Zum Inhalt springen

Ein Aschermittwoch unter Vagabunden

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Karl Blind
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein Aschermittwoch unter Vagabunden
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 143–144
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Straßenjungen in London
Blätter und Blüthen
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[143] Ein Aschermittwoch unter Vagabunden. In dunkler, regnerischer Nacht verließ ich eine der stillen, gartenreichen Vorstädte, die London umkränzten, um einer eigenthümlichen Versammlung beizuwohnen. Scheußliche Scenen, die im Lambether Armenhause spielen, waren unlängst in der „Pall-Mall-Gazette“ mit grausiger Treue abconterfeit worden und hatten die Stadt, ja ganz England in Aufregung versetzt. Die größte Theilnahme erregte die Angabe, daß eine Menge obdachloser, auf den Verbrecherpfad getriebener Knaben in den „casual wards“ (Schuppen) jenes Armenhauses allnächtlich mit den abgefeimtesten alten Schurken und Strolchen zusammenlagern, daß sie dort in Nichtswürdigkeiten jeder Art unterrichtet werden und daher die Welt der Diebe, der Garottirer und der Galgenvögel gewissermaßen ihre nächtliche Hochschule in diesen traurigen Schlafhöhlen aufgeschlagen hat.

Ein Versuch sollte nun gemacht werden, die jugendlichen Vagabunden zu einem Meeting zusammenzubringen. Ihre Zahl beläuft sich in London auf etwa zehntausend. Zehntausend obdachlose Knaben treiben sich als verlorene Straßenläufer, wahre Bilder des Elendes, in dem hiesigen Menschen-Ocean herum! In den „Workhouses“ (sog. Arbeitshäusern), wo ein Theil von ihnen gelegentlich des Nachts Schutz sucht, hatten die Oberaufseher, durch die Direction des „Refuge for Homeless and Destitute Children“ (Asyl für obdachlose und mangelleidende Kinder) dazu aufgefordert, eine Mittheilung ergehen lassen, es werde in dem genannten Zufluchtshause am diesjährigen Aschermittwoch, den 14. Februar, eine solche Versammlung stattfinden. Indessen bedurfte es natürlich eines Lockungsmittels. Das Versprechen eines guten Nachtessens wurde gewählt; bei dieser Gelegenheit wollte man den zerlumpten, barfüßigen, ausgehungerten Bettelbuben und frühreifen „Zuchthausbesen“ einen Beweis des Mitleids geben und ihnen den Weg zu besserem Lebenswandel öffnen. Unter den schönsten Tugenden Englands – welches auch sonst seine Fehler sein mögen – ist die Mildthätigkeit zu nennen. Sein Fabrik-Proletariat ist ein schreckliches; in seinen großen Städten haust eine grimme, verthierte Armuth; aber sobald im gegebenen Falle ein Aufruf zur Hülfe erlassen wird, fehlen auch die Gaben nicht. Darin, wie in der Opferwilligkeit für Staats- und Parteizwecke, leuchtet England in Europa, leuchtet aber die amerikanische Republik allen anderen Völkern voran. Zahllose Wohlthätigkeitsanstalten sind aus britischem Boden hervorgegangen. Die zweimalige Gabe jedoch, die ein in London seßhafter amerikanischer Kaufmann, Hr. Peabody, für solche Zwecke in England gespendet hat, übertrifft alles je von Engländern Geleistete. Drei Millionen Gulden (250,000 Pfd. Sterl.) hat er der Verbesserung des Looses der arbeitenden Classen gewidmet; eine Schenkung, die „fürstlich“ zu nennen wohl eine Unterschätzung wäre.

Als ich in dem „Zufluchtshause für obdachlose und arme Kinder“ in Great Queen Street anlangte, fand ich bereits den größeren Theil der herbeigeladenen vagabundirenden Knaben um die schmalen Tische gereiht, das versprochene Nachtessen erwartend. Die Räumlichkeit war ehemals eine Wagenschuppen gewesen; hölzerne Pfosten stützten die niedrige Decke; die Beleuchtung war eine schwache. Am anderen Ende des Saales waren zwei Polizeimänner aufgestellt.

Da saßen sie, die Verlorenen und Verlassenen, die Auswürflinge des unaussprechlichsten Elends, eine Musterkarte von Zerrissenheit und ungewaschener, ungekämmter Verwahrlosung bildend. Sie waren übrigens still und ruhig, fast in peinlicher Weise. Sie harrten dem „Futter“ entgegen. Allmählich trollten noch ein Paar Spätlinge herein, schlotternden Ganges oder mit sonderbar ausgespreizten Beinen. Ein Wald von Haarwuchs bedeckte die Köpfe Aller. Einige trugen Wämmser, die ihnen bis an die Knöchel reichten; die Hosen waren nur noch stückweise zu erkennen. Ein paar hatten kaum das Hemd auf dem Leib, um die Hüften hingen sonderbare Fahnenfetzen; klappernd vor Kälte wackelten sie in den Saal herein und lugten mit thierisch scheuem Blick umher. Einige hatten verkrüppelte Glieder. Die Krücke diente dem Einen oder dem Anderen, um herbeihumpeln zu können; die Mehrzahl schien jedoch kräftigen Gliederbaues zu sein. Man sah blasse, abgehärmte Gesichter, eingefallene Wangen, auch einige Antlitze, auf denen sich, wenn der Schein nicht trog, frühzeitige Verworfenheit malte. Im Ganzen war die Gesichtsfarbe jedoch nicht schlecht; Manche freilich zeigten eine hektische Röthe und geisterhaft glänzende Augen. Es waren ein paar höchst confiscirte Physiognomien, aber auch nicht wenige ausdrucksvolle Köpfe dabei, mit nobel geschnittenen Zügen. Die im Allgemeinen schöne Form des englischen Stammes ließ sich selbst unter diesem Abschaum nicht verkennen. Irländer, däuchte mir, waren kaum da, obwohl diese celtische Nationalität den ärmsten Pöbel Londons bildet. Sie mochten fürchten – und diese Befürchtung, wie sich nachher herausstellte, hatte in der That Viele vom Kommen abgehalten, es sei von der Polizei eine Falle gestellt worden, um bei dieser Gelegenheit einen Fang zu thun oder wenigstens gewissen Geheimnissen der armen Gäuche auf die Spur zu kommen. Der Irländer ist von Herzen gewöhnlich gutmüthiger, als sein englischer Cumpan, aber doch auch wieder eher zum Mißtrauen geneigt.

Gegen zweihundert Knaben, im Alter bis zu sechszehn Jahren, waren an den Tischen versammelt. An einem Ende des Saales saßen achtzig reguläre Bewohner des Zufluchtshauses beisammen, und der Contrast zwischen diesen gewaschenen, gekämmten, anständig gekleideten Jungen, die doch ehemals gerade solche verstruppte Straßenwildlinge gewesen waren, und den zur Speisung geladenen Lazarussen war außerordentlich. Zwanzig Knaben des Zufluchtshauses machten die Aufwärter. Das Abendessen bestand aus einer schönen Portion saftigen Rindfleisches, mit einem Laibchen Weißbrod, einer kleinen Kanne Kaffee und einem Pfund Plumpudding. Ein stämmiger Krieger hatte nicht mehr verzehren können.

Stille, nur durch Hüsteln unterbrochen, hatte bis dahin geherrscht, und noch größere Stille, wo möglich, trat ein, als es an das Leeren der Teiler ging. Man konnte übrigens bemerken, daß derjenige, der an einem Tische das Weiterreichen zu besorgen hatte, dies stets mit Sorgfalt, selbst mit Geschick that und nichts für sich nahm, bis Alle versehen waren, und daß kein Versuch gemacht wurde, dem Aufwärter mehr abzunehmen, als für einen Tisch bestimmt war. Auch mit Gabel und Messer hantirte diese ruppige Gesellschaft ganz manierlich. Was an Unterhaltung vorkam, geschah in dem „Unterton“, der in englischer Privatconversation Sitte ist; man hätte fast glauben mögen, die Caricatur eines „stuck-up dinner“ (eines prätentiösen Gastmahls) sei beabsichtigt. Nur das verdächtige Kratzen am Kopf und an anderen Körpertheilen gehörte nicht zur Rolle. Gabel und Messer wurden zu häufig niedergelegt, um diese unaufschieblichen Geschäfte zu verrichten. Der Geruch, den die Versammlung verbreitete, war zudem, namentlich am oberen Ende der Räumlichkeit, fast überwältigend – „zoologisch“ im gefährlichsten Sinne des Wortes. Er streifte manchmal in’s Zibetkatzenartige über, und gern schöpfte man am Eingange von Zeit zu Zeit Luft.

War es still gewesen während des Fleisch-, Brod- und Kaffeegenusses, so verwandelte sich die Scene plötzlich, als das Nationalgericht, der Plumpudding, unerwartet hereinkam. Da brachen die armen Schwartenhälse, die dergleichen wohl lange nicht genossen haben mochten, in ein lang anhaltendes „Hurrah“ aus, daß der Saal erzitterte und es den Aufsehern alle Mühe kostete, die Ruhe wieder herzustellen. Viele Gesichter zitterten förmlich krampfhaft vor Vergnügen. Die Tollsten renkten sich fast Arme und Beine aus, um ihren Gefühlen Luft zu machen. Es war ein Kappenschwenken und Jauchzen, wie von den glücklichsten der Erdensöhne.

In den Pausen setzte ich mich an den und jenen Tisch, um durch Fragen Auskunft über das Loos der Obdachlosen Londoner „Beduinen“ zu erlangen. Aus der Unterhaltung einiger anderen anwesenden Herren mit diesem jugendlichen Volk der Hadern hörte ich ebenfalls manches Traurige. Vater und Mutter hatten die Meisten verloren oder nie gekannt.

„Wo sind Deine Eltern?“

„Weiß nicht!“

„Wann hast Du sie zum letzten Male gesehen?“

„Kann mich nicht mehr erinnern!“

„Wie heißt Du?“

„Man nennt mich Langkopf; die anderen Kerle haben mir den Spitznamen gegeben.“

„Wo schläfst Du?“

„In einem Loch in den Lambether Töpfereien.“

„Und Du?“

[144] „Unter einem Karren.“

„Und Du?“

„In einem Schuppen von Drury-Lane-Theater.“

„Du?“

„Ich schlafe, wo ich gerade kann; unter den Säulen vor einer Kirche, oder sonstwo.“

„Was treibt ihr am Tage?“

„Ich bettle.“ – „Ich verkaufe Streichhölzer“ – „Ich mag nicht sagen, was ich thue!“ setzte ein Anderer mit listig-blitzenden Augen hinzu. Alle aber gaben ihre Antworten mit der Festigkeit und knappen, treffenden Kürze, welche den Engländer kennzeichnet, namentlich den Londoner. Gleichwohl waren manche dieser Knaben vom Lande hereingekommen; einer gab Schottland, einer Frankreich als sein Geburtsland an. In dem hastigen Straßenleben dieser kolossalen Stadt hatten sie aber Alle ihren uniformen Schliff erhalten.

Nach dem Essen ließ Graf Shaftesbury, das Haupt der frömmelnd protestantischen Richtung, einen Lobgesang anstimmen, und die sämmtliche Gesellschaft begab sich darauf in den oberen Raum, wo die eigentliche Versammlung stattfinden sollte. Es handelte sich darum, eine Anzahl der Knaben zur Meldung beim Zufluchtshause zu veranlassen, um nach Maßgabe der vorhandenen Mittel ihre Aufnahme zu bewerkstelligen, sie zu Handwerken anzuleiten, ihren späteren Eintritt in die Flotte zu erwirken und dergleichen mehr. Das Zufluchtshaus, dessen innere Einrichtung ich besichtigte, hat gegenwärtig etwas mehr als hundert Knaben unter Aufsicht. Sie lernen das Handwerk eines Schuhmachers, Schneiders, Zimmermanns, oder sind mit Holzspleißen beschäftigt. Eiserne Bettstätten, mit rothbraunen Shawldecken, sind in dem geräumigen Schlafsaal aufgereiht; die Bettung schien mir gut, die Decken aber zu dünn. Ein Gasflämmchen brennt die ganze Nacht im Saal. Erwachsene Aufseher sind Nachts nicht da; Unruhe und Unfug entsteht aber, wie man mir sagte, nie. Einige Knaben amtiren als Inspectoren; einer derselben lag gerade wegen geschwollenen Fußes zu Bette und blickte etwas komisch vergnügt unter der Decke vor. Manchmal entläuft ein Knabe dem Hause; er wird dann gesucht und stets wieder gefunden, denn, Thieren ähnlich, schweift auch diese nomadisirende Classe doch nur in gewissem Umkreis. Auf meine Frage nach den Strafen hörte ich mit Bedauern, daß körperliche Züchtigung – mit dem Lederriemen – angewandt werde, doch nur in seltenen Fällen. Im Ganzen sind seit der Gründung des Zufluchtshauses etwa sechshundertundsechszig Knaben und fünfhundert Mädchen aus dem schmutzigen Strudel des Jammers und des Lasters, in dem sie bis dahin umhertrieben, gerettet worden. Die photographischen Bildnisse der hundert ersten Knaben, die zu Gewerben oder zum Matrosendienst aus der Anstalt entlassen worden waren, hingen an einer Wand des Versammlungs-Saales; es waren meist intelligente Gesichter.

Der Vorsitzende wandte sich mit einer kurzen Ansprache an die zerlumpten Rangen, indem er ihnen erklärte: sie bildeten heute das Meeting; sie würden daher gewiß mit voller Wahrheit alle ihnen vorgelegten Fragen beantworten. Elend und jammervoll wie sie aussähen, könnten sie, wenn sie nur wollten, mit Hülfe derer, die ihnen Gutes zu thun beabsichtigten, sich zu besserem Loose aufschwingen; sie möchten daher frei heraus sagen, wie es mit ihnen stünde. Diese Anrede, wie überhaupt die ganze folgende Procedur, wurde von Seiten der Knaben mit aufmerksamer Theilnahme angehört. Aber ein Husten und Hüsteln in allen Tonarten, das doch auf viel Lungenleiden selbst der scheinbar gesund Aussehenden schließen ließ, hörte den Abend über nie auf und wirkte vielfach störend. Nun kamen die besonderen Fragen.

„Wie viele von Euch sind schon im Gefängniß gewesen?“
Etwa dreißig erhoben die Hand.
„Wie viele waren zwei Mal im Gefängniß?“
Etwa zehn erhoben die Hand.
„Wie viele waren drei Mal darin?“
Fünf erhoben die Hand.
„Wie viele von Euch haben gestern Nacht in einem Bette geschlafen?“
Ein paar Hände nur erhoben sich.
Nach einigen anderen Fragen über Beschäftigung etc. wurde gefragt:
„Möchtet Ihr ein anderes Leben führen?“

Ein allgemeiner Ruf erscholl: „O ja, mein Herr!“ – Diesmal in einem Tone fast rührender Einfalt, der gegen den Ausdruck der Stimmen bei anderen Antworten sonderbar abstach.

„Angenommen,“ sagte der Vorsitzende, „es läge ein großes Schiff auf der Themse, groß genug für tausend von Euch; möchtet Ihr dahin gehen, um unterrichtet zu werden, Handwerke zu lernen, Euch für die Kauffahrtei- oder Kriegsflotte vorzubereiten?“

Stürmisches „Ja, ja!“ mit geschwenkten Mützen. Der englische Seemannsgeist schien plötzlich unter viele der Jungen zu fahren.

„Glaubt Ihr, alle Euere Cameraden auf den Straßen würden auch darauf eingehen?“

Vielfaches „Nein!“ mit „Ja!“ schwach untermischt; diese heikle Frage nämlich betraf die große Zahl derer, die schon in Laster und Verbrechen zu tief versunken, die auf dem Wege vom Rinnstein zum Kerker und Galgen sind. Der Vorsitzende glaubte, die Frage sei mißverstanden; allein „Nein, nein!“ schallte ihm wieder entgegen.

Wunderbar waren das rasche Verständniß der Knaben und die geordnete Meetings-Manier, mit welcher sie unter andern die ihnen vorgeschlagenen „Hochs“ – „Hip, hip, Hurrah“ und „drei Mal drei“ – ausbrachten. Der Engländer hat ein angeborenes Geschick dafür. Der oder jener unter den Rangen mag freilich schon auf politischen Meetings „zu ungesetzlichen Zwecken“ sich eingefunden und dort die Gebräuche abgeguckt haben.

Die Versammlung wurde geschlossen, nachdem man sich vorgenommen hatte, Schritte für Rettung solcher verwahrloster Straßenläufer zu thun. Die englische Aristokratie, die vom Marke des Landes lebt, findet sich, klug rechnend, bei solchen Bemühungen gewöhnlich ein, und so war es auch hier!

Vier Pence wurden noch von dem Zufluchtshause an jeden Knaben gezahlt, damit er diese Nacht in einem Logirhause schlafen könne. Unter strömendem Regen begaben sich die Einen nach Hause in die warmen, wohlerleuchteten Wohnzimmer; der zersetzte Betteltrupp aber fluthete wieder hinaus auf das unwirthliche Meer des Elendes. –
Carl Blind.