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Drei Sommer in Tirol/Reute — Lechthal — Bregenzerwald

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« Vorarlberg Drei Sommer in Tirol Die beiden Walserthäler »
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Reute – Lechthal – Bregenzerwald.


Vorarlberg ist auf der Heerstraße von drei Seiten her zugänglich. Wer von Deutschland kömmt, fährt über Bregenz in das Ländchen ein; die italienische Straße geht über Chur und Maienfeld nach Feldkirch; die Tiroler kommen über den Arlberg. Diese drei für Roß und Wagen geschickten Zugänge gehören ebendeßwegen zu den viel betretenen, über welche in mehr als einer Schrift gesprochen worden ist. Wir wollen daher unsre Wanderungen lieber auf einem weniger bekannten Pfade beginnen und über den Tannberg herein steigen. Um zum Tannberge zu gelangen, müssen wir aber erst das Lechthal durchwandern, und da wir von Bayern ausgehen, so können wir auch ins Lechthal nicht wohl anders kommen, als über sein Emporium, den Flecken Reute. So trifft sich’s denn, daß wir unsre vorarlbergischen Streifzüge auf tirolischem Boden eröffnen, was indessen den Leser nicht verwirren wird, da wir hier den Reiseplan unumwunden dargelegt haben, und es auch an seinem Orte deutlich aussprechen werden, wo Tirol zu Ende geht und Vorarlberg anfängt.

Wir sind also den Lechrain heraufgewandert über Steingaden, das welfische Münster, und sehen zur Rechten die Stadt Füßen liegen, gekrönt von einer ehemaligen Veste der Bischöfe von Augsburg. Zur Linken steht auf waldiger Felsenecke die Burg von Hohenschwangau, wie ein goldener Pokal auf grün geschmücktem Credenztische. Der Pilger eilt sehnsüchtig in das Schloß so voll von Wundern, wo die deutschen Sagen farbig von allen Wänden leuchten. Davor fluthet der liebliche Schwansee, wo die poetischen Vögel hochfährtig auf und abrudern, [10] und drinnen in dem düsterschönen Winkel des Gebirges glänzt der blaue Alpsee. Weiter oben im Hochwald fällt die Pöllat von rothem Felsenkamme in ihre Zauberschale, und nahe dabei ragen die Ruinen vom alten Schwangau aus dem Fichtendunkel, weithin sehend über die Ebene und auf ferne längst gebrochene Burgen. Jetzt ist aber hier nicht unsers Bleibens, und so ziehen wir nach Füßen, dem schmucken Städtchen, das mit Mauern und Thürmen eingefangen am Lechstrom liegt, eigentlich noch im Flachlande – aber gleich dahinter erheben sich in ansehnlicher Mächtigkeit die rhätischen Alpen.

Im Gastzimmer des Posthauses ist im Jahre 1745 zwischen der Königin von Ungarn und Böhmen Maria Theresia und dem Kurfürsten von Bayern der Füßner Friede abgeschlossen worden, der den österreichischen Erbfolgekrieg zu Ende brachte. Mehr als diese diplomatische Erinnerung wird den Freund der Vorzeit eine unterirdische Krypte beschäftigen, die unter dem Pflaster der Kirche von St. Mang liegt und aus den Zeiten stammt, wo dieser Glaubensbote zu Füßen wirksam war, also aus dem achten Jahrhundert. Erst vor etlichen Jahren hat Herr Hofrath Thiersch den Zugang zu diesem eigenthümlichen Bauwerke wieder entdeckt. Er war durch einen Bretterverschlag seit lange her unsichtbar gewesen, und es hatte sich alle Erinnerung verloren, daß hinter der Wand St. Magni Grabcapelle zu finden sey.

Wenige hundert Schritte oberhalb Füßen führt die Straße am Lechfall vorbei. Der junge Strom aus Tirol kommt voller Eile ganz blau daher und stürzt sich lilienweiß in den tiefen Kessel. Drunten treibt er sich hellgrün herum, und fluthet in langsamen Wirbeln wieder fort. Die Einfassung bilden zu beiden Seiten steile Felsenschöpfe. Auf dem diesseitigen steht ein eisernes Kreuz zur Erinnerung, daß hier einst St. Magnus über den tosenden Sturz gesetzt, um sich vor heidnischen Verfolgern zu retten. Denselben Sprung soll etliche Jahrhunderte früher Julius Cäsar zu Pferde gewagt haben.

Bald darauf steht man an der Gränze von Bayern und Tirol, beim weißen Haus, oder der österreichischen Zollstätte. Eine Palisadenwehr zieht von der nahen Bergwand quer herunter zum Lech und schließt das Thal ab.

[11] Wenn man aus diesem Gehöfte tritt, fängt es schon an etwas zu älpeln. Der Lech, ungemein frisch und munter, schlingt seine blauen Arme um die zahlreichen Sandbänke, mit denen sein Bett eingelegt ist. Anfangs füllen Straße, schmaler Rain und Fluß das Thal aus, von welchem waldige Halden schroff in die Höhe steigen – allmählig aber öffnet sich ein erquickender Einblick in das innere Gelände, das uns in heiterer Bergpracht willkommen heißt. Die Kirche von Vils erhebt sich aus dem Tannengebüsche und verräth den Ort, wo das kleinste Städtchen Tirols mit kaum sechshundert Einwohnern sich geschämig verbirgt. Weite Wiesbreiten füllen den Thalgrund, heimliche gebirglerische Wohnhäuser stehen am Wege, von den Halden tönen Heerdenglocken und von den Berghöhen locken stille grüne Alpenweiden. Die blau und weißen, die gelb und schwarzen Gränzpfähle, an denen wir vorübergegangen, scheiden auch in manchen Stücken Sitte, Tracht und Sprache um so mehr, weil sie auch Gebirg und Ebene scheiden. Treten wir zu Binswang ins Wirthshaus, so ist zu vernehmen daß wir zu Füßen das letzte Bier getrunken, wenigstens das letzte gute, und uns fürderhin sicherer an den Wein halten werden. Auch ihrem Brode wissen die Binswanger schon andre Formen zu geben als die Füßner. Die Tracht zeigt sich zumal verändert an den Häuptern des Frauengeschlechts. Jetzt tritt nämlich der nordtirolische Gebrauch ein, die Haare zu scheiteln, rückwärts in zwei Zöpfe zu flechten und die Zöpfe dem Ganzen zum zierlichen Einfang über dem Vorderhaupte aufzunesteln. Diese Weise läßt sehr schön, wenn ein schöner Mädchenkopf mit schönen Flechten gesegnet ist. Auch die Sprache wird bald rauher, zumal in den Kehllauten. Schönes Wetter, und schöne Mädchen und alles was schön ist, heißt von jetzt an nicht immer schön, sondern viel lieber „fein." Fein und unfein sind Lieblingswörter der Tiroler.

Reute ist ein großer ansehnlicher Flecken, reichlich versehen mit stadtmäßigen Häusern. Seit Hohenschwangau wieder ein Wallfahrtsort geworden, ist auch Reute während der schönen Jahreszeit mit Fremden angefüllt. Die große Tour aller Hochzeitreisenden aus Schwaben geht seit mehreren Jahren über [12] München nach Salzburg und von da über Innsbruck nach Hohenschwangau. Dabei fährt man ungern am Posthause in Reute vorüber, wo es, wie weit und breit bekannt, einen trefflichen Wein und überlegene Forellen gibt. Auch solche die im Flachlande draußen alt geworden und auf ihrem Lebensgange wenigstens einmal einen Blick ins Hochland zu thun wünschen, sammeln sich gern in diesem Flecken, dessen vorgeschobene Lage den Besuch so bequem macht. Ueberdieß lockt noch die Freundlichkeit des Ortes selbst, die Trefflichkeit der Verpflegung und die Schönheit der Gegend, die in den Niederungen so mild, in der Höhe so groß erscheint. Es findet sich nicht überall das prächtige Zusammenspiel von Bergen wie der Säuling, dessen schroffe Kuppen hoch aus dem Fichtenwald ragen, der Tauern beholzt bis zur Höhe, der Tarneller mit vollgeschneiten Rissen gestriemt bis zur Hälfte herab, wie die nahen Aschauer Höhen, reich an Alpen und in vielen Spitzen emporbrechend, und in der Ferne der mächtige Stock weißer Lechthaler Hörner. Auch ist am ganzen Saum des Gebirges wohl schwerlich ein Ort zu treffen, von welchem aus schönere und bedeutsamere Lustfahrten anzustellen wären. Den Lech hinab zieht Füßen und Hohenschwangau; links im kleinen Seitenthal winkt das winzige Städtchen Vils mit dem sehenswerthen Thurm von Vilsegg, welchen schauerliche Sagen unheimlich machen, und mit der stolzen Ruine Falkenstein, die auf schwindelnd hohem Felsengrate weit hinaus ins Flachland sieht. Dicht bei Reute liegt das viel ältere Breitenwang, in dessen Kirche noch jetzt der Marktflecken emgepfarrt ist. Dieß ist das Dorf, wo im Jahre 1137 auf der Heimfahrt aus Wälschland Kaiser Lothar der Sachse starb. Noch wird das Häuschen gezeigt, in dem der hohe Herr seinen letzten Seufzer aushauchte. Jetzt ist es wieder neu gebaut, doch hat man von der alten Hütte wenigstens etliche Balkentrümmer aufbewahrt, welche die Raritätenliebhaber wohl bald als Splitter in die weite Welt verführt haben werden. Da es übrigens ein hölzerner Bau gewesen, so ist es sehr zweifelhaft, ob aus der Zeit, in welcher die Hütte historisch merkwürdig geworden, nur noch eine handbreite Diele übrig war, als sie den jetzigen Neubau aufführten. Nichtsdestoweniger [13] tritt der Wanderer gerne in die Räume wo am dritten Christmond jenes Jahres die Kaiserin Richenza, Herzog Heinrich der Stolze von Bayern, die Herzoge von Kärnthen und Franken, Erzbischof Konrad von Magdeburg und der Bischof von Regensburg sammt andern Fürsten, Herren und Aebten den sterbenden Kaiser umstanden. Auf dem Schlosse zu Hohenschwangau ist die Begebenheit in einem schönen Gemälde vergegenwärtigt.

Von Breitenwang ist eine kleine Viertelstunde zu den schönen Fällen des Stuibenbaches, der aus dem Plansee kommt, und der Plansee selbst ist ein Bild voll reizender Bergeinsamkeit. Dort findet sich am linken Gestade eine Quelle, die das Kaiserbrünnlein heißt, weil sich Ludwig der Bayer öfter daran gelabt haben soll, als er von seiner Stiftung zu Ettal aus in diesen Revieren zu jagen ging. Vom Plansee hinaus führen dann zwei Pfade, der eine nach Garmisch und dem vielbesuchten Badeort Partenkirchen, der andre nach Ammergau, wo die kunstreichen Holzschnitzler wohnen, die alle zehn Jahre ihre Passionsvorstellungen aufführen, und nach Ettal, zum aufgehobenen Stift.

Ferner führt gegen Süden eine Heerstraße ins Innthal, zuerst zur ehemals oft berannten, jetzt zerstörten Bergveste Ehrenberg, von welcher das ganze Reutener Gericht seinen Namen hat. Dieses tirolischen Vorwerks wird oft gedacht in der Geschichte des schmalkaldischen Krieges, wo es von dem Bundeshauptmann Schärtlin von Burtenbach und sechs Jahre später, 1552, von Moriz von Sachsen genommen wurde; endlich auch wieder im spanischen Erbfolgekrieg, wo es an die Bayern überging. Durch die Ehrenberger Klause geht die Straße in das Alpenthal von Leermoos, aus dem sich die riesige Wand des Wettersteins erhebt, und zuletzt über den prächtigen Fernpaß mit seinen düstern Seen und dem malerischen Gemäuer von Sigmundsburg, das jetzt so geisterhaft auf einsamem Felseneiland trauert. Der Fern ist hier die alte Landmark zwischen den Leuten in montanis, die mit der Zeit sich nach dem Hauptschlosse im Etschland Tiroler nannten, und den Bewohnern des Lechthales. Noch heutzutage sagen die Ehrenberger, [14] wenn sie über den Fern reisen: wir gehen ins Tirol, und ebenso haben die Innthaler wenigstens in frühern Zeiten von der Gegend um Reute immer so gesprochen als läge sie in Schwaben. Eine sehr alte Anerkennung des Fernberges als symbolischen Ländertrenners liegt etwa auch in einer Urkunde Herrn Hilpolts von Schwangau aus dem Jahre 1290, wo der Ritter bestimmt, wenn er dereinst jenseits des Ferns sterbe, so möchten sie ihn im innthalischen Stift zu Stams begraben; wenn aber diesseits, im Münster zu Steingaden. Gleichwohl ist der Fernpaß keine strenge Stammesscheide, denn die Oberinnthaler in den Gerichten Telfs, Silz und Imst sind wenigstens stark mit Alemannen gemischt, und die weiter oben um Landeck, im Stanzerthale und gegen Mals hinauf wohnenden scheinen vollbürtige Schwaben zu seyn, die muthmaßlich gerade über den Fern hinüber ihren Weg in jene Gegenden gefunden haben.

Eine andere Hochlandsfahrt läßt sich von Reute aus unternehmen ins Tannheimer Thal. Es ist dieß eine idyllische etwa vier Stunden lange Landschaft, voll schöner Wiesen und anmuthiger Dörfchen, auch mit einem kleinen See geziert. Die Landstraße zieht mitten durch, muß aber um in diese Höhe zu gelangen, bei der Gacht lang und mühselig emporklimmen und steigt dann, wenn das Thal zu Ende ist, gegen den bayerischen Flecken Sonthofen zu, wieder eben so tief hinab. Das Tannheimer Thal gilt in der Gegend als eine landschaftliche Liebenswürdigkeit, zu deren Besuch der Einheimische den fremden Reisenden unablässig aufzufordern pflegt. Zumal wird dann auch der Bergweg über die Aschauer Alpen mit in Vorschlag gebracht, und wenn der rüstige Wanderer darauf eingeht, so erlebt er bei gutem Wetter herrliche Augenfreuden und nebenbei auch manche kleine Unterhaltung in den Sennhütten. Bequemer ist es allerdings durch den wilden, ehedem befestigten Paß der Gacht hinaufzusteigen, durch denselben, den ich vor ein paar Jahren einmal mit etlichen Herren von Reute hinaufstieg, um ins Nesselwängle zu einer Hochzeit zu gehen. Das Nesselwängle heißt zwar auf den Karten Klein-Nesselwang; die Ehrenberger finden es aber gemüthlicher, bei solchen Namen die [15] Kleinheit durch das Deminutiv auszudrücken, und sagen daher im Nesselwängle, im Bühelbächle u. dgl. Die damalige Hochzeit im Nesselwängle wurde übrigens gefeiert zwischen einem braven Handelsmann, der lange in einem angesehenen Hause des Bregenzerwaldes gearbeitet hatte, und einer vermöglichen Tochter des Dorfes, die viel Anstand und Bildung zeigte. An Gästen fehlte es nicht – war doch selbst Herr Peter Bilgeri sammt Gattin aus dem Bregenzerwald herbeigekommen und Geistlichkeit wie Beamtenschaft des Bezirks reichlich vertreten. Der Luxus des Tafelzeugs, das Leckere der Speisen und das Feuer der Weine erlaubte nicht daran zu denken, daß man in einem Thale bei armen Hirten weile, während der fröhliche Tanz nach dem Mahle vermuthen ließ, daß man noch nicht in jenem Tirol sey, wo, wie wir hören werden, jetzt sogar bei den Hochzeiten außer Essen und Trinken jede Kurzweil abgestellt ist.

Einen weitern Gang von Reute den Lech hinauf ins Lechthal werden wir gleich antreten; vorher aber noch den Reutenern das Lob nachrufen, daß sie, an eine der Pforten ihres Vaterlandes gestellt, alles aufbieten, um dem Wanderer beim Eintritt ein schönes, tiefgesättigtes Bild von dem freundlichen Wesen der Tiroler beizubringen. Hier weiß man nichts von der deutschen Vornehmigkeit, die immer eines zweiten Menschen bedarf um mit einem dritten bekannt zu werden. Den Gebrauch sich vorstellen zu lassen, nehmen die Tiroler erst allmählig in den besuchtern Orten an, aber nur im Verkehr mit Fremden. Durchschnittlich fährt man am besten jedermann wie einen alten Bekannten zu behandeln. Am Wirthstisch mag man selbst zu reden anfangen oder zusehen bis man angesprochen wird, was nie lange auf sich warten läßt. Es ist nirgends leichter Bekanntschaften zu machen als in diesen Gebirgen. Allerdings wird das freundliche Entgegenkommen von Seite der Eingebornen zum Theil auch der Neugierde zuzuschreiben seyn, welche die gebildeten Stände ebenso kitzelt wie den Bauer. Die ersten Fragen gehen daher gewöhnlich über die Richtung der Reise, die damit verbundenen Zwecke, worauf dann die Untersuchungen der Person des Fremden immer näher rücken, die Fragen immer verfänglicher werden, bis er [16] zuletzt zum Geständniß getrieben seinen Namen und seinen Stand, allenfalls auch noch den seiner Eltern und Geschwister und nächsten Blutsverwandten einbekennt. Wer sich in längerer Erfahrung überzeugt hat, daß alle Ausflüchte nichts helfen, wird einsehen, um wie viel besser es ist, bei der ersten scharfen Frage gleich offen und redlich herauszugehen und sich mit den freundlichen Forschern ungefähr in ähnlicher Weise abzufinden, wie weiland Franklin mit seinen Landsleuten. Damit ist denn aber auch viel Bereitwilligkeit erworben, nämlich eine Bereitwilligkeit zu unterrichten, zu rathen, zu helfen, zu führen, die jede Probe aushält. In einem Lande, das von Jahr zu Jahr mehr bereist wird, ist das Streben der Einheimischen, über die Persönlichkeit des Fremden, dem man unter bestimmten Voraussetzungen zuvorkommend entgegentreten will, sich ins Klare zu setzen, gewiß ein sehr erklärliches, und es soll daher hier nur erwähnt, nicht getadelt werden. Bei den Landleuten ist’s freilich in der Regel nur ein naiver Vorwitz ohne alle Hintergedanken. In Vorarlberg läuft der Bauer, wenn er mitten im Acker arbeitet, an den Saum heraus um zu fragen: wo kommen die Herren her? und kehrt dann wenn er’s erfahren, wieder neugestärkt zu seiner Pflicht zurück. Der Nordtiroler, insonderheit der Innthaler, ist weniger untersucherisch, und gleicht darin dem bayerischen Bauern, der in seiner tiefen Gemüthsruhe durch solche Neugier sich auch nur selten aufregen läßt. Der deutsche Südtiroler dagegen steht in diesem Stücke dem Vorarlberger am nächsten. Es dürfte schwer seyn eine Unterredung mit ihm abzuschließen, ohne daß er nach eingeholtem Verlaub die Frage gestellt: wo bleiben Sie zu Haus? oder schlechtweg: wo bleiben Sie? das heißt: wo sind Sie seßhaft? wo ist Ihre Heimath? Es ist ein Uebelstand, daß diese Lieblingsfrage dem Ausländer fürs erstemal wenigstens sehr dunkel klingt, und es wird uns nur freuen, wenn wir hier etwas zur Vermittlung des Verständnisses beitragen konnten.

Nun also ins Lechthal. Nach den natürlichen Gränzen möchte man diesen Namen wohl auf all das Thalgelände legen, welches der Lech von seinem Ursprunge bis zum Sturz bei Füßen, wo er ins Flachland tritt, bespült, allein der landesübliche [17] Sprachgebrauch läßt das Lechthal nur vom Tannberg bis Weißenbach reichen, also erst auf tirolischem Boden anfangen und zwei Stunden ober Reute aufhören. Wenn man aber von den reichen Lechthalern spricht, meint man gar nur die Einwohner der zwei innern Dörfer Elbigenalp und Holzgau.

Die Gegend bis Weißenbach nimmt noch Theil an den Reizen der Landschaft von Reute. Nachher wird das Thal öde und einförmig. Der Strom rinnt zwischen hohen Bergreihen daher durch niederes Fichtengebüsch und unfruchtbares Haideland. Zwei ärmliche Dörfchen stehen in weiten Zwischenräumen am Wege. Erst bei Elmen, drei starke Stunden ober Weißenbach, wird die Thalebene offener, weiter und schöner. Von Stanzach nach Elmen gehend, sieht man rechts in ein Thal hinein, das der gemsenreiche Hochvogel schließt, 8100 Wienerfuß über das Meer emporsteigend, die höchste Spitze in den allgäuischen Bergen. Von den Stanzachern ist noch zu erwähnen daß sie, wie wenige Gemeinden im Lande, das städtische Sommerfrischwesen angenommen haben, und während der heißen Jahreszeit auf die Alpe Fallerschein im Namleser Thale ziehen, wo ihnen in lieblicher Kühle des Hochgebirges zur bequemen Aufnahme achtundvierzig Sennhütten bereitet sind. Nur einige Wächter bleiben dann unten im Dorfe zurück und etliche mit zu vielen Kindern gesegnete Weiber.

An dem Bühel ober Elmen, genannt am Hohenrain, standen, wie man sagt im Schmalkaldischen oder noch unwahrscheinlicher im Schwedenkrieg, die Mädchen des Dorfes und vertheidigten sich gegen einbrechende Soldateska, bis die Männer von den Almen herabkamen und in der Mordenau die Feinde zur Flucht trieben. Daher soll den Weibern zu Elmen das Vorrecht stammen daß sie in der Kirche beim Opfergang und bei öffentlichen Aufzügen den Männern vorangehen. Andere behaupten, die ganze Geschichte sey eine eitle Mähre – den Vortritt vor den Männern räume den Weibern die Sitte im ganzen Lechthale ein, und der angebliche Kampfplatz führe nicht den blutigen Namen Mordenau, sondern den ganz unschuldigen Martinau. Freilich steht da ein altes Schwert [18] entgegen, das man vor etlichen Jahren in diesem Felde gefunden.

Bald ober Elmen, nämlich bei Heselgehr, beginnt die Häuserpracht des Lechthals. Hier oben also in der Alpenhöhe liegen auf beiden Ufern des schnellen Baches Elbigenalp und Holzgau, von denen bis jetzt die wenigsten Touristen erzählt haben – Dörfer oder besser Städte, wo unbemerkt von der Welt, durch seltene Betriebsamkeit und seltenes Glück mährchenhafte Reichthümer zusammgebracht worden und Familien entstanden sind, die halbe Millionen besaßen. Diesen obern Lechthalern hat nämlich die Natur ein eigenes Talent für den Schnittwaarenhandel verliehen, und darauf vertrauend gingen sie dem Lauf der Wasser nach, kamen am Rhein hinunter bis Holland und schifften bis New-York, thaten sich überall hervor, errichteten überall ihre Lager, erwarben Hunderttausende, und kehrten ehemals mit den Ducatensäcken, wie die reichen Grödner und die Engadeiner, wieder ins grüne Wiesenthal zurück, um dort ihre alten Tage zu verleben und auf dem Friedhofe der Heimath bei ihren Vätern einzugehen in die ewige Ruhe. So entstanden weit hinten im Gebirge auf grünen, offenen Fluren, zu denen der Zugang durch unscheinbare Alpendörfchen führt, jene prächtigen Häuser, jene stattlichen Gassen, die dem Fremden, der da nichts mehr als Sennhütten erwartet, so überraschend entgegentreten. Nach landesüblichem Gebrauche spricht man nur von Elbigenalp und Holzgau, aber dieses sind Gesammtnamen für eine Unzahl kleinerer oder größerer Häuserhaufen, die rasch auf einanderfolgend unter den Einheimischen wieder wie die Gassen einer Stadt alle ihre eigenen Namen führen. Was man so im gewöhnlichen Verstande an Insassen zu diesen beiden Dörfern rechnet, mag etwa dritthalbtausend Seelen betragen, welche in sechshundert Häusern wohnen. In etlichen wenigen der ansehnlichern Gebäude walten noch die alten reichen Herren, die beim Abendtrunk von New-York und Baltimore erzählen, wo sie ihre Lehrjahre zugebracht, und dabei wenn’s darauf ankömmt holländisch, französisch und englisch sprechen. Sie sind ein Bild vergangener Tage, denn die Herrlichkeit der Lechthaler ist im Abnehmen. Die jüngern Söhne [19] die in den Niederlanden oder jenseits des atlantischen Oceans zu eigenem Hauswesen gekommen, haben die Gewohnheit der Wiederkehr vergessen und sind in der Heimath fast verschollen. Deßwegen wird der alte Reichthum nicht mehr aufgefrischt, und andrerseits fehlt’s auch nicht an Gelegenheiten, wo er sich zerbröckelt. Ehemals wollte nämlich ein Lechthaler nur eine Lechthalerin heirathen und umgekehrt, aber als die vom Ausland nicht mehr heimkamen, legten die Mädchen des Thales ihr Vorurtheil ab, und nun mehren sich die Fälle, wo österreichische und bayerische Beamte und praktische Aerzte die blonden Erbinnen von Elbigenalp und Holzgau, von der Liebe geführt, den Bach hinunter geleiten und den verstaubten atlantischen Schätzen ein neues Feld eröffnen. Damit wollen wir indessen nicht läugnen, daß in diesen Dörfern noch immer ein Wohlstand zu finden, der etwas Wunderliches hat und der an Feiertagen durch die Pracht der Kleider und die festlichen Mähler ebenso hervortritt, als seine Fortdauer durch die stille Arbeitsamkeit, den einfachen Aufzug und die mäßige Nahrung der Werktage verbürgt wird.

Elbigenalp also, die eine dieser zwei großen Dorfschaften, besitzt zwar die älteste Pfarre im Lechthal, ist aber deßwegen wohl nicht auch zugleich der älteste Ort. Mir klang und klingt der Name immer wie Elmener – Elmingeralp, und ich meine das Dorf sey aus Sennhütten entstanden, die vor Alters den Elmenern angehört. So sehr aber diese kurzgehaltenen Leute geneigt seyn möchten, die wohlständigen Elbigenalper für ihre glücklichern Apöken anzusehen, so wenig Lust haben diese, ihre Urväter in dem unansehnlichen Elmen zu suchen. Scheint es doch fast als sprächen sie das b in Elbigenalp gerade deßwegen so scharf und bestimmt, um alle historische Anlehnung an jenes Dörfchen auch auf sprachlichem Wege fern zu halten. Um in diesem Sinne das Ihrige beizutragen, haben die Gelehrten von Elbigenalp sogar die künstlichsten Etymologien ersonnen. Sie leiten jetzt diesen Namen unter andern von einem altdeutschen Worte El ab, welches Wasser bedeutet habe, und -bigen soll daran erinnern, daß hier der [20] Lech einmal in weitem Bogen von Elbigenalp nach Kögeln geflossen sey.

Wie sich das auch noch beim Fortschritt der lechthalischen Gelehrsamkeit entwickeln möge, so viel ist gewiß daß Elbigenalp in seinen ersten Zeiten nach St. Mang zu Füßen gehörte. Das Stift sandte dann zur Sommerszeit an Sonn- und Feiertagen einen Priester ab, der den Aelpern die Messe las und darnach wieder heimkehrte. Dieß geschah so lange bis sich ein ständiger Pfarrer hier oben niederließ, was aber gewiß schon im vierzehnten Jahrhundert geschehen war. Das Dorf ist also nicht von gestern her und hat darum auch seine Alterthümer, nämlich zwei Kirchen auf seinem Friedhofe, wovon selbst die jüngere, die jetzige Pfarrkirche, mit spitzigem rothem Kirchthurm schon ehrwürdig ist, während die andere, St. Martin geweiht, ehemals Pfarrkirche, für die älteste im Thale gilt. Sie war 1459 schon einer Ausbesserung bedürftig. Der alte Taufstein von 1411 mit seiner schwer zu enträthselnden Inschrift, der jetzt in der Hauptkirche zu sehen, stand ehedem wahrscheinlich in diesem ältern Gotteshause. Den Calvarienberg, der sich bald hinter dem Dorfe erhebt, habe ich unbesucht gelassen. Man ersieht dort, wie Staffler bemerkt, den Fallenbacher Ferner und das Fallenbacher Fenster, eine natürliche, ganz durchsichtige Oeffnung in einem nahen Gebirgsstocke.

Elbigenalp hat schon viele tüchtige Leute hervorgebracht. Wir nennen zuerst einen Bekannten, den Herrn Anton Falger, der da im vorigen Jahrhundert geboren, im Jahre 1808 nach München kam, mit dem bayerischen Heere die Feldzüge von 1813 und 1814 durchmachte und später bei der bayerischen Steuerkataster-Commission Graveur wurde. Von 1819 bis 1821 hielt er sich zu Weimar auf bei der Lithographie für das Bertuch’sche Institut beschäftigt, im Jahre 1832 aber ging er dem Brauch der Väter getreu nach Elbigenalp zurück, um dort seine Tage zu beschließen. Er hat eine stattliche Lechthalerin zur Frau genommen und besitzt in seinem Dorfe zwei schöne Häuser, wovon das eine blaßblau getünchte, welches er bewohnt, mit seiner eleganten Haltung und dem Ziergärtchen vor dem Eingange ein villenartiges Ansehen hat. Weil [21] er die Kraft seiner Jugend dem Auslande gewidmet, so will er wenigstens das Streben seiner spätern Jahre dem Vaterlande, zunächst dem Thale weihen, in dem er das Licht der Welt erblickt. Er wirkt da ungestört von aller Nebenbuhlerschaft für die ästhetische Erziehung der Lechthaler, und sein Haus selbst scheint ein Museum, eine kleine Akademie lechthalischer Künste und Wissenschaften. Herr Falger hat viele architektonische Bilder und mehrere Karten gestochen, welch letztere zwar nicht ganz angenehm ins Auge fallen, aber sich durch Genauigkeit auszeichnen. Darunter findet sich auch ein Blatt, welches das Landgericht Ehrenberg, zu dem das Lechthal gehört, in größerem Maßstabe darstellt. Als Zeichner hat er vieles aus seiner Nachbarschaft aufgenommen, und wenn eine der umliegenden Kirchen ein Gemälde braucht, so ist es Herr Anton Falger der es umsonst verfertigt. Eine Lieblingsaufgabe scheinen ihm Todtentänze für Kirchhöfe zu seyn, wenigstens habe ich deren auf der Pilgerschaft mehrere von seiner Hand gesehen. Sein theures München, in dem er so schöne unvergeßliche Tage erlebt, wird dabei gerne im Hintergrunde aufgemalt, als eine Stadt, von welcher es schwer zu scheiden, sey’s nun lebend oder todt. So habe ich zu Elmen auf dem Kirchhofe eine hübsche Bürgerstochter mit der Riegelhaube und dem silbernen Schnürmieder erblickt, welcher der tänzelnde Tod auf seiner Geige ein schauerliches Lied vorspielt, während sie ihn bittet:

Laß mich noch leben in der Stadt,
Wo man so viel Vergnügen hat.

Die Stadt aber, wo man so viel Vergnügen hat, ist gar keine andre als München an der Isar, wie es die beiden dicken Frauenthürme und die Theatiner und der Petersthum unwidersprechlich darthun.

Außerdem verwaltet Herr Falger auch die Historie seines Thales. Er hat bis jetzt in vier Heften alles zusammen getragen, was er darüber aus mündlichen und schriftlichen Quellen erheben konnte. Auf diese Sammlungen setzte er seinen Namen und schrieb mit bescheidenem Humor dazu: Früher Graveur, jetzt Bauer zu Elbigenalp. Nach seinem Tode sollen diese [22] Schriften der Gemeinde übergeben werden. Herr Falger hat bei seinen Arbeiten insbesondere viele Mühe darauf gewendet die Auswanderung aus dem Lechthal von ihren Anfängen an historisch darzustellen. Er besitzt eine Aufzählung der im Jahre 1699 in die Fremde gegangenen Maurer, welche besagt daß es deren schon damals 644 waren. Maurerei scheint also der erste Erwerbszweig der Emigration gewesen zu seyn und diese sich erst später auf feinere Geschäfte geworfen zu haben. Seit Menschengedenken war sie nun, wie schon oben bemerkt, hauptsächlich auf den Schnittwaarenhandel gerichtet, und es haben sich damit, nach Herrn Falgers Zusammenstellung, in dem Zeitraum von 1780 bis 1820 an dreihundert Personen unter 156 Firmen beschäftigt. Mehrere dieser Betriebsamen sind, wie schon erwähnt, bis nach Amerika gekommen. Christian Sprenger von Untergieblen z. B. lebt noch heutzutage als der Herr eines der größten Handlungshäuser in New-York. Ein Sohn seiner Schwester, Joseph Anton Schnöller, der mit ihm 1811 über den Ocean geschifft, ist gegenwärtig ebendaselbst Stadtpfarrer – andrer weniger hervorleuchtenden Namen ganz zu geschweigen.

Indessen haben die Lechthaler nicht allein in der neuen Welt gewirkt, sondern auch unser altes Europa hat ihnen manchen Ehrenmann zu verdanken und sogar einen künstlerischen Namen von hohem Ansehen, nämlich den Maler Joseph Koch. Dieser ist zu Obergieblen am 27 Julius 1768 – nach andern 1770 – geboren, in einem Häuschen, das ich gleichwohl nicht genau erfragen konnte, denn die Obergiebler scheinen von der spätern Berühmtheit ihres Landsmannes nur sehr spärliche, bald wieder verschollene Nachrichten eingezogen zu haben. Kochs Vater war von Leermoos gebürtig, ein armer Citronenhändler, der eines Tages auf der Wanderschaft zu Koblenz eine wohlgestalte und guterzogene Rheinländenin erheirathete. Später ließ er sich zu Obergieblen nieder und lebte da mit eilf Kindern behaftet in großer Dürftigkeit. Der junge Genius, von dem die Rede, besuchte die Schule zu Elbigenalp und fiel dem Lehrer, der ein ehemaliger Waldbruder war, bald dadurch auf, daß er alle seine Schulpapiere mit Gestalten überzog. [23] Später, als Blasius Huber, der berühmte Bauer von Perfus, das Lechthal aufnahm, wurde Joseph Koch, damals neun Jahre alt, sein emsiger Gehilfe. Freilich mußte er darnach wieder Schäfer werden, aber auch am Krabach, wo er seine Heerde hütete, fuhr er fort in Rinde und Sand zu zeichnen. 1782 brachte ihn seine Mutter nach Dillingen, um ihn dort studiren zu lassen. Von da kam er nach Augsburg, wo der Weihbischof von Umgelder sein Beschützer wurde. Er ging seiner weitern Ausbildung in Stuttgart und in Straßburg nach und erreichte endlich nach manchem Umwege das ersehnte Italien (1795). Die deutsche Luft die er später (1812) wieder in München, in Dresden, in Wien einathmete, wollte ihm nicht mehr zusagen. Er zog 1818 nach Rom zurück und hat diese Stadt nicht weiter verlassen. Er starb daselbst am 12 Jänner 1839. Ich habe die Ehre gehabt, das schwächliche, gebückte Männchen drei Jahre vor seinem Tode noch zu Rom zu sehen und mich an seiner keifenden, laugigen Weltansicht erfreuen zu dürfen. Das Ferdinandeum zu Innsbruck bewahrt zwei Bilder von ihm, vielleicht die anziehendsten dieser Sammlung. Das eine stellt die Scene vor, wo Macbeth den Hexen begegnet, das andere ist eine Allegorie auf den Tirolerkrieg von 1809, voll schlagender ursprünglicher Gedanken. Es wurde eigentlich für den Minister von Stein gemalt, aber von diesem zurückgegeben, weil er’s größer haben wollte.

Ein andrer braver Lechthaler war Joseph Anton Lumpert, Herrn Falgers Oheim, der im Jahre 1757 zu Köglen bei Elbigenalp geboren, im Jahr 1837 als wirklicher Bürgermeister der Haupt- und Residenzstadt Wien verstarb. Staffler rühmt den reichen Schatz von Kenntnissen und Erfahrungen, den hellen Verstand, den immer geraden und festen Charakter dieses Lechthalers. Ihm zu Ehren haben sich die Wiener bewogen gefunden, eine Gasse ihrer Stadt die Lumpertsgasse zu nennen. Auch noch andre Männer werden angeführt als Würdeträger in der Kirche, als Lehrer an höhern Anstalten, als Beamte; doch würde es zu weit führen, hier alle ihre Verdienste aufzuzählen.

Auf Herrn Falger zurückkommend bemerken wir noch daß er auch der Naturgeschichte vielen Fleiß widmet. Er hat ein [24] Zimmer seines Hauses für derartige Sammlungen bestimmt, und es finden sich dort Mineralien, Versteinerungen, Conchylien und andere einschlägige Gegenstände in reicher Anzahl. Nebenbei wird man auch durch eine Münzsammlung überrascht. An den Wänden hängen eine Menge Zeichnungen und Gemälde verschiedenen Inhalts. Herrn Falgers Güte verdanke ich auch die Nachricht, daß Elbigenalp 3150 Fuß über dem Meere liege. Als besteigenswerthe Höhe in der Nachbarschaft rühmte er den Wetterspitz, der im Pfafflarerthale liegt, welches ober Elmen zugänglich ist. Der Wetterspitz erhebt sich 8829 Wiener-Fuß über das Meer und bietet eine unermeßliche Aussicht. Doch bemerkt Herr Falger, der Weg sey rauh und man müsse „gut gestiefeliret" seyn, um nicht mit nackten Füßen wieder zurückzukommen. Er selbst hat den Berg schon mehreremale bestiegen.

Es ist eine sehr befriedigende Wahrnehmung, daß solche Männer wie Herr Falger, die sich, allerdings mit ungleicher Vorbildung und daher auch mit ungleichen Erfolgen, der Erforschung und Aufbewahrung heimischer Memorabilien widmen, in den tirolischen Thälern nicht selten sind. Freilich fehlt noch viel daß jedes Thal seinen Sammler hätte, aber es scheint nur an der Ueberzeugung zu gebrechen daß diese nächstliegenden Dinge erheblich genug seyen, um sich anhaltend mit ihnen zu beschäftigen. Keine Zeit hat aber den bewahrenden Griffel nothwendiger gehabt als die gegenwärtige, wo das alte Volksleben theils von selbst abstirbt, theils mit Gewalt zu Grunde gerichtet wird. Es scheint ein dunkles Bewußtseyn vorzuwalten, daß der tirolische Bauer bestimmt sey, noch im Laufe dieses Jahrhunderts als ein ganz anderer dazustehen, als er im vorigen war. Daher mag’s kommen daß die meisten dieser Thalschriftsteller in den letzten dreißig Jahren aufgestanden sind, gerade noch zur rechten Zeit, um der frühern Zustände eingedenk seyn zu können. Für Sitten und Gebräuche, Sagen und Meinungen, für das allgemeine Costüm der Lebensweise werden ihre Arbeiten in kommenden Jahren unentbehrliche Quellen seyn.

[25] Der Weg von Elbigenalp nach Holzgau oder lechthalerisch zu reden – in die Holzgäu – zieht wechselreich an Häusern, Mühlen, Capellen, Gärten und Feldern vorüber. Hie und da öffnet sich ein Seitenthal, aus welchem weiße Gebäude glänzen und ein rauschender Bach strömt. Links und rechts stehen hohe Berge, über welche beschneite Hörner herüberblicken. Um Holzgau herum zeigt sich viel Feldbau, freilich was Getreide betrifft bei weitem nicht zureichend für den Bedarf, so wenig als anderswo im Lechthal, dessen Haupterzeugniß sonst der Flachs ist. Die schönen Häuser liegen wie zu Elbigenalp in kleinen Weilern zerstreut umher. Auch hier wie dort stehen auf dem erhabenen Friedhofe zwei Kirchen verschiedenen Alters neben einander. In der jüngern, aber größern, der jetzigen Pfarrkirche, ist ein Gemälde aufgehängt zum Andenken an die Bußpredigten, welche die Liguorianer im Jahre 1841 hier gehalten haben. Die lieblichen Lechthalerinnen, prunkend im Sonntagsstaate, sind da kniend mit Büßermienen verewigt, die ihren Reizen keinen Eintrag thun. Ein junger, bleicher, anziehender Liguorianer predigt voll heiligen Eifers den schönen Sünderinnen Bekehrung. Es scheint fast eine Schalkheit des Malers daß er gerade die Mädchen dem Jüngling gegenübergestellt. – Außerhalb an der Kirche finden sich zwei schöne Grabsteine, welche der in seinem Vaterland nicht mit Unrecht geschätzte Bildhauer Reinalter zu Bozen gemeißelt hat. Sie sind zum Andenken der Gebrüder Ignaz Anton und Franz Schueler, welche sich als Handelsleute zu Amsterdam große Reichthümer gesammelt hatten und zu Holzgau, in ihrem Geburtsorte, gestorben sind.

Neben der großen Kirche findet sich die kleine gothische St. Sebastians, welche ehemals die Pfarrkirche war, jetzt aber als Speicher für Kirchengeräthe benützt wird. Sehenswerth sind darin drei alte, vielleicht dem vierzehnten Jahrhundert entstammende Wandgemälde aus dem Martyrium des Kirchenpatrons. Die dunkeln Farben sind noch ziemlich gut erhalten, die hellen aber stark verblichen. Uebrigens werden durch Balken und Bretter, welche man sorglos an die Gemälde lehnt, auch jene bald abgekratzt seyn.

[26] Die Holzgauer gelten für noch wohlhabender als die Elbigenalper. Vor fünf Jahren starb der reichste von ihnen, Georg Huber, dessen Vermögen mir zwar nicht genau geschätzt werden konnte, das aber nach einstimmiger Aussage mehrerer Wirthshausgäste so groß war, daß jetzt kein ähnliches mehr unter einem Haupte beisammen. Aus dem Fenster zeigte man ein schönes, etwas angewittertes Haus, das der Jungfrau Elisabeth Maldoner gehört, welche jetzt als die vermöglichste Person in Holzgau angesehen wird und mehrere hunderttausend Gulden besitzen soll.

Von Holzgau bis Steg, dem letzten Dorfe in der Ebene des Lechthales, führt der Weg durch schroffe Wände hin, die das brauchbare Erdreich sehr beengen. Schön ist der Fall des tosenden Schreiterbaches, der an einer zur Linken gelegenen steilen Halde herunterstürzt.

Zu Steg nahm ich damals von Elbigenalp kommend meine Nachtherberge in einem sehr guten Wirthshause. Man tischte mir Forellen auf, vortreffliche Forellen aus dem Lech, der vor den Fenstern brauste. Diese zarten Fischchen finden sich fast in allen tirolischen Alpenbächen, die besten aber sollen in der Talfer gefangen werden, die das Sarnthal bei Bozen durchströmt. Sie sind eine höchst dankenswerthe Gottesgabe in den unbesuchten Bergthälern, denn wenn aller Fleischvorrath aufgegangen oder wegen Mangel an Abnahme verdorben ist, so findet der müde Wanderer in der schlichtesten Herberge noch frische wohlschmeckende Forellen und genießt dabei obendrein den Vortheil, sie nicht als Leckerbissen, sondern nur als Hausmannskost bezahlen zu müssen.

Von den Lechthalern im Allgemeinen zu sprechen, so sind dieselben schwäbischer Abkunft und reden daher auch einen schwabischen Dialekt, der indessen dem bayerischen schon viel näher liegt als der allgäuische. Im Vergleich zu dem schwäbischen am Lechrain und bei Kempten klingt er ziemlich rauh und hart. Es fehlt ihm nicht an Eigenthümlichkeiten, sowohl grammatikalischen als lexikalischen. Für Vater und Mutter z. B. wird wie im Bregenzerwalde Atte und Omme gebraucht, und für gegangen, geschossen, gesessen sagt man mit unerlaubter Analogie: [27] gegangt, geschoßt, gesitzt u. s. w. Die Thalsohle am Lech weist von Reute bis Steg nur deutsche Ortsnamen, auf dem südlichen Gebirge dagegen auch undeutsche, romanische, wie Almajur (bei Steg) Alp major, noch mehr aber rhätische, wie Parseier, Parsal, Parzin, Gramais u. s. w. Bei der Zähigkeit mit welcher diese vordeutschen Namen auf Grund und Boden festhaften, ist es ein ziemlich sicherer Schluß daß da, wo jetzt keine mehr zu finden, auch in alten Zeiten keine waren. Nun kömmt aber die Erscheinung, daß die Höhen mit vordeutschen, die Niederungen dagegen mit deutschen Namen besetzt sind, noch an mehreren Stellen vor, immer aber, wie im Patznaun, im Oetzthale in Verbindung mit der Sage, daß der Thalgrund See gewesen. Wir können wohl ohne Gefahr diese Analogie auch auf das Lechthal ausdehnen, und wie an andern Orten behaupten daß die Ebene erst zugänglich geworden, als die Deutschen in das Land drangen. Daraus ergibt sich denn der Satz daß die Bewohner der am Bach gelegenen Orte auf einem Boden sich niedergelassen haben, der früher keine Ansiedler hatte, während die Hirten von Madau, Gramais, Vschlabs, Pfafflar u. s. w. in ursprünglich rhätoromanischen Dörfern sitzen.

Die Männer im Lechthale führen keine Bauerntracht mehr, sondern kleiden sich besser oder schlechter wie die Bürger in den Städten. Die Frauen haben da nicht ganz gleichen Schritt gehalten, vielmehr sich ihre eigenen Moden geschaffen, die indessen bis auf Weniges ziemlich neuen Ursprungs scheinen. Die reichern Weiber tragen wie noch manche Bürgersfrau im übrigen Tirol einen langhaarigen Männerhut, die „minderen" eine Art Bärenmütze. Der Wohlstand bricht sowohl in den kostbaren Stoffen zu Tage aus, als auch in dem reichen Geschmeide, in goldenen Brustketten, Ohrgehängen, Sackuhren, Fingerringen.

Das kleine Thal Pfafflar, zwischen Elmen und Imst, zeichnete sich, wie Staffler sagt, in ältern Zeiten durch eine ganz besondere Kleidung der Weiber aus, die in einem Anzuge von weißem Loden, einer nonnenähnlichen Verhüllung des Halses und einem Filzhute ohne Krämpen bestand. In dieser Gewandung erscheinen die Pfafflarerinnen auch auf ältern [28] Trachtenbildern, noch besonders ausgezeichnet durch lange über den Rücken hängende Zöpfe. Manchmal sieht man sie auch statt in weißen Loden, in rothe Röcke gekleidet, und diese Eigenthümlichkeit zusammen mit der modiusartigen Kopfbedeckung bildet ganz und gar die Kennzeichen der Tracht, welche noch heutigen Tages im vorarlbergischen Montavon ebräuchlich. Da die Gegend von Pfafflar nach obiger Auseinandersetzung gleichwie das Montavon früher romanisch war, so könnte man diese Tracht nicht ohne Wahrscheinlichkeit für altromanische Mode halten. Gegenwärtig tragen sich die Weiber von Pfafflar wie die Lechthalerinnen, nur viel ärmlicher und schlechter. Die letzten dreißig Jahre sind den Trachten sehr schädlich gewesen.

Die Manieren der Lechthaler schienen mir sehr lobenswerth. Ich fand auf den Wegen, in den Häusern, wo ich des öfter einfallenden Regens wegen unterstand, und in den Herbergen eine körnige Freundlichkeit, viele Freude an dem Fremden, die volle gebirglerische Neugier, im Ganzen ein höchst gefälliges Wesen. Zu diesen Bemerkungen bin ich freilich nur unter den mittlern Leuten gekommen, denn mit den lechthalischen Geldfürsten führte mich mein Stern nicht zusammen. In der Nachbarschaft sind indeß die Herren Bauern von Elbingenalp und Holzgau nicht besonders beliebt. Zumal in Reute gelten sie als spröde und geldstolz. Die Lechthaler wissen dieß auch, machen sich aber nicht viel daraus. Herr, sagte mir ein Gesprächsfreund, was kümmert uns das! Kommen wir hinab, so können wir immer noch fragen, was kostet ganz Reute? Dieses Bewußtseyn des eigenen Werthes hat die Lechthaler schon lange zu dem Wunsche geführt, sich unabhängig von Reute und ein eigenes Landgericht zu Elbigenalp zu sehen. Sie wollen dazu auch eine historische Berechtigung haben, denn bei dem Weiler Seesumpf zwischen Elbigenalp und Holzgau stand ehemals ein schloßartiges Gebäude, der Dingstuhl genannt, wo in grauer Vorzeit für das ganze Lechthal Gericht gehalten wurde.

Die Wanderzüge und Heimfahrten der Lechthaler sind also schon vor geraumer Zeit abgekommen. Da sich nun der [29] Wohlstand durch die gewinnreichen Unternehmungen im Auslande nicht mehr erhöhen läßt, so ist der Eifer, ihn durch die freilich minder ergiebigen Quellen heimischen Feldbaues und heimischer Viehzucht zu erhalten, nur desto größer. So führt denn jetzt der reiche Lechthaler ein eben so mühevolles Leben wie der arme. Er erklimmt mit seinen Fußeisen die höchsten Spitzen der Berge und bleibt Tag und Nacht auf seinen Mähdern das Futter zu sammeln, das ihm während dieser Zeit auch als erwärmende Liegerstätte dient. Dabei nährt er sich mit einem Brei von Ziegenmilch oder noch einfacher mit Käse und Brod, und trinkt frisches Bergwasser dazu. So ist derselbe Reiche auch unten im Thale vor Anbruch des Tages auf seinem Acker und bleibt bis zum späten Abend bei der Arbeit. Er düngt, säet und mäht selber. Auch im werktäglichen Haushalt zeigt sich kein Unterschied zwischen Reich und Arm. Milch und Erdäpfel, zuweilen geräuchertes Rindfleisch, ist die gleiche Speise der Wohlhabenden und der Dürftigen; von kostbarern Lebensgenüssen haben sie sich nur den Kaffee eigen gemacht.

Die unverwüstliche Heimathsliebe der alten Lechthaler ist wie die der Grödner und der Engadeiner, schon vielfach bewundert worden. Es verrieth in der That eine eigene Kraft der Entsagung, wenn der holländische Handelsmann nach langen Jahren der Abwesenheit zu Elbigenalp oder Holzgau angekommen, allen Freuden der großen Welt den Abschied gab, und ganz wieder ein Lechthaler wurde, wenn er seinen Amsterdamer Surtout von sich warf und in den häuslichen Wollkittel schlüpfte, um mit der weißen Schlafmütze auf dem Haupte und der Thonpfeife im Munde den Rest seiner Tage daheim zu verdämmern, sey’s nun am Ofen sitzend oder im angestammten Gärtchen leisen Trittes luftwandelnd und über die Stacketen auf die Fluren schauend, in denen er als Knabe gespielt. Dieses Behagen an einem stillen, idyllischen Spätherbst des Lebens entwickelt zumal für den, der es mit den Augen eines Großstädters betrachtet, seinen eigenen poetischen Reiz; die Nachbarn im Gebirge, insbesondere die Gebildeten, haben aber eine ganz verschiedene Ansicht der Sache aufgestellt. Ihnen [30] scheint es eher ein beschränktes Philisterthum, und den Lechthalern gereiche es lediglich zum Vorwurf, daß sie nach einem Leben, dessen schönster Theil auf den großen Weltmärkten dahingegangen, sich in die dumpfe Stille ihrer Dörfer zurückzogen, um dort ohne alle Anregung, ohne stärkende Geselligkeit, ohne Bildungsmittel in ruhiger Verschollenheit abzuwelken. Es ist richtig daß nicht alle, oder vielleicht die wenigsten, wie Herr Falger zu Elbigenalp sich geistige Schätze erworben hatten, die sie nützlich anlegen und mit deren Pflege sie sich würdevoll beschäftigen konnten. Indessen ist dabei zu bedenken, daß in einem Leben, während dessen sich der mitgegebene Mutterpfennig in Hunderttausende von Gulden umwandelte, auch nicht viel Zeit übrig blieb, um nebenher noch für standesgemäße geistige Erwerbungen zu sorgen. Wollen wir daher den wenigen alten müden Herren ihre Ruhe und ihren Frieden neidlos gönnen und nur Gutes reden von denen, die dahingegangen. Gerechteren Tadel möchten die jungen verdienen, wenn sie bei ihren großen Mitteln ihre Erziehung so sehr vernachlässigen würden, wie dieß der Fall seyn soll – obgleich auch gegen diese Behauptung die vielen Namen studirter und gelehrter Lechthaler, die sich da und dort hervorgethan; zu sprechen scheinen. Für die Bildung der Töchter wird nicht übel gesorgt – man gibt sie in die besten Klosterschulen oder in die naheliegenden größern Städte, und die lechthalischen Frauen, welche außer dem Thale verheirathet sind, stehen durchaus in gutem Ansehen.

Nun also wieder weiter, und heute noch in ein andres Land. Zu Steg hört mit dem ebenen Boden auch das Sträßchen auf, das sich von der Heerstraße bei Weißenbach ausbrechend durch das Lechthal heraufzieht. Von hier ins Vorarlberg und zwar in das nächstliegende Thalgelände des Bregenzerwaldes, führt nur ein Bergpfad über ein hohes Joch. Dieses Joch heißt der Tannberg.

Es wäre, um praktisch zu reden, allen Pilgern die den Bregenzerwald sehen wollen, zu rathen daß sie von Füßen das Lechthal hinauf ziehen und dann über den Alpenpaß des Tannberges in den Wald hinuntersteigen. Der Gang über den Tannberg ist aller Reize voll, und – wenn nicht etwa [31] wilde Wasser den schmalen Pfad zerrissen haben – nicht ohne Mühsal, aber ohne Gefahr. Der junge Lech rinnt unten in der Schlucht, zürnt, stürmt und bäumt sich in seinem Felsenbett, fängt sich aber dann wieder in einer Wasserstube und schlägt ruhig wirbelnd seine grünen Kreise. In der Höhe wechselt die Begleitung vielfach. Einmal geht’s über Weiden die rückwärts an steil aufspringenden Kämmen enden, durch hohen Fichtenwald, in welchen ungethüme Felsentrümmer eingesprengt sind; ein andermal kriecht der Steig an überhängenden Wänden hin, auf deren Grate einzelne Fichten in die Lüfte ragen wie Aehren, die dem Sturm zur Nachlese übrig gelassen sind. Ein Wasserfall wirft sich vom hohen Felsensöller über die rothe Wand herunter, gönnt sich kaum Zeit die Wasser wieder zu sammeln, und eilt flüchtig durchs Tannendickicht hinab in den Lech. Oft wird’s dann auch wieder frei um den Wanderer, er sieht weit hinein ins Gebirge: die beeisten Häupter glänzen so schön im Sonnenschein; stille Nebenthäler gehen ein, jedes mit seinem eigenen Bach und seinen eigenen Wasserfällen; weit drinnen, drüben über der Schlucht stehen einsame Sennhütten, aus denen Rauch aufsteigt, und ihre Fensterchen funkeln im Morgenstrahl – das ist ein wirkliches Sirenenbild! Da sitzt jetzt die junge Sennerin am Feuer, und schürt und singt dazu; ja, den Rauch sieht man wohl aufsteigen, aber der Jodler verhallt im Tosen der rauschenden Wasser. Allmählich kommt man auf die Höhe, wo die Fichten sparsamer werden, und wo jenseits der Taschenberg seinen ungeheuren grünen Mantel auseinanderschlägt Dort drüben fahren aus den breiten Halden wilde Schrofen zackig und zerrissen in die blaue Luft.

So war ich von Steg durch Wald und Weide drei Stunden aufwärts gestiegen, ohne daß mir eine menschliche Seele begegnet. Obschon der Tannberg der einzige Paß zwischen dem Lechthal und dem Bregenzerwald, zwei so dicht bevölkerten Thälern, so mag doch mancher Tag vergehen, wo Niemand über die Höhe klimmt. Im Gebirge zieht sich Alles dem Bache nach; draußen „im Lande," wo er hinfließt, draußen sind die Gerichte, die größern Orte, die Flecken und [32] Städte, die Märkte, wo die Erzeugnisse des Thales verwerthet, wo die Bedürfnisse feineren Lebensgenusses geholt werden. Dem Bache nach geht’s in die Fremde, in die weite Welt; er führt zu Verbindungen, Bekanntschaften und Verwandtschaften; ihm folgt man gern und willig. Aus dem Lechthale nach Reute, aus dem Walde nach Bregenz geht und fährt man auch bei geringem Anlasse; über die Höhen steigt Niemand als wer da muß. Den spürsüchtigen Drang nach den Reizen schwindelnder Alpensteige überläßt der Bauer im Gebirge lächelnd dem Fremden. Er hat die Ueberzeugung, daß es auch über dem nächsten Berge nicht viel anders aussehe als bei ihm, und während er oft Jahre lang durch weite Reiche bis an die Pyrenäen und das baltische Meer gewandert, hat er sich selten die Mühe genommen, übers Joch ins nächste Nachbarthal zu steigen. Deßwegen konnte es Frau Falger in Elbigenalp als eine Auszeichnung hervorheben, daß sie schon einmal über den Tannberg gegangen, und deßwegen findet man im Oetzthale, im Zillerthale und in vielen andern Thälern unter den rüstigen Männern zwanzig und dreißig, die in Innsbruck, in München, in Wien gewesen, bis man einen trifft, der über die nahen Fernerhöhen gekommen ist.

Endlich trat eine mächtige, schwarze Felsenecke an den Weg und schien ihn abzusperren. Zwei Hirtenknaben spielten davor und übten sich Steine in den Tobel hinabzuwerfen. Von ihnen erfuhr ich, daß das Alpendörfchen welches ich suchte, dicht hinter dem Schrofen zu finden sey. Dort fand ich’s auch nach wenigen Schritten ganz richtig, das Dorf Lechleiten, neun schwarze, hölzerne Häuschen mit steinbeschwerten Schindeldächern. Da und dort zeigen sich am steilen Abhange Kartoffelfeldchen. Für Getreide ist’s schon lange zu hoch, aber dafür wächst das üppigste Gras, alle Wiesen stehen voll Blumen und Alpenröschen glühen in Fülle an der Gasse.

Das Wirthshaus ist eine Hütte, außerhalb klein und schwarz wie die übrigen, aber innerhalb fand sich eine zierlich getäfelte, blank gescheuerte Stube. Sie gemahnte, daß es bald abwärts gehen würde, der Bregenzerache nach, in die reinlichen Länder am Bodensee. Es erlabte sich da ein Schweizersenne [33] aus Unterwalden, den die Bregenzerwälder zur Käsebereitung hieher gedungen hatten. Dieser schien eine gute, alte, ungefährliche Haut; aber andre junge unverdorbene Eidgenossen haben schon manchmal ansehnliches Unheil unter der vorarlbergischen Jungfrauschaft gestiftet.

Die Lechleitner – und dieß müssen wir nach unserm Versprechen deutlich hervorbeben – sind die letzten Lechthaler und haben sechzehn Stunden zu gehen bis zum Landgericht in Reute. Von Lechleiten an verlieren jene, die dem Bregenzerwald zuwandern, den fröhlichen Lech, der von Füßen an ihr Begleiter gewesen, aus den Augen. Er entspringt sechs Stunden weiter südlich auf der Alpe Fornanin.

Jenseits eines tiefen Tobels, den man keuchend auf- und abklimmen muß, liegt weit zerstreut die erste vorarlbergische Gemeinde Wart, die eine Kirche, einen Pfarrer und eine Schule hat. Beide Dörfer einander gegenüber, durch die waldige Schlucht getrennt, die schwarzen Häuschen in den grünen Matten, die grauen Hörner darüber emporragend, bieten ein sehr alpenhaftes, hirtenmäßiges Bild, wie eine große Niederlassung von Sennhütten, was sie auch ursprünglich waren ehe die Uebervölkerung der Thäler die Menschen zwang sich hier bleibend einzuherbergen. Man glaubt, dieß müßten die letzten Wohnungen seyn, die letzten vor den Schneefeldern, aber es geht noch immer höher hinauf, und nach zwei Stunden beständigen Steigens durch Wiesen und Alpenrosenhecken erreicht man Krumbach. Hier sind zwölf Hütten, nahe bei einander aufgeschlagen, wohl bei sechshalbtausend Fuß über dem Meer. Das Dörfchen steht noch ein gutes Stück über den letzten Fichten. Zur Zeit wenigstens muß der Feuerungsbedarf anderthalb Stunden weit heraufgeschleppt werden, und deßwegen heißt die kleine Niederlassung auch zum Unterschied von andern gleichen Namens Krumbach ob Holz. Sie liegt in einem rinnenförmigen Hochthale, dessen beide Kanten lange Wände verwitterter Felsenhäupter bilden. Auf diesen hält sich den ganzen Sommer über Schnee, der in langen glänzenden Wasserfäden sich löst; sie scheinen gleich zur Seite zu stehen, nicht hoch und durch die Schrunden nicht beschwerlich zu erklimmen. [34] Was sie draußen im Flachland für unersteigliche Jöcher in der Kette der Alpen anschauen, das sind hier nur die nächsten Dorfhügel, auf welche die Krumbacher Jugend zur Abendzeit hinaufklettert um die Sonne untergehen zu sehen. Der Bergstock, der zur rechten Hand sich erhebt, ist der Widderstein. Seine höchste Spitze hat eine Höhe von 8000 Fuß und eine Aussicht, die bis München reicht. Vor nicht langer Zeit sah man noch auf dieser Kuppe, wie glaubwürdige Augenzeugen versichern, einen zugehauenen Balken von beträchtlicher Größe. Wie er so hoch hinauf gekommen, wußte Niemand zu erklären, und die Volksmeinung hielt ihn daher für ein Stück von der Arche Noä. Den zu derselben gehörigen eisernen Anker will man auf einem Berge bei Telfs im Oberinnthale gefunden haben.

Ein Wirthshaus ist in Krumbach nicht zu erfragen, aber die gastfreundliche Aufnahme in den Hütten entschädigt für den Mangel. Die Einwohner leben fast allein von Milch, Butter, Käse, Schotten und schwarzem Brode; darnach ist auch die Bewirthung. In dem Häuschen, wo ich zusprach, waltete ein Mädchen von Mittelberg, das jenseits des Widdersteins tief unten im Thale liegt – eine Walserin, aus demselben merkwürdigen Stamme, der sich ferner Abkunft aus dem Wallis rühmt. Sie erschien in jener seltsamen Kleidung, die ich später zu Damils wieder sehen sollte, nur daß die Walserinnen von Mittelberg schwarze Röcke tragen und jene im innern Walserthale rothe. „Ich bin eine Walserin," sagte die Sennmaid schon im allerersten Stadium unsers Gesprächs mit Selbstgefühl, gleich als sollte dieß eine Warnung seyn, daß ich sie nicht in eine Reihe mit den andern Jungfrauen des Alpendörfchens setze, unter welche sie nur gekommen war, um die Sommerfrische zuzubringen. Alles was sie aufzubieten hatte aus den Erträgnissen ihrer Sennerei war gut gerathen, insbesondere das Schottengsig, ein gelbbrauner, fester Einsud der Molken von süßem, scharfem Geschmacke. – Außen war die Küche mit dem großen Herde, der aus mächtigen Felsblöcken erbaut, den schwarzen Käsekessel über sich hängen hatte. Innen war eine lieblich geheizte Stube, und als ich noch [35] weiter vordrang, gerieth ich in ein enges Nebenkämmerlein, worin ich ein paar Schulbänke und eine große schwarze Schreibtafel gewahrte. Hier ist die Wiege der litterarischen Bildung des Alpendorfes, denn hier wird im Winter Schule gehalten. Für die religiöse Erziehung sorgt der Curat, und der Gottesdienst ist in einer Capelle auf einem freien nahestehenden Hügel, so ausgewählt in ihrer Lage, damit ihr im Winter die Lawinen nichts anhaben können. Aber dennoch wirft es oft den Schnee in so überlegener Fülle, daß die Bewohner der nächsten Hütten einen Tag zu arbeiten haben, um den Laufgraben in die Kirche zu eröffnen.

Die rothbackige Walserin war übrigens mehr ernst als gesprächig. Ihr Auftreten hatte wegen der klappernden Holzschuhe, die sie trug, eine geräuschvolle Feierlichkeit. Für arcadisches Sommerleben schien sie vielen Sinn zu hegen. – „im Sommer ist’s so lustig auf der Alm" – dagegen wollte sie die Eingebornen von Krumbach keineswegs beneiden, daß sie da oben bleiben müßten, um den langen Winter zu vertrauern, wenn sie im Herbste hinabzog zu den warmen Kunkelstuben am Mittelberg.

Noch geht’s eine Weile auf gleicher Fläche fort bis zu einem kleinen See, von dem ein Bach in die Bregenzerache stürzt. Immer noch dieselbe stille Gegend, ohne Baum und Strauch, grüne Binsen in dem grünen See, grüne Kräuter an dem Ufer, ungeheurer hochaufgeschossener Huflattich, in dessen Dickicht sich das weidende Vieh verbirgt, darüber die eisigen Zinken und die reine ruhige feierliche Bergluft. Beim See aber bricht sich der Pfad: die grüne Au läuft plötzlich an einem Abgrund aus, und tief unten, entsetzlich tief, kaum noch erschaubar, zeigt sich durch den schwarzen Fichtenwald das weiße Kirchlein des Schreckens. Immer bergab, immer steiler und steiler fällt der Steig hinunter und jagt den Wanderer in athemlosen Sprüngen zu Thal, bis er sich endlich im Schrecken zur Ruhe setzen kann.

Ein heitrer Sommerhimmel mildert den wilden Ernst der wildesten Berglandschaft, aber dem Schrecken kann er doch nur wenig von seiner Schauerlichkeit benehmen. Es muß selbst dem [36] Aelpler diese Wildniß zu erstaunlich gewesen seyn, da er ihr ohne Rückhalt jenen Namen gab, der seinen Muth zu beschämen scheint. Ein enger steiler Bühel, auf dem die Kirche, der Pfarrhof und das Wirthshaus stehen, auf einer Landzunge zwischen lauten Bergwassern die in tiefen Tobeln rauschen, grausige Wände, die aus diesen abgeschrofft emporsteigen bis zu den Schneefeldern, die einem fast übers Haupt herein hängen; oben an den Fernern, weit über der Gemsenheimath, prächtige Wasserfälle die überstürzend ins Thal fallen, deren Donner man hören müßte, wenn ihn nicht der Lärm der nähern Bäche überschriee; in der Höhe überall Zerrissenheit und Zerklüftung, Schnee und Eis, unten in der Schlucht enge waldige Wildniß – das ist der Schrecken. Unter allen Landschaften die in den Tiroleralpen zu sehen sind, ist keine bewohnte, die es ihm an schauerlich wilder, beängstigender Schönheit gleich thut.

Wer hier im Sommer die rings aufstarrenden Bergwände betrachtet, der kann sich auch die Schrecken der Lawinen im Winter denken; viele Tausende gehen donnernd nieder und zerfließen in der Frühlingssonne ohne Gefährde für ein Menschenleben, aber zuweilen kommt eine herab die Trauer und Jammer in den Schrecken bringt. Vor fünf Jahren wurden zwei Kinder „verlauwenet" die eben auf dem Weg zur Schule waren; manches Andern Gedächtniß der unter der Lauwene*)[1] seinen Geist aufgab, ist schon längst verklungen, aber noch erinnert man sich an den leidvollen Tag im Jahr 1636, wo dreizehn Kirchgänger vom Schneesturz gepackt, in den Abgrund geschleudert und nur leblos wieder ausgegraben wurden. Damals war noch kein Gotteshaus in dieser Wildniß, nun aber thaten sich die Leute des Schreckens zusammen und stellten eine Kirche her.

[37] Seit dieser Zeit ist auch ein Pfarrer hergesetzt für die weit zerstreute Gemeinde, deren letzte Hütten anderthalb Stunden weit oben an den Halden kleben. Im Winter hat der gerufene Seelsorger mit den besten Schneeschuhen und bei der genauesten Kunde der Wege oft einen halben Tag zu thun, ehe er sich durch den frischgefallenen Schnee dahinaufarbeitet.

Indessen kommt, Gott sey Dank, zuweilen auch der Schrecken zu lustigen Tagen. Der Wirth daselbst führt in seinem Keller einen fürtrefflichen und edlen Velteliner, und im Bregenzerwalde ist mehr als ein Ehrenmann zu treffen, der sich an einen fröhlichen Abend im Schrecken erinnern kann.

Von hier geht’s in erträglicher Senkung durch den Tobel abwärts auf Fußsteigen, die dem Wanderer nach dem schwindelnden Sprung von der Krumbacher Höhe herunter bequem und gemächlich erscheinen, obgleich es auch nur schmale holperige Alpenpfade sind. Der „Schrecken" verläßt uns aber doch nicht ganz; es gibt Stellen in dieser Schlucht wo er sehr lebhaft wieder ins Gedächtniß tritt. Eine davon ist gar schauerlich. Der Steig geht durch eine dunkelschattige Enge, wo die ungeheuern Blöcke eines eingebrochenen Grates noch im Wege stehen, und gigantische Fichten, die zerknickt zwischen und unter den Steinen liegen, die Verheerung bezeugen. Unten im tiefen Schacht braust die Ache, und drüben steigt, ganz nahe, ein spitziges Felsenjoch empor, an dem die Tannen wie Spieße übereinander hinaufwachsen.

Nach einer Stunde wird das Hopferebner Bad erreicht, der erste Ort des Bregenzer Hinterwaldes, einer von den ländlichen Brunnenorten, deren es in Tirol und Vorarlberg wohl über ein Hundert gibt. Es ist ein dreistöckiges hölzernes Gebäude, einsam gelegen in der waldigen Wildniß. Unter dem Wohnhaus ist ein Schoppen, in welchen die Quelle vom Berg aus durch lange Rinnen geleitet wird, und in diesem Schoppen sind die Bäder, zwei Reihen von hölzernen Wannen in einer großen Badstube. Diesseits ist’s für die Männer, jenseits für die Weiber; zwischen den feindlichen Lagern hindurch geht eine leinene Wand. Das Wasser zu Hopfereben ist schwefelhaltig und hilft gegen Hautkrankheiten, Gicht und [38] Rheumatismus. Die Nähe in der solche Bäder (Badeln heißen sie verkleinernd die Tiroler) auf einander folgen, weist ihnen ihre Kundschaft zumeist nur in der Nachbarschaft an; deßwegen sind die Gäste auch alle schon vorher mit einander bekannt und leben mit den Wirthsleuten wie zu Hause, still, ländlich und ohne große Kosten. Jetzt waren nur ein halb Duzend Frauenspersonen in der Cur, die sich am Wirthstisch leise murmelnd unterhielten. Die Zeit des Badelebens ist indessen auch im Hinterwald die Zeit der Hoffart wie bei den reichen Leuten in den Bädern am Rhein. Obgleich es Werktag war, saßen die Frauen doch alle in sonntäglichem Putze an ihrem Plaudertisch – so will’s der Badebrauch. Für die Männer ist eine Kegelbahn vor dem Hause, und auch spazieren können sie gehen den Bach abwärts oder aufwärts, allenfalls auch in die Höhe, wo es aber etwas steil wird. Lectüre bringt sich der Badegast selbst mit, denn nach Hopfereben kommt nicht einmal eine Zeitung.

Bis Schopernau hält sich die Gegend in ihrer rauhen Hochlandsart. Waldige Schluchten, steilabgerissene Felskegel, eingebrochene Halden, rauschende Wasserfälle wechseln ab oder wirken zusammen. Nun aber führt der Weg aus dem Tobel in die Wiesen hinaus. Die Berge fallen mählig ab von ihrer Höhe und tragen Waldungen bis auf den runden Rücken; die rothen Felskämme schauen in das freundliche Thal nur von ferne herein. Den Fluß, der jetzt ruhig geworden, verbirgt das Erlengebüsch, und das Dörfchen liegt in ebenen Matten um seine Kirche herum. – Hier beginnt die niedliche Bauart des Bregenzer Waldes, die gezimmerten Häuser mit den sanft anlaufenden Dächern, die auf beiden Seiten weit herausgreifen und von Säulen getragen herüben und drüben einen Porticus bilden, den man den Schopf heißt. Die eine von diesen Lauben dient zu wirthschaftlichen Zwecken als Wagendach und Holzlege, in der andern aber sind Tisch und Bänke aufgestellt. Sie ist in der schönen Jahreszeit der Sprechsaal, wo sich in freien Stunden und zum Abendtrunk die Nachbarn und Nachbarinnen zusammenfinden und gemüthlicher Unterhaltung pflegen. Diese Lauben sind ein sehr ansprechendes Stück ländlicher [39] Architektonik und an fröhlichen Feiertagen der Rahmen zu manchem idyllischen Bilde. Unter diesen Häusern des Waldes sind jene von neuerem Style größtentheils mit einem Schuppenpanzer von kleinen abgerundeten Schindeln sauber verkleidet; die ältern noch zumeist mit Brettern angethan, dunkelroth angestrichen, auch mit lehrreichen Sprüchen und mit Gemälden eines bäuerlichen Pinsels verziert. Diesem Kunstbetriebe wird aber jene schmucke glänzende Panzerrüstung, die in der Sonne wie Silber blinkt, bald für immer ein Ende gemacht haben.

Nunmehr geht’s am Ufer der Ache auf gebahnter Straße fort durch mehrere Dörfer bis ins Herz des Bregenzer Waldes. Der Bregenzer Wald – das ist ein düstrer Klang. Das scheint Laubnacht und Fichtendunkel zu bedeuten, einen schwarzen Forst durch den die Sonne nicht scheint, unwegsames Gehölze, worin ein paar weit auseinander gelegene Köhlerhütten, ein paar Jägerhäuschen, einige zerlumpte Kinder und viel wohlgenährtes Hochwild – das denkt man sich etwa, aber es trifft nicht zu. Der Bregenzer Wald hat nichts Düsteres als den Namen, und ist eines der reizendsten Gelände Süddeutschlands. Die Schriftsteller nennen es ein Alpenland, aber für dieß sein Herzblatt wohl nur passend, wenn sie die Hauptbeschäftigung der Einwohner, welche die Viehzucht ist, im Auge haben, denn im Uebrigen ist diese Landschaft ein schönes mattenreiches, von lichten Hainen durchzogenes Thal, das nur ansehnliche Hügel begränzen, an denen die einzelnen zum Theil sehr zusammengegangenen Nachkommen des alten „Waldes" hinaufwachsen. Allerdings steigt noch über Schnepfau die steile Wand der Kanisfluh bis über 6000 Fuß empor, und hinter Bezau erhebt sich die nicht viel niedrigere Winterstauden, aber die erste liegt noch weit hinten im Walde, wo er seine idyllischen Reize noch nicht so reich entfaltet, und die andere steht zur Seite und thut der milden Freundlichkeit des Bildes keinen Eintrag. Wir sprechen da hauptsächlich von dem sonnenhellen Thalspiegel zwischen Schwarzenberg, Egg und Andlisbuch, wo rechts und links der Ache, die unten in der Schlucht dahinrauscht, von ein paar schwindelnden [40] Brücken übersprungen, die reinlich aus Holz geschnitzten Häuser, die Dörfer und unzähligen Höfe stehen, die in ihrer schimmernden Rüstung aus allen Winkeln und Ecken herausglänzen. Die Hügel wogen da so freundlich in einander; es ist ein Entgegenkommen und Händereichen von allen Seiten, und an diesen runden, in einander verlaufenden Hügeln gehen die Häuschen zu sechs und sieben, zu zwei und drei aufwärts bis an die Giebel. Wälder und Auen sind schicklich vertheilt, um alle Einförmigkeit zu verhüten, aber die Kornfelder fehlen, denn im Bregenzerwald wird kein Getreide gebaut. Tiefe Stille liegt über dem grünen Thale; nur die Glocken der Heerden oder das Jauchzen der Sennen schallt zuweilen von den Bergen wieder.

Der Bregenzerwald wird nach dem volksthümlichen Sprachgebrauch, dem ein alter politischer Unterschied zu Grunde liegt, in den äußern oder vordern und den innern Wald getheilt. Zu jenem zählt man die Gegenden von Lingenau, Hüttisau und Sibratsgfäll; dieser geht vom Dorfe Egg an längs der Ache hinauf bis zum Hopferebnerbad. Was darüber liegt, gehört zum Tannberg, der ehemals sein eigenes Gericht hatte, seit der bayerischen Regierung dem Landgericht zu Bludenz zugetheilt war, letztlich aber im vorigen Jahre der Nähe wegen mit dem Bregenzerwald vereinigt wurde. Die Dialekte jener beiden Hälften unterscheiden sich kenntlich. Man will indessen auch andere Unterschiede feststellen und den Leuten des innern Waldes mehrere gute Eigenschaften zuschreiben, die jene des äußern Waldes nicht besitzen sollen. Dagegen scheint Herr Custos Bergmann zu Wien, im äußern Walde zu Hüttisau geboren, daher auch für die Sachen seiner Heimath eine tüchtige Autorität, das moralische Uebergewicht auf die Schale der Außerwälder legen zu wollen. Er nennt den Innerwälder bedächtlicher, verschlossener und feiner; den Vorderwälder offener, lauter, redseliger, barscher; letzterer werde darum von vielen dem Appenzeller verglichen. Andre theilen die Eigenschaften wieder anders aus, wie es denn überhaupt bei so zarten Nuancen an Verschiedenheit der Meinungen nicht fehlen kann.

[41] Der Hauptort des Gerichtes im Bregenzerwald ist Bezau; ein schönes Dorf von 700 Einwohnern, zugleich die Geburtsstätte des gelehrten Chorherrn von St. Florian, Jakob Stülz. Der Ort hat sich in einer geräumigen Abrundung gelagert, die ein Kranz von ernsten Höhen umzieht – es ist noch lange nicht das heitre Lachen der Gegend von Andelsbuch. Eine halbe Stunde aufwärts an der Ache liegt Reute, ein kleines Dorf mit einem besuchten Bade. Da, zu Reute finden wir schon eine sehr erhebliche Anstalt, ein geräumiges Gebäude, einen Garten dabei und einen graduirten Badearzt. Hier gibt es auch bereits Stände. Als wir hinkamen, waren meist Damen da – schöne Fräulein aus den Seestädten, aus Feldkirch, schöne Jüdinnen von Hohenems, freie Schweizerinnen nebst einigen Müttern. Herren fehlten und schienen allerdings vermißt zu werden – was ist ein Badeleben ohne Paladine! Außer diesen Damen der „gebildeten Stände," die sich etwas abzugränzen suchten, fand sich auch einiges Frauenzimmer vom Lande vor, das wieder unter sich zusammenhielt. Dieser Gliederung der Gesellschaft entsprechen auch die Einrichtungen der Anstalt. Es gibt für die Stadtleute einen Tisch zu einem halben Gulden und einen billigern für das Landvolk. Der Besuch hält sich durchschnittlich zwischen fünf- und sechshundert Gästen, und Reute ist daher der bedeutendste Curort in Vorarlberg. Die Landschaft ist mit waldigen Hügeln besetzt und etwas enge. Die Spaziergänge führen nach den nahen Dörfern, nach Bizau, von wo die Schnepfeck bestiegen wird, ein mit Laubwald bewachsener Hügelrücken, den eine Capelle des heiligen Wendelin schmückt, nach Mellau, wo ein schöner Wasserfall, oder über die Bezeck nach Bezau.

In dieser friedlichen Revier stehen weiter unten jenseits der Ache auf wechselnden Höhen die Häuserhaufen von Schwarzenberg, wo der Vater der Angelica Kaufmann seine Heimath hatte Sie selbst wurde bekanntlich 1741 während eines vorübergehenden Aufenthaltes ihrer Eltern zu Chur, der Vaterstadt ihrer Mutter, geboren, und verlebte nur wenige Monate auf den grünen Hügeln von Schwarzenberg. Ihr Vater zog dann für lange Zeit ins Veltelin und nach Mailand, und erst in ihrem fünfzehnten [42] Jahre sah die junge Künstlerin zum erstenmale den Wald, das Stammland ihrer Väter; dann fünfundzwanzig Jahre später wiederum, als sie auf der Höhe ihres Ruhms von England nach Italien übersiedelte, beidemale nur auf einige Wochen. Trotzdem ist Angelica noch immer die Löwin des Waldes; den Fremden erinnert man gern an die berühmte Wälderin und die Anfänge ihrer Kunst; ihre frühesten Zeichnungen und spätere Arbeiten, die in ihre Heimath gelangten, werden in der Verwandtschaft ehrfurchtsvoll aufbewahrt und dem nachfragenden Wanderer mit freudigem Stolze gezeigt. Im Schäfle, d. h. beim Lammwirth in Schwarzenberg ist eine kleine Galerie von ihren Bildern, darunter ihr Selbstconterfei als junges Mädchen in der Tracht der Wälderschmelgen. Einmal hat sie sich auch als heilige Katharina gemalt und sich, wohl mit getreuem Pinsel, eine angenehme, jugendlich schalkhafte, für die Heilige fast etwas zu weltliche Physiognomie verliehen. In der Fremde geboren, in der Heimath fast eine Fremde, blieb sie doch immer des Waldes eingedenk, und sandte 1802 aus Rom der Kirche zu Schwarzenberg ein schönes Altarblatt, das unter großen Festlichkeiten und unter Theilnahme der ganzen Landschaft aufgestellt wurde. Sie starb zu Rom im Jahre 1807. An der Seitenwand der Kirche ließen ihr die dankbaren Schwarzenberger einen Denkstein setzen, der freilich durch schreckliche Verse entstellt ist.

Peter Kaufmann, der im Jahre 1829 als Hofbildhauer zu Weimar starb, gehörte der gleichen Familie an, war aber zu Reute geboren.

Aus dem Dorfe Schwarzenberg gebürtig, war auch der Vater des französischen Generals Kleber, der 1800 in Aegypten erdolcht wurde. Der Sohn kam zu Straßburg zur Welt. Seine Kriegerlaufbahn begann er 1777 beim k. k. Infanterie-Regimente Kaunitz zu Mons in Hennegau. Im Jahre 1785 verließ er als Lieutenant diese Fahnen, um in französische Dienste zu treten.

Trotz dieser Berühmtheiten haben die Schwarzenberger für den Wald dieselbe Bedeutung, wie die ehemaligen Buchhorner für Schwaben, die Weilheimer für Bayern, die Hirschauer [43] und Schildaer für andre Gegenden. Ihnen bindet nämlich nachbarliche Schalkheit alles Alberne auf, dessen sie sich gerne selbst entledigen möchte. Die Schwarzenberger Stücklein haben daher einigen Ruf. Wer Lust hat, mag übrigens bei ihnen selbst nachfragen, warum sie sich Bsocher und Psipser nennen lassen müssen.

Weiter abwärts, im äußern Walde, an den Ufern des Subersbaches und der Bolgenach liegen theils in freundlichen Auen, theils an leichtbewaldeten Mittelgebirge noch verschiedene Gemeinden. Dort finden sich aber keine beträchtlichen Dorfschaften mehr, sondern es leben die Einwohner, wie im angränzenden bayerischen Allgau, in kleinen, nahe an einander liegenden Weilern oder in vereinzelten Höfen. In dieser Gegend und zwar zum Hof in Lingenau ist die älteste Pfarre des Waldes im Jahre 1150 gegründet, vom Kloster Mehrerau bei Bregenz, einem Stifte, das um die erste Ausrodung und Bebauung des Waldes große Verdienste hatte.

Die Höhen, welche von außen um den Bregenzerwald herumlaufen, gebieten fast alle über unendliche Fernsichten. Der mählige Abfall des Gebirges, das niedere schwäbische Hügelland, das bis an den Schwarzwald und die rauhe Alp offen daliegt, die schönen Ufer des Bodensees, der glänzende Spiegel des schwäbischen Meeres selbst, die Appenzeller Gebirge und die höhern Bündner Alpen – das alles erlaubt entweder dem Blick in der weiten, reichen Ferne zu schwelgen, oder gibt ihm in der Nähe einen großartigen Schlußstein. Die Lose zwischen Schwarzenberg und Dorenbüren, die Lorenne ober Alberschwende, jede mit einem wunderbaren Ueberblick des schönen Rheinthals, werden um so lieber und öfter begangen, als darüber abkürzende Verbindungswege aus dem Walde an die Rheingestade führen. Der Hochheteri in der Bolgenacher Gemeinde, von dessen Spitze die Städte Augsburg und Ulm zu erschauen sind, wird noch höher gerühmt.

Der Bregenzerwald hatte vor 50 Jahren noch keine fahrbare Straße, keinen fahrbaren Zugang. Es war ein abgeschlossener Park, durch welchen nur Fußpfade führten. Damals zogen die Wälder in reisigen Karawanen von dreißig [44] bis vierzig Saumpferden auf die Kornmärkte nach Bregenz, brachten Butter und Käse dahin und saumten Getreide zurück. Jetzt führt wenigstens ein guter Fahrweg durch den Schwarzachtobel bei Alberschwende ins Rheinthal hinaus und zunächst nach Bregenz.

Im Walde selbst geht dem Hauptthale nach bis Schopernau ein schmales Sträßchen, das aber etliche sehr mißliche Stellen hat. Einige Ausläufer davon verästeln sich in die Seitenthälchen. Der jetzt unternommene Bau einer neuen Straße wird mit sehr günstigen Augen betrachtet. Ueber die Richtung derselben stand der Wald vor zwei Jahren in großer Spannung, da jede Gemeinde an der neuen Straße liegen wollte. Fahrbarer als der Weg längs der Ache ist die Commerzialstraße, welche vom Schwarzachtobel aus über Lingenau und Hüttisau, also durch den äußern Wald gegen den bayerischen Flecken Staufen führt.

„Dieß Thal, sagt Sebastian Münster in seiner Kosmographie, hat schön, stark und viel volk, das rauch lebt und gleichwol nit arm ist; heißt jre meitlin und junckfrawen jrer sprach nach Schmelgen."

So scheinen die Bregenzerwälder von jeher in gutem Ruf gestanden zu seyn, und in der That sind sie ein liebenswürdiger Schlag von Leuten; die Männer verständig, bieder, gutmüthig, aber zu Schimpf und Scherz geneigt, die Mädchen und Frauen von milder freundlicher Art, frohsinnige Plauderinnen, wenn auch mit ihrem abgekappten Alemanischen, das mit hoher singender Stimme vorgetragen wird, dem Nichtwälder etwas unverständlich. Beiden Geschlechtern eigen ist ein Streben nach ehrenhafter stattlicher Häuslichkeit, und so sind sie reinlich und sparsam, ohne Abneigung gegen erlaubten Schmuck des Lebens, den der herrschende Wohlstand allerwege zuläßt. Der Hauptbetrieb des Thales ist Viehzucht und Sennerei – Beschäftigungen, denen die volle Liebe der Wälder zugewendet ist. Daher auch die seltsame, fast einzeln stehende Erscheinung, daß hier die schöne Waidmannsfarbe der Fluren nirgends mit dem Gold der Aehren abwechselt, während nahezu in allen übrigen Thälern Vorarlbergs und Tirols der Boden bis in die innersten Winkel hinein gezwungen wird Getreide zu tragen. [45] Das Vieh ist die ganze schöne Jahreszeit über auf den Alpen, im Frühjahre und im Herbst, auf den „Maisäßen,“ den niedern Höhen, die früher schneefrei werden und es länger bleiben, im Sommer auf den Hochalpen, die rückwärts gegen das Allgau und den Tannberg zu tief im Gebirge liegen, oft in vielstündiger Entfernung von den Mutterhöfen. Auf den Weiden bei Bizau war ehemals der Platz, wo die Heerden an St. Kilianstag (8 Julius)[WS 1] zusammengetrieben wurden, wenn es Zeit war auf die Hochalpen zu gehen, und im Herbst wenn sie wieder zurückkamen. Dann brachten auch die Saumpferde Butter und Käse, die Ausbeute des Sommers, herunter, jeder Eigenthümer nahm sich seinen Theil davon und förderte ihn und seine Heerde von hier nach Hause. Diese Uebung ist jetzt abgekommen.

Als Sennen werden zur Zeit der größern Geschicklichkeit in der Käsebereitung halber viele Schweizer eingedungen, welche beträchtliche Löhnung beziehen. Einen derselben haben wir im Wirthshäuschen zu Lechleiten gefunden. Auch sind schon Sennen aus dem Walde nach der Schweiz und selbst nach Niederdeutschland gegangen, um sich in ihrem Geschäfte zu vervollkommnen. Eine sehr schmackhafte Speise ist der weiche, streichbare Backsteinkäse, der im Walde bereitet wird.

Vor Jahren soll es mit dem Wälder Käsehandel ziemlich schlecht gestanden haben, aber jetzt geht er wieder in die Fremde hinaus und bringt viel Geld ins Land. Ein großes Verdienst an diesem segenreichen Umschwung hat Herr Peter Bilgeri, der stattlichste, hochstämmigste der Wälder, der auf den Wiesen bei Andelsbuch haushält. Peter Bilgeri hat durch Verstand und Fleiß dem Haupterzeugnisse seiner Heimath viele neue Wege zu bahnen gewußt, vielen seiner Landsleute neue Nahrungsquellen eröffnet, und sich selbst mit Ehren zu beträchtlichem Wohlstande erhoben. Sein Haus, aus Holz gezimmert und mit dem Schindelpanzer verkleidet wie die übrigen, ist eines der angesehensten im Walde und ein treffliches Muster aller der Reinlichkeit und Heimlichkeit, die in diesen niedlichen Wohnungen zu finden. Da gibt es glänzend gebohnte Tische und Thüren, helle Fenster mit feinen Vorhängen, sorgfältig [46] gescheuerte Böden und zierliche Vertäfelung der Wände, an denen schöne Bilder prangen. Die Räume sind nicht so gewaltig, wie in den großen steinernen Häusern der Tiroler, aber gerade diese Einschränkung erregt das Gefühl des Wohnlichen und Heimlichen. Im Sommer bricht die Sonne so klar durch die großen Fenster, und der grün glasirte Kachelofen verspricht die behaglichste Wärme für den Winter. Wetteifernd mit Peter Bilgeri haben sich nun auch andere Wälderhäuser auf den Käsehandel geworfen, und es sind jetzt mehrere Firmen im Walde, deren Geschäfte von Jahr zu Jahr schwunghafter betrieben werden. Da die Geschäftsverbindungen mit Italien sich immer enger knüpfen, so werden die Jungen der reichern Häuser, die zur Handelschaft bestimmt sind, gewöhnlich nach Mailand geschickt, um „wälsch" zu lernen.

Die Wälder sind übrigens nicht zur Sennerei allein aufgelegt, sondern üben auch andere Handthierung mit großer Fertigkeit. Das schöne Hausgeräth, die saubere Vertäfelung der Stuben, die Thüren mit den messingenen Schlössern werden sämmtlich von Meistern des Waldes gemacht. Es gibt hier Dilettanten in Fächern, die man dem Bereiche tändelnder Liebhaberei weit entrückt halten sollte. In einem Wirthshause zu Bezau sah ich zum Beispiel ein fertiges und sehr gut gelungenes Piano, das der Hausherr in seinen Nebenstunden als „Bästelarbeit“ hergestellt hatte. Viele von den Aermern verdienen sich durch Lodenweben einige Gulden oder schnitzen Rebhölzer für die Weingärten am Rhein. Andere ziehen als Stuccaturarbeiter ins Ausland, in die wälsche Schweiz und nach Frankreich. Die Wälderinnen bringen durch Musselinsticken manchen Groschen in den Haushalt. Dieser noch nicht sehr alte Verdienst wurde durch schweizerische Handelshäuser in Gang gebracht, und so kommt jetzt noch der Zeug mit den bereits eingezeichneten Blumen meistentheils über den Rhein, und wandert, wenn die Arbeit vollendet, wieder nach St. Gallen und Appenzell. Dieser Erwerbszweig hat sich nun über den ganzen Wald verbreitet, und selbst in der Wildniß des Schreckens wird gestickt. Die Mittelsmänner welche von Zeit zu Zeit in die Schweiz fahren, die gelieferte Arbeit [47] hinüberbringen und neue Aufträge holen, heißen die Stücklefergen, vom alten deutschen Worte: Ferge, das aus den Nibelungen bekannt ist. Gustav Schwab erzählt von einer weißen Schlafmütze, die der Bräutigam als Liebespfand gewöhnlich nicht lange vor der Ehe erhalte, und werde diese Gabe ebenfalls von der zarten Hand der Jungfrauen auf dem Tamburin gearbeitet. Die Wälderinnen wollen nichts mehr von dieser Schlafmütze wissen; aber das gestehen sie ohne Erröthen, daß dem „Buobe" hin und wieder eine von Gold- und Seidenfaden gestickte Hutbinde mit seinem Namen zugesteckt werde. Diese Binde, und nur sie ist es, die jetzt noch von der Hand der Liebe geklöppelt wird.

Die Tracht der Männer des Bregenzerwaldes hat nichts Auffallendes mehr – sie ist jene ländlich städtische, welche die Landleute des Rheinthals und der Ufer des Bodensees angenommen haben. Dagegen ist die der Mädchen und Frauen ganz eigens ausgedacht und findet wohl nirgends ihr Aehnliches. Auf dem Haupt sitzt eine hohe kegelförmige Mütze von schwarzer Wolle, Kappe genannt. Den Hals verhüllt bis unter das Kinn ein schwarzer, eng anliegender Sammtsteck, das Goller. Das Goller setzt der ebenfalls schwarzsammtene Brustfleck fort, von dem indeß nur ein Streifen sichtbar ist, auf welchem die Anfangsbuchstaben des Namens eingestickt sind. Das Hauptstück der ganzen Gewandung ist aber die eigenthümliche Juppe, ein schwarzes, leinenes, ärmelloses Hemd, das um die Hüften ein lackirter Ledergürtel zusammenhält, der ehemals in massiven Gold- oder Silberbuchstaben den Namen seiner Herrin trug, welche Aufgabe jetzt, wie bemerkt, dem Brustfleck geworden. Dieses Hemd, das etwa bis an die Knöchel reicht, ist von oben bis unten in unzählige Fältchen gebiegelt und geglättet und gewinnt dadurch einen seltsamen metallischen Glanz. So hat die volle Tracht der Wälderinnen in ihrer verhüllenden Züchtigkeit, mit dem schimmernden schwarzen Rock etwas Ernstes, Frommes, Priesterliches, das zu ihrem hohen schlanken Wuchse trefflich stimmt. Noch vestalischer muß das Gewand ehemals ausgesehen haben als die Juppen noch weiß waren. Diese weißen Juppen haben sich im dreißigjährigen [48] Krieg in denselben Zeitläufen verewigt, als die Lechthalerinnen, wenigstens nach der Sage, auf der Mortenau das Vorrecht erkämpften in der Kirche zur rechten Seite zu knieen. Einmals lagen nämlich schwedische Völker im äußern Walde und verübten vielen Frevel. Dessen zur Steuer thaten sich die Wälderinnen zusammen und zogen an den Fallenbach, den Schweden entgegen. Als aber diese der weißen Juppen von ferne ansichtig wurden, meinten sie kaiserliche Mannschaft zu gewahren und kehrten sich eilig zur Flucht. Die weißen Juppen stürzten jedoch den fliehenden Schweden in heißer Kampfbegierde nach und erschlugen sie bis auf den letzten Mann. Die Walstatt heißt noch bis auf den heutigen Tag die rothe Eck. Der Sieg ist Nachmittags um zwei Uhr erfochten worden, und daher wird in den Pfarreien von Egg, Andelsbuch und Schwarzenberg, denen die meisten der Kämpferinnen angehörten, Jahr aus Jahr ein um selbe Stunde mit der Glocke geläutet zum ewigen Angedenken.

Zur Ergänzung können wir hinterdrein auch noch des Unterrocks gedenken, und zwar um so freier, da er nicht wie das Veilchen bestimmt ist im Verborgenen zu blühen. Die Juppe wird nämlich im Gehen gerne aufgeschürzt, und dann zeigt sich jedesmal das mit brennend rothen Zwickeln eingefaßte Unterkleid. Zum vollen Anzuge gehört ferner auch ein Schnappmesser, welches an langem Riemen vom Gürtel herniederhängt und Schnaller oder Hegel genannt wird. Dieses Geschmeide bildet ein Unterscheidungszeichen zwischen den Frauen des vordern und denen des hintern Waldes; diese nämlich tragen es an der rechten, jene an der linken Seite.

Als das Kleinod ihrer Tracht sehen übrigens die Wälderinnen das Schäpele an, einen Kopfputz, den die Jungfrauen bei Bittgängen und Hochzeiten auf die vollen Haare setzen. Es ist ein Reif von schwarzem Sammet, der ein Krönlein aus Filigranarbeit trägt, ein funkelndes Krönlein von Gold, Silber und farbigen Steinen – allerdings eine sehr schmückende Hauptzierde, die indessen nicht auf den Bregenzerwald beschränkt, sondern in mehreren Gegenden Oberschwabens gebräuchlich ist. Selbst beim Festzuge, der 1842 zur [49] Feier der Vermählung des Kronprinzen von Bayern in München gehalten wurde, erschienen viele Bauernbräute und Kranzeljungfern aus altbayerischen Landschaften mit den neu hervorgesuchten Schäpelen, und wie wir aus Schmeller sehen, so ist dieser Schmuck auch am Main und Rhein bekannt und geht in seinen Anfängen zurück bis auf Tristan und Isoldens fabelhafte Zeiten.

Die Tracht die wir oben beschrieben, wird von Frauen und Mädchen auch dann nicht abgelegt, wenn sie zu einem Wohlstand oder Ansehen gelangt sind, welches sie überall anderswo veranlassen würde sich städtisch zu kleiden. Heutigen Tages hält die Frau Landammännin für ihre hochgeachtete Person noch denselben Kleiderschnitt ganz passend, in welchem das ärmste Landmädchen erscheint. Nur am Saume des Waldes gegen das Allgau hin verlieren sich, wie Bergmann erzählt, allmählig die Eigenthümlichkeiten der Tracht zugleich mit denen der Mundart. Diejenigen, die der Mode des Allgaus folgen, heißen aber zur Zeit noch fremdhäsig – von Häs, das Gewand.

Seltsam wie die Tracht der Wälderinnen ist auch ihre Sprache. Die Männer richten sich im Umgange mit Fremden mehr nach dem Deutsch der Schule; aber bei den Frauen ist noch der ächte Laut des Waldes zu hören. Der singenden Höhe ihrer Stimmen haben wir schon gedacht; dazu kommt bei aller Raschheit des Vortrags ein eigenes Wiegen und Tragen der Sylben, auf welchen der Nachdruck liegt. Der Dialekt stimmt am nächsten zu den schweizerischen und erkauft die Weichheit, wie jene, oft nur durch gewaltthätige Abstumpfungen. Nie, gie, ko für nehmen, geben, kommen klingt eben so mild als unverständlich. Wie mancher junge Deutsche würde rathlos dastehen, wenn ihm, freilich wider alles Vermuthen, eines schönen Abends die Wäldersennin zuflüsterte: Wend ir it mo ze mer ue ko? was doch nichts anders bedeutet, als: Wollt ihr nicht morgen zu mir heraufkommen? Die Studirten nennen manches im Hochdeutschen verschollene Wort aus dem Nibelungenliede, das sich in der Wäldersprache erhalten hat – es sind dieß jedoch Erbstücke, wie sich deren in allen [50] oberdeutschen Mundarten finden. Viele Wörter aber finden sich weder in den Nibelungen noch in andern oberdeutschen Mundarten; wir wollen uns indessen an kein Verzeichniß wagen, sondern nur erwähnen daß sie z. B. um Egg und Andelsbuch die Kinder Gobe, Göbel heißen, was Bergmann als Gabe (Gottes) erklärt, wogegen sie im Hinterwald Goge, im Vorderwald schlechtweg Bälg genannt werden. Eben da findet sich auch Drätt für Vater, Damm für Mutter, entstanden aus d’r Aett und d’ Amm mit festangewachsenem Artikel. Für das „Meisterstück der Schöpfung" ist auch diese Mundart reich an Namen, wie denn überhaupt in Vorarlberg und Tirol zusammen vielleicht über ein Duzend eigene Bezeichnungen dafür aufzubringen wären. Schmelge, wahrscheinlich aus ’s Mägdle entstanden, heißen die Jungfrauen wohl im ganzen Walde; im innern Theile kömmt daneben auch Mottel vor, im äußern Feel und Sputtel , welch’ letzteres nach Bergmann von der Eilfertigkeit, von sputen, nach Schmeller aber etwa gar von Spetl herkommen soll, das in der ältern Sprache eine junge Ziege bedeutet. Sehr poetisch scheint auf den ersten Blick jenes ahneweilen, welches das nächtliche Umgehen der Geister bezeichnete. Bergmann leitete es früher vom Weilen der Ahnen her, genauer betrachtet wird’s aber nur ein minder interessantes anweilen seyn. Einige Bildungen sind so richtig und brauchbar daß es gut wäre soviel Reputation zu haben um sie bleibend dem hochdeutschen Sprachschatze einverleiben zu können. Es freute uns in der That Redeweisen zu hören wie: das Wetter schlechtert; das Roß erwildet. Wie in einem abgelegenen Thälchen Tirols, in Dux nämlich, so werden auch hier die Taufnamen ohne den Artikel gebraucht, was dem Oberdeutschen sonst fremd ist. Wo ist Peter? wo ist Hans? heißt es, nicht wie sonst allenthalben; wo ist der Peter, wo ist der Hans? Der Taufnamen haben übrigens die Wälder und die Wälderinnen nach oberschwäbischer Sitte regelmäßig zwei, aus welchen aber im Sprechen nur ein Wort wird. So aus Joseph Anton, Johann Joseph, Johann Jacob – Seffanton, Hansjoseff, Hansjok; so auch aus Anna Catharina, Maria Margaretha – Annacathri, [51] Marigret. Wenn indessen bei den Taufnamen der Artikel wegbleibt, so wird er dagegen bei den Ortsnamen durchweg angewendet und man sagt z. B. im Schrecken, in der Au, in der Rüti (Reute), am Schwarzenberg, an der Egg.

Gegen alle und jegliche Titel herrscht eine entschiedene Abneigung. Die Männer heißen nicht Herren, die Weiber nicht Frauen und die Mädchen nicht einmal Jungfern – alle werden nur mit dem Taufnamen angeredet. Peter, wie geht’s? sagt der mindeste der Wälder zu Herrn Bilgeri von Andelsbuch, und der Herr Landammann heißt im ganzen Walde nicht anders als Sepple.

Die Wälder singen keine Lieder eigener Dichtung; es blüht hier keine Volkspoesie. Einzelne Gedichte, die in der Mundart des Thales vorhanden, sind von studirten Leuten gefertigt, nur als Sprachproben, als Versuche, die Wäldersprache poetisch zu verwenden. Ein derartiges „Weihnachtsgedicht" verdankt man dem Herrn Custos Bergmann, und es ist dasselbe in dem dritten Band der Beiträge zur Geschichte, Statistik, Naturkunde und Kunst von Tirol und Vorarlberg abgedruckt, als Anhang einer hier oben öfter benützten Abhandlung über die Volkssprache im äußern Bregenzerwalde. Ein anderes in 36 Strophen findet sich in K. W. Vogts Belvedere der Hochlande (Augsburg 1841). Es wird einem jetzt in Mainz lebenden vorarlbergischen Geistlichen zugeschrieben. Leider ist die Sprache desselben von solcher Beschaffenheit, daß sie selbst den Wäldern großentheils unverständlich bleibt. Dem Volke ist das eine so wenig bekannt geworden wie das andere. Es wird überhaupt nicht viel gesungen, und dann immer nur nach hochdeutschen Texten. Bei Schnepfau hörte ich freilich an einem stillen Sommerabende in dem Schopf mit leiser Stimme summen:

Am Obed han is kußt –
Es thuet mer jetz no wohl.
O, hatt’ i’s künne denka,
Es si zum letzte Mol –
     O je, o je
I kuß es numme meh.

[52] Dieser melancholische Seufzer eines liebegequälten Herzens scheint indessen zuerst von der andern Seite des Rheines herüber geflötet worden zu seyn.

Der Bregenzerwald wurde nach allgemeiner Annahme viel später urbar, als seine südlichen Nachbarthäler. Ammianus Marcellinus spricht von dem Schauer düstrer Wälder, die die Ufer des Bodensees an dieser Seite unwirthlich machten. Daraus darf man wohl abnehmen, daß auch dieses Thal dazumal eine Wildniß gewesen. Weder Rhätier noch Romanen haben hier je gehaust; der Wald liegt jenseits der alten Sprachgränze, von der wir Eingangs gesprochen, und daher finden sich in ihm auch nur deutsche Ortsnamen. Die Bevölkerung ist also wohl ungemischt alemannisch, und sohin etwa das reinste deutsche Blut in Vorarlberg. Eine Fehde, welche im eilften Jahrhundert Ulrich, der Abt von St. Gallen, mit dem Grafen Marquart von Bregenz hatte, wird von Vielen als die erste Veranlassung betrachtet, welche zum Anbau dieser sichern Gegenden trieb. Damals soll nämlich Stadt und Umgebung von Bregenz auf viele Jahre hin verwüstet und die Einwohner vertrieben worden seyn. Andere führen die Verheerungen an, welche im zehnten Jahrhundert die Ungarn über die Länder am Bodensee brachten. Nemus dictum Bregenczerwalt, der Hain genannt Bregenzerwald, bis dahin Reichsland, wurde von Kaiser Rudolf 1290 dem Grafen Hugo von Montfort um 1000 Mark Silber verpfändet. Später erscheint zumal der Hinterwald als hochgehaltenes Jagdrevier, und von seinem Reichthum an Wild können die Namen der Dörfer zeugen, wie Jaghausen, Schnepfau, Hirschau, Bezau (vom ältern Bez, der Bär), Bizau (nach Bergmann aus Habichtsau entstanden). Rudolf, Graf von Montfort, der letzte Herr zu Feldkirch, verkaufte das Gebiet 1375 an die Herzoge von Oesterreich. Der äußere Wald wurde von diesen in zwei Hälften erworben; die eine 1451, die andere erst 1523.

Höchst merkwürdig sind die Freiheiten, deren sich der innere Bregenzerwald bis in die letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts erfreute, zu solchem Maaße, daß dem Landesherrn kaum ein anderes Recht überblieb als jährlich ein bestimmtes [53] Steuerpostulat zu erheben. Das lange Bestehen dieser Eigenthümlichkeiten erklärt sich wohl zum guten Theile aus der abgeschiedenen Lage dieses Alpenlandes, und der ehrliche ordnungsliebende Waizenegger bemerkt in seiner Art ganz verständig: „In diesem entlegenen Herrschaftstheile soll ehemals das bunteste Treiben an der Tagesordnung gewesen seyn; nur eine Amtspflicht konnte den Herrschaftsvogt veranlassen sich in diese unwirthlichen Gegenden zu begeben. Man überließ das Meiste der kräftigen Natur dieses Bergvolkes, und dadurch gestaltete sich eine Bauernregierung, wie sie kaum irgendwo anzutreffen war." Hier einige bruchstückliche Mittheilungen darüber nach einer bald zu nennenden schriftlichen Quelle und nach mündlichen Angaben alter Männer des Waldes.

An der Spitze des Regiments stand der Landammann, der zugleich Abgeordneter zu den vorarlbergischen Landtagen war. Sein Gehalt bestand ehedem in 60 fl. und in der Hälfte der Strafgelder. Ein Landschreiber der zu Bezau seinen Sitz hatte und eine studirte Person seyn mußte, 30 Pfund Pfennige und die Gerichtssporteln bezog, war ihm beigegeben und besorgte Schreibereien und Archive. Der Landammann wurde in frühern Zeiten auf sieben, in spätern auf vier Jahre von „allen inländischen hausseßhaften Unterthanen" und zwar in folgender Weise gewählt: Nachdem die vier Viertel bei Ablauf einer Amtszeit unter den neuen Bewerbern vier ehrliche Männer ausgelesen, „vorgeschossen" hatten, so kam das Volk am Wahltage auf den Auen bei Andelsbuch zusammen. Dabei fand sich auch der Vogt von Feldkirch ein mit einer Sicherheitswache zum Schutz der Ordnung. Es war Herkommen, daß der Vogt im Namen des Landesherrn die Ehrung der alten Freiheiten angelobte, denn so dieß nicht geschehen wäre, hätte der neugewählte Landammann den Eid nicht in seine Hände abgelegt. Sofort wurde nun „ans Mehr" gegangen; es stellten sich die Vorgeschossenen, jeder entfernt von dem andern unter einen Baum, und auf ein gegebenes Zeichen rannten alle Wahlmänner auf den Baum zu, unter dessen Schatten sich der, dem sie ihre Stimme geben wollten, zurückgezogen hatte. Nach diesem wurden bei jedem Baum die Köpfe gezählt und nach der [54] Mehrheit der Landammann ausgerufen. Reiter mit ländlich aufgeputzten Pferden hielten an den vier Bäumen, um dem harrenden Ehegemahl des siegenden Bewerbers die Freudenbotschaft zu überbringen, ein Dienst welchen die neue Frau Landammännin mit vier Kronen belohnte. Der oft heißen Wahl folgten vierzehn frohe Festtage mit Musik, Tanz und Trinkgelagen, alles zu Ehren des neuen Landammanns, der dann auch die Zeche zu bezahlen hatte. Also wurde das Landammannamt von alten Zeiten her „mit mehrerer Hand besetzt," aber die Wahl lief nicht immer ohne Unfrieden ab, und der Landesbrauch klagt rührend, „daß vielmals große Unruhe und hochsträfliche Excesse vorbeigegangen, hiedurch der sonst so angenehme Friede gestört, das Land verschreit, aller Gehorsam und Respect vergessen und bei Seiten gesetzt worden, was nothwendig dem lieben Vaterlande den endlichen Untergang und Verlierung all der von den Eltern so theuer erworbenen Freiheiten bringen müsse." So weiß man daß im October des Jahres 1741 die Auen von Andelsbuch viel Hader und Streit, und am Ende gar die Niederlage und Flucht der störrigen Anhänger eines durchgefallenen Bewerbers sahen. Leider weiß man dazu auch daß der neue Landammann am 12 November desselben Jahrs, da er eben am Tisch saß sein Nachtmahl einzunehmen, durch das Fenster herein erschossen wurde. Ueber den Thäter ist bis heute noch nichts Sicheres bekannt worden.

Zwischen Bezau und Reute erhebt sich ein waldiger Hügelrücken, die Bezeck genannt, auf dessen Höhe jetzt noch etlich verfallenes Gemäuer zu sehen. Hier stand ehedem das Rathhaus des innern Bregenzerwaldes, ein hölzernes Gebäude auf acht Säulen ruhend; hier wurden die Volkversammlungen gehalten, und davon heißt es im Landesbrauch im allerersten Hauptstück: „Was auf der Bezeck ist gemacht und angenommen worden, selbes soll alldorten auch wiederum abgethan werden." Dieser „Landesbrauch" oder „Hauptordnung des k. k. Bregenzerhinterwaldes" enthält die alten Freiheiten und das alte Herkommen des innern Waldes. Die letzte Abfassung wurde auf der Bezeck am 3, 4 und 5 August 1744 vorgenommen, wo der Landesbrauch „neu durchgegangen, in vielen Stücken besser [55] erklärt und in ordentliche Satzung übersetzt worden ist." Diese Urkunde soll noch nicht gedruckt seyn, aber einzelne Handschriften, die sich noch hie und da in den Familien finden, werden als Andenken an die gute alte Zeit hoch in Ehren gehalten. Aus diesen geht unter andern hervor daß sich im Bregenzerwald das alte deutsche Gerichtsverfahren im Wesen und in der Form, in all seiner innern Gedrungenheit und äußern Zierlichkeit bis zum Schluß des vorigen Jahrhunderts in blühendem Leben erhalten hat, und wenn die Freunde desselben – und wer gehört jetzt nicht darunter? – mit großem Fleiß den Spuren nachgehen die davon noch nach dem dreißigjährigen Krieg in Deutschland vorkommen, wie muß es sie vergnügen, wenn sie dasselbe im Wald fast bis in unsere Zeit hereinragend finden! Es wurden alljährlich in den Hauptorten der Landesviertel, nämlich auf der Egg, zu Andelsbuch, in der Bizau und am Schwarzenberge, drei ehehafte Gerichte gehalten, als im Mai, im Herbst und zu Fastnachten. Das Gericht hatte der Pfarrer des Ortes mit zwei Mahlzeiten zu verpflegen und dem „regierenden" Landammann und dem Landschreiber die Pferde mit Heu und Haber zu füttern. Das Gericht fand im Tanzhause statt, und der Landammann als vorsitzender Richter eröffnete es, indem er den ersten Rath des Viertels anredete: „Ich frage Euch, N. N., ob Ihr gehört habt das ehehafte Gericht anschlagen, rufen und bieten, ob es auch an der Zeit, am Jahr und am Tag, daß ich wohl möge niedersitzen mit sammt einem ehrsamen Gericht und denen Leuten zu Recht helfen und richten über Liegendes und Fahrendes, über Lehen und Erbe, über Eigen und Alles, was der Reiche und der Arme, der Fremde und der Einheimische für mich und ein ehrsames Gericht zu bringen, zu berichten und zu beurtheilen hat, und dasselbige Kraft und Macht haben, wie auch ein ehehaftes, gesetztes und gebotenes Gericht es haben solle? Da frage ich des Rechten darum." Auf diese Frage gibt der angeredete Rath, die Formel widerholend, eine bejahende Antwort, worauf dann der Landammann auch die anderen Räthe, deren Zahl übrigens nach den verschiedenen Arten des Gerichts verschieden war, der Reihe nach fragt und gleiche Erwiederung erhält. Sodann fragt der [56] Landammann: „Wie soll ich das Gericht halten?" Und darauf spricht der erste Rath: „Herr Richter! So dünkt mich Recht daß Ihr Eure Knecht am Ring (am Gerichtsplatz) habt, die das Gericht schützen und schirmen, die Leute stillen und schweigen machen, und daß ein Jeder den Rechten das Vordertheil kehre, und da die andern einen Aufruhr am Gericht anfingen, also daß männiglich an seiner Rede gesaumet wurde, daß diese sollen gestrafet werden. So wird das Recht erkannt – dünkt mich jemal Recht, Herr Richter!" – Nachdem der Landammann noch gefragt: „Wie und wann soll ich das Gericht verbannen?" und darauf in herkömmlicher Weise Antwort erhalten, steht er sammt den Räthen auf, hebt den Stab in die Höhe und verbannt das Gericht mit den Worten: „So verbanne ich das ehehafte Gericht, wie ich es von Rechtswegen verbannen soll, und verbiete das Unrecht, erlaube das Recht. Dazu gebe uns Gott Glück, daß Niemanden Unrecht geschehe." Darauf traten die Rechtsuchenden vor: zuerst die Fremden, dann die Einheimischen. Klägern und Beklagten wurde nach deutschem Gebrauch ein Fürsprech gegeben, und der Landschreiber notirte in Kürze ihre Anbringen. Die Zeugen wurden sogleich mit vorgestellt und vernommen. Nach angehörter Klag, Antwort und Zeugenschaft begaben sich die Richter an einen besondern Ort. Jeder wurde um seine Meinung gefragt und nach dem Mehr der Stimmen das Urtheil gefällt. Landammann und Landschreiber zog man nach alter Uebung nur in schwierigen Fällen bei. War das Urtheil gefunden, so ging das Gericht wieder in das Tanzhaus zurück und derjenige, der des Klägers Fürsprech gewesen, verkündete unter herkömmlichen Formen das Erkenntniß. Zuletzt sprach der Landammann: „Welchem dieß recht dünkt, der hebe die Hand auf," und nun streckten alle Beistimmenden die Hände empor. So wurde die Sache, wenn nicht besondere Säumnisse eintraten, in derselben Sitzung angebracht und entschieden.

Wer sich durch die Entscheidung des Gerichts für beschwert erachtete, der mußte, wie Waizenegger behauptet, das Ohrläppchen in die rechte, einen Goldgulden in die linke Hand nehmen, das Gesicht gegen Sonnenaufgang kehren und laut ausrufen: Ich appellire. In solchem Fall ging die Sache an die [57] vorderösterreichische Regierung zu Freiburg im Breisgau. Etwas anders stellt die Sache der Landesbrauch. Nach diesem geht der Appellant, wenn die Beschwerdesumme fünfzig Gulden erreicht, in den Gerichtsring und begehrt zu appelliren. Da ihm solches erlaubt wird, muß er sich dreimal der Sonne nach umkehren und folgende Worte sprechen: „Herr Richter, ich beschwere mich des ergangenen Urtheils und appellire dasselbige ab eurem Stabe für und an die hochlöbliche vorderösterreichische Regierung gen Freiburg." Dieß hatte dann noch verschiedene weitere Fragen und Antworten zur Folge. Es ist auch zu wissen, daß der Appellant dem Herrn Landammann Gold – das ist wenigstens einen Goldgulden – und Silber, zum mindesten ein Sechserlein alsogleich pro arrha im Tanzhause erlegen mußte.

Ebenso wurde auch in alter deutscher Weise das hochnothpeinliche Gericht gehalten, denn der Bregenzerwald hatte „hoch und nieder Gericht über Leib und Blut, zu richten und abzustrafen jeden nach seinem Verbrechen." Beim hochnothpeinlichen Gericht erschienen vierundzwanzig Räthe mit Hellebarden und Seitengewehr. Der Galgen stand bei Egg an der noch jetzt sogenannten Galgenhalde.

Die civilrechtlichen Bestimmungen des Landesbrauchs gründen sich durchaus auf germanische Rechtsbegriffe, wie denn auch die Urtheilsfindung durch ungelehrte Schöffen mit der Geltung eines fremden Rechtes nicht vereinbar gewesen wäre. Unter den polizeilichen Verordnungen, die in ältern Zeiten auf der Bezeck beschlossen und verkündet wurden, finden sich manche für die Sitten des Waldes sehr charakteristische. So wurde einmal den Buben verboten, Nachts zur Stubet, zum Besuch der Liebsten zu gehen, und den Müttern und Töchtern, Spinnstuben zu halten. Das Tabakkauen wurde im Jahr 1698 dahin beschränkt, daß es wenigstens in der Kirche während des Gottesdienstes unterbleiben sollte. Auch gegen überhandnehmende Hoffart und Kleiderpracht wurden Verordnungen erlassen, und weil sich viele unterstanden vor der Obrigkeit zu sacramentiren, so wurde eine Strafe von zwei Gulden darauf gesetzt. Im Jahre 1743 ist beschlossen worden, daß man [58] denen in französischen oder andern fremden Ländern abwesenden Leuten des Hinterwaldes niemalen mehr etwas aus dem Lande verabfolgen lasse und dieselben gänzlich sollen enterbet seyn. Ferner erging auch einmal das Verbot „daß keiner so suchet Landammann zu werden, auf das Landammannamt hin zu trinken geben, werben oder werben lassen solle, bei Strafe von hundert Ducaten." Die Jagd des Schwarz- und Federwildes war frei, die des Rothwildes stand dem Grafen von Ems zu.

Diese Freiheiten und Uebungen des Bregenzerwaldes waren bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts noch dergestalt in Ehren und in Wirksamkeit und von ihrem Aufhören damals noch so wenig Ahnung, daß der Schreiber des Buches, das wir in Händen hatten und das, nebenbei gesagt, auch die Reihe der Landammänner vom Jahre 1400 an aufführt, noch 1781, in dem Jahre in welchem die Handschrift gefertigt wurde, am Schlusse mehrere Blätter leer zu lassen für gut fand, „auf daß da noch alles, was künftighin auf der Bezeck beschlossen werden möchte, säuberlich eingetragen werden könne." Indessen hat von dieser Befugniß Niemand Gebrauch gemacht. Die Freiheiten des Bregenzerwaldes wurden bald darauf, nämlich schon zu Kaiser Josephs Zeiten mannichfach beschränkt, und gingen in wenigen Decennien völlig unter. Rechtspflege und Verwaltung über innern und äußern Wald sind jetzt bei dem k. k. Landgerichte zu Bezau, und es erinnert nichts mehr an die alten Tage, als die unscheinbaren Trümmer auf der Bezeck und der Titel eines Landammanns. Ein solcher wurde 1816 nach der Wiedervereinigung mit Oesterreich, jedoch in neuern administrativen Formen, erwählt, zunächst als Abgeordneter zu den vorarlbergischen Ständen, welche indessen, wie bemerkt, noch nicht ins Leben getreten sind, und als solcher auch mit einem gewissen Antheil an der Verwaltung des Waldes ausgestattet. Der Erwählte ist Herr Joseph Metzler von Schwarzenberg, aus einem Geschlechte, das dem Walde schon mehr als einen Landammann, im sechzehnten Jahrhundert auch dem Bisthum Constanz einen Oberhirten gegeben hat.

[59] Die längste Zeit in diesem lieben Thale habe ich in der Au, einem der größten Dörfer des Hinterwaldes, zugebracht, wo mich einfallendes Regenwetter einmal mehrere Tage festhielt. Der Ort liegt in einer gebirgigen Enge, aufwärts von einer starren Felswand beschlossen, und besteht aus mehreren Weilern, die den knappen Raum anmuthig ausschmücken. Der Kern derselben, welcher um die Kirche liegt, heißt Jaghausen, und soll diesen Namen von einem Jagdhause haben, das die Grafen von Montfort vor Zeiten hier errichtet. Man findet dort mehrere gute Gasthäuser und eine freundliche Gesellschaft aus den Herren der Umgegend, welche mir sehr unterrichtend wurde. Ich habe da noch Mehreres abgelauscht was hier erzählt werden mag.

In voller Uebung und in allen seinen Ehren ist trotz den Edicten der Bezeck unter der Jugend des Waldes noch das Stubetgehen, worunter man, wie schon oben angedeutet, ungefähr das versteht, was die Zillerthaler Fensterln, die Schweizer Chiltgang nennen. Der „Buob" kommt um Mitternacht an das Kammerfenster seines Mädchens und bittet flüsternd um Einlaß. Will die Schmelge ihn erhören, so macht sie Licht und läßt ihn in die Wohnstube. Dort sitzen sie in aller Unschuld ein paar Stunden beisammen und plaudern friedlich über den Zustand ihrer Herzen. Gewöhnlich bringt der Bube Wein mit sich, der unter solchen Umständen Visis heißt, und damit trinken sich die Liebenden Gesundheit. Diese Besuche sind so viel als erlaubt und bringen weder den Knaben, noch das Mädchen in Unehre; auch wissen meistentheils die Eltern von der Sache. Wenn der Nachbar in stiller Mitternacht auf seinem Pfühle erwacht und im nächsten Hause die Wohnstube hell erleuchtet sieht, so vermuthet er weder Krankheit, noch andere plötzliche Noth, sondern dreht sich ruhig um auf seinem Lager und denkt sich ohne Arg: Annacathri wird wohl eine Stubet haben.

Zuweilen wird der Bube während der Stubet durch verstellte Stimmen herausgerufen, und es ist dann Ehrensache dem Rufe zu folgen. Oft sind es nur neckische Freunde, die ihn „schälkelen," oft aber steht auch vor der Thüre ein [60] kampffertiger Nebenbuhler, mit dem er ringen muß. Wenn der Gerufene unterliegt, so ist’s in diesem Hause für ihn vorbei mit aller Stubet. Die eigentlichen Stubettage sind Donnerstag und Sonntag; nur wenn’s ernstlich wird, nimmt man auch den Samstag dazu.

Nicht so ganz unschuldig mögen die Stubeten vor hundert Jahren gewesen seyn; wenigstens wurde das Verhältniß dem Reisenden J. G. Keysler, der damals eine Umfahrt durch Deutschland hielt, um vieles bedenklicher dargestellt. Nach seiner Angabe hätten dazumal die jungen Bauernsöhne so lange Stubet gehalten, bis ihre Liebe eines Kindleins genesen, worauf sie freilich bei schwerer Strafe verbunden gewesen die junge Mutter zu heirathen. Diese Art Galanterie, will der Reisende wissen, heiße man „fugen," *)[2] und die Wälder setzten einen solchen Werth darauf, daß ein Aufruhr ausgebrochen, als die Obrigkeit etliche Jahre vorher diese Freinächte abstellen wollen. In einer Versammlung, welche die Bauern der Angelegenheit wegen gehalten, sey selbst ein hochbetagter Greis aufgestanden um gegen alle Nachgiebigkeit zu sprechen und mit kurzen, aber kräftigen Worten zum Besten der Söhne und Enkel auf Erhaltung der ehrwürdigen Sitte zu dringen, die er, sein Vater und sein Großvater geübt.

Die Hochzeitsgebräuche waren ehedem viel reicher an Eigenthümlichkeiten als jetzt. Etwas davon hat sich nach und nach von selbst verloren, anderes ist durch geistliche und weltliche Obrigkeit abgeschafft worden. Zur Zeit hat es damit etwa folgende Bewandtniß: die Brautleute sind bei der ersten und zweiten Verkündung in der Kirche nicht zugegen, sondern gehen – ehemals ritten sie zu zwei auf einem Pferde – in der Nachbarschaft herum, die Einladungen zu machen und „an die Wicke (den Spinnrocken) zu betteln," d. h. Heirathsgeschenke einzuholen. Sie erhalten solche indessen nur von [61] denen, welche nicht zur Hochzeit gehen wollen, denn die andern übergeben sie am Tage selbst.

Am Hochzeitmorgen kommen die jungen Leute oder, wie sie während dieser Feierlichkeiten heißen, die Junker und die Jungfrauen, die als Ehrengäste geladen sind, zu acht Paaren im Wirthshause zusammen; dazu als Ehrenhüter der Brautführer und die Brautführerin, welche beide verheirathet seyn müssen. Da wurde nun ehemals bei nüchternem Magen von sechs Uhr an getanzt, was jetzt untersagt ist, wogegen sich die Sitte, bei dieser Zusammenkunft ein reichliches Frühstück mit Suppe, Rindfleisch und Kraut einzunehmen, erhalten hat. Ist dieß genossen, so zieht man mit den übrigen Gästen in die Kirche. Vordem schallte dabei der fröhliche Klang der Geigen und Schwegelpfeifen; diese musikalische Begleitung ist jetzt aber auch verstummt.

Die Brautführerin trägt an diesem Tage die feierliche Stauche, eine weiße Kopfverhüllung nach Art der Nonnen, die Braut ihr Schäpele und ein Jungfernkränzlein darauf; beide ferner ein schwarzes Trauermäntelchen, Löd- (Leid-) Mäntele, welches sich auf der rechten Schulter öffnet.

Nach der Trauung geht der Bräutigam bei den Junkern umher und gibt jedem die Hand, um sich damit aus ihrem Stande zu verabschieden. Darnach zieht man ins Wirthshaus, wo nun die Jugend zu tanzen anhebt und damit fortfährt bis der Tisch gedeckt ist. Wenn dieß geschehen, verschwinden Junker und Jungfrauen und die Alten setzen sich zur Tafel, deren Freuden sie aber, nachdem der erste Hunger gestillt, wieder unterbrechen, um selbst ein Tänzchen zu versuchen. Gegen Abend erscheint der Wirth und spricht in gehaltenem Tone: Jetzt ist’s fertig. Nunmehr wird der Geistliche, welcher immer beim Mahle gegenwärtig ist, eingeladen die Gäste abzudanken, was denn auch in herkömmlicher Weise geschieht. Nachdem der Priester seinen Spruch gesprochen, beginnt man zu holsen, d. h. die Brautleute setzen sich an einen eigenen Tisch – ehemals wurde er ins Freie gestellt – und die Gäste kommen nach einander heran, um ihr Geschenk darzubringen. Dieses wechselt von einem Thaler bis zu einem Napoleon; [62] dafür aber haben die Neuvermählten auch das Hochzeitmahl zu bestreiten. Als herkömmliches, nie vermißtes Gericht ist hiebei das Brutmes, Brautmuß, hervorzuheben, das vor dem Braten gereicht wird. Man bereitet es für alle zusammen in einem großen Kessel, und zwar aus Mehl, Milch, Weinbeeren, Zibeben, Mandeln u. dgl. Bei solchen Gelegenheiten pflegen die Wälder nach alter deutscher Sitte nicht immer das ziemende Maß zu halten, indessen ist’s damit in neuern Zeiten viel besser als in ältern. Auch setzte man ehemals etwas Vornehmes in die überschwängliche Anzahl der Gäste, und zumal im vordern Walde sollen oft bei zweihundert Geladene erschienen seyn; jetzt ist aber auch hierin obrigkeitliche Ermäßigung eingetreten.

Unter den Tänzen ist vor allen der offene Tanz beliebt, wo Bursch und Mädchen sich zumeist losgelöst drehen und schwingen und nur auf kurze Augenblicke sich wieder umfangen – dasselbe, was in Tirol bäurisch tanzen genannt wird. Außerdem gibt’s auch noch andere Arten, die man Doppuliren oder Trappen heißt. Das eigentlich städtische Walzen ist unbekannt.

Der Gespensterglaube ist auch im Walde mehr zum Spinnstubengespräch geworden, als daß bedächtige Leute sich ernstlich darauf einließen. Die Geister im Thale haben nicht viel zu bedeuten; man sieht deren selten und weiß kaum recht wie sie aussehen und was sie treiben. Auf den Alpen oben aber ist ganz anderes Wesen. Dort sind die Berggeister zu Hause, und es ist ziemlich sicher, daß sie, wenn die Hirten im Herbst zu Thale ziehen, von den Sennhütten Besitz ergreifen und den ganzen Winter darinnen hausen. Davon überzeugte sich wenigstens einst ein Senne, der hinaufgekommen war, um etliche Käselaibe zu holen und oben über Nacht blieb. Kaum war es nämlich dunkel geworden, so hoben sich die Geister langsam aus dem Boden heraus, senkten sich von der Decke herab und huschten zum Fenster herein. Als sie alle beisammen waren, fingen sie zu sennen an, melkten etliche Geisterkühe, rührten Butter und bereiteten Käse. Der Senne schaute ihnen etwas befangen zu, ließ sie aber gewähren. Dafür thaten [63] ihm jene auch kein Leid an, sondern halfen in aller Frühe sein Saumpferd laden und ließen ihn wohlbehalten ziehen. – Andere Geister sind, wie vor Zeiten Sisyphus, verurtheilt schwere Steine auf den Grat zu wälzen, die sich dann oben umdrehen und wieder abwärts rollen. Diese und die vorigen und andere kommen gerne auf dem Greßhorn ober der Au zusammen, wo ein runder Hexenplatz, auf dem kein Gras wächst. *)[3] Unvorsichtig genug wagte es einst ein leichtsinniger Hirte diesen Platz zu verunreinigen, wurde aber in der Nacht von den Geistern geweckt und mußte von der Sennhütte aus einen glühenden Hammer bis an die Stelle tragen, wo er den Frevel verübt. Eine andre gefeite Stelle ist der Hexenthurm, ein freistehender Felsen, der wie ein Schornstein an der Wand der Kanisfluhe hinaufragt und oben einen grünen Büschel Gras trägt.

Das sichere Treffen der Schützen, das der Volksglaube gewöhnlich von Freikugeln abhängig macht, hat hier die Sage anders erklärt. In Mellau nämlich lebte vor Jahren ein Gemsenjäger, der so übernatürlich schoß, daß durch alle die Häute, die er zusammengebracht, wenn sie übereinander gelegt wurden, nur ein und dasselbe Loch ging. Als er aber zu sterben kam, wurden die Beängstigungen des Teufels so stark, daß er schrecklich leiden mußte, und dabei zeigte sich’s denn, daß er im Ballen der rechten Hand eine Hostie eingewachsen hatte. Unter diesen Nöthen kam ein frommer Capuciner herbei, der noch zu rechter Zeit das entweihte Heiligthum herauslöste und dem Jäger zu einem seligen Ende verhalf.

Die Wildpretfülle des Waldes hat sich übrigens im Laufe der Zeiten sehr verringert. Hirsche gibt es schon lange nicht mehr und der letzte der Wälderbären wurde vor manchem Jahre bei Sibratsgfäll von einem Stiere erstochen. Die Gemsen sind aber noch zahlreich, kommen auch zuweilen ins Thal herunter, und manchmal hat man sie sogar bei der Au durch die Ache setzen sehen.

[64] Die Einwohner der Au müssen sich im Walde noch immer die Mährenländer heißen lassen. Dieser Name stammt aus dem sechzehnten Jahrhundert, wo sich hier heimlich die neue Lehre der Wiedertäufer ausbreitete, deren Anhänger, als sie offen hervortraten, gezwungen wurden das Land zu verlassen. So sind im Jahre 1585 zweiunddreißig Personen nach Mähren ausgewandert und noch jetzt sollen sich im Kuhländchen Geschlechtsnamen finden, wie in der Au im Bregenzerwalde. Der Verdacht der Ketzerei, der auf den Auern ruhte, verlor sich erst wieder zur Zeit des dreißigjährigen Krieges. Bis dahin merkten die Pfarrer bei den Gestorbenen im Sterbebuch sorgfältig an, ob mortuus bonus catholicus oder de fide anabaptistarum suspectus.

Was das Dörfchen in seiner damaligen Zweifelsucht an der Mutterkirche gesündigt, das hat es aber durch seine geschickten Baumeister in andrer Art wieder redlich gut zu machen gesucht. Die große Wallfahrtskirche zu Einsiedeln, das prächtige Cistercienserstift zu Salmansweiler, das berühmte Gotteshaus zu Weingarten, die Stiftskirche zu St. Gallen – all das ist von Meistern aufgeführt worden, die in der Au das Licht der Welt erblickt hatten.

Ein kleines Volksfest feiern die Auer am Peter und Paulstage, am 29 Junius. Um diese Zeit handelt es sich nämlich darum, den Sennen auf den Alpen zur Aushülfe etliche Knaben beizugeben, die man Pfisterer heißt. Da nun der Stellen immer weniger sind als der Bewerber, so wird die Vergebung durch einen Wettlauf entschieden, welcher das Bubenspringet genannt wird. Dieses findet an jenem Tage nach dem Gottesdienst statt. Die ganze Gemeinde steht am Stadium, die Knaben rennen und die siegenden Pfisterer steigen fröhlich auf die Alm.

Und nun nehmen wir Abschied vom Bregenzerwalde, dem schönen Wiesenthal mit den ansehnlichen Männern und den holdseligen Frauen. Wenn wir etwas weitläufiger geworden, als es sich für dieß Gebiet nach Verhältniß seiner Größe und Bevölkerung zu schicken scheint, so hoffen wir deßwegen leicht entschuldigt zu werden. Es wäre vielleicht [65] keine undankbare Mühe, das abgeschiedene, alemannische Alpenland in der Blüthe seiner Gegenwart und nach seinen uralten Eigenthümlichkeiten ausführlich und erschöpfend zu behandeln – um so eher wird die leichte Skizze hingenommen werden, die wir in der Absicht anlegten, den Wald, über den auch neuere Werke nur flüchtig weggehen, nach unsern Kräften in seiner volksthümlichen Bedeutung etwas mehr hervortreten zu lassen.


  1. *) Lauwene ist das alemanische Wort, Lahne sagen die Tiroler. Auch Lavine ist ursprünglich deutsch (Albert Schott, die deutschen Colonien in Piemont S. 313 und Schmeller bayerisches Wörterbuch 2. 406) und wäre demnach Làwine zu sprechen oder wohl auch Lauène zu schreiben, da es von lau herkommt.
  2. *) Fugen ist nach Schmeller das schwäbische Wort für Stubet gehen, was im Fichtelgebirg schnurren, in Kärnthen brenteln, in den Vogesen schwammen heißt.
  3. *) Wie auf dem Dosenberge in Hessen. S. Grimms deutsche Mythologie. 2te Ausgabe, 428.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Namenstag des Hl. Kilian; ein irischer Wanderbischof, der um das Jahr 686 das Christentum nach Würzburg und Unterfranken brachte (Schutzpatron Frankens)
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