Ein Abend im Asyl für Obdachlose
Wie jede große Stadt besitzt auch Berlin ein zahlreiches Proletariat, darunter Hunderte und Tausende, welche am Morgen nicht wissen, wo sie Abends ihr müdes Haupt hinlegen und die lange Nacht zubringen werden. Die Menge der Obdachlosen steigt noch bedeutend am Anfang jedes Quartals, wo viele arme Familien von ihren Hauswirthen wegen Zahlungsunfähigkeit exmittirt und auf die Straße getrieben werden. Ganze Karawanen sieht man an den sogenannten Ziehtagen mit ihrem dürftigen Gerümpel oft in strömendem Regen oder erstarrender Kälte von Haus zu Haus irren, um ein Quartier zu finden, und an allen Thüren vergebens anklopfen, da den Unglücklichen nirgends aufgethan wird.
Im Sommer und bei guter Witterung bietet „Mutter Grün“, die freie Natur im „Thiergarten“ oder „Friedrichshain“, den Obdachlosen ein willkommenes Asyl. Von Zeit zu Zeit veranstaltet die Polizei eine großartige Razzia, wobei ganze Schaaren von diesen „wilden Chambregarnisten“, Männer, Frauen, Kinder, zwischen Dieben und Strolchen, liederlichen Dirnen und Gesindel von der schlimmsten Sorte, auch heruntergekommene Handwerker und Arbeiter, verarmte Familienväter, unglückliche Weiber aufgetrieben und zum Verwahrsam gebracht werden.
In der rauhen Jahreszeit gewähren die im Bau begriffenen Häuser, Brücken, Keller, Schuppen und besonders die Viehställe des am Landsberger Thore gelegenen Viehmarkts den erwünschten Schutz. Die besser situirte Minderheit, gewissermaßen die Aristokratie des Elends, welche noch im Besitz eines oder mehrerer Silbergroschen sich befindet, kehrt in einer sogenannten „Penne“ ein und zahlt für eine Schlafstelle obigen Betrag. Diese Hôtels der größten Armuth liegen größtentheils vor dem Hamburger oder [55] Rosenthaler Thor, in dem alten Voigtlande, wo von jeher die Noth zu Hause ist. Die Unternehmer sind gewöhnlich Frauen aus den niedersten Ständen, welche „Pennenmütter“ heißen, während die Gäste „Pennenbrüder“ und „Pennenschwestern“ genannt werden.
Meist werden zu diesem Zwecke die neuen Häuser benutzt, welche auf diese Weise erst trocken gewohnt werden sollen. Je nach dem Preise hat man die Wahl zwischen einer Bank oder der harten Diele. Zuweilen besteht das Lager in einer Hängematte, die des Abends der Sicherheit wegen heraufgezogen und des Morgens heruntergelassen wird. Man kann sich kaum eine Vorstellung von dem hier herrschenden physischen und moralischen Schmutz, von dem wüsten Treiben in diesen wirklichen Cloaken machen, wo Männer und Frauen untereinander in bunter Gemeinschaft die Nacht verleben.
Eine weitere Unterkunft für die Obdachlosen giebt das „Polizeiverwahrsam“, wohin alle nächtlichen Herumtreiber ohne Unterschied des Geschlechts und des Berufs eingebracht werden. Dasselbe liegt im Polizeigebäude am Molkenmarkte und besteht aus einem Verhörzimmer und zwei größeren Sälen. Statt eines Lagers finden die Detinirten nur einen Sitz auf einer Holzbank ohne Rücklehne. Dabei ist gewöhnlich der Raum so beschränkt, daß sich die unfreiwilligen Gäste kaum rühren können. Jeder Ankommende wird genau nach Namen, Stand, Herkunft, Geschäft und sonstigen Verhältnissen inquirirt und erhält ein eigenes Actenstück, worin seine Personalien eingetragen werden. Nicht minder unangenehm berührt die Gemeinschaft von wirklichen Obdachlosen, notorischen Bettlern, Geisteskranken und solchen Leuten, welche wegen Straßenunfug, Trunkenheit, Widersetzlichkeit oder Unsittlichkeit vorläufig verhaftet worden sind. – Natürlich ist die Gesellschaft eine höchst gemischte; neben ehemaligen Officieren und einst wohlhabenden Kaufleuten, Privatdocenten und Studenten erblickt man heruntergekommene Gewerbtreibende, Schneider und Schuhmacher, neben gebildeten Damen, die einst in der Gesellschaft eine Rolle spielten, feile Straßendirnen, neben der Unschuld das verworfene Laster, neben der Bildung oder wenigstens der äußeren Politur die größte Rohheit und Gemeinheit. Die Behandlung ist für Alle ohne Ausnahme und Rücksicht auf ihren Stand und ihre Verhältnisse dieselbe. Die geringste Widersetzlichkeit oder lärmendes Betragen wird sofort mit Einsperrung in eine enge dunkle Zelle oder gar mit Anlegung einer Zwangsjacke bestraft. Am nächsten Morgen erst werden die Detinirten entlassen, die Kranken in die Charité, verdächtige Subjecte in das Arbeitshaus oder zur Untersuchungshaft abgeliefert. Man kann wohl denken, daß eine derartige Nacht im Berliner Polizeiverwahrsam gerade nicht zu den Annehmlichkeiten des Lebens zählt, abgesehen davon, daß die inquisitorischen Maßregeln, die dabei beobachtet werden, stets einen üblen, verletzenden Eindruck hinterlassen.
Auch das „Arbeitshaus“ bietet den Obdachlosen eine Zuflucht und wird besonders beim Quartalwechsel zur Unterbringung der armen Familien benutzt, welche entweder exmittirt worden sind oder kein Unterkommen finden können. In der Regel dient dasselbe als Gefängniß für unverbesserliche Herumtreiber, Gewohnheitsbettler, Landstreicher und liederliche Frauenzimmer. Schon aus diesem Grunde eignet sich das Arbeitshaus nicht für arme Obdachlose, welche ein augenblicklicher und oft nur vorübergehender Nothstand hergeführt hat. Dazu kommt noch der Uebelstand, daß diese unschuldigen Männer und Frauen förmlich als Gefangene angesehen und behandelt werden, indem sie die vorgeschriebene Gefängnißtracht anlegen und sich solchen Arbeiten unterziehen müssen, die weder zu ihren sonstigen Gewohnheiten noch zu ihrer bürgerlichen Stellung passen. Wie groß aber trotz der gerügten Mängel der Andrang der Obdachlosen ist, zeigen die statistischen Zahlen, wonach im Jahre 1868 sich im Polizeiverwahrsam 14029 obdachlose Männer, 1664 Frauen und 64 Kinder befanden, von denen 13743 Männer, 1331 Frauen und sämmtliche Kinder sich selbst gemeldet hatten, während das Arbeitshaus 132 Familien mit 435 Köpfen und außerdem 1098 einzelne Personen in derselben Zeit aufnahm.
Unter diesen Verhältnissen lag wohl der Gedanke nahe, durch Gründung eines auf humanen Principien beruhenden Asyls dieser dringenden Noth abzuhelfen. Den eigentlichen Anstoß gab auch hier die Gartenlaube durch einen ihrer Artikel über das „Londoner Asylwesen“. Eine hochgeachtete und für alles Gute und Edle begeisterte Frau las den Aufsatz mit dem größten Interesse und bewog ihren Gatten, den Kaufmann Neumann, die hochwichtige Angelegenheit in dem „Friedrichs-Werder’schen Bezirksverein“, dem er als Mitglied angehörte, anzuregen und wo möglich eine ähnliche Anstalt in’s Leben zu rufen. Seine warmen Worte fanden allgemeinen Anklang und eine so günstige Aufnahme, daß sofort eine Commission ernannt wurde, welche bereits am 30. November 1868 eine zu diesem Zweck einberufene Bürgerversammlung, wozu auch der königliche Polizeipräsident und die städtische Armendirection geladen war, die nöthigen Vorlagen machte.
In einem schriftlichen Gutachten nannte der Polizeipräsident Herr von Wurmb die Idee eine so außerordentlich humane und zeitgemäße, daß er ihre Realisirung dringend wünschte, obgleich er die großen finanziellen Schwierigkeiten nicht verschwieg. Auch der Stadtrath Zelle als Vorsitzender der Abtheilung für die Berliner Waisenpflege sprach seine innigste Sympathie für das Unternehmen aus, rieth jedoch aus Erfahrung, sich zunächst nur auf ein Asyl für obdachlose Frauen, Mädchen und Kinder zu beschränken. Mit dieser Ansicht erklärte sich die Versammlung einverstanden, worauf sie vorläufig ein provisorisches Comité wählte, in dem Kaufleute, Fabrikanten, Beamte und Gelehrte, Männer wie Virchow, Borsig, Löwe-Calbe, Prediger Lisco, Stadtrath Zelle, Kaufmann Ravené, Stadtverordneten-Vorsteher Kochhann etc. saßen. Der Vorsitz wurde dem um die Sache hochverdienten Herrn Gustav Thölde übertragen, der durch seinen Eifer und seine Hingebung das in ihn gesetzte Vertrauen vollkommen rechtfertigte.
Eine große Schwierigkeit bot vor Allen die Beschaffung des geeigneten Locals, da sich so leicht kein Hauswirth bereit finden ließ, das Asyl bei sich aufzunehmen. Nach vielem vergeblichen Suchen wurde die frühere Artillerie-Werkstätte an der Ecke der Dorotheen- und Wilhelmsstraße zu diesem Zwecke gemiethet. Zugleich erließ das Comité einen öffentlichen Aufruf an die Bewohner der Residenz, sich durch Beiträge an dem humanen Werk zu betheiligen. Obgleich die Geldspenden anfänglich nur spärlich flossen und von verschiedenen Seiten keineswegs gerechtfertigte Bedenken gegen das ganze Unternehmen erhoben wurden, ging der Verein mit großer anerkennungswerther Energie an die Verwirklichung seiner Idee, nachdem er seine Statuten entworfen und angenommen hatte. Darnach bezweckte der Verein, in Berlin für obdachlose Personen Asyle zu gründen, um ihnen nach Möglichkeit Gelegenheit zur Arbeit zu geben. Zur Mitgliedschaft berechtigt ein einmaliger Beitrag von fünf Thalern oder ein Jahresbeitrag von mindestens fünfzehn Silbergroschen. Die Verwaltung liegt in den Händen eines aus fünfundzwanzig Mitgliedern bestehenden Verwaltungsraths und eines die Geschäfte leitenden Vorstandes von sieben Personen etc.
Unterdeß waren die nöthigen baulichen Einrichtungen, die Legung von Gas- und Wasserröhren, die Beschaffung des unentbehrlichen, höchst einfachen Mobiliars, besonders der sehr zweckmäßigen eisernen Bettstellen so weit vollendet, daß am 3. Januar 1869 das Asyl eröffnet werden konnte. Die erste und an diesem denkwürdigen Tage einzige Person, welche ein Obdach suchte, war ein verlassenes achtzehnjähriges Dienstmädchen. Seitdem sind im Lauf dieses Jahres mehr als dreizehntausend Frauen, Mädchen und Kinder aufgenommen worden.
Der freundlichen Einladung des Vorsitzenden folgend, begaben wir uns an einem kalten Decemberabende in das Asyl, das sich von außen durch ein schwarzes Schild ankündigt. Außerdem werden durch besondere Placate in sämmtlichen Eisenbahnhöfen die Fremden, welche kein Obdach haben, ausdrücklich dahin gewiesen. Wir treten in das kleine Zimmer, wo sich einer der Herren, der die Aufsicht an diesem Tage führt, aufhält und in ein dazu eingerichtetes Buch seine Bemerkungen einschreibt. Außerdem finden wir hier den angestellten Hausvater, der eine Liste über die Zahl der Obdachlosen führt, die jedoch weder nach ihrem Namen und Stand, noch nach ihren sonstigen Verhältnissen gefragt werden dürfen, so daß jede polizeiliche Recherche gänzlich ausgeschlossen ist.
Der würdige Mann, der gegenwärtig diesen wichtigen Posten bekleidet, heißt Pape und hat selbst die schwere Hand des Schicksals kennen gelernt. In jenem politischen Processe gegen Dr. Ladendorf und Genossen zur Zeit Hinckeldey’s wurde Herr Pape zu einer fünfjährigen Gefängnißstrafe verurtheilt, die er in der Anstalt [56] zu Naugard verbüßte. Der uns begleitende Herr Thölde gab ihm und seiner Frau, der guten Hausmutter, das Zeugniß der reinsten Menschenfreundlichkeit und Humanität. Er selbst führte uns zunächst in die Küche, die sich durch ihre außerordentliche Sauberkeit empfiehlt. Hier wird für sämmtliche Obdachlose Abends eine warme Suppe und Morgens der Kaffee bereitet, damit sie nicht nüchtern die Anstalt verlassen. Auf einer Holzbank stehen mehrere Wasserschüsseln zum Waschen des Gesichts und der Hände, wozu jede Aufgenommene verpflichtet ist. Desgleichen muß sie ihr Schuhwerk ablegen, wogegen ihr Pantillen verabreicht werden, die sie am nächsten Tage gegen ihre alte Fußbekleidung wieder umtauscht. Die größte Reinlichkeit wird nach allen Seiten streng beobachtet; zu diesem Zwecke dient eine vollständige Badeeinrichtung, über deren Gebrauch der Hausvater zu bestimmen hat. Die Kleidung darf nicht abgelegt werden; für durchnäßte Kleider dient ein besonderer Raum zum Trocknen, und wenn sich Spuren von Ungeziefer zeigen, so werden die betreffenden Stücke dem Glühofen ausgesetzt. Bis neun Uhr Abends können sich die Besucherinnen in gesitteter Weise unterhalten. Wer Lust zum Lesen hat, findet eine Bibel und die Volksschriften von Ferdinand Schmidt, wer seine Kleider ausbessern will, Zwirn und Nadel, welche die Hausmutter bereit hält. Das Asyl darf von ein und derselben Person nicht öfter als fünfmal im Laufe eines Monats benutzt werden; doch sind Ausnahmen gestattet, die von dem Ermessen des Vorstandes und dem Gutachten des Hausvaters abhängen. Wenn Hausvater und Hausmutter keine besonders ihnen obliegende Verrichtungen in den eigentlichen Asylräumen haben, so halten sie sich in der ihnen angewiesenen Wohnung auf, damit auch der Schein vermieden werde, als ob die zugelassenen Frauenspersonen der Beaufsichtigung unterworfen sind. Beiden ist in ihren Instructionen Schonung und Humanität empfohlen. Auf Wunsch beschäftigt sich der Hausvater mit der Unterbringung der Obdachlosen, und in vielen Fällen ist es ihm auch geglückt, ihnen einen Dienst oder Arbeit zu verschaffen.
Nach Besichtigung der Küche traten wir in den großen Saal, in welchem sich achtunddreißig eiserne Lagerstätten mit Ober- und Unterdecken befinden. Derselbe wird geheizt und zeigte eine Temperatur von ungefähr sechszehn Grad. Hier fanden wir einige zwanzig Personen, die auf den Bänken saßen und sich unterhielten oder mit Lesen und Nähen beschäftigten. Zunächst fiel uns eine Mutter mit ihrem fünfwöchentlichen Säugling auf, der von ihr mit der Milchflasche genährt wurde. Die Milch liefert die Anstalt zu diesem Zwecke. In ihren bleichen Zügen mit eingesunkenen Augen lag eine traurige Leidensgeschichte. In ihrer Nähe stand ein junges Mädchen, eine fast übergroße Gestalt mit einem angenehmen jugendlichen Gesicht. Auf Befragen erfuhren wir, daß sie aus Petersburg sei und nach Dresden reisen wolle. Unbekannt mit den hiesigen Verhältnissen, hatte sie zu dem Asyl ihre Zuflucht genommen. Besonders zahlreich war die Classe der entlassenen und unbeschäftigten Dienstmädchen vertreten, denen das Asyl eine unschätzbare Wohlthat erweist.
Nicht selten geschieht es, daß solche unerfahrene Mädchen bei ihrer Ankunft in Berlin auf der Eisenbahn von gewissenlosen Frauen aufgefangen und durch das Versprechen eines guten Dienstes verlockt werden, sich und ihr Gepäck ihnen anzuvertrauen. Zu spät erfahren die Armen durch die ihnen gestellten Zumuthungen, in welch unsaubere Hände sie gefallen sind. Ihrer Sachen beraubt, hülflos auf die Straße gestoßen, der Verführung ausgesetzt, bietet ihnen das Asyl Schutz und Hülfe. Ein solcher Mißbrauch hatte auch an diesem Abende zwei junge Mädchen aus der Provinz hergeführt, die mit ihren blühenden Wangen und sauberer Kleidung einen angenehmen Eindruck machten und vortheilhaft unter den vielen verkommenen und elenden Erscheinungen hervorstachen.
Ein anderes Dienstmädchen hatte, wie der Vorsitzende uns berichtet, zwei Nächte auf freiem Felde in der Nähe von Moabit zugebracht, wo sie erstarrt von einigen mitleidigen Herren gefunden und nach dem Asyl gebracht wurde. Es gelang dem Hausvater, ihr einen passenden Dienst zu verschaffen und für ihr Unterkommen zu sorgen. Noch glücklicher gestaltete sich das Schicksal eines andern Mädchens, das, zu ihrer Herrschaft von einem Gange zurückkehrend, diese exmittirt und die Wohnung verschlossen fand, so daß ihr nichts übrig blieb, als in dem Asyl zu übernachten. Ihr Schicksal erregte Theilnahme; eine mitleidige, hochgestellte Dame nahm sich der Verlassenen an und hat dieselbe, da sie selbst kinderlos war, als Tochter adoptirt.
Nicht minder groß ist die Zahl der obdachlosen Frauen, unter denen man zuweilen auch Personen aus den besseren Ständen findet, deren Schicksale oft im höchsten Grade interessiren. So erschien vor einiger Zeit in dem Asyl eine Unglückliche mit zwei schönen Kindern, deren ganze Erscheinung und Benehmen sogleich verrieth, daß sie den besseren Ständen angehörte. Wie man von ihr erfuhr, war sie die Frau eines Beamten beim Obertribunal, der sie treulos verlassen und einer andern Geliebten geopfert hatte; da sie nicht in die von ihm verlangte Scheidung willigen wollte. Die Erzählung ihrer Leiden war ein erschütterndes Trauerspiel aus dem bürgerlichen Leben. Herr Prediger Lisco, Mitglied des Vereins, hielt es für seine Pflicht, den Mann aufzusuchen, und sprach mit solchem Eifer und Erfolg für die verlassene Frau, daß eine vollständige Versöhnung stattfand und der verirrte Gatte sein Unrecht erkannte.
Besonders stark wird das Asyl zur Zeit des Wohnungswechsels von Obdachlosen aufgesucht. Nicht selten bringen die Eltern selbst ihre Kinder, während sie sich vergebens nach einer Wohnung umsehen. Zuweilen kommen auch elternlose Kinder, die jedoch nur ausnahmsweise aufgenommen und gleich am nächsten Morgen dem Waisenamte übergeben werden. Zu der Weihnachtszeit erschien eine arme Mutter mit ihrem sterbenden Kinde. Es war dies der erste Todesfall im Asyl, obgleich es an einzelnen Kranken nicht fehlt, welche vorläufig von zwei menschenfreundlichen Aerzten unentgeltlich behandelt und am nächsten Morgen zur Charité gebracht werden. In dem genannten Falle wurde dem armen Kinde die größte Sorge gewidmet. Mit der ihm von der guten Hausmutter geschenkten Puppe im Arme starb das Kind, indem es lächelnd auf die ungewohnte Gabe hinblickte und mit seinen bleichen Lippen flüsterte: „Meine Puppe!“
Derartige rührende und ergreifende Scenen sind hier keine Seltenheit, und die Menschenliebe findet mehr als Eine Gelegenheit sich zu bethätigen. Im Ganzen ist das Verhalten der Obdachlosen musterhaft zu nennen, obschon es auch hier nicht an Ausnahmen fehlt. Excesse können bei den verschiedenen Bevölkerungsclassen nicht gänzlich ausbleiben, obgleich sie nur selten eintreten. So wurde unter Anderm dem Hausvater eine silberne Uhr gestohlen, die man später bei einer Wöchnerin in der Charité fand, welche im Asyl übernachtet hatte. Zuweilen werden auch die den Obdachlosen gewährten Schlafdecken vermißt. Trotzdem muß man die Ordnung und das sittliche Betragen der Mehrzahl anerkennen und die günstigen Zeugnisse bestätigen, welche von verschiedenen Besuchern der Anstalt mündlich und schriftlich ertheilt werden.
Nach und nach hat sich das Asyl warme Freunde und Beförderer durch seine segensreiche Thätigkeit erworben, so daß ihm von allen Seiten Beiträge, Unterstützungen und Legate zufließen. In der kurzen Zeit eines Jahres hat es bereits eine Summe von zwanzigtausend Thalern erworben, für die ein eigenes Haus in der Grenadierstraße angekauft worden ist. Durch den überaus günstigen Erfolg aufgemuntert, beabsichtigt der Verein zunächst ein zweites Asyl für obdachlose Männer zu gründen und überhaupt seine Wirksamkeit über die verschiedenen Stadttheile der Residenz auszudehnen.
Dieser Erfolg legt in der That ein glänzendes Zeugniß für den wohlthätigen Sinn der Berliner ab. In demselben Maße, wie das sociale Elend zunimmt, regt sich auch die allgemeine Menschenliebe. Was im Mittelalter der fromme Glaube that, um der Armuth zu helfen, die Kranken zu pflegen, die Dürftigen zu unterstützen, das leistet jetzt die selbstbewußte Humanität in noch erhöhtem Maße, indem sie sich nicht nur auf palliative Mittel beschränkt, sondern das Uebel an seinen Wurzeln anzugreifen sucht. Diese Bestrebungen verdienen um so mehr unsere Anerkennung, da sie auf dem Principe der Selbsthülfe beruhen und aus dem Schooße des gebildeten Mittelstandes hervorgegangen sind.