Ein classischer Fluß
„Auf Deinen Wanderungen an der Küste der Adria hast Du es sicherlich nicht unterlassen, dem hochinteressanten Flusse Timavus, der Dir aus der Aeneis bekannt ist, einen Besuch abzustatten?“
So fragte mich im vergangenen Jahre mein väterlicher Freund und ehemaliger Lehrer, den ich in seinem Heim, einer Stadt Mitteldeutschlands, aufgesucht hatte.
Leider war mir aus der Aeneide nichts in Erinnerung geblieben als die ersten fünfundzwanzig Verse, welche ich einst als Schüler pro poena auswendig lernen mußte, ferner das „Quos ego“ (Wart’, ich will Euch! etc.), mit welchem Neptun die Winde zur Ruhe verweist, und schließlich die bewußte Höhlen-Scene, in welcher der fromme Aeneas mit Frau Dido eine Civilehe schließt. Glücklicher Weise hatte ich aber den Timavo, wenn auch nur von den Fenstern des Eisenbahnwagens (zwischen Triest und Monfalcone) aus, gesehen, und ich brauchte daher die an mich gestellte Frage nicht direct zu verneinen. Dem pädagogischen Scharfblick meines Lehrers war es aber nicht entgangen, daß es mit meinen Virgilreminiscenzen einigermaßen hapere; die Aeneide wurde herbeigeholt und die betreffende Stelle ausgesucht. Sie findet sich im ersten Buche.
Aeneas mit genauer Noth dem von Juno und Aeolus veranstalteten Sturm entronnen, rastet mit der Mannschaft von sieben geretteten Schiffen in einer Bucht der libyschen Küste und beklagt bei Hirschziemer und Wein aus Trinacria sein und seiner Gefährten Loos. Da tritt zu Jupiter, dessen Kopf von Regierungssorgen schwer ist, Venus, die Mutter des troischen Helden, und liest dem Vater der Götter und Menschen den Text:
„Was hat mein Aeneas so Großes an Dir zu verschulden,
Was die Trojaner vermocht, daß ihnen, den Leidenerschöpften,
Gänzlich der Erdkreis jetzt um Italias willen gesperrt wird?
– – – – – – –
Jetzo verfolget die Männer, die so viel Jammer erduldet,
Immer dasselbe Geschick; wann endest Du, König, die Mühsal?
Konnte doch einst Antenor, umringenden Griechen entronnen,
Tief in illyrische Bucht und das innerste Reich der Liburner
Ohne Gefahr eingeh’n und umschiffen den Quell des Timavus,
Wo aus der Mündungen neun bei lautem Getöse des Berges
Dieser zum Meer vorbricht und die Flur umbrauset mit Brandung.
Gleichwohl gründete jener Pataviums Stadt“ – – –
(Virgil’s Werke. Deutsch von Dr. Wilhelm Binder.)
Diese Stelle, natürlich im Original, mußte ich lesen; die Fehler, die ich mir beim Lesen der Verse zu Schulden kommen ließ, und die mein verehrter Lehrer vor fünfzehn Jahren streng geahndet haben würde, corrigirte er mit Milde, und schließlich nahm er mir das Versprechen ab, den interessanten Ort zu besuchen, sobald ich Gelegenheit dazu haben würde.
An einem klaren Frühlingsmorgen des vergangenen Jahres trat ich meine Entdeckungsreise von Triest aus an. Weniger die Furcht vor den Verfolgungen der Juno und des Aeolus, als der Mangel einer Schiffsgelegenheit bestimmte mich, den Landweg einzuschlagen, und so fuhr ich denn mit dem nach Italien gehenden Frühzuge ab, und nach kurzer schöner Fahrt, immer am Meere hin, rief der Schaffner: „Station Monfalcone, fünf [182] Minuten!“ Ich eilte in’s Freie. Ohne mich mit der Besichtigung Monfalcones und seiner Thermen aufzuhalten, wanderte ich auf der nach Triest zurückführenden Landstraße wohlgemuth in den thaufrischen Morgen hinein. Die gutgehaltene Straße, welche sich anfangs zwischen fruchtbaren Gärten und Weingeländen, später zwischen Sumpfwiesen hinwindet, führte mich in dreiviertel Stunden an die Quellen des Timavo, und ich empfand die Freude, welche den erfaßt, der classischen Boden betritt.
Und classischer Boden ist die Umgebung des Timavo, denn nicht nur Virgil, sondern wohl an zwanzig Schriftsteller des Alterthums erwähnen den merkwürdigen Fluß. Er spielt bereits in den Sagen von den Wanderungen der Veneter eine Rolle; an seinem Ufer errichteten [182] sie dem aus dem Hercules-Mythus bekannten thracischen Diomedes, gewissermaßen als dem Patron der Pferdezucht, einen Tempel und umgaben diesen mit einem heiligen Hain, in welchem windschnelle Rosse gezogen wurden. Am Timavus tränkte der Dioskure Castor sein Roß Cyllarus; hier stritten zu Wasser die Argonauten mit den Euganeern, und es wäre ihnen übel ergangen, wenn nicht der Gott Glaucus ermuthigend sein Haupt aus dem Wasser emporgestreckt hätte. Noch im Ausgange des Alterthums bis in das Mittelalter hinein fanden sich sowohl am Timavus als auch an anderen Punkten der adriatischen Küste mannigfache Anklänge an die Argonautensage. Man zeigte einen Berg der Medea, in welchem nach dem Volksglauben eine schöne Zauberin (ähnlich der Frau Venus im Hörselberg in Thüringen) hauste, und ein Vorgebirge bei Durazzo in Albanien hieß noch um das Jahr 1107 das Cap Jason. Jetzt erinnert nichts mehr, kein Ortsname, keine Schiffersage an die Fahrt der Argoschiffer, aber vielleicht ist es den Bemühungen eines Schliemann vorbehalten, aus dem Grundschlamm des Timavo den Toilettekasten der Medea oder das Messer, mit welchem sie ihren Bruder Absyrtos abschlachtete, auszugraben.
Der Timavo würde auch dann, wenn er nicht durch die hellenische Heroensage eine Weihe empfangen hätte, allein durch seinen Anblick auf jeden, der ein Auge für Naturschönheit hat, einen unauslöschlichen Eindruck machen. Nicht in der Weise anderer Flüsse, die, aus zusammenrieselnden Wasseradern gebildet, sich meilenweit als schwache Bäche hinziehen, tritt er an das Licht, sondern er quillt, wenn auch nicht mit gewaltigem Brausen, wie Virgil singt, aus drei (nicht mehr neun) Spalten des Karstgebirges, durchfließt in ebensoviel Armen eine neunhundertachtzig Meter lange Strecke und ergießt sich dann als breiter Strom in den Meerbusen von Monfalcone.
Um einen Ueberblick über den Timavo zu erhalten, müssen wir von dem an dem rechten Ufer gelegenen Dörfchen San Giovanni ein paar hundert Schritte bergauf steigen; wir haben alsdann den gewiß seltenen Genuß, einen Fluß von seiner Quelle bis zu seiner Mündung überblicken zu können, einen Fluß, der so mächtig ist, daß er unmittelbar nach seinem Ursprunge eine große Mühle treibt und kleineren Segelschiffen Ankergrund gewährt.
Zudem war ich bei meinem Besuche des merkwürdigen Punktes von dem herrlichsten Wetter begünstigt. Eine mäßige Bora hatte kurz zuvor die Atmosphäre gereinigt; spiegelglatt lag die See, auf welcher sich winzig wie Möven die weißen Segel der Fischerbarken bewegten; scharf abgegrenzt streckten sich die Landzungen in die blinkende Fläche, und vom jenseitigen Ufer der Bucht grüßte die alte Aquileja herüber. Lange saß ich auf einem Felsblocke versunken in den Anblick des wunderbaren Flusses, und erst die höher steigende Frühlingssonne, deren Tücke im Süden mit Recht gefürchtet wird, bewog mich den Schatten einer Osteria aufzusuchen, wo ich mit dunklem Terrano (Landwein) den Argonauten, dem Trojaner Antenor, dem Sänger Virgil und nicht zuletzt meinem väterlichen Freunde in der Heimath ein reichliches Trankopfer brachte.
Der Timavo ist eines jener Naturwunder, mit denen das österreichische Küstenland und Krain so reich ausgestattet sind. Die Stalaktitengrotte von Adelsberg ist weltberühmt, auch der Zirknitzer See, in dem man fischt, jagt und erntet, ist in weiten Kreisen bekannt, aber die zahlreichen andern Höhlen, die Wasserfälle, die plötzlich verschwindenden und unvermuthet wieder zu Tage tretenden Gewässer, welche das steinige Karstgebirge zu einem der interessantesten von Europa machen, sind noch lange nicht gehörig gewürdigt worden, und doch übertreffen sie an Großartigkeit die meisten der in diese Kategorie gehörenden Naturschönheiten, welche an der breiten Touristenstraße liegen.
Zu jenen soeben erwähnten Flüssen gehört auch unser Timavo, denn sein Wasser ist kein anderes, als das durch unterirdische Zuflüsse verstärkte Wasser der Reka, welche am Mont Lissatz entspringt und bei dem vier Meilen von San Giovanni entfernten Dorfe San Canziano im Grunde eines tiefen Felsentrichters verschwindet.
Ob der Timavo in der That mit der Reka im Zusammenhange stehe, darüber war man lange im Zweifel, bis ein weiser Mann, dessen Namen ich der Nachwelt leider nicht überliefern kann, auf den Einfall kam, in die Reka bei San Canziano Korkstöpsel werfen zu lassen und am Timavo aufzupassen, ob dieselben dort wieder zu Tage kommen würden. Dies geschah [183] und die schwierige Frage war gelöst. Ueber die Richtung des unterirdischen Laufes der Reka, sowie über die Zuflüsse, welche sie empfängt, ist indessen bis heute noch nichts Bestimmtes ermittelt worden.
Es war einige Tage nach der Timavo-Expedition, als ich mich in Begleitung einiger Landsleute nach dem auf dem Karstplateau gelegenen, vier Stunden von Triest entfernten San Canziano auf den Weg machte.
Aus der Steinwüste des entwaldeten und darum wasserarmen Gebirges erhebt sich San Canziano wie eine Oase. Die für den Karst charakteristischen Dollinen (so heißen auf Slovenisch trichterförmige, durch Einsenkungen entstandene Mulden) nehmen um das [183] Dorf herum gewaltige Dimensionen an, und ihre Wände sind mit frischem Grün anmuthig bekleidet. In der Osteria wies man uns den Weg nach der Behausung des Mannes, dem es obliegt, den Fremden die unterirdischen Wunder von San Canziano zu zeigen. Der Führer, ein alter, einäugiger Mann, der außer seiner Muttersprache, der slovenischen, auch italienisch und deutsch sprach, hieß uns in wohlgesetzter Rede willkommen, und nachdem er sich mit einer Pechfackel und einem Bündel Talgkerzen versehen hatte, traten wir unsere Wanderung an.
Oberhalb des Dorfes verschwindet die Reka (slavische Bezeichnung für „Fluß“), nachdem sie einige Mühlen gespeist hat, zum ersten Male, um einige hundert Schritte weiter unten im Grunde einer tiefen Dollina auf kurze Zeit wieder zum Vorscheine zu kommen, Abermals verschwindet das Wasser, durchbricht dann die Wand eines über hundert Meter tiefen Trichters und stürzt in den Grund desselben, wo es sich zum letzten Male verliert, um erst wieder als Timavo zu Tage zu kommen. Der letzte und tiefste Trichter ist zugänglich gemacht worden. Auf steil abwärts führendem Pfade gelangten wir an eine mit einer Thür versehene Mauer, durch welche der Zugang zu dem Schlunde abgesperrt ist. Unser Führer öffnete die Thür, und nachdem er uns zur Vorsicht ermahnt hatte, stiegen wir in die Tiefe. Vorsicht ist allerdings nöthig, und wer von Schwindel nicht frei ist, der thut besser, die Fahrt zu unterlassen. Es sind wohl Stufen gelegt und an den gefährlichsten Stellen Holzgeländer angebracht, doch sind die Stufen so schmal und steil, zudem glatt und schlüpfrig, daß sie dem Fuße keinen sicheren Halt gewähren, und was das Geländer anbelangt, so war es so morsch, daß uns der Führer selbst warnte, uns desselben zu bedienen. Wir stiegen behutsam hinab. Hin und wieder rasteten wir und sandten einen Blick in die Tiefe, aus welcher dumpfes Brausen empordrang; dann wieder ruhte unser Auge mit Behagen auf dem jungen Grün, mit welchem die fast senkrechten Wände bedeckt waren. Blütheneschen, Hopfenbuchen, verwilderte Feigenbäume, Eichen und wilde Rosen wurzelten in den Felsenspalten. Jeder Vorsprung war mit saftigem Graswuchse überzogen, und über den grünen Rasen hoben Veilchen, Potentillen, Schlüsselblumen und goldgelbe Aurikeln ihre Köpfchen empor.
Bevor wir noch auf dem Grunde des Trichters ankamen, gelangten wir an den Eingang einer Grotte. Eine Menge wilder Tauben (Columba livia, Stammmutter unserer Haustaube), die hier nisten, flogen bei unserer Annäherung erschreckt auf und stiegen dann in die Höhe, bis sie unserm Auge wie weiße in der Luft schwebende Flaumfedern erschienen und schließlich ganz entschwanden. Die Grotte zieht sich über eine Viertelstunde lang in mannigfachen Windungen in den Berg hinein; aber die Stalaktitengebilde, welche von der Wölbung niederhängen, sind durch das häufig eindringende Wasser verstümmelt und verunreinigt, so daß ein weiteres Vordringen auf dem schlüpfrigen Pfade nicht lohnend genug ist.
Nach kurzer Rast in der Vorhalle der Grotte kletterten wir die letzte Strecke hinunter und standen bald Alle auf einem Felsblocke, der sich über das brausende Wasser erhebt. Uns gegenüber erblickten wir eine tiefe, breite Spalte, welche die Wand des Trichters ihrer ganzen Länge nach durchzieht. Hier stürzt die ganze Wassermasse der Reka senkrecht herab; noch einmal stellt sich ihr ein Felsenvorsprung hemmend in den Weg, dann fällt sie schäumend unter donnerähnlichem Getöse auf den Boden des Kessels, umwogt brandend die glattgewaschenen Steinblöcke und verliert sich nach Westen hin gurgelnd in die unbekannte Tiefe. – Nachdem wir uns hinlänglich Zeit gegönnt hatten, um das erhabene Schauspiel recht zu genießen, kletterten wir wieder in die Höhe. Aber noch einmal machte unser Führer Halt und zwar vor einem natürliche Stollen, welcher dem Anscheine nach in horizontaler Richtung in den Berg hineinführte. Er entzündete die mitgebrachte Fackel und gab Jedem von uns eine brennende Talgkerze in die Hand; dann legte er sich nieder und kroch ohne Weiteres in die Höhle hinein. Nach einigem Zaudern folgten wir auf Händen und Füßen kriechend nach; aber um die Wahrheit zu gestehen – Jeder von uns wäre wohl gern nach einer Minute wieder umgekehrt, wenn dies nur möglich gewesen wäre; das Gestein, auf welchem wir vorwärts krochen, wurde nämlich schlüpfriger und schlüpfriger, und die anfangs horizontale Richtung des Ganges schien allmählich in die verticale übergehen zu wollen, so daß wir jeden Augenblick befürchteten, kopfüber in die Tiefe zu fahren. Dazu die drückende Luft, der Dampf der [184] Talglichter und die Felskanten, die unsere Köpfe bedrohten – mit Einem Worte, die Lage war höchst unerquicklich. Glücklicher Weise endete unsere Maulwurfspartie schon nach wenigen Minuten; Tageslicht blendete unsere Augen; Wasserstaub besprengte unsere Gesichter; noch ein paar Fuß weiteren Kriechens, und wir befanden uns auf einem schmalen Felsenrande, wenige Armeslängen entfernt von dem Wasserfalle, da, wo er aus dem Gestein hervorbricht.
Die erhabene, fast grauenerregende Schönheit des Punktes, gesteigert durch das die menschliche Rede übertönende Gebrause des Wassers und das ängstliche Flattern der von uns aufgescheuchten Tauben, versetzte uns in jene Stimmung, in welcher der Mensch sich seiner Ohnmacht gegenüber der furchtbaren Gewalt der Elemente bewußt wird.
Wie wir gekommen, begaben wir uns zurück, und nach wenigen Minuten Steigens standen wir wieder am Rande des Schlundes. In der Osteria zeichneten wir unsere Namen in das zerrissene und beklexte Fremdenbuch ein und wanderten dann wohlgemuth, aber müde und hungrig nach dem eine Stunde entfernten Dorfe Corgnale, dessen Tropfsteinhöhle die Adelsberger Grotte in mancher Beziehung übertrifft, und die wohl auch ein Plätzchen in der Gartenlaube verdiente.