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Ein russischer Patriot

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Titel: Ein russischer Patriot
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 758–761
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Alexander Iwanowitsch Herzen
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Ein russischer Patriot.

(Mit Portrait.)

Es sind neun bis zehn Jahre her, da begegnete man in London einer Reihe von Gestalten, die trotz des Zusammenflusses von Menschen aller Länder in der großen Weltstadt, sogleich auffielen und im Augenblick sich als Nicht-Engländer zu erkennen gaben. Es waren meist Männer mit langen Bärten, die man damals in England gar nicht trug, weshalb denn auch jene Leute der Gegenstand fortwährender, oft auf impertinent englische Weise kund gegebener Bemerkungen in den Straßen und an öffentlichen Orten waren. Seit dem Krimkriege haben die Engländer selbst die langen Bärte angenommen, und dieses Unterscheidungszeichen ist null geworden, auch haben jene Leute, die damals, von einer tiefen Aufregung ergriffen, sich theils feindlich, theils als völlige Neulinge dem fremden Lande gegenüber stellten, sich beruhigt, der Nothwendigkeit unterworfen und, wenigstens äußerlich, dem englischen Leben assimilirt.

Ich spreche von den Flüchtlingen der politischen Bewegungen von 1848, die aus allen davon ergriffen gewesenen Ländern sich auf dem gastfreien Boden Englands zusammen gefunden hatten. Im Anfang, noch erfüllt von dem kaum Geschehenen und noch der Hoffnung lebend, daß sich binnen Kurzem ähnliche erfolgreichere Versuche machen würden, bildeten diese Leute wirklich eine Art Vereinigung, ein Centrum eines politisch erregten Lebens, von dem aus sie auf die verlassene Heimath zurückzuwirken hofften. In diesem kleinen Kreise brüderlich vereinter Menschen, aus den wichtigsten Ländern Europa’s, dachten sie den Völkern, denen sie angehörten, ein Vorbild zu geben von der Verwirklichung des Traumes, den die Edelsten unter ihnen geträumt: die Aufhebung der trennenden Schranken nationaler Staaten und die Verbrüderung der verschiedenen menschlichen Gesellschaften in der Freiheit.

Die Hoffnung wurde zu nichte, die Geschichte ging einen andern Gang; jener Kreis löste sich auf, theils durch die Unmöglichkeit, daß Menschen lange zu einem Zweck verbunden bleiben, wenn dieser Zweck sich als unerreichbar in weite Ferne zurückschiebt, theils durch die Nothwendigkeit für die Einzelnen, sich eine Beschäftigung zu suchen, eine Stellung zu gründen, für sich und die Ihrigen Brod zu schaffen. So zerstreuten sich Alle hierhin und dorthin; die Meisten wurden gänzlich absorbirt durch die Sorge für die materielle Existenz; nur einige Wenige konnten, in besonderen Verhältnissen lebend, der unmittelbar politischen Laufbahn treu bleiben. Wer aber in jenem Kreise gelebt hat, wird nicht anders als mit lebhaftem Interesse der vielen bedeutenden Persönlichkeiten gedenken, die, durch gemeinschaftliche Ueberzeugung und gemeinschaftliches Unglück verbunden, selbst in England die lebhaftesten persönlichen Sympathien erregten. Manche von ihnen sind dem Auge entschwunden. Einzelne schon todt, Andere in fernen Ländern verschollen; Einige aber haben nicht aufgehört, die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen und durch eine weitgreifende Thätigkeit auf größere Kreise zu wirken.

Unter den Namen dieser Letzteren glänzt ganz besonders der von Alexander Herzen, der freilich, ein Russe von Geburt, nicht ganz unmittelbar in den Kreis jener Ereignisse hinein gehörte, aber doch durch eine lebhafte Parteinahme bei denselben zunächst sein Exil herbeiführte. Als sich im Sommer 1852 in den Flüchtlingskreisen in London die Nachricht verbreitete, Herzen werde nach London kommen, so erregte dies eine gespannte Erwartung, denn sein Name war erst kürzlich (den Deutschen wenigstens), aber gleich in entschieden bedeutender Weise, bekannt geworden. Es war nämlich 1850 ein Buch von ihm erschienen in deutscher Sprache, unter dem Titel: „Vom anderen Ufer“, in dem zum ersten Male der noch frische Schmerz der Enttäuschungen nach der

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Alexander Herzen.

[759] Revolution von 1848 seinen Ausdruck fand. Dieses Buch war ein Beweis, wie tief Herzen die Ereignisse jener Zeit mitgelebt hatte. Es war ganz unmittelbar unter dem vereinten Einfluß der drei hauptsächlichsten Erregungen geschrieben, welche damals die Seele jedes Edleren unter den Kämpfern für die Freiheit füllten: die Begeisterung für das künstlerische Ideal der Freiheit, der blutende Schmerz über die begangenen Fehler und Irrthümer und der heftige Skepticismus, der als eine gewaltsame Reaction der großen getäuschten Liebe nun an allem Erfolge zu zweifeln begann und die Lebensfähigkeit des westlichen Europas überhaupt in Frage stellte. Der lebhafte, mehr polemisch hinwerfende als theoretisch entwickelnde Styl, die kühne Schärfe des Gedankens, die vor keiner Consequenz; zurückscheute und unverzagt die Finger in die brennenden Wundenmale der Zeit legte, würden schon allein dem Buch eine große Wirkung gesichert haben; erhöht wurde dieselbe aber noch dadurch, daß der Autor ein Russe war und uns zugleich mit seinen Ansichten über den Westen den Blick in eine beinah gänzlich neue Welt eröffnete, wo nach seiner Meinung junge Kräfte unter eigenthümlichen gegebenen Bedingungen einer Entwickelung harrten, deren der Westen nicht mehr fähig schien.

Die Erscheinung Herzen’s hatte also von vornherein das doppelte Interesse, erstens in einem Russen (nur Bakunin war ihm darin vorangegangen) eine leidenschaftliche, thätige Theilnahme an den Freiheitsbewegungen in Europa zu finden, zweitens durch ihn Aufschlüsse und Vorstellungen von jenem ungeheuren Reich im Osten zu erhalten, dessen inneres Leben uns bisher beinah ganz verschlossen gewesen und nur seit wenigen Jahren durch Custine und Haxthausen in ungenügenden Umrissen bekannt geworden war.

Die persönliche Bekanntschaft mit ihm enttäuschte die Erwartung nicht, zu der sein Buch berechtigt hatte. Das kräftig männliche Aeußere, das ausdrucksvolle Gesicht, die schönen, ungewöhnlich treu alle Seelenstimmungen wiederspiegelnden Augen, die lebhafte, blitzende Weise, in der sich eine allseitige Bildung, eine scharfe Beobachtung und ein kühner, schöpferischer Geist sogleich im Gespräch offenbarten – alles dies mußte von vorn herein ein lebhaftes Interesse einflößen. Herzen ließ sich in London nieder. Er war eben von harten Schicksalsschlägen heimgesucht worden. In Zeit von wenigen Monaten war ihm seine Mutter, eine noch jugendlich kräftige Frau, sein zweiter Sohn und ein Freund durch einen schrecklichen Unfall, und in Folge dieses Unglücks seine Frau mit einem eben erst gebornen Kinde durch den Tod entrissen worden. Schwer gebeugt und durch trübe Nebenumstände mehr innerlich gekränkt und zerrissen, als die Welt, außer seinen intimsten Freunden, es ahnen konnte, zog er sich in eine fast völlige Einsamkeit zurück. Hier ging ihm, wie es allen edlen, gesunden Naturen zu gehen pflegt, die Nothwendigkeit auf, sich von der lähmenden Qual des Schmerzes durch eine That zu befreien, und er fing an, seine Memoiren zu schreiben, zunächst nur für seine Kinder und Freunde, dann aber wuchs aus den subjectiven Erinnerungen ein solcher Reichthum allgemeiner Beziehungen herauf, daß er fühlte, dies könnte ein mehr als persönliches Werk werden, und er beschloß, es dazu zu machen, wie er selbst in der Vorrede sagt. Dabei aber blieb er nicht stehen, sondern so wie er in den Memoiren von dem persönlichen Erleben den Blick zurückgewendet hatte auf allgemeine Zustände und Forderungen, insbesondre seines Vaterlandes, so beschloß er, nun auch sein vereinsamtes Leben auf’s Neue dem Besten dieses Vaterlandes zu weihen. Er gründete in London eine russische Presse, durch die er censurfrei die Blitze freier, aufklärender Gedanken nach Rußladt hineinschleudern und Alles das drucken konnte, was daheim unterdrückt wurde. Dadurch hatte er zwischen sich und seinem Vaterlande ein neues großes Band geknüpft, denn seit seiner lebhaften Theilnahme an den Pariser Ereignissen von 1848 war ihm die Heimath verschlossen. Aber freilich, ob das Unternehmen gelingen werde, ob es möglich sein werde, Schriften und Bücher solcher Natur nach Rußland hinein zu bringen, ob die Mittel eines einzelnen Mannes, der, wenn auch vermögend, doch kein Krösus war, hinreichen würden, ein derartiges Unternehmen bis zu einem möglichen Erfolge durchzuführen, ob endlich vor Allem seine Bemühungen in Rußland ein Echo und somit den wahren, lebendigen Wirkungskreis finden würden – Alles dies waren bedenkliche Fragen und erregten Zweifel bei Manchen, die dem Anfang der Sache zusahen. Aber Herzen zweifelte nicht. Mit der Zuversicht, ohne die nie ein großes und kühnes Werk gelingt, ging er an das seine. Er wußte es durch den sicheren Takt des genialen Menschen, daß er ein lebendiges Werk begann und daß ein tausendstimmiges Echo aus dem nur scheinbar schlummernden Rußland ihm antworten werde.

Merkwürdig und erfreulich war es, daß fast die Ersten, die sich um ihn bei diesem Werke schaarten und die er zur thätigen Theilnahme herbeizog, Polen waren. Eine der Haupttendenzen von Herzen war nämlich, daß das an Polen verübte Unrecht wieder gut gemacht werden müsse. Er war einer der ersten Russen, der dies öffentlich aussprach und den Polen die Hand zum brüderlichen Bunde reichte. Sein Drucker selbst war ein Pole, der sich dem Werk mit der größten Hingebung unterzog und jetzt als unabhängiger Eigenthümer an der Spike der Druckerei steht. Einer der edelsten unter den polnischen Flüchtlingen, Stanislaus Worcell (seitdem in London gestorben), begrüßte den Anfang dieses Unternehmens mit Freudenthränen. Bei zwei polnischen Meetings (das eine im Herbst 1853 zur Getächtnißfeier der polnischen Revolution, das andere im Frühjahr 1855 während des Krimkriegs) erschien Herzen auf der Tribüne vor einem zahlreichen Publicum und verkündete die Existenz eines nach Freiheit strebenden, den Polen brüderlich gesinnten Rußlands. Ganz besonders das zweite Mal erregte das Erscheinen dieses liberalen Russen zu der Zeit, wo England gerade Rußland bekämpfte, einen großen Enthusiasmus, und sein Auftreten war ein wahrer Triumph, denn bis dahin war das liberale Rußland im westlichen Europa und besonders in England fast noch nicht bekannt gewesen.

Man kann sagen, daß die politische Thätigkeit Herzen’s sich von Anfang an in drei großen Forderungen concentrirte: 1) die Vernichtung ber autokratischen und bureaukratischen Despotie, 2) die Abschaffung der Leibeigenschaft, 3) die Versöhnung mit Polen und die Emancipation desselben von der russischen Oberherrschaft. – Dies schienen ihm die lebendigen Fragen, um die es sich handelte, und es bewies große Mäßigung und großen politischen Takt, daß er, der theoretisch bis zu dem äußersten Forderungen des Socialismus geht, dabei stehen blieb. Hierin unterschied er sich von mehreren seiner politischen Glaubensgenossen und Mitexilirten, daß er die Freiheit nicht octroyiren wollte, daß er die Unmöglichkeit plötzlicher Uebergänge einsah. Was er verlangte, war die Decentralisation und die Autonomie der Provinzen; das größte Gewicht aber legte er stets auf die freie Entwickelung der tief im Volksleben wurzelnden nationalen Einrichtung der Gemeinde, die allerdings, weil sie auf gemeinschaftlichem Grundbesitz beruht, eine der wichtigsten Fragen der Zeit in sich schließt, ob es nämlich möglich ist, das Proletariat zu vermeiden oder nicht.

Gleich nach dem Tode des Kaisers Nicolaus, welches Ereigniß, wie Herzen hoffte, das Signal für’s Erwachen des russischen Volks sein würde, druckte er einen offenen Brief an den Kaiser Alexander, in welchem er ihn aufforderte, der Bringer einer neuen besseren Zeit für Rußland zu werden und vor Allem die Schmach der Sclaverei aufzuheben, die auf dem unglücklichen russischen Bauer lastete.

Zu gleicher Zeit schuf er ein periodisches Journal,unter dem Namen des „Nordstern“ (l’étoile polaire), zur Erinnerung an die fünf Märtyrer der russischen Revolution von 1825, die eine Zeitschrift unter demselben Titel herausgegeben hatten. In diesem Journal erschienen seine Memoiren in Lieferungen; sie erregten zunächst das persönliche Interesse, welches alle Memoiren haben, indem sie das Publicum mit der Jugend und dem Entwickelungsgang eines Mannes bekannt machten, der nun schon in mehrfacher Beziehung als eine bedeutende Persönlichkeit vor ihm stand. Die Schilderungen, welche er uns darin von seiner Jugend giebt, führen uns in Zustände ein, in denen eine geistig und physisch nicht ungewöhnlich kräftige Natur hätte untergehen müssen. Geboren in Moskau im Jahr 1812 wurde er als ein Säugling aus den flammenden Straßen von Moskau getragen, und französische Soldaten reichten ihm ein Stück Brot, weil die Amme durch den Schreck der Nahrung für ihn beraubt ward. Obgleich der Sprößling einer vornehmen russischen Familie, war seine Stellung doch der Art, daß sie früh in dem denkenden Knaben Betrachtungen entwickelte, die gewiß viel zu seiner späteren Geistesrichtung beitrugen. Er war nämlich in illegitimer Ehe geboren, und obwohl seine Mutter eine unendlich gute, von Allen, die sie kannten, hochgeachtete Frau war und sein Vater ihn außerordentlich liebte, so kamen ihm doch schon früh Aeußerungen zu Ohren, die in seinem jungen Kopfe ihre Arbeit thaten. Auch war der Charakter seines Vaters nicht geeignet, [760] die Jugend eines Kindes heiter und eben zu machen. Das Bild, welches Herzen von demselben entwirft, ist ein wahres, künstlerisches Meisterwerk und eines der gelungensten in dem an originellen Gestalten reichen Buche. Es ist ein Typus, dem man jetzt nicht mehr begegnen kann; noch die volle Tradition der legitimen Aristokratie mit ihrer äußeren Verfeinerung und ihrem bodenlosen inneren Egoismus, vereint mit großer geistiger Begabung, die aber von der Philosophie des vorigen Jahrhunderts nur den Skepticismus, die Ironie und die Menschenverachtung aufgefaßt hatte. In der Einsamkeit, die der fromm gewordene Epikuräer um sich schuf und in der er sich selbst mit halb eingebildeten Leiden, eine sanfte, geduldige Frau mit Launen und eine Dienerschaft mit Despotismus quälte, wuchs der lebhafte Knabe heran; in den dürftigsten Beziehungen zu der Außenwelt; halb verhätschelt, halb tyrannisirt; frühzeitig darauf hingewiesen, seine eigenen Hülfsquellen zu entwickeln, um dem düsteren Einerlei seines häuslichen Lebens zu entgehen. In dieser frühen, durch die Noth entwickelten Thätigkeit nahm wahrscheinlich Herzen’s Charakter diese schöpferische Energie an, die ihn auszeichnete und die ihm über manche schwere Augenblicke seines Lebens hinweggeholfen hat. Die ersten Flammen revolutionärer Begeisterung entzündeten sich in der Seele des vierzehnjährigen Knaben, als die mißlungene Freiheitsbewegung von 1825 mit dem Tode von fünf der edelsten, gebildetsten Männer Rußlands auf dem Schaffot endete, und seine erste politische That war ein Schwur, den Tod jener Märtyrer zu rächen, den er, zusammen mit dem kaum gefundenen ersten Jugendfreunde, auf einer Anhöhe bei Moskau vor dem Abendroth leistete.

Seine Studien an der Universität von Moskan wurden unterbrochen durch eine neunmonatige Untersuchungshaft wegen Theilnahme an der Bildung einer geheimen Gesellschaft, die nie stattgefunden hatte, und geendet mit einem mehrjährigen Exil in Perm, Wiätka und Wladimir, welches der Haft folgte. Noch während des Exils verheirathete er sich, lebte dann, als ihm die Rückkehr gestattet war, in Moskau, im Kreis seiner Familie und seiner Freunde und zog bald die Aufmerksamkeit des Publicums auf sich, durch eine Reihe von Artikeln und Schriften, die er veröffentlichte, theilweise abstrakten Inhalts, theils Novellen und ein Roman: „Wer ist schuld?“ der eine so glänzende Begabung des Autors nach dieser Seite hin bewies, daß man mit Recht bedauern muß, daß seine spätere Lebensrichtung ihn nie auf dieses Gebiet zurückkehren ließ.

Nach dem Tode seines Vaters begab er sich 1847 mit seiner Familie in das Ausland, hielt sich in Paris auf und erlebte dort die Ereignisse von 1848 mit. Dann ging er nach Italien, wo ihn die oben erwähnten harten Schicksalsschläge trafen, und seit 52 lebt er mit seinen drei übrig gebliebenen Kindern in England. Wer diese kurze Skizze seines früheren Lebens auszufüllen wünscht, den verweisen wir auf die Memoiren selbst, die in deutscher, französischer und, zum Theil wenigstens, in englischer Uebersetzung erschienen sind und dem Leser außer dem reichen, bewegten, lebendig colorirten Lebensbild auch die mannigfaltigsten allgemeinen Beziehungen mit Blicke in wunderbare, fremdartige Zustände gewähren. Wir aber wenden uns noch einmal zurück zu der Betrachtung von Herzen’s literarischer und politischer Thätigkeit, als dem, was seine Bedeutung für weitere Kreise und für die Nachwelt ausmacht, wenn gleich denen, welche das Vergnügen haben, seinen edlen, liebenswürdigen Privatcharakter näher zu kennen, auch die Details, die seine Persönlichkeit betreffen, sehr interessant sein müssen.

Außer seinen früheren Arbeiten in Rußland, welche, den Roman und die Novellen ausgenommen, bis jetzt nicht in Übersetzungen existiren, erschienen (schon in Europa) das oben erwähnte „Vom anderen Ufer“ ferner „Briefe aus Frankreich und Italien“, welche die interessantesten Schilderungen aus den bewegten Zeiten von 48 und 49 enthalten; dann mehrere kleine Sachen, unter Andern ein Brief von Michelet; und die Entwicklung der revolutionären Ideen in Rußland“, eine Schrift von ungemeinem Interesse, mit einer geistreichen Skizzirung der wüsten Anarchie der russischen autokratischen Zustände mit einem höchst belehrenden Anhang über die russische Gemeinde.

Die ganze Reihe dieser letzteren Sachen gab Herzen’s Thätigkeit eine eigenthümliche Bedeutung, die nämlich, dem westlichen Europa zum ersten Male durch einen Russen einen tieferen Einblick in das russische Leben zu gewähren. Eine Reihe talentvoller Leute erschien durch ihn vor unseren Augen, von denen wir bis jetzt nichts gehört hatten; wir sahen die Anfänge einer vielversprechenden Literatur, die nur durch den Druck von oben zurückgehalten wurde; wir sahen den verzweifelten Kampf junger, strebender Menschen, die nirgend ein Feld für ihre Thätigkeit finden konnten und theils tragisch untergingen, theils in jene trostlose Gleichgültigkeit verfielen, welche in den literarischen Produkten der ersten russischen Schriftsteller zu einem Typus von Gestalten der Nicolaus’schen Periode geworden ist. Wir erfuhren ferner von der Existenz politischer Parteien, die ganz entschiedene Tendenzen befolgten: die autokratische, die, wie überall, nichts wollte, als die Erhaltung ihrer Macht; die slavophilische, welche als sie ultra-nationale die Herstellung der alt-russischen Formen, das Nalionalgefühl, die Reaction gegen die Reform Peter des Großen beabsichtigte; und endlich die Partei der freien Entwicklung, zu der Herzen und seine Freunde gehörten, die, vertraut mit der westeuropäischen Bildung, demselben Gedankenstrome folgten, der auch den Westen fortriß.

Zu diesen höchst interessanten und damals ganz neuen Mittheilungen gesellten sich andere über das eigentliche Wesen der russischen Autokratie und über das Volk, die nicht minder interessant waren, und es ist der Ort hier, noch einmal zu erwähnen, daß Herzen zur Zeit, als noch die Hand des Kaisers Nicolaus über Rußland lag, es mit voller Zuversicht aussprach, daß die slavische Welt sehnsüchtig ihrer eigentlichen Entwicklung harre und daß, sobald einmal die eisenen Bande, die nur eine starke Hand wie die von Nicolaus zu schnüren vermochte, zerreißen würden, sich dort bald ein reiches und eigenthümliches Leben zeigen werde. Man schüttelte damals allgemein ungläubig den Kopf über solche Behauptungen, und nur Wenige fingen an aufmerksam aus diesen Propheten aus dem Osten zu horchen. Ja man machte ihm sogar einen Vorwurf daraus, daß er, während er die große Lebensfähigkeit und die junge Kraft Rußlands verkündete, an der des westlichen Europas zweifelte; Einige wollten darin den Zug jener eroberungssüchtigen Tendenz sehen, die man anfing den Slaven zuzuschreiben und aus der, wie man behauptete, bereits eine lebendige Propaganda hervorgegangen sei.

Daß dieser letztere Vorwurf für die Slaven überhaupt sich bisher als völlig absurd und unbegründet gezeigt hat, bedarf kaum der Erwähnung. Die Völker des westlichen Europas haben es noch zu beweisen, daß auch der Zweifel an ihrer Fähigkeit zur politischen Wiedergeburt ungegründet war. Daß aber Herzen in Beziehung auf Rußland Recht gehabt, hat sich schneller, als er es vielleicht selbst dachte, gezeigt. Schon der Krimkrieg deckte unleugbar die innere Schwäche der autokratischen Macht auf; der Tod von Nicolaus zeigte es sogleich, daß Rußland nicht minder als der Westen am Vorabend ereignißvoller Zeiten stand. Unter dem sanften Scepter des Kaisers Alexander II. aber brach rasch der lang zurückgehaltene Trieb der Entwicklung sich Bahn. Die Literatur nahm einen gewaltigen Aufschwung, das verhaltene Wort wagte sich kühn hervor; die liberale Partei nicht allein, auch das Volk forderte laut die Aufhebung der schimpflichen Leibeigenschaft, und nun, wenn auch nicht mit der Vollständigkeit, mit der Herzen und seine Freunde es verlangten, ist das Wort doch einmal ausgesprochen und kann nicht mehr zurückgenommen werden; der russische Bauer ist frei und zwar mit dem Besitz der Erde, also kein Proletarier, und er wird diese Freiheit durchzusetzen und zu behaupten wissen unter jeder Bedingung. Wie wahr auch im Uebrigen Herzen prophezeit, beweist die große Bewegung, die jetzt durch ganz Rußland zieht.

Alle jene eben erwähnten Schriften Herzens, die theils in Deutsch, theils in Französisch erschienen und deren Wirkung unmittelbar mehr dem Westen galt als Rußland, waren vor Gründung seiner Presse geschrieben. Von dieser Zeit an schrieb er wieder fast ausschließlich russisch und wendete sich ganz seinen vaterländischen Interessen zu. Sein Unternehmen gelang über alle Erwartung. Das Erscheinen dieser ohne Censur gedruckten Sachen erregte in Rußland einen Sturm des Entzückens, und alle Bemühungen der Polizei vermochten nicht die Einführung der verbotenen Waare zu hindern. Dem „Nordstern“ folgte die Veröffentlichung mehrerer bedeutender Manuscripte, welche Herzen aus Rußland geschickt bekam, unter denen besonders die Memoiren der Kaiserin Katharina II. durch Uebersetzungen sich allgemein verbreitet haben. Eine besondere Wichtigkeit aber erlangte ein politisches wöchentliches Journal, „die Glocke“, das im Jahre 1856 zuerst erschien. Dieses Blatt wurde ein öffentliches Tribunal, vor welchem die Klagen der Unterdrückten laut werden und die schuldigen [761] Bedrücker dem Gericht der öffentlichen Meinung preis gegeben werden konnten. Die Menge der aus Rußland eingehenden Correspondenzen ist unglaublich groß. Unzählige Mißbräuche und Missethaten derer, die „über dem Gesetz stehen“, werden daselbst enthüllt, und manches Uebel wird durch den Schrecken, den dieses Blatt einflößt, abgehalten. Herzen und seine Presse sind eine politische Macht geworden, um seinen Namen schaaren sich die edelsten Sympathien der russischen Jugend und nicht blos der russischen allein, denn – ganz besonders seit den letzten Ereignissen in Warschau, nach welchen er es rückhaltlos aussprach: „völlige Unabhängigkeit für Polen“ und die Verfolgungen der russischen Regierung brandmarkte – gehören ihm auch die polnischen Sympathien aller Parteien, was sich bei Herzen’s Anwesenheit in Paris im letzten Frühjahre kund gab durch eine polnische Adresse, von sechshundert der in Paris lebenden Polen unterzeichnet, so wie durch Adressen von mehreren anderen Orten, wo polnische Flüchtlinge leben.

So kann man denn schließlich sagen, daß sicher keiner der auf fremdem Boden lebenden Exilirten eine so bedeutende Rückwirkung auf sein Vaterland sich erworben hat, wie Herzen. Daß ihn das Glück hierbei begünstigte, ist sehr wahr. Denn erstens war es seine äußerlich unabhängige Stellung, welche ihm die volle Freiheit des Wirkens möglich machte, dann aber war die Lage Rußlands eine solche, daß sich alle praktische Thätigkeit auf ein paar positive, klar gestellte Fragen concentriren konnte, mit deren Lösung zunächst ein ungeheurer Schritt vorwärts geschah. Immerhin aber bleibt es Herzen’s Verdienst, daß er, wie schon oben bemerkt, die Mäßigung hatte, sich, obgleich er selbst theoretisch viel weiter geht, auf diese Fragen zu beschränken, zweitens, daß er seine Mittel, seine Kräfte und seine Zeit mit seltener Energie ausschließlich diesem Wirken widmete. Wir haben ein großes Bedauern auszusprechen, nämlich: daß seine politisch-polemische Thätigkeit ihn ganz von der wissenschaftlichen und belletristischen abzog. Dieses Bedauern muß aber schweigen vor der Liebe und Verehrung, mit der die Russen, die nur irgendwie zur Partei des Fortschritts gehören, seinen Namen aussprechen und erklären, daß er sich ein unsterbliches Verdienst um Rußland erworben. Welch schöneres Loos kann dem Menschen zu Theil werden, als in der Liebe seiner besseren Zeitgenossen schon der Anerkennung der Nachwelt gewiß zu werden! –