke’s Stellung zur Gegenwart überhaupt zu reden. Seine großen Geschichten führen uns stets bis an die Schwelle des heutigen Weltalters, ohne sie zu überschreiten. Hält er vielleicht die Ereignisse der Revolutionszeit für noch nicht reif zur historischen Behandlung? Im strengsten Sinne verstanden mag das seine Ansicht sein. Wie sollte aber ein so geistreicher, alles Menschliche so scharf beobachtender Mann nicht auch den lebendigsten Antheil an der werdenden Geschichte der Gegenwart nehmen? Es wäre, als ob ein Geognost vor den noch andauernden Umbildungen der Erdrinde die Augen schlösse. Kein Wunder daher, daß Ranke eben die neueste Geschichte am häufigsten zum Gegenstande seiner Vorlesungen erkoren. Noch mehr: er unternahm es, in den Jahren 1832 bis 1836 im Vereine mit Savigny u. A. eine eigene historisch-politische Zeitschrift herauszugeben, in der Absicht, denkende Zeitgenossen zu belehren, auf daß sie ihre Zeit nicht nach irgend einem Begriffe, sondern in ihrer Realität zu verstehen und mitzuleben vermöchten. Die Zeitschrift wendet sich an die Menge der wohlgesinnten, ruhigen, verständigen Männer in Deutschland, welche Fähigkeit und Neigung haben, das Wesen von Scheine zu unterscheiden; ihrer Ueberzeugung einen Mittelpunkt zu geben, ist der Ehrgeiz des Verfassers. Es ist deutlich, daß er damit einen Damm aufrichten wollte wider die seit den Tagen der Julirevolution immer mächtiger andringende Fluth der liberalconstitutionellen Ideen. Die Gährung in den constitutionellen Staaten Süddeutschlands, die Aufregung der politischen Presse ist ihm widerwärtig; den Ausdruck der Gedanken möchte er freigegeben, den Ausbruch der Leidenschaft jedoch verhütet sehen. Den verschiedenen Staaten Deutschlands eine straffe Einheit unter gleichen poetischen Formen auflegen, das heißt ihm die naturwüchsige Besonderheit der einzelnen Provinzen gefährden. „Wollt ihr die Unterschiede vernichten,“ lautet sein Warnruf, „hütet euch, daß ihr nicht das Leben tödtet!“

Man wird dabei unwillkürlich an die Anschauungen Friedrich Wilhelm’s des Vierten erinnert. Die Nation aber konnte diesen Mahnungen ihres großen Geschichtschreibers unmöglich mit der Theilnahme lauschen, die sie ihm sonst geschenkt; sie war sich bewußt, mit ihren freisinnigen Wünschen nach einem nothwendigen und idealen Ziele zu streben; von wannen ihr der Anstoß dazu gekommen, verschlug ihr nichts. Fast schien es, als ob Ranke, der sich so sorgfältig gehütet, die Gegenwart in die Vergangenheit hineinzutragen, hier gleichsam den umgekehrten Anachronismus beginge, dem heutigen Dasein vom Standpunkte früherer Epochen aus Maß zu geben. Auch waren mit solchen Worten die Stürme nicht mehr zu bannen. Ranke ist, so viel wir wissen, seit 1836 nicht wieder als politischer Schriftsteller hervorgetreten – hernach erst hat er seine bedeutendsten und umfangreichsten historischen Arbeiten vollbracht – und wie viel hat nicht seitdem das deutsche Volk selber an politischer Erfahrung gewonnen! Wer wollte da noch rechten über die Meinungen der dreißiger Jahre? –

Wir haben versucht, was wir dem Schriftsteller verdanken, kurz andeuten; ein eigenes Buch würde es erfordern, wollten wir noch alle die musterhaften kleineren kritischen oder historischen Aufsätze aus Ranke’s Feder besprechen, deren unter anderen auch jene Zeitschrift eine Menge enthält. Noch minder aber können wir seiner Lehrthätigkeit in den folgenden Bemerkungen gerecht werden, denn die Wirksamkeit eines Lehrers, auf der persönlichsten Anregung beruhend, bleibt immerdar unermeßlich. Mehr denn vierzig Jahre sind es schon, daß Ranke an der Berliner Hochschule die [103] Geschichte vorträgt, zumeist die neuere und neueste, allein auch die alte fehlt nicht durchaus, und vorzügliche Theilnahme schenkt er dem Mittelalter, dessen tiefe und warme Auffassung, wie die Einleitungen in allen seinen Büchern bekunden, ihn besonders auszeichnet. Dem Mittelalter, und zwar dem deutschen, hat er denn auch die historischen Uebungen bestimmt, die er seit Ostern 1833 leitet. Hier haben sich die Waitz, Sybel, Giesebrecht, Köpke, Dönniges, Wilmans, Hirsch, Jaffé, O. Abel und Wattenbach gebildet; von hier gingen die Jahrbücher des deutschen Reichs unter dem sächsischen Hause aus, in denen zum ersten Male das echte Metall der Monumenta Germaniae ausgemünzt und auf den Markt geworfen ward. Wenn jetzt dies Unternehmen von der Münchener historischen Commission in größerem Umfange weitergeführt wird, so übt auch da Ranke den vorwaltenden Einfluß aus, der ihm gebührt. Dort sieht er denn auch andere Wünsche der Erfüllung zureifen, die er einmal ausgesprochen: man sammelt endlich die Acten unserer Reichstage, man schreibt die Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Nach solchen Vorbereitungen wird es dereinst möglich sein, eine alle Epochen umfassende, wahrheitsgetreue, gründlich erforschte und den Leser fesselnde Geschichte unseres Volkes zu schreiben, eine Aufgabe, die selbst Ranke heute noch nicht lösen zu können meinte.

Wie muß es ihn erfreuen, nun seine Schüler, ja seiner Schüler Schüler, die Enkel, möchte man sagen, seines Geistes, in emsiger Arbeit dazu begriffen zu sehen! Er selbst aber legt mit nichten die Hände in den Schooß: noch im Sommer 1865 ging er, ein Siebenziger, über den Canal, über die irische See, um für die britische Geschichte in den Archiven zu studiren; noch jetzt verbringt er seinen Tag inmitten seiner Bücher, forschend und schreibend. Ein kleiner Mann, unansehnlicher Gestalt – zu scheinen hat er nie verstanden – aber unter der mächtigen Stirn leuchten die blauen Augen in lebendiger Klarheit. Er trägt frei vor, in den Stuhl zurückgelehnt und doch immer in Bewegung; bald schnell die Worte hervorstoßend, lebhaft, wie der Gedanke in ihm entspringt, bald wieder sinnend, zweifelnd, zaudernd, um bedächtig und sorgsam das Urtheil zu wägen, den Ausdruck abzumessen. Möge er noch lange bleiben, wie er ist, fröhlich, kräftig, rührig, und weiter wirken und schaffen, sich selber zur Freude, dem deutschen Namen zur Zierde, dem jüngeren Geschlechte zur Nacheiferung![1]


  1. Wie wir erfahren, wird am Tage von Ranke’s Jubiläum im Verlage von Duncker und Humblot in Leipzig der erste Band einer Gesammtausgabe seiner Werte erscheinen. Dieselben werden etwa sechsunddreißig Bände umfassen, von denen vier bis sechs im Jahre zur Ausgabe gelangen sollen.
    D. Red.