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Ein Briefwechsel von 1843

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Autor: diverse (s.u.)
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Titel: Ein Briefwechsel von 1843.
Untertitel:
aus: Deutsch-Französische Jahrbücher; S. 17–40.
Herausgeber: Arnold Ruge, Karl Marx
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Entstehungsdatum: 1843/44
Erscheinungsdatum: 1844
Verlag: Bureau der Jahrbücher
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Erscheinungsort: Paris
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Die Autoren der Briefe sind Karl Marx (M.), Arnold Ruge (R.), Michail Bakunin (B.) und Ludwig Feuerbach (F.)
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[17]
Ein Briefwechsel von 1843.




M. an R.
Auf Treckschuit nach D. im Mærz 1843.

Ich reise jetzt in Holland. So viel ich aus den hiesigen und französischen Zeitungen sehe, ist Deutschland tief in den Dreck hineingeritten und wird es noch immer mehr. Ich versichere Sie, wenn man auch nichts weniger als Nationalstolz fühlt, so fühlt man doch Natíonalscham, sogar in Holland. Der kleinste Holländer ist noch ein Staatsbürger gegen den grössten Deutschen. Und die Urtheile der Ausländer über die preussische Regierung! Es herrscht eine erschreckende Uebereinstimmung, niemand täuscht sich mehr über dies System und seine einfache Natur. Etwas hat also doch die neue Schule genützt. Der Prunkmantel des Liberalismus ist gefallen und der widerwärtigste Despotismus steht in seiner ganzen Nacktheit vor aller Welt Augen.

Das ist auch eine Offenbarung, wenn gleich eine umgekehrte. Es ist eine Wahrheit, die uns zum wenigsten die Hohlheit unsers Patriotismus, die Unnatur unsers Staatswesens kennen und unser Angesicht verhüllen lehrt. Sie sehen mich lächelnd an und fragen, was ist damit gewonnen? Aus Scham macht man keine Revolution. Ich antworte: die Scham ist schon eine Revolution; sie ist wirklich der Sieg der französischen Revolution über den deutschen Patriotismus, durch den sie 1813 besiegt wurde. Scham ist eine Art Zorn, der in sich gekehrte. Und wenn eine ganze Nation sich wirklich schämte, so wäre sie der Löwe, der sich zum Sprunge in sich zurückzieht. Ich gebe zu, sogar die Scham ist in Deutschland noch nicht vorhanden; im Gegentheil, diese Elenden sind noch Patrioten. Welches System sollte ihnen aber den Patriotismus austreiben, wenn nicht dieses lächerliche des neuen Ritters? Die Komödie des Despotismus, die mit uns aufgeführt wird, ist für ihn eben so gefährlich, als es einst den Stuarts und Bourbonen die [18] Tragödie war. Und selbst, wenn man diese Komödie lange Zeit nicht für das halten sollte, was sie ist, so wäre sie doch schon eine Revolution. Der Staat ist ein zu ernstes Ding, um zu einer Harlekinade gemacht zu werden. Man könnte vielleicht ein Schiff voll Narren eine gute Weile vor dem Winde treiben lassen; aber seinem Schicksal trieb’ es entgegen eben darum, weil die Narren dies nicht gaubten. Dieses Schicksal ist die Revolution, die uns bevorsteht.




R. an M.
Berlin, im Mærz 1843.

„Es ist ein hartes Wort und dennoch sag’ ich’s, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen. - Ist das nicht ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt unter einander liegen, indess das vergessene Lebensblut im Sande zerrinnt?“ Hölderlin im Hyperion. - Dies das Motto meiner Stimmung und leider ist sie nicht neu; derselbe Gegenstand wirkt von Zeit zu Zeit ähnlich auf die Menschen. Ihr Brief ist eine Illusion. Ihr Muth entmuthigt mich nur noch mehr.

Wir werden eine politische Revolution erleben? wir, die Zeitgenossen dieser Deutschen? Mein Freund, Sie glauben was Sie wünschen. O, ich kenne das! Es ist sehr süss zu hoffen und sehr bitter, alle Täuschungen abzuthun. Es gehört mehr Muth zur Verzweiflung, als zur Hoffnung. Aber es ist der Muth der Vernunft, und wir sind auf dem Punkte angekommen, wo wir uns nicht mehr täuschen dürfen. Was erleben wir in diesem Augenblick? Eine zweite Auflage der Karlsbader Beschlüsse, eine durch das Weglassen der versprochenen Pressfreiheit vermehrte und durch das Versprechen der Censur verbesserte, - ein zweites Misslingen der politischen Freiheitsversuche, und diesmal ohne Leipzig und Bellealliance, ohne Anstrengungen, von denen auszuruhn wir Ursache hätten. Jetzt ruhen wir aus vom Ausruhn; und zur Ruhe bringt uns die einfache Wiederholung der alten despotischen Maxime, das Abschreiben ihrer Urkunden. Wir fallen aus einer Schmach in die andere. Ich habe vollkommen dasselbe Gefühl des Drucks und der Entwürdigung, wie zur [19] Zeil der Napoleonischen Eroberung, wenn Russland der deutschen Presse eine strengere Censur verordnet; und wenn Sie darin einen Trost finden, dass wir jetzt dieselbe Offenherzigkeit, wie damals geniessen, so tröstet mich das durchaus nicht. Als Napoleon in Erfurt zu den deutschen Gratulanten, die ihn mit notre prince anredeten, sagte: je ne suis pas votre prince, je suis votre maitre;[WS 1] wurde er mit rauschendem Beifall aufgenommen. Und hätte ihm der russische Schnee nicht darauf geantwortet, die deutsche Entrüstung schliefe noch. Sagen Sie mir nicht, dieses unverschämte Wort sei blutig gerächt worden, reden Sie mir nicht ein, die zufällige Rache wäre nothwendig erfolgt, alle Völker seien abgefallen von dem nackten und blossen Despotismus, sobald er sich ganz enthüllt hätte. Ich will ein Volk sehen, das ohne alle andere Völker seine Schmach fühlt; ich nenne Revolution die Umkehr aller Herzen und die Erhebung aller Hände für die Ehre des freien Menschen, für den freien Staat, der keinem Herrn gehört, sondern das öffentliche Wesen selbst ist, das nur sich angehört. So weit bringen es die Deutschen nie. Sie sind längst historisch zu Grunde gegangen. Dass sie überall mit zu Felde gelegen, beweist nichts. Es wird den eroberten und beherrschten Völkern nicht erspart, sich zu schlagen, aber sie sind nur Gladiatoren, die sich für einen fremden Zweck schlagen und, wenn ihre Herren den Daumen niederdrücken, sich erwürgen. „Seht, wie das Volk sich für uns schlägt!“ sagte 1813 der König von Preussen. Deutschland ist nicht der überlebende Erbe, sondern die anzutretende Erbschaft. Die Deutschen zählen nie nach kämpfenden Partheien, sondern nach der Seelenzahl, die dort zu verkaufen ist.

Sie sagen, die liberale Heuchelei ist entlarvt. Es ist wahr, es ist sogar noch mehr geschehn. Die Menschen fühlen sich verstimmt und beleidigt, man hört Freunde und Bekannte unter einander räsonniren, überall redet man hier von dem Schicksal der Stuarts und wer sich fürchtet, unvorsichtige Worte zu sagen, der schüttelt wenigstens den Kopf, um anzuzeigen, dass eine gewisse Bewegung in ihm vorgeht. Aber alles redet und redet nur: ist auch nur Einer da, der seinem Unwillen zutraute, dass er allgemein sei? Ist ein Einziger so thörigt, unsre Spiessbürger und ihre unvergängliche Schaafsgeduld zu verkennen? - Fünfzig Jahre nach der französischen Revolution und die Erneuerung aller Unverschämtheiten des alten Despotismus, das haben wir erlebt. Sagen Sie nicht, das neμnzehnte Jahrhundert erträgt ihn nicht. Die Deutschen haben dies Problem [20] gelös't. Sie ertragen ihn nicht nur, sie ertragen ihn mit Patriotismus[WS 2], und wir, die wir darüber erröthen, grade wir wissen, dass sie ihn verdienen. Wer hätte nicht gedacht, dieser schneidende Rückfall vom Reden ins Schweigen, vom Hoffen in die Hoffnungslosigkeit, von einem menschenähnlichen in einen völlig sklavischen Zustand würde alle Lebensgeister aufregen, jeden das Blut zum Herzen treiben und einen allgemeinen Schrei der Entrüstung hervorrufen! Der Deutsche hatte nichts, als die Geisterfreiheit, die der Mensch, der einem andern leibeigen ist, immer noch haben kann, und auch diese ist ihm nun entrissen; die deutschen Philosophen waren schon früher Diener der Menschen, sie redeten und schwiegen auf Befehl, Kant hat uns die Dokumente mitgetheilt; aber man duldete die Kühnheit, dass sie in abstracto den Menschen für frei erklärten. Jetzt ist auch diese Freiheit, die sogenannte wissenschaftliche oder principielle, die sich bescheidet, nicht realisirt zu werden, aufgehoben und es haben sich natürlich Leute genug gefunden, die in Tasso’s Glauben predigen:

     Glaubt nicht, dass mir
Der Freiheit wilder Trieb den Busen blähe.
Der Mensch ist nicht geboren frei zu sein.
Und für die Edlen ist kein schöner Glück,
Als einem Fürsten, den er ehrt, zu dienen.

Wollten wir einwenden: und wenn er ihn nicht ehrt? so wiederholen sie: frei zu sein, ist er nicht geboren. Es handelt sich um seinen Begriff, nicht um sein Glück. Ja, Tasso hat recht, ein Mensch der einem Menschen dient, und den man einen Sklaven nennt, kann sich glücklich fühlen, er kann sich sogar adelig fühlen, die Geschichte und die Türkei beweisen es. Zugegeben also, dass nicht Mensch und freies Wesen, sondern Mensch und Diener ein Begriff ist, so ist die alte Welt gerechtfertigt.

Gegen das Factum, dass die Menschen zum Dienen geboren und ein Besitzthum ihrer angeborenen Herren seien, hatten die Deutschen 25 Jahre nach der Revolution nichts einzuwenden. Im deutschen Bunde sind die deutschen Fürsten zusammengetreten, um ihren Privatbesitz von Land und Leuten wieder herzustellen und die „Menschenrechte“ wieder abzuschaffen. Das war antifranzösisch, man jauchzte ihnen zu. Nun kommt die Theorie dieses Factums hinterher und warum sollte Deutschland sie nicht ohne Unwillen anhören! Warum sich nicht über sein Schicksal mit dem Gedanken [21] trösten, es muss so sein, der Mensch ist nicht geboren, frei zu sein?

Und so ist es, dies Geschlecht ist wirklich nicht geboren frei zu sein. Dreissig Jahre, politisch verödet und unter einem so entwürdigenden Druck, dass selbst die Gedanken und die Gefühle der Menschen von der geheimen Polizei der Censur beaufsichtigt und geregelt wurden, haben Deutschland politisch nichtiger hinterlassen, als es je gewesen. Sie sagen, das Narrensehiff, welches ein Spiel von Wind und Wellen ist, wird seinem Schicksal nicht entgehn und dieses Schicksal ist die Revolution. Aber Sie setzen nicht hinzu, diese Revolution ist die Genesung der Narren, im Gegentheil, ihr Bild führt nur auf den Gedanken des Unterganges. Aber ich gebe Ihnen auch den Untergang nicht zu, der noch erst zu erwarten wäre. Physisch geht dies brauchbare Volk nicht unter, und geistig oder mit seiner Existenz als freies Volk ist es längst am Ende.

Wenn ich Deutschland nach seiner bisherigen und nach seiner gegenwärtigen Geschichte beurtheile; so werden Sie mir nicht einwerfen seine ganze Geschichte sei verfälscht und seine ganze jetzige Oeffentlichkeit stelle nicht den eigentlichen Zustand des Volkes dar. Lesen Sie die Zeitungen, welche Sie wollen, überzeugen Sie sich, dass man nicht aufhört - und Sie werden zugeben, dass die Censur niemanden hindert aufzuhören, - die Freiheit und das Nationalglück zu loben, welches wir besitzen; und dann sagen Sie einem Engländer, einem Franzosen oder auch nur einem Holländer, dass dies nicht unsre Sache und unser Character wäre.

Der deutsche Geist, so weit er zum Vorschein kommt, ist niederträchtig, und ich trage kein Bedenken zu behaupten, wenn er nicht anders zum Vorschein kommt, so ist dies lediglich die Schuld seiner niederträchtigen Natur. Oder wollen Sie seine Privatexistenz, seine stillen Verdienste, seine ungedruckten Tischgespräche, seine Faust in der Tasche so hoch anschlagen, dass ihm die Schmach seiner gegenwärtigen Erscheinung durch die Ehre seiner Zukunft noch einmal abgewaschen werden könnte? O, diese deutsche Zukunft! Wo ist ihr Same gesät? Etwa in der schmachvollen Geschichte, die wir bisher durchlebt? Oder in der Verzweiflung derer, die von Freiheit und geschichtlichen Ehren einen Begriff haben? Oder gar in dem Hohn, den fremde Völker über uns ausschütten und grade dann aufs empfindlichste uns zu fühlen geben, wenn sie es am besten mit uns meinen? Denn den Grad politischer Fühllosigkeit und Verkommenheit, zu dem wir wirklich herabgesunken sind, können jene [22] sich gar nicht vorstellen. Lesen Sie nur die Times über die Unterdrückung der Presse in Preussen. Lesen Sie, wie freie Männer reden, lesen Sie, wie viel Selbstgefühl sie uns noch zutrauen, uns, die wir gar keins besitzen, und bedauern Sie Preussen, bedauern Sie Deutschland. Ich weiss, dass ich dazu gehöre; glauben Sie nicht, dass ich mich der allgemeinen Schmach entziehen will. Werfen Sie mir vor, dass ich es nicht besser mache, als die andern, fordern Sie mich auf, mit dem neuen Princip eine neue Zeit heraufzuführen und ein Schriftsteller zu sein, dem ein freies Jahrhundert folgt, sagen Sie mir jede Bitterkeit, ich hin darauf gefasst. Unser Volk hat keine Zukunft, was liegt an unserm Ruf?




M. an R.
Kœln, im Mai 1843

Ihr Brief, mein theurer Freund, ist eine gute Elegie, ein athemversetzender Grabgesang; aber politisch ist er ganz und gar nicht. Kein Volk verzweifelt, und sollt’ es auch lange Zeit nur aus Dummheit hoffen, so erfüllt es sich doch nach vielen Jahren einmal aus plötzlicher Klugheit alle seine frommen Wünsche.

Doch, Sie haben mich angesteckt, Ihr Thema ist noch nicht erschöpft, ich will das Finale hinzufügen, und wenn Alles zu Ende ist, dann reichen Sie mir die Hand, damit wir von vorne wieder anfangen; Lasst die Todten ihre Todten begraben und beklagen. Dagegen ist es beneidenswerth, die ersten zu sein, die lebendig ins neue Leben eingehen; dies soll unser Loos sein.

Es ist Wahr, die alte Welt gehört dem Philister. Aber wir dürfen ihn nicht wie einen Popanz behandeln, von dem man sich ängstlich wegwendet. Wir müssen ihn vielmehr genau ins Auge fassen. Es lohnt sich, diesen Herrn der Welt zu studiren.

Herr der Welt ist er freilich nur, indem er sie, wie die Würmer einen Leichnam, mit seiner Gesellschaft ausfüllt. Die Gesellschaft dieser Herren braucht darum nichts weiter als eine Anzahl Sklaven und die Eigenthümer der Sklaven brauchen nicht frei zu sein. Wenn sie wegen ihres Eigenthums an Land und Leuten Herren im eminenten Sinne genannt werden, sind sie darum nicht weniger Philister, als ihre Leute.

[23] Menschen, das wären geistige Wesen, freie Männer Republikaner. Beides wollen die Spiessbürger nicht sein. Was bleibt ihnen übrig, zu sein und zu wollen?

Was sie wollen, leben und sich fortpflanzen (und weiter, sagt Göthe, bringt es doch keiner), das will auch das Thíer, höchstens würde ein deutscher Politiker noch hinzuzusetzen haben, der Mensch wisse aber, dass er es wolle, und der Deutsche sei so besonnen, nichts weiter zu wollen.

Das Selbstgefühl des Menschen, die Freiheit, wäre in der Brust dieser Menschen erst wieder zu erwecken. Nur dies Gefühl, welches mit den Griechen aus der Welt und mit dem Christenthum in den blauen Dunst des Himmels verschwindet, kann aus der Gesellschaft wieder eine Gemeinschaft der Menschen für ihre höchsten Zwecke, einen demokratischen Staat machen.

Die Menschen dagegen, welche sich nicht als Menschen fühlen, wachsen ihren Herren zu, wie eine Zucht von Sklaven oder Pferden. Die angestammten Herren sind der Zweck dieser ganzen Gesellschaft. Diese Welt gehört ihnen. Sie nehmen sie, wie sie ist und sich fühlt. Sie nehmen sich selbst, wie sie sich vorfinden; und stellen sich hin, wo ihre Füsse gewachsen sind, auf die Nacken dieser politischen Thiere, die keine andere Bestimmung kennen, als ihnen „unterthan, hold und gewärtig“ zu sein.

Die Philísterwelt ist die politische Thierwelt, und wenn wir ihre Existenz anerkennen müssen, so bleibt uns nichts übrig, als dem status quo einfacher Weise recht zu geben. Barbarische Jahrhunderte haben ihn erzeugt und ausgebildet, und nun steht er da als ein consequentes System, dessen Príncip die enmenschte Welt ist. Die vollkommenste Philisterwelt, unser Deutschland, musste also natürlich weit hinter der französischen Revolution, die den Menschen wieder herstellte, zurückbleiben; und der deutsche Aristoteles, der seine Politik aus unsern Zuständen abnehmen wollte, würde an ihre Spitze schreiben: „der Mensch ist ein geselliges, jedoch völlig unpotitisches Thier,“ den Staat aber könnte er nicht richtiger erklären, als dies Herr Zöpfl, der Verfasser des „konstitutionellen Staatsrechts in Deutschland,“ bereits gethan hat. Er ist nach ihm ein „Verein von Familien,“ welcher, fahren wir fort, einer allerhöchsten Familie, die man Dynastie nennt, erb- und eigenthümlich zugehört. Je fruchtbarer die Familien sich zeigen, desto glücklicher die Leute, desto grösser der Staat, desto mächtiger die Dynastie, wesswegen denn auch in dem normaldespotischen [24] Preussen auf den siebenten Jungen eine Prämie von 50 Rthlrn gesetzt ist.

Die Deutschen sind so besonnene Realisten, dass alle ihre Wünsche und ihre hochfliegendsten Gedanken nicht über das kahle Leben hinausreichen. Und diese Wirklichkeit, nichts weiter, acceptiren die, welche sie beherrschen. Auch diese Leute sind Realisten, sie sind sehr weit von allem Denken und von aller menschlichen Grösse entfernt, gewöhnliche Offiziere und Landjunker, aber sie irren sich nicht, sie haben Recht, sie, so wie sie sind, reichen vollkommen aus, dieses Thierreich zu benutzen und zu beherrschen, denn Herrschaft und Benutzung ist Ein Begriff, hier wie überall. Und wenn sie sich huldigen lassen und über die wimmelnden Köpfe dieser hirnlosen Wesen hinsehen, was liegt ihnen näher, als der Gedanke Napoleons an der Beresina? Man sagt ihm nach, er habe hinuntergewiesen auf das Gewimmel der Ertrinkenden und seinem Begleiter zugerufen: Voyez ces crapauds![WS 3] Diese Nachrede ist wahrscheinlich eine Lüge, aber wahr ist sie nichts desto weniger. Der einzige Gedanke des Despotismus ist die Menschenverachtung, der entmenschte Mensch, und dieser Gedanke hat vor vielen andern den Vorzug, zugleich Thatsache zu sein. Der Despot sieht die Menschen immer entwürdigt. Sie ersaufen vor seinen Augen und für ihn im Schlamm des gemeinen Lebens, aus dem sie auch, gleich den Fröschen, immer wieder hervorgehen. Drängt sich nun selbst Menschen, die grosser Zwecke fähig waren, wie Napoleon vor seiner Dynastietollheit, diese Ansicht auf, wie sollte ein ganz gewöhnlicher König in einer solchen Realität Idealist sein?

Das Prinzip der Monarchie überhaupt ist der verachtete, der verächtliche, der entmenschlichte Mensch; und Montesquieu hat sehr unrecht, die Ehre dafür aufzugeben. Er hilft sich mit der Unterscheidung von Monarchie, Despotie und Tyrannei. Aber das sind Namen Eines Begriffes, höchstens eine Sittenverschiedenheit bei demselben Prinzip. Wo das monarchische Prinzip in der Majorität ist, da sind die Menschen in der Minorität, wo es nicht bezweifelt wird, da gibt es keine Menschen. Warum soll nun ein Mann, wie der König von Preussen, der keine Proben davon hat, dass er problematisch wäre, nicht lediglich seiner Laune folgen? Und nun er es thut, was kommt dabei heraus? Widersprechende Absichten? Gut, so wird nichts daraus. Ohnmächtige Tendenzen? Sie sind immer noch die einzige politische Wirklichkeit. Blamagen und Verlegenheiten? Es gibt nur Eine Blamage und nur Eine Verlegenheit, das Heruntersteigen [25] vom Thron. So lange die Laune an ihrem Platze bleibt, hat sie Recht. Sie mag dort so unbeständig, so kopflos, so verächtlich sein, wie sie will; sie ist immer noch gut genug, ein Volk zu regieren, welches nie ein anderes Gesetz gekannt hat, als die Willkür seiner Könige. Ich sage nicht, ein kopfloses System und der Verlust der Achtung im Innern und nach Aussen werde ohne Folgen bleiben, ich nehme die Assecurranz des Narrenschíffes nicht auf mich; aber ich behaupte, der König von Preussen wird solange ein Mann seiner Zeit sein, als die verkehrte Welt die wirkliche ist.

Sie wissen, ich beschäftige mich viel mit diesem Manne. Schon damals, als er nur noch das Berliner politische Wochenblatt zu seinem Organe hatte, erkannte ich seinen Werth und seine Bestimmung. Er rechtfertígte schon bei der Huldigung in Königsberg meine Vermuthung, dass nun die Frage rein persönlich werden würde. Er erklärte sein Herz und sein Gemüth für das künftige Staatsgrundgesetz der Domäne Preussen, seines Staates; und in der That, der König ist in Preussen das System. Er ist die einzige politische Person. Seine Persönlichkeit bestimmt das System so oder so. Was er thut, oder was man ihn thun lässt, was er denkt, oder was man ihm in den Mund legt, das ist es, was in Preussen der Staat denkt oder thut. Es ist also wirklich ein Verdienst, dass der jetzige König dies so unumwunden erklärt hat.

Nur darin irrte man sich eine Zeit lang, dass man es für erheblich hielt, welche Wünsche und Gedanken der König nun zum Vorschein brächte. Dies konnte in der Sache nichts ändern, der Philister ist das Material der Monarchie und der Monarch immer nur der König der Philister; er kann weder sich noch seine Leute zu freien wirklichen Menschen machen, wenn beide Theile bleiben was sie sind.

Der König von Preussen hat es versucht, mit einer Theorie, die wirklich sein Vater so nicht hatte, das System zu ändern. Das Schicksal dieses Versuches ist bekannt. Er ist vollkommen gescheitert. Ganz natürlich. Ist man einmal bei der politischen Thierwelt angelangt, so gibt es keine weitere Reaktion, als bis zu ihr, und kein anderes Vordringen, als das Verlassen ihrer Basis und den Uebergang zur Menschenwelt der Demokratie.

Der alte König wollte nichts Extravagantes, er war ein Philister und machte keinen Anspruch auf Geist. Er wusste, dass der Dienerstaat und sein Besitz nur der prosaischen, ruhigen Existenz bedurfte. Der junge König war munterer und aufgeweckter, von der Allmacht des Monarchen, der nur durch sein Herz und seinen Verstand [26] beschränkt ist, dachte er viel grösser. Der alte verknöcherte Diener- und Sklavenstaat widerte ihn an. Er wollte ihn lebendig machen und ganz und gar mit seinen Wünschen, Gefühlen und Gedanken durchdringen; und er konnte das verlangen, er in seinem Staate, wenn es nur gelingen wollte. Daher seine liberalen Reden und Herzensergiessungen. Nicht das todte Gesetz, das volle lebendige Herz des Königs sollte alle seine Unterthanen regieren. Er wollte alle Herzen und Geister für seine Herzenswünsche und langgenährten Pläne in Bewegung setzen; Eine Bewegung ist erfolgt; aber die übrigen Herzen schlugen nicht wie das seinige, und die Beherrschten konnten den Mund nicht atfthun, ohne von der Aufhebung der alten Herrschaft zu reden. Die Idealisten, welche die Unverschämtheit haben, den Menschen zum Menschen machen zu wollen, ergriffen das Wort, und während der König altdeutsch phantasirte, meinten sie, neudeutsch philosophiren zu dürfen. Allerdings war dies unerhört in Preussen. Einen Augenblick schien die alte Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt zu sein, ja, die Dinge fingen an, sich in Menschen zu verwandeln, es gab sogar namhafte Menschen, obgleich die Namensnennung auf den Landtagen nicht erlaubt ist; aber die Diener des alten Despotismus machten diesem undeutschen Treiben bald ein Ende. Es war nicht schwer, die Wünsche des Königs, der für eine grosse Vergangenheit voll Pfaffen, Ritter und Hörige schwärmt, mit den Absichten der ldealisten, welche lediglich die Folgen der französischen Revolution, also zuletzt doch immer Republik und eine Ordnung der freien Menschheit statt der Ordnung der todten Dinge wollen in fühlbaren Conflikt zu bringen. Als dieser Conflikt schneidend und unbequem genug geworden und der jähzornige König hinlänglich aufgeregt war, da traten die Diener zu ihm, die früher den Gang der Dinge so leicht geleitet hatten und erklärten: der König thäte nicht wohl, seine Unterthanen zu unnützen Reden zu verleiten, sie würden das Geschlecht der redenden Menschen nicht regieren können. Auch der Herr aller Hinterrussen war über die Bewegung in den Köpfen der Vorderrussen unruhig geworden und verlangte Wiederherstellung des alten ruhigen Zustandes. Und es erfolgte eine neue Auflage der alten Aechtung aller Wünsche und Gedanken der Menschen über menschliche Rechte und Pflichten d.h. die Rückkehr zu dem alten verknöcherten Dienerstaat, in welchem der Sklave schweigend dient und der Besitzer des Landes und der Leute lediglich durch eine wohlgezogene, stillfolgsame Dienenschaft möglichst [27] schweigsam herrscht. Beide können, was sie wollen, nicht sagen, weder die einen dass sie Menschen werden wollen, noch der andere, dass er keine Menschen in seinem Lande brauchen könne. Schweigen ist daher das einzige Auskunftsmittel. Muta pecora, prona et ventri obedientia.[WS 4]

Dies ist der verunglückte Versuch, den Philisterstaat auf seiner eigenen Basis aufzuheben: er ist dazu ausgeschlagen, dass er die Nothwendiglıeit der Brutalität und die Unmöglichkeit der Humanität für den Despotismus aller Welt anschaulich gemacht hat. Ein brutales Verhältniss kann nur mit Brutalität aufrechterhalten werden. Und hier bin ich nun mit unserer gemeinsamen Aufgabe, den Philister und seinen Staat ins Auge zu fassen, fertig. Sie werden nicht sagen, ich hielte die Gegenwart zu hoch, und wenn ich dennoch nicht an ihr verzweifle, so ist es nur ihre eigene verzweifelte Lage, die mich mit Hoffnung erfüllt. Ich rede gar nicht von der Unfähigikeit der Herren und von der Indolenz der Diener und Unterthanen, die alles gehn lassen, wie es Gott gefällt; und doch reichte beides zusammen schon hin, um eine Katastrophe herbeizuführen. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, dass die Feinde des Philisterthums, mit einem Wort alle denkenden und alle leidenden Menschen zu einer Verständigung gelangt sind, wozu ihnen früher durchaus die Mittel fehlten, und dass selbst das passive Fortpflanzungssystem der alten Unterthanen jeden Tag Rekruten für den Dienst der neuen Menschheit wirbt. Das System des Erwerbs und Handels, des Besitzes und der Ausbeutung der Menschen führt aber noch viel schneller, als die Vermehrung der Bevölkerung zu einem Bruch innerhalb der jetzigen Gesellschaft, den das alte System nicht zu heilen vermag, weil es überhaupt nicht heilt und schafft, sondern nur existirt und geniesst. Die Existenz der leidenden Menschheit, die denkt, und der denkenden Menschheit, die unterdrückt wird, muss aber nothwendig für die passive und gedankenlos geniessende Thierwelt der Philisterei ungeniessbar und unverdaulich werden.

Von unserer Seite muss die alte Welt vollkommen ans Tageslicht gezogen und die neue positiv ausgebildet werden. Je länger die Ereignisse der denkenden Menschheit Zeit lassen, sich zu besinnen und der leidenden, sich zu sammeln, um so vollendeter wird das Produkt in die Welt treten, welches die Gegenwart in ihrem Schoosse trägt.



[28]
B. an R.
Petersinsel im Bielersee. Mai 1843.

Ihren Brief aus Berlin hat mir unser Freund M. mitgetheilt. Sie scheinen über Deutschland unmuthig geworden zu sein. Sie sehen nur die Familie und den Philister, der in ihre engen vier Pfähle mit all seinen Gedanken und Wünschen eingepfercht ist, und wollen an den Frühling nicht glauben, der ihn hervorlocken wird. Lieber Freund, verlieren Sie nur den Glauben nicht, nur Sie nicht. Bedenken Sie, ich, der Russe, der Barbar geb’ ihn nicht auf, ich gebe Deutschland nicht auf und Sie, der Sie mitten in seiner Bewegung stehn, Sie, der Sie die Anfänge derselben erlebt haben, und von ihrem Aufschwung überrascht wurden, Sie wollen jetzt dieselben Gedanken zur Ohnmacht verurtheilen, denen Sie früher, als ihre Macht noch nicht erprobt war, alles zutrauten? O, ich geb’ es zu, es ist noch weit hin bis das deutsche 1789 tagt! wann wären die Deutschen nicht um Jahrhunderte zurück gewesen? Aber es ist darum jetzt nicht die Zeit die Hände in den Schooss zu legen und feig zu verzweifeln. Wenn Männer, wie Sie, nicht mehr an Deutschlands Zukunft glauben, nicht mehr an ihr arbeiten wollen, wer wird denn glauben, wer handeln? Ich schreibe diesen Brief auf der Rousseau-Insel im Bielersee. Sie wissen, ich lebe nicht von Phantasieen und Phrasen; aber es zuckt mir durch Mark und Bein bei dem Gedanken, dass ich grade heute, wo ich Ihnen und über einen solchen Gegenstand schreibe, an diesen Ort geführt bin. O, es ist gewiss, mein Glaube an den Sieg der Menschheit über Pfaffen und Tyrannen ist derselbe Glaube, den der grosse Verbannte in so viel Millionen Herzen goss, den er auch hieher mit sich genommen. Rousseau und Voltaire, diese Unsterblichen, werden wieder jung; in den begabtesten Köpfen der deutschen Nation feiern sie ihre Auferstehung; eine grosse Begeisterung für den Humanismus und für den Staat, dessen Prinzip nun endlich wirklich der Mensch ist, ein glühender Hass gegen die Priester und ihre freche Beschmutzung alles Menschlichgrossen und Wahren durchdringt wieder die Welt. Die Philosophie wird noch einmal die Rolle spielen, die sie in Frankreich so glorreich durchgeführt; und es beweist nichts gegen sie, dass ihre Macht und Furchtbarkeit den Gegnern früher klar geworden, als ihr selber. Sie ist naiv und erwartet zuerst keinen Kampf und keine Verfolgung, denn sie nimmt alle Menschen als vernünftige Wesen und wendet [29] sich an ihre Vernunft, als wäre diese ihr unumschränkter Gebieter. Es ist ganz in der Ordnung, dass unsere Gegner, welche die Stirn haben zu erklären, wir sind unvernünftig und wollen es bleiben, den praktischen Kampf, den Widerstand gegen die Vernunft durch unvernünftige Massregeln eröffnen. Dieser Zustand beweist nur die Uebermacht der Philosophie, dies Geschrei gegen sie ist schon der Sieg. Voltaire sagt einmal: Vous, petits hommes, revêtus d’un petit emploi, qui vous donne une petite autorité dans un petit pays, vous criez contre la philosophie? Wir leben für Deutschland in dem Zeitalter Rousseau’s und Voltaire’s und „diejenigen unter uns, welche jung genug sind, um die Früchte unserer Arbeit zu erleben, werden eine grosse Revolution und eine Zeit sehen, in der es der Mühe lohnt geboren zu sein.“ Wir dürfen auch diese Worte Voltaire’s wiederholen ohne zu befürchten, dass sie das zweite Mal weniger, als das erste durch die Geschichte bestätigt würden.

Jetzt sind die Franzosen noch unsere Lehrer. Sie haben in politischer Hinsicht einen Vorsprung von Jahrhunderten. Und was folgt alles daraus! Diese gewaltige Litteratur, diese lebendige Poesie und bildende Kunst, diese Durchbildung und Vergeistigung des ganzen Volkes, lauter Verhältnisse, die wir nur von ferne verstehn! Wir müssen nachholen, wir müssen unserm metaphysishen Hochmuthe, der die Welt nicht warm macht, die Ruthe geben, wir müssen lernen, wir müssen Tag und Nacht arbeiten, um es dahin zu bringen, wie Menschen mit Menschen zu leben, frei zu sein und frei zu machen - wir müssen - ich komme immer darauf zurück, unsere Zeit mit unseren Gedanken in Besitz nehmen. Dem Denker und Dichter ist es vergönnt, die Zukunft vorweg zu nehmen und eine neue Welt der Freiheit und Schönheit mitten in den Wust des Untergangs und des Moders, der uns umgiebt, hineinzubauen.

Und Angesichts alles dessen, eingeweiht in das Geheimniss der ewigen Mächte, welche die Zeit aus ihrem Schoose neu gebären, wollen Sie verzweifeln? Verzweifeln Sie an Deutschland, so verzweifeln Sie nicht nur an sich selbst, Sie geben die Macht der Wahrheit auf, der Sie sich gewidmet. Wenig Menschen sind edel genug, sich ganz und ohne Rückhalt dem Wehen und Wirken der befreienden Wahrheit hinzugeben, wenige vermögen diese Bewegung des Herzens und des Kopfes ihren Zeitgenossen mitzutheilen; wem es aber einmal gelang der Mund der Freiheit zu werden und die Welt mit den Silbertönen ihrer Stimme zu fesseln, [30] der hat eine Bürgschaft für den Sieg seiner Sache, die ein anderer nur durch eine gleiche Arbeit und ein gleiches Gelingen erreichen kann.

Nun geb’ ich es zu, wir müssen mit unsrer eignen Vergangenheit brechen. Wir sind geschlagen worden und wenn es auch nur die rohe Gewalt war, die der Bewegung des Denkens und Dichtens ein Hinderniss in den Weg warf, so wäre diese Rohheit selbst unmöglich gewesen, wenn wir nicht ein abgesondertes Leben im Himmel der gelehrten Theorie geführt, wenn wir das Volk auf unserer Seite gehabt hätten. Wir haben seine Sache nicht vor ihm selbst geführt. Anders die Franzosen. Man würde ja auch ihre Befreier unterdrückt haben, wenn man es vermocht hätte. -

Ich weiss, Sie lieben die Franzosen, Sie fühlen ihre Ueberlegenheit. Das ist genug für einen starken Willen in einer so grossen Sache, um ihnen nachzueifern und sie zu erreichen. Welch ein Gefühl! Welch’ eine namenlose Seligkeit, dieses Streben und diese Macht! O, wie beneid’ ich Sie um Ihre Arbeit, ja selbst um Ihren Zorn, denn auch dieser ist das Gefühl aller Edlen in Ihrem Volk. Vermöcht’ ich es nur mitzuwirken! Mein Blut und Leben für seine Befreiung! Glauben Sie mir, es wird sich erheben und das Tageslicht der Menschengeschichte erreichen. Es wird nicht immer die Schmach der Germanen, die besten Diener aller Tyrannei zu sein, für seinen Stolz rechnen. Sie werfen ihm vor, es sei nicht frei, es sei nur ein Privatvolk. Sie sagen nur was es ist; wie wollen Sie damit beweisen, was es sein wird?

War es in Frankreich nicht ganz derselbe Fall, und wie bald ist ganz Frankreich ein öffentliches Wesen und seine Söhne politische Menschen geworden. Wir dürfen die Sache des Volks, auch wenn es selbst sie verliesse, nicht aufgeben. Sie fallen von uns ab, diese Philister, sie verfolgen uns; desto treuer werden ihre Kinder unserer Sache sich hingeben. Ihre Väter suchen die Freiheit zu morden, sie werden für die Freiheit in den Tod gehn. _ Und welch’ einen Vorzug haben wir vor den Männern des 18ten Jahrhunderts? Sie sprachen aus einer öden Zeit heraus. Wir haben die ungeheuren Resultate ihrer Ideen lebendig vor Augen, wir können practisch mit ihnen in Berührung kommen. Gehn wir nach Frankreich, setzen wir den Fuss über den Rhein, und wir stehn mit Einem Schlage mitten in den neuen Elementen, die in Deutschland noch gar nicht geboren sind. Die Ausbreitung des [31] politischen Denkens in alle Kreise der Gesellschaft, die Energie des Denkens und Redens, die in den hervorstechenden Köpfen nur darum zum Ausbruch kommt, weil die Wucht eines ganzen Volks in jedem schlagenden Worte empfunden wird - alles das können wir jetzt aus lebendiger Anschauung kennen lernen. Eine Reise nach Frankreich und selbst ein längerer Aufenthalt in Paris würde uns von dem grössten Nutzen sein.

Die deutsche Theorie hat diesen Sturz aus allen ihren Himmeln, der ihr jetzt widerfährt, indem rohe Theologen und dumme Landjunker sie wie einen Jagdhund an den Ohren schütteln und ihrem Lauf die Wege weisen, reichlich verdient. Gut für sie, wenn dieser Sturz sie von ihrem Hochmuthe heilt. Es wird ganz auf sie ankommen, ob sie sich nun aus ihrem Schiksale die Lehre ziehen will, dass sie in einsamer dunkler Höhe verlassen und nur im Herzen des Volks gesichert ist. Wer gewinnt das Volk, wir oder ihr? das rufen diese obscuren Castraten den Philosophen zu. O Schande über diese Thatsache! aber auch Heil und Ehre den Männern, die nun die Sache der Menschheit siegreich hinausführen.

Hier, erst hier beginnt der Kampf, und so stark ist unsere Sache, dass wir wenige zerstreute Männer mit gebundenen Händen durch unsern blossen Schlachtruf ihre Myriaden in Furcht und Schreken setzen. Wohlan, es gilt! und eure Banden will ich lösen, ihr Germanen, die ihr Griechen werden wollt, ich der Seythe. Sendet mir eure Werke! Auf Rousseaus Insel will ich sie drucken und mit feurigen Lettern noch einmal an den Himmel der Geschichte schreiben: Untergang den Persern!




R. an B.
Dresden, im Juni 1843.

Erst jetzt erhalt ich Ihren Brief; aber sein Inhalt veraltet nicht so schnell. Sie haben Recht. Wir Deutsche sind wirklich noch so weit zurück, dass wir nur erst wieder eine menschliche Litteratur hervorbringen müssen, um die Welt theoretisch zu gewinnen, damit sie nachher Gedanken hat, nach denen sie handelt. Vielleicht können wir in Frankreich, vielleicht sogar mit den Franzosen eine gemeinsame Publication unternehmen. Ich will mit unsern Freunden darüber correspondiren. Uebrigens haben Sie sichs mit Unrecht so [32] sehr zu Herzen genommen, dass ich in Berlin verstimmt war. Alle andern sind desto selbstzufriedener; und ein einziger Wunsch, den sich der erste Berliner, der König, erfüllt, wiegt eine Welt voll Verstimmung auf. Glauben Sie nicht, dass ich diese umfangreichen Wünsche verkenne. Das Christenthum z. E. ist doch so zu sagen Alles. Nun ist es wiederhergestellt, der Staat ist christlich, ein wahres Kloster, der König ist sehr christlich und die königlichen Beamten sind am allerchristlichsten. Ich geb’ es zu, diese Leute sind nur fromm, weil sie an Einer Knechtschaft nicht genug haben. Sie müssen zu dem irdischen Hofddienst noch einen himmlischen hinzufügen; die Knechtschaft soll nicht nur ihr Amt, sie soll auch ihr Gewissen sein. Und wenn die nordamerikanischen Wilden sich selbst ihre Sünden ausprügeln, so hoff’ ich werden auch wohl die Völker noch einmal dieselbe Procedur an diesen Hunden des Himmels exekutiren. Aber für den Augenblick, wer sollte nicht finden, dass es gut steht im Reiche Gottes? und ich hätte gewiss an der allgemeinen Herrlichkeit den heitersten Antheil genommen, wenn ich nicht bedacht hätte, dass eine enttäuschte Verstimmung allemal besser ist, als eine enttäuschte Selbstzufriedenheit. Sie werden sagen, ich hätte den Eulenspiegel, der schon über den kommenden Berg verstimmt war, mit Nutzen gelesen; die Berliner haben ihn auch gelesen, sie lesen ihn immer, wenn sie ihre Geschichte lesen, aber ohne Nutzen: und so bleiben sie denn dabei dass ihre Eulenspiegeleien gute Witze wären. Selbst ihr Christenthum interessirt sie nur als ein guter Witz, als eine geniale Wendung. Es ist pikant, sich zu allen Verrückheiten des Aberglaubens zu bekennen und dabei einen heilen Rock zu tragen; es ist pikant jetzt sich reden zu hören im Stil des heiligen römischen Reichs mit „Gruss und Handschlag zuvor,“ oder in dieser unheiligen Zeit mit dem Datum von irgend einem heiligen Tage zu unterzeichnen, und da es nicht möglich ist, auch aus den heiligen Oertern, etwa von St. Johann im Lateran und vom Vatikan zu datiren, so ist es wenigstens pikant, die Bulle zur Wiederherstellung der barmherzigen Schwestern oder zur Stiftung der Kapelle des heiligen Adelbert aus dem Schloss des unheiligen Friedrich zu erlassen.

Doch ich will nicht noch einmal die Gefahr laufen, unter Palmen zu wohnen, auch in der Phantasie nícht. Lebewohl, Berlin. Ich lobe mir Dresden, Hier ist Alles erreicht, hier wird Alles genossen, was Preussen mit der ganzen Anstrengung seines officiellen Witzes nicht wiedergewinnen kann. Die Stände, die Innungen, die alten [33] Gesetze, die Geistlichkeit neben der Weltlichkeit, der katholische Prälat in der Kammer der Reichsräthe, die kurzen Hosen und schwarzen Strümpfe auch der lutherischen Geistlichen, die Ehescheidungen mit geistlichen Zuspruch und die Macht des Consistoriums bei solchen Gelegenheiten, die Sonntagsfeier und 16 Groschen bis 5 Reichsthaler Strafe für jeden Sabbathschänder, der grobe Arbeit verrichtet, ein Verein gegen die Thierquälerei aber keiner gegen die Schornsteinfegerei, keiner gegen die Verwahrlosung der Menschen - doch nein, um nicht ungerecht zu sein, so muss man sich erinnern, dass ein ehrlicher Christ, der Ernst mit dem Humanismus machte und die Kinderquälerei der Armen durch ein sehr ingeniöses Mittel theilweise abschaffte, nicht an seiner Unfähigkeit, sondern an der Vortrefflichkeit des bereits Bestehenden gescheitert ist. Sachsen trägt alle Herrlichkeit der Vorzeit verjüngt in seinem Schosse; man studirt es lange nicht genug, dieses Eldorado der alten Juristerei und Theologie, dieses heilige römische Reich en miniature, dessen verschiedene Kreisdirektionen und Amtshauptmannschaften sich bald unabhängig von einander erklären werden und dessen Universität Leipzig längst unabhängig war von dem eitlen Lauf der geistigen Bildung in dem wüsten, weiten Deutschland, geschweige denn in Europa. Aber ich sage ja nicht, dass die sächsische Nation keine Fortschritte macht. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Die Juden sind schlechte Christen, sie nehmen daher keinen Theil an den Freiheiten des übrigen sächsischen Volkes, sie haben keine Ehrenrechte und dürfen dies und das nicht thun, was getaufte Menschen dürfen. Nun war vor diesem die Brühlsche Terrasse der Brühlsche Garten. Er hatte bei der Brücke, wo jetzt die Treppe ist, eine schroffe Mauerwand, und war von der andern Seite geschlossen. Eine Schildwache liess an vielen Tagen Niemanden hinein, an allen aber keine Juden und keine Hunde. Eines Tages kam eine Generalsfrau mit einem Hunde auf dem Arm und wurde von der Schildwache wegen des Hundes zurückgewiesen. Entrüstet beschwerte sich die Frau bei ihrem Manne, dem General, und es erschien ein Parolebefehl, welcher die Instruction der Schíldwachen gegen die Hunde aufhob. Die Hunde gingen nun von Zeit zu Zeit in den Brühlschen Garten; aber die Juden? - nein, die Juden noch nicht. Nun beschwerten sich die Juden und verlangten den Hunden gleichgestellt zu sein. Der General war in der grössten Verlegenheit. Sollte er seinen Befehl zurückziehen, dessen revolutionäre Consequenz er nicht geahndet hatte? Seine Frau bestand auf dem Rechte [34] ihres Hundes und auch der Hunde ihrer Freundinnen. Die Sache war schon zur Sitte geworden und die Juden, das sah der General vor Augen, würden furchtbar schreien, wenn man ihnen das Privilegium der Hunde, welches sie doch im ganzen Mittelalter genossen, jetzt im 19ten Jahrhundert nicht zugestände. Der General entschloss sich also, auf seine Verantwortung auch die Juden in den Brühlschen Garten zu lassen, wenn er nicht wegen Anwesenheit des Hofes geschlossen war. Die Indignation war gross, aber der alte Krieger bot ihr Trotz. Nun kamen die Russen. Der Generalgouverneur Repnin fand 1813 gar keinen Hof vor. Er dachte auch wohl, es käme vielleicht keiner wieder, und machte aus dem Brühlschen Garten die Brühlsche Terrasse mit der grossen Treppe und dem freien Zugange, den sie jetzt hat. Dies empörte das Herz aller Normalsachsen; und wären die Russen nicht so viel populärer gewesen, als die Preussen, es wäre eine Empörung ausgebrochen. So aber liess das Volk sich hinreissen, ja es schoss sogar die herrschaftlichen Fasanen im grossen Garten todt und liess sichs gefallen, dass die Russen auch diesen Spaziergang, der früher den Fasanen reservirt war, den Menschen eröffneten. Einer aber, der normalste von allen Sachsen, ein churfürstlicher Geheimer Rath, der noch lebt, hat den Russen ihre unpassende, alles zerstörende Neuerungssucht nie vergessen. Er erkennt weder die Brühlsche Terrasse noch den grossen Garten an. Er geht nie „die russische Treppe“ hinauf oder hinab, er kommt immer durch das legitime Pförtchen des ehemaligen „Brühlschen Gartens“, bringt nie einen Hund oder einen Juden mit und geht in der „Fasanerie“ nie anders als auf dem Mittelwege, der auch in der alten guten Zeit dem Publikum zu Fuss, ausser der Brutzeit der Fasanen, offen stand.

Gewiss ist der conservative Christ vernünftig, und wären alle Deutsche Normalsachsen oder gäb’ es keine Russen, die von Zeit zu Zeit kommen, um ihnen ihre Spaziergänge zu eröffnen oder gäb’ es keine Franzosen, die ihnen bei Jena die Zöpfe abschnitten, oder endlich gäb’ es keine Preussen und keine Neuerungssucht in den Köpfen ihrer christlichen und heidnischen Könige; - man lebte nirgends ruhiger als in Dresden. So aber sind für unser sächsisches Vaterland bei aller Herrlichkeit von Innen immer noch grosse Erschütterungen von Aussen zu fürchten. -

Die Welt ist vollkommen überall.
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.

[35]


F. an R.
Bruckberg[1], Im Juni 1843.

Die Briefe und litterarischen Pläne, die Sie mir mittheilten, haben mir viel zu Denken gegeben. Meine Einsamkeit bedarf dergleichen, versäumen Sie nicht, Ihre Sendungen zu wiederholen. Der Untergang der deutschen Jahrbücher erinnert mich an den Untergang Polens. Die Anstrengungen weniger Menschen waren umsonst in dem allgemeinen Sumpf eines verfaulten Volkslebens.

Wir kommen in Deutschland so bald auf keinen grünen Zweig. Es ist Alles in Grund und Boden hinein verdorben, das eine auf diese, das andre jene Weise. Neue Menschen brauchten wir. Aber sie kommen diesmal nicht, wie bei der Völkerwanderung aus den Sümpfen und Wäldern, aus unsern Lenden müssen wir sie erzeugen. Und dem neuen Geschlecht muss die neue Welt zugeführt werden in Gedanken und in Gedicht. Alles ist von Grund aus zu erschöpfen. Eine Riesenarbeit vieler vereinten Kräfte. Kein Faden soll am alten Regimente ganz bleiben. Neue Liebe, neues Leben heißt es bei uns.

Der Kopf ist nicht immer voraus; er ist das mobilste und schwerfälligste Ding zugleich. Im Kopfe entspringt das Neue, aber im Kopfe haftet auch am längsten das Alte. Dem Kopf ergeben sich mit Freuden Hände und Füsse. Also von allen Dingen den Kopf gesäubert und purgiert. Der Kopf ist ein Theoretiker, ist Philosoph. Er muß nur das herbe Joch der Praxis, in das wir ihn herunterziehn, tragen und menschlich in dieser Welt auf den Schultern thätiger Menschen hausen lernen. Dies ist nur ein Unterschied der Lebensart. Was ist Theorie, was Praxis? Worin besteht ihr Unterschied? Theoretisch ist, was nur noch in meinem Kopfe steckt, practisch was in vielen Kopfen spuckt. Was viele Köpfe eint, macht Masse, macht sich breit und damit Platz in der Welt. Läßt sich ein neues Organ für das neue Princip schaffen, so ist das eine Praxis, die nicht versäumt werden darf.




R. an M.
Paris, im August 1843.

Der neue Anacharsis und der neue Philosoph haben mich überzeugt. Es ist wahr; Polen ist untergegangen, aber noch ist Polen nicht [36] verloren, so klingt es fortdauernd aus den Ruinen hervor und wollen Polen sein Schicksal sich zur Lehre dienen lassen und sich der Vernunft und der Demokratie in die Arme werfen, das hiesse freilich aufhören Polen zu sein, es wäre wohl zu retten „Neue Lehre, neues Leben,“ ja! wie Polen der katholische Glaube und die adelige Freiheit nicht rettet, so konnte uns die theologische Philosophie und die vornehme Wissenschaft nicht befreien. Wir können unsere Vergangenheit nicht anders fortführen, als durch den entschiedensten Bruch mit ihr. Die Jahrbücher sind untergegangen, die hegelsche Philosophie hört der Vergangenheit an. Wir wollen hier in Paris ein Organ gründen, in dem wir uns selbst und ganz Deutschland völlig frei und mit unerbittlicher Aufrichtigkeit beurtheilen. Nur das ist eine wirkliche Verjüngung, es ist ein neues Princip, eine neue Stellung, eine Befreiung von dem engherzigen Wesen des Nationalismus und ein scharfer Gegenstoss gegen die brutale Reaction der wüsten Volksungethüme, welche mit dem Tyrannen Napoleon auch den Humanismus der Revolution verschlangen. Philosophie und nationale Beschränktheit, wie war es möglich auch nur im Namen und im Titel eines Journals beide zusammenzubringen? Noch einmal, der deutsche Bund hat die Wiederherstellung der deutschen Jahrbücher mit Recht verboten, er ruft uns zu: keine Restauration! Wie vernünftig! Wir müssen etwas Neues unternehmen, wenn wir überhaupt etwas thun wollen. Ich bemühe mich um das Merkantilische bei der Sache. Wir zählen auf sie. Schreiben Sie mir über den Plan der neuen Zeitschrift, den ich Ihnen beilege.




M. an R.
Kreutznach, im September 1843.

Es freut mich, dass Sie entschlossen sind und von den Rückblicken auf das Vergangene Ihre Gedanken zu einem neuen Unternehmen vorwärts wenden. Also in Paris, der alten Hochschule der Philosophie, absit omen![WS 5] und der neuen Hauptstadt der neuen Welt. Was nothwendig ist, das fügt sich. Ich zweifle daher nicht, dass sich alle Hindernisse, deren Gewicht ich nicht verkenne, beseitigen lassen.

[37] Das Unternehmen mag aber zu Stande kommen oder nicht; jedenfalls werde ich Ende dieses Monats in Paris sein, da die hiesige Luft leibeigen macht und ich in Deutschland durchaus keinen Spielraum für eine freie Thätigkeit sehe.

In Deutschland wird Alles gewaltsam unterdrückt, eine wahre Anarchie des Geistes, das Regiment der Dummheit selbst ist hereingebrochen, und Zürich gehorcht den Befehlen aus Berlin; es wird daher immer klarer, dass ein neuer Sammelpunkt für die wirklich denkenden und unabhängigen Köpfe gesucht werden muss. Ich bin überzeugt, durch unsern Plan würde einem wirklichen Bedürfnisse entsprochen werden und die wirklichen Bedürfnisse müssen sich doch auch wirklich erfüllen lassen. Ich zweifle also nicht an dem Unternehmen, sobald Ernst damit gemacht wird.

Grösser noch als die äussern Hindernisse, scheinen beinahe die inneren Schwierigkeiten zu sein. Denn wenn auch kein Zweifel über das „Woher,“ so herrscht desto mehr Confusion über das „Wohin.“ Nicht nur, dass eine allgemeine Anarchie unter den Reformern ausgebrochen ist, so wird jeder sich selbst gestehen müssen, dass er keine exacte Anschauung von dem hat, was werden soll. Indessen ist das gerade wieder der Vorzug der neuen Richtung, dass wir nicht dogmatisch die Welt anticipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Räthsel in ihrem Pulte liegen und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen. Die Philosophie hat sich verweltlicht und der schlagendste Beweis dafür ist, dass das philosophische Bewusstsein selbst in die Qual des Kampfes nicht nur äusserlich, sondern auch innerlich hineingezogen ist. Ist die Construction der Zukunft und das fertig werden für alle Zeiten nicht unsere Sache; so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, dass die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und eben so wenig vor dem Conflikte mit den vorhandenen Mächten.

Ich bin daher nicht dafür, dass wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, im Gegentheil. Wir müssen den Dogmatikern nachzuhelfen suchen, dass sie ihre Sätze sich klar machen. So ist namentlich der Communismus eine dogmatische Abstraction, wobei ich aber nicht irgend einen eingebildeten und möglichen, sondern den [38] wirklich existirenden Communismus, wie ihn Cabet, Dezamy, Weitling etc., lehren, im Sinn habe. Dieser Communismus ist selbst nur eine aparte von seinem Gegensatz, dem Privatwesen, inficierte Erscheinung des humanistischen Princips. Aufhebung des Privateigenthums und Communismus sind daher keineswegs identisch und der Communismus hat andre socialistische Lehren, wie die von Fourier Proudhon, etc., nicht zufällig, sondern nothwendig sich gegenüber entstehn sehn, weil er selbst nur eine besondre, einseitige[2] Verwirklichung des socialistischen Princips ist.

Und das ganze socialistische Princip ist wieder nur die eine Seite, welche die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft. Wir haben uns eben so wohl um die andre Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern, also Religion, Wissenschaft etc., zum Gegenstande unserer Kritik zu machen. Ausserdem wollen wir auf unsere Zeitgenossen wirken, und zwar auf unsre deutschen Zeitgenossen. Es fragt sich, wie ist das anzustellen? Zweierlei Facta lassen sich nicht abläugnen. Einmal die Religion, dann die Politik sind Gegenstände, welche das Hauptinteresse des jetzigen Deutschlands bilden. An diese, wie sie auch sind, ist anzuknüpfen, nicht irgend ein System wie etwa die Voyage en Icarie[WS 6] ihnen fertig entgegenzusetzen.

Die Vernunft hat immer existirt, nur nicht immer in der vernünftigen Form. Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewusstseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existirenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln. Was nun das wirkliche Leben betrifft, so enthält grade der politische Staat, auch wo er von den socialistischen Forderungen noch nicht bewusster Weise erfüllt ist, in allen seinen modernen Formen die Forderungen der Vernunft. Und er bleibt dabei nicht stehn. Er unterstellt überall die Vernunft als realisiert. Er geräth aber eben so überall in den Widerspruch seiner ideellen Bestimmung mit seinen realen Voraussetzungen.

Aus diesem Conflikt des politischen Staates mit sich selbst lässt sich daher überall die sociale Wahrheit entwickeln. Wie die Religion das Inhaltsverzeichnis von den theoretischen Kämpfen der Menschheit, so ist es der politische Staat von ihren practischen. Der politische Staat drückt also innerhalb seiner Form sub specie reipublicæ[WS 7] alle socialen Kämpfe, Bedürfnisse, Wahrheiten aus. Es ist also durchaus nicht unter der hauteur des principes[WS 8], die speziellste politische Frage – etwa den Unterschied von ständischem und repräsentativem [39] System – zum Gegenstand der Kritik zu machen. Denn diese Frage drückt nur auf politische Weise den Unterschied von der Herrschaft des Menschen und der Herrschaft des Privateigenthums aus. Der Kritiker kann also nicht nur, er muss in diese politischen Fragen (die nach der Ansicht der krassen Socialisten unter aller Würde sind) eingehn. Indem er den Vorzug des repräsentativen Systems vor dem ständischen entwickelt, interessiert er praktisch eine grosse Parthei. Indem er das repräsentative System aus seiner politischen Form zu der allgemeinen Form erhebt und die wahre Bedeutung, die ihm zu Grunde liegt, geltend macht, zwingt er zugleich diese Parthei über sich selbst hinauszugehn, denn ihr Sieg ist zugleich ihr Verlust.

Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Partheinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identificieren. Wir treten dann nicht der Welt doctrinär mit einem neuen Princip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Principien der Welt neue Principien. Wir sagen ihr nicht: lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will.

Die Reform des Bewssßtseins besteht nur darin, dass man die Welt ihr Bewusstsein inne werden lässt, dass man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, dass man ihre eignen Actionen ihr erklärt. Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als dass die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewusste menschliche Form gebracht werden.

Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysirung des mystischen sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von dem sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, dass es sich nicht um einen grossen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, dass die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewusstsein ihre alte Arbeit zu Stande bringt.

[40] Wir können also die Tendenz unsers Blattes in Ein Wort fassen:

Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns. Sie kann nur das Werk vereinter Kräfte sein. Es handelt sich um eine Beichte, um weiter nichts. Um sich ihre Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur für das zu erklären was sie sind.


  1. Vorlage: Breilberg (Druckfehler, Seite 238)
  2. Vorlage: einheitliche (Druckfehler, Seite 238)

Anmerkungen (Wikisource)

  1. dt.: Ich bin nicht dein Prinz, ich bin dein Meister.
  2. Vorlage: Potriotismus
  3. dt.: Siehe diese Kröten!
  4. dt.: Die Herde ist still, fügsam und gehorcht dem Magen.
  5. dt.: möge es ohne [böse] Vorbedeutung sein!
  6. dt.: Reise nach Ikarien, utopischer Roman des frz. Sozialisten Étienne Cabet
  7. dt.: in Form einer Regierung
  8. dt.: Höhe der Prinzipien