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Ein Reisemärchen/Viertes Capitel

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Textdaten
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Autor: Alfred de Musset / P.-J. Stahl
Illustrator: Tony Johannot
Titel: Ein Reisemärchen
Untertitel: Viertes Capitel
aus: Illustrirte Zeitung, Nr. 3 vom 15. Juli 1843, S. 46–47
Herausgeber: Johann Jacob Weber
Auflage:
Entstehungsdatum: 1843
Erscheinungsdatum: 1843
Verlag: J. J. Weber
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: Oskar Ludwig Bernhard Wolff
Originaltitel: Le Voyage où il vous plaira
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: MDZ München, Commons
Kurzbeschreibung:
Fortsetzung: Ein Reisemärchen/Fünftes Kapitel
Eintrag in der GND: [1]
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Bearbeitungsstand
fertig
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[46]
Ein Reisemärchen.
(Fortsetzung.)
Viertes Capitel.
Wie Franz ganz beschneit nach Hause geht und nachdenkt. Betrachtungen über Tagebücher.

Des Majors forschender Blick hatte Franzen ganz bestürzt gemacht, um so mehr, als die sonst so heitere ruhige Maria auch traurig ausgesehen. Mechanisch war er daher nach seiner Wohnung geeilt und hatte erst bemerkt, daß er unterwegs ganz beschneit worden, als er sich vor seinen Ofen hingesetzt und eine Pfeife angezündet.

Er stellte nun allerlei Betrachtungen an. Ich glaube, es ist aber besser, ich lasse ihn selbst reden und höre ihm zu; oder vielmehr, ich lasse ihn selbst schreiben und lese es zu gleicher Zeit mit dem geneigten Leser; denn was nun folgt, das besitze ich von seiner eignen Hand geschrieben in Papieren, die er mir am Abend vor seinem Hochzeittage gab. Ihr wißt, gerade wenn man sich verheirathet, besitzt man oft Dinge, die man eben so ungern bewahren wie verlieren will; diese Dinge vertraut man dann einem Freunde an, dieser vertraut sie wieder einem Freunde an und so von Freund zu Freund gelangen sie endlich bis zu Dir, geliebter Leser! Warum sollten sie das auch nicht?

Es ist also Franzens Portefeuille, das wir zusammen öffnen wollen. Ich sage Portefeuille, ich könnte auch Lebensreisemappe sagen – Album würde eben so gut passen – denn Franz hatte die Eigenheit, wenn es ihm gerade an Tinte fehlte, oder seine Federn nichts taugten, seinen Bleistift zu nehmen und zu zeichnen anstatt zu schreiben, oder auch, was noch viel schlimmer war, wenn sein Bleistift keine Spitze und er kein Messer bei der Hand hatte, Verse zu machen. –

Das Portefeuille enthält daher Franzens Tagebuch im weitesten Sinne des Wortes.

Tagebuch! das heißt eigentlich Lügenbuch; denn auch der wahrste Mensch wird unwahr, wenn er ein Tagebuch führt. Er schreibt nicht auf, was er gedacht und gefühlt hat, sondern was er hätte denken und fühlen sollen oder müssen. Das bringt er aufs Papier, als hätte er es gedacht und gefühlt. Wer etwas schreibt, denkt sich im Schreiben desselben schon einen Leser, und den Leser eines Tagebuchs, nämlich sich selbst, denkt der Schreiber desselben als die Quintessenz einer Welt. Mit dieser Welt nun, die obligat als Instrument eines Virtuosen die Lebensarie stets begleitet, liebäugelt der Verfasser unwillkürlich und unaufhörlich und bemüht sich unablässig, sich und Alles, was sich auf seinen Helden bezieht, im glänzendsten Lichte darzustellen, obwohl nicht jederzeit, trotz der hellen Beleuchtung, deutlich. Ein Tagebuch gleicht einer Landschaft, die um eine Figur herum gemalt wurde; Alles ist daher, wenn auch unbewußt, auf Effect berechnet, und die vorherrschende Leidenschaft oder Neigung des Schreibers setzt allein die Lichter auf oder spart sie aus, je nachdem er sich die Farbe bereitet.

Diese Bemerkung soll den Leser indessen nicht gegen Franzens Tagebuch stimmen. Damit das nicht geschieht, bitte ich ihn, dasselbe mit dem seinigen zu vergleichen. Dabei gewinnen beide Theile. Entweder findet er, daß er wahrer und besser sei, und das freut ihn; auch leidet Franz nicht darunter, denn als ein besserer Mensch muß er – der Leser – Mitleid mit dem armen Verirrten empfinden. Es ist ja ein sehr angenehmes Gefühl, an die Brust schlagen und sagen zu können: „Herr, ich danke dir, daß ich nicht bin wie dieser Einer!“ – und viele Leute kitzeln sich in unseren Zeiten damit. – Oder auch: er findet Franzens Tagebuch interessanter, und das ist ebenfalls ein Gewinn. Denn wer liest nicht gern etwas Interessantes!

Natürlich bleibt es dem Leser überlassen, selbst zu entscheiden, nachdem er es durchgelesen, wo der Gewinn lag.

Ich bemerkte oben, daß Franz Verse machte, wenn er gerade kein besseres Material zur Hand hatte; hier sind einige von diesen Versen – das Bündelchen, das auf dem Tische liegt und herunterzufallen droht, enthält Nichts als solche. Sehen wir, ob es sich der Mühe lohnt, sie zu lesen; [47] man kann sie ja ohne alle Mühe überschlagen, wenn es nicht der Fall ist, und, ohne lange zu suchen, gleich wieder auf dem Festlande der Prosa weiterreisen.

Es sind übrigens auch Reiseerinnerungen, und da wir einmal zusammenreisen, freundlicher Leser, so gehören sie, denke ich, ebensowohl zum Ganzen, wie alles Andere, um so mehr, als sie uns noch deutlicher denn jenes zeigen, wie Franz sein Ich sich selber darstellte. Damit sie Dich aber nicht ermüden, wollen wir sie nur einzeln einschalten, und wenn sie Dir gar zu sehr mißfallen, betrachte sie als Löschblätter, die zwischen den Seiten liegen und wirf sie hinaus, ohne sie zu lesen. Franzens Muse war allerdings eine andere Dame, als Du Dir einbildest; sie gehörte nicht zu den neun Schwestern des Alterthums, sondern war ein nachgeborenes Kind, so zu sagen ein Findelkind des Apoll und hieß Eventura.

Waren es Mißgeburten, die Franz mit ihr in das Leben rief? Mir kommen sie allerdings etwas wunderlich vor. Urtheile jedoch lieber selbst.

Faustgedanken.

Wer kämpft nicht gegen Raum und Zeit
Mit Faust’s rebellischen Gedanken,
Wer strebt nicht über Erdenschranken
Hinaus nach Unermeßlichkeit?
Einmal naht Jedem solcher Tag,
Wo er, was sonst ihn herzlich freute,
Mit Blumen seinen Pfad bestreute,
Nicht länger lieben will, noch mag.

Dann noch gefesselt sein am Ort,
Den selten man sich selber wählte
Und wo man oft die Stunden zählte
Mit heißem Wunsch: O wär’ ich fort!
Das ist der schwerste Zwang und Bann,
Das schrecklichste von allen Leiden,
Daß man dem Drange, rasch zu scheiden,
Doch nicht Gehorsam leisten kann.

So trifft auch mich der Menschheit Fluch.
Ich hatte Alles überwunden,
Zerrissen, was mich sonst gebunden
Und mich so lang’ in Fesseln schlug.
Ein freier Mann wähnt’ ich zu sein
Nach so viel kummervollen Nächten;
Da stellt, gesandt von Höllenmächten,
Ein neues Hinderniß sich ein.

Den heut’gen Morgen grüßt’ ich froh
Als meinen lang ersehnten Retter.
Doch tobt’ ein so abscheulich Wetter,
Daß Alles in die Stuben floh.
Es läßt kein Hund sich draußen sehn
Und unaufhaltsam strömt der Regen;
Fürwahr, das ist ein schöner Segen,
Um auf die Wanderschaft zu gehn!

Ich kann nicht fort – es hält mich fest. –
O Mensch! das ist dein Loos auf Erden,
Daß dich die Furcht, recht naß zu werden,
Nie frei und sicher handeln läßt.
Sie hat selbst Aufruhr schon bekämpft,
Revolutionen, die Tyrannen
Mit Schwert und Strick nicht konnten bannen,
Im Nu und wie zum Spiel gedämpft.

Drum wer als neuer Faust den Pact
Mit Mephistopheles will schließen,
Der Erde Freuden zu genießen,
Vergesse nicht, in dem Contract
Die Clausel wohl zu schalten ein:
„Wenn ich zum Dienst mich dort bequeme,
Darf, falls ich Reisen unternehme,
Hier niemals schlechtes Wetter sein.“

Denn Regenguß und kalter Wind,
So wie zur Unzeit große Hitze,
Sie lehren uns, trotz allem Witze,
Wie wenig doch wir Menschen sind.
Auch wird der Teufel nie bereit
Sich zeigen, uns das zu gewähren;
Er muß das schlechte Wetter ehren
Als seine beste Erntezeit.

(Fortsetzung folgt.)