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Ein Kinderhandel

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Ein Kinderhandel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 55–56
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Schwabenkinder
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Ein Kinderhandel.


In einem Hochgebirgsthale, tief in den Alpen, lag das Dorf, in welchem ich kurz vor den frohen Festtagen der Ostern ein ungewöhnliches Leben fand. Ein bärtiger Mann, nicht fremden Aussehens, sondern in der Tracht der Bauern des Landes, schritt von Hütte zu Hütte und pochte an die kleinen Fenster. Sein Erscheinen war offenbar erwartet, aber nicht wie etwas Freudiges, denn bei seinem Anblick weinten viele Kinder und nahmen Abschied von den jammernden Müttern und Geschwistern und von den Vätern, von denen mancher auch mit weinte. Ach, war das ein Händeringen, als der bärtige Mann an die Fenster klopfte! Und hinter den Fenstern, wie sah es da so armselig aus! Die Kartoffeln mit ein wenig Salz auf dem blanken Tisch, das war das Abschiedsmahl, und da liegen die Reisebündel, nichts darin als ärmlichste Kleider und als das Kostbarste ein paar Stückchen Brod. Der gefürchtete Mann tritt herein. Die Mutter stößt einen Schrei des Schreckens und des Schmerzes aus, sie umfaßt die reisefertigen Kinder mit ihren zitternden Armen und die Geschwister wollen hier das Brüderchen, dort das Schwesterchen nicht fortlassen. Aber der Mann hat schöne, klingende, blanke Thaler auf den Tisch aufgezählt, und der Vater zählt sie genau nach – und an dem Glanz des Geldes trocknen ihm – ja, es ist fast unglaublich! – trocknen sogar mancher Mutter die Thränen. Der Vater führt die reisefertigen Kinder vor die Thür, wo schon gar viel andere des Dorfes stehen – und mit argem Schluchzen und Weinen zieht die Schaar hinaus und fort, immer dem bärtigen Manne nach.

Trotz der Osternähe, die der Welt den Frühling verkündet, ist im Hochgebirg der Winter noch Herr. Seht nur die Schaar, die dort über den wildesten Paß des Gebirgs dem fremden Manne folgt. Wie schwer wird ihnen der Weg, weil jedes der Kinder sein Päcklein unterm Arm oder in der Hand oder auf dem Rücken trägt! Wie sie ringen mit den Schneemassen, oft versunken bis an die Brust, – ja, dort verschwinden ein paar ganz, wie lebendig bedeckt vom weißen Leichentuch, – und doch raffen sie sich wieder empor. Wohl, sie haben sich ja mit Stricken aneinander festgebunden, um Keines zu verlieren.

Ist es eine besondere Osterfeier, zu welcher die Kinder so weit her und schaarenweise geführt werden? Jawohl, es ist eine Ostermesse, zu der sie ziehen, aber keine kirchliche mit Wandlung und Abendmahl, sondern ein Kindermarkt, eine Kauf- und Verkaufgelegenheit, für welche diese Kinder die Waare sind. Der fremde Mann hat die Kinder ihren Eltern für eine bestimmte Zeit abgekauft, er zieht mit seinem Handelsartikel zum alljährlichen allbekannten Marktplatz und verkauft sie dort für dieselbe Zeit. Wir haben eine Art von Menschenhandel vor uns, dem einige Aehnlichkeit mit dem einst zwischen Afrika und Amerika schwunghaft betriebenen Negerhandel nicht abzusprechen ist.

Und – es wird Einem, der so gern auf den Bildungsruhm, die Großthaten in Kunst und Wissenschaft, die Fortschritte auf jedem Culturfelde seines Volkes stolz sein möchte, sehr schwer, so Beschämendes auszusprechen – dieser Kinderhandel blüht in Deutschland!

Wer in der Woche vor Ostern viele Züge solcher armer kleiner „Waare“, jeden Zug von seinem „Eigenthümer“ geführt, beobachten will, kann dies am besten in Bregenz oder auf der Landstraße, die bei Lindau vorüber dem Bodensee entlang in’s Württembergische führt. Dort treffen die auf verschiedenen Wegen Herkommenden zusammen auf der einen Straße zu ihrem gemeinschaftlichen Ziel; wer aber dieses Ziel, den Markt selbst, sehen will, wo, neben Getreide- und Viehpreisen, die Kinder-Preise der Gegenstand des Feilschens sind, der muß sich nach Ravensburg verfügen, der schwäbischen Stadt, die an der Eisenbahn von Friedrichshafen nach Ulm liegt.

So leicht verhärtet die Gewohnheit den Menschen, daß diese Kinderzüge wohl schon seit langer Zeit alljährlich dieselbe Straße ziehen, ohne daß auf der langen Strecke von den oberen Thälern der Etsch und Eisack in Tirol und den Ill-Thälern Vorarlbergs bis zu dem württembergischen Kindermarktplatz ein Wort des Tadels, geschweige der Entrüstung, öffentlich laut geworden wäre. Man sieht nur das einfache Geschäft des Bedarfs auf der einen Seite und des Angebots auf der andern; dabei haben die Kinderpreise ihren Cours, wie jede andere Handelswaare: böse Wege, langandauernde Winter erschweren die Zufuhr, vermehren die Nachfrage und steigern die Preise ebenso, wie starke Vorräthe sie drücken. Die Natur des Handels bleibt sich gleich, sei das Object Guano oder Kinderfleisch.

Begeben wir uns einmal von Lindau aus über die Landbrücke auf die Heerstraße von Bregenz. Eines Tages besuchte ich eines der am Wege befindlichen Wirthshäuser, in welcher solche kleine Reisende gewöhnlich Rast halten. Da saß eine Schaar rothwangiger Knaben und Mädchen in allen Altersclassen, vom siebenten bis zum fünfzehnten Lebensjahre, still ein Jedes in sich gekehrt, die Meisten ihre Köpfchen auf die Hände gestützt, auf den Bänken des Wirthszimmers, dem Ofen meist zunächst, beisammen. Manch’ sehnsüchtiger Blick wurde mir zugeworfen. Bei einem jeden der Kinder lag sein kleines Päckchen ärmlicher Effecten. Nicht ein Laut war vernehmbar, die Kinder waren offenbar über ihre Kräfte vom Marsche erschöpft. Ich nahm Veranlassung, mit einem der älteren ein Gespräch anzuknüpfen, und fragte das Kind, ob es Hunger habe. Im Augenblick trat Leben in der kleinen Gesellschaft ein und mehr denn zehn beantworteten die an eins gestellte Frage mit ,Ja‘. Der behäbige Führer der Kinderschaar saß, seine Pfeife schmauchend, hinter einem vollen Schoppen Wein. Ich beorderte eine hinreichende Quantität Lebensmittel, während derselbe mir Namens der Kinder zu danken versuchte. Das Gespräch war eröffnet. Der Mann erzählte mir mit der dem Bergbewohner eigenen Treuherzigkeit viel mehr, als ich zu wissen begehrt hatte und als wohl auch im Interesse seines Geschäftes lag. Er war weit hinten aus den Bergen gebürtig und hatte sich, wie viele seiner Concurrenten, dem einträglichen Markte des Kinderhandels gewidmet. Wie viele Hunderte, ja Tausende, mochte er schon auf seine Weise versorgt haben!

Die Sache liegt einfach, vielleicht sogar rationell bewegt sie sich zwischen ,Gesucht und Angeboten‘ ganz marktgerecht. Die Höhenzüge des Schwarzwaldes und der rauhen Alb haben bedeutende Viehzucht, während die Bewohnerschaft durch Industrie und Verkehrsverhältnisse von Jugend auf abgezogen wird, der Hütung und Abwartung des Viehes sich zu widmen. Dagegen besitzen die Thäler der österreichischen Provinzen Tirol und Vorarlberg massenhaften Nachwuchs einer armen Bevölkerung, die unter dem Drucke schwerer Nahrungslosigkeit vegetirt. Das Geschäft ist also als ein solches und als ein bürgerliches sehr einfach. Der Kindersegen der Armuth ist in fast allen Ländern sprüchwörtlich geworden. Die engen, meist steilen Thäler des Vorarlgebirges, besonders der Ill, sowie die jenseits der Pässe in den Oberthälern der Etsch und Eisack, vom Weltverkehr noch abgeschlossen, geben der zahlreichen Bevölkerung nur den nothdürftigsten Unterhalt; theils durch Tradition, theils durch historische Gewohnheit, kam man auf die entsetzliche Idee des Ausgleichs – durch den Kinderhandel. Derartige Werber oder Geschäftsleute, es sind Vorarlberger, durchziehen zum Neujahr regelmäßig die Ortschaften jener stillen Gegenden, die Väter erwarten sie je nach der Anzahl der verkaufsfähigen Kinder mit großer Freude. Wer das Meiste giebt, dem wird zugeschlagen, bei mehreren auf einmal gehandelt, auch ein Pauschalpreis gemacht! Freilich gilt der Abschluß nur bis zum Spätherbst desselben Jahres, wo die Kinder zurückgegeben werden sollen, um wenigstens den Winterunterricht in den Schulen ihrer Heimath zu genießen. Erfahrungsgemäß geschieht dies jedoch in den wenigsten Fällen. Der Landwirth zahlt später ein neues Stück Geld und verspricht, seinen nun wieder erworbenen Zögling selbst in die Winterschule zu schicken. Wer führt aber hierüber in den entlegenen Bergen des Schwarzwaldes und der rauhen Alb die Controle? Contractlich sollen die so versorgten Kinder im Herbste eines jedes Jahres, wenn der Viehabtrieb von den Weiden erfolgt ist, einen Lohn von drei bis sechs Gulden in Baarem empfangen, aber ich hörte auch darüber vielfache Klagen, daß dies von manchem hartherzigen Bauer nicht eingehalten wird und die Dienstesleistungen der Kinder nur durch Naturalverpflegung Anerkennung finden, so daß diese ums pure Futter ihre Kindheit hingeben müssen. Doch zurück zu den heimischen Hütten der Armuth.

Das Geschäft ist gemacht, das Angeld gegeben, beide Theile sind zufrieden und besiegeln die Ablieferung und Uebernahme, welche vor Ostern desselben Jahres zu geschehen hat, in einer [55] Flasche rothen Tirolerweins, – nur Mutter und Kinder sind scheu und ängstlich zurückgezogen hinter den Ofen des Zimmers und manche verstohlene Thräne mag dabei zur Erde fallen! Der fremde, bärtige Mann ist wieder fort, der Vater des Hauses halt lächelnd einige blanke Brabanter Thaler in der Hand – denn österreichisches Papiergeld gilt bei so schwerwiegender Waare nichts – die Kinder wagen sich eines nach dem andern aus ihrem Versteck hervor; die Väter erzählen von der glänzenden Zukunft, welche ihnen bevorsteht, und der kindliche Unschuldssinn hat bald Alles wieder vergessen; Brod und Erdäpfel sind den Kleinen wieder Braten geworden. Da kommt Ostern heran, mit ihm in diesen hochgelegenen Gebirgsthälern in den seltensten Fällen das Frühlingsgrün. Die Werber stellen sich ein – und das Uebrige wissen wir.

Nicht bloßer Leichtsinn oder Geldgier mögen es sein, welche die meisten der Eltern zu diesem schwersten Schritte treiben, nein, zur Ehre der Menschheit sei es gesagt, ich habe mich selbst davon überzeugt, daß die bitterste Nahrungslosigkeit jene unglücklichen Väter und Mütter zwingt, sich den Händlern in die Arme zu werfen. Und wer wollte die Aermsten dafür verantwortlich machen, wenn sie die Sünde, welcher sie überhaupt nicht ausweichen können, für Geld begehen?

Die Jugend aus den Thälern der Ill hat es zum Transport nach dem Ravensburger Markte besser als jene, welche aus den Thälern der Etsch und Eisack recrutirt ist. Die erstere hat selbst für die rauhe Jahreszeit gebahnte Wege, während diese die wilden Pässe von Finstermünz und den klaftertief eingeschneiten Arlberg passiren muß. Solch eine kleine Gesellschaft traf ich, sie kam trübe und abgemattet über Feldkirch, Hohenembs, Dornbirn und Bregenz des Weges daher gezogen, selbst die wenigen Kreuzer, welche das Dampfboot von letzterem Orte nach Friedrichshafen erfordert, waren an die armen Kleinen nicht gewendet worden; der Händler ging, von den gehabten Anstrengungen sichtlich ermüdet, an der Spitze seiner jugendlichen Begleiter, während diese, ein Anblick zum Erbarmen, mit erfrorenen Gliedern hinter ihm nachschlichen. Es sind dies Bilder des Jammers, die nicht wieder aus dem Gedächtniß verschwinden.

Eilen wir nun nach Ravensburg. Da glänzen die Thürme des Städtchens mit der bunten, glasirten Ziegelbedachung. Auf der Landstraße von Tettnang her ist das bewegteste Leben. Schaar um Schaar der Alpenkinder wird hier dem Markte zugeführt. Auf den Gassen und in den Wirthshäusern ist heute der wohlhäbige schwäbische Bauer die Hauptperson und der heutige Preis der kleinen Marktwaare die Hauptunterhaltung. Mancher Handel ist schon abgeschlossen, einzelne Gruppen von Bauern oder Burschen schlagen mit ihren erhandelten neuen Hirtenbuben oder Mädchen den Heimweg ein. Der Hauptstrom zieht aber nach einem freien Platze außerhalb des Ortes hin, wo der eigentliche Markt gehalten wird und wo die frische Waare ausgestellt ist.

Es ist eben ein Stück Sclavenhandel, man mag sich abmühen, wie man will, die häßliche Sache mit milderem Auge zu betrachten. Da stehen die armen Kinder, aus der Elternhütte herausgerissen, der Macht eines fremden Menschen um so und so viel Thaler überliefert, von der langen Wanderung erschöpft und von Hunger und Kälte gepeinigt, – manche von der Ueberanstrengung zu blödem Hinbrüten heruntergebracht, manche, mit besserer Seelenkraft, schluchzend und weinend. Um sie herum drängt sich die kauflustige Masse, der Bauer oder die Bäuerin, der üppige Sohn des Hauses oder auch der mit dem Auftrag betraute Knecht – die Meisten in der Laune, die der Wein erzeugt, der zu dieser Osterfestlichkeit in ausgiebigerem Maße genossen werden muß. Fragt hier eine einzige Seele nach der Seele in diesen Kindern? Wie beim Schwarzen auf den Märkten jenseits des Oceans ist’s die physische Entwickelung, nach der man, den Preis der Waare abschätzt, auf die der Händler allein hinweist, die sogar nach Möglichkeit untersucht wird und aus welcher Käufer wie Verkäufer ihren Vortheil ziehen wollen. Giebt’s unterm Himmel ein bedauerungswürdigeres Wesen, als so ein Kind, dessen flehendster Blick hier nichts gilt, dem nur der Zufall der besseren Muskeln den höheren Werth verleiht und das aus der heimischen Schaar der Gespielen heraus Jedem folgen muß, der es gekauft hat? Ja, selbst die von den Freunden der Schwarzen Afrikas so oft geschilderten Scenen der Trennung von Familiengliedern fehlen hier nicht: man reißt auch hier die Geschwister beliebig auseinander – ihr Jammer mag den Stein erbarmen, was hilft das? Der Bube muß zum Schwarzwald fort, das Mädchen in die rauhe Alb, so will’s der Handel. Es ist nicht so weit auseinander, – aber für zwei Kinderherzen, die in einer Hütte zusammengewachsen sind, wahrlich, – da ist’s etwas. –

Das ist das Osterfest, zu dem die armen Kinder über den Schnee der Alpen geklettert sind!