Die verrufensten Spinnen Europas
Das Mittelalter, welches an merkwürdige Erscheinungen im Seelenleben der Völker so reich ist, war auch die Zeit, in der sich die sonderbare Krankheit des Tarantismus in epidemischer Verbreitung entfaltete. Heimgesucht durch fürchterliche Seuchen, welche den Herd der Familie von Grund aus erschütterten und zerstörten und welche als directe Aeußerung des Zornes Gottes gegenüber der sündigen Menschheit betrachtet wurden, eingezwängt in den Vorstellungskreis der römische Kirche, verfiel der menschlische Geist einer kindischen und abergläubischen Furcht vor höheren Gewalten in Verbindung mit einem krampfhaften Buß- und Frömmigkeitswesen, wodurch der gesammte Volksgeist allmählich von einer tiefen Nervenstimmung, einer dumpfen Melancholie ergriffen und in wahrhaft unheimlicher Weise zu phantastisch-schwärmerischen Ausbrüchen von oft ganz ungeheuerlicher Art disponirt wurde. Auffallend ist dabei noch, wie sehr der Nachahmungstrieb, der ja ohnedies den Menschen stark beherrscht, zu jener Zeit, da Angst und Schrecken jede Selbstständigkeit lähmten und die Gemüther in einer überreizten, krankhaften Spannung erhielten, eine unnatürliche Machtsteigerung erfuhr. So begreift sich das Auftreten der Geißler und Flagellanten, die Tanzwuth unter den Deutschen des dreizehnten Jahrhunderts, die Hexenverfolgung, selbst manche Seite der Kreuzzüge. So erklärt sich auch der Hauptsache nach der vielbesprochene Tarantismus Apuliens,
so genannt nach der Tarantel-Spinne, deren giftiger Biß den äußern Anlaß zu der ganzen Bewegung bildete.
Schon den Alten waren die Leiden, welche nach dem Bisse giftiger Spinnen auftraten, bekannt, und wir finden in dieser Beziehung bei verschiedenen älteren Schriftstellern wohl beobachtete und übereinstimmende Berichte, die aber nirgends von einem epidemischen Auftreten solcher Krankheit reden, wie sie sich im dreizehnten Jahrhundert als wahre Landplage über Italien verbreitete.
„Der Biß einer giftigen Spinne, oder vielmehr die krankhafte Furcht vor seinen Folgen" – um mit Hecker („Volkskrankheiten des Mittelalters“) zu reden – „erregte jetzt, was er früher nicht vermochte, eine gewaltige Nervenkrankheit, die sich, wie in Deutschland der Veitstanz, durch Sympathie verbreitete und durch das Fortschreiten an Heftigkeit, durch ihre lange Dauer an Umfang gewann.“
Die überreizte Phantasie malte sich die Folgen eines solchen Bisses sofort mit den Farben der Todesfurcht aus: man glaubte sicher sterben zu müssen; zugleich gerieth man durch irgend eine Veranlassung auf die Musik als ein Rettungsmittel. Vom Klange der Cither oder der Flöte angeregt, schlugen die Kranken, welche in halb bewußtlosem Zustande dalagen, plötzlich die Augen auf; sie richteten sich auf ihrem Lager empor, verließen dasselbe und begannen nun nach dem Tacte der Melodie ihre Glieder in immer rascher werdendem Tempo zu bewegen. Selbst rohe, der Musik und alles Tanzes unkundige Leute benahmen sich dabei mit viel Anstand und Grazie. Unermüdlich tanzten die Kranken, und wenn die Musikanten ermüdet eine Pause machten, verfielen jene augenblicklich wieder in ihren lethargischen, schlafsüchtigen Zustand, aus welchem sie nur der Klang der Instrumente auf’s Neue erwecken konnte. Durch den Tanz sollte das Gift der Tarantel in dem ganzen Körper vertheilt und zuletzt ausgeschwitzt werden; doch die kleinste Spur, die noch zurückgeblieben wäre, könnte auf’s Neue Krankheit erzeugen, und deshalb wurde die Heilung der „Tarantati“ mit jedem Jahre erneuert. Jeder, der nur gebissen zu sein glaubte, oder welchen irgend ein anderes unschuldiges Insect gestochen hatte, nahm am Tanze Theil, und Viele, welche zu ihrem Ergötzen als Zuschauer erschienen waren, wurden von dem geistigen Gifte, das sie mit den Augen begierig einsogen, angesteckt und vermehrten die Zahl der Tänzer.
So entstand bald eine „geistige Seuche“, bei welcher einer wilden, zügellosen Leidenschaftlichkeit freies Spiel gelassen wurde. Von Apulien ausgehend, erstreckte sich dieselbe auch über andere Theile Italiens und ergriff Leute jeden Standes, Alters und Geschlechts in gleichem Maße.
Die Krankheit, welche bei den einzelnen Individuen verschiedene Erscheinungen hervortreten ließ, zeigte außer der Zuneigung zur Musik noch zweierlei überall gemeinsam: ein Behagen an glänzenden Gegenständen – z. B. an dem Schwingen blanker Waffen – und eine gewisse Vorliebe für bestimmte Farben. Man sah die Kranken rothe Tücher in der Hand schwenken, sich in deren Anblick mit innigster Sehnsucht, oft mit Thränen in den Augen, wie berauscht vertiefen, ja sie leidenschaftlich küssen und an’s Herz drücken. Widerwärtige Farben dagegen, besonders das Schwarze, versetzten sie in erhöhte Wuth, und sie suchten mit aller Kraft so gefärbte Kleider und Sachen zu zerreißen und zu zerstören. Ebenso zeigten Alle eine Sehnsucht nach dem Wasser; sie vertieften sich in den Anblick des Meeres, sie stürzten sich in die Wellen, oder aber sie schwenkten beim Tanze Gläser mit Wasser und begossen sich oftmals Kopf und Arme.
So sehr nahm diese Tanzwuth überhand, daß zuletzt die Musikheilungen ein allgemeines sommerliches Volksfest wurden, dessen Erscheinen man mit Ungeduld erwartete. Es durchwanderten ganze Schaaren von Musikanten Italien; sie ließen sich in Dörfern und Städten nieder und unternahmen im Großen die Heilung der Kranken. Und so wurden die Volksfeste beinahe drei Jahrhunderte lang jahraus, jahrein gefeiert. Zuletzt waren es hauptsächlich die Frauen, welche sich der Sache annahmen, wovon das Fest auch den Namen „il carnevaletto delle donne“ erhielt. Sie vernachlässigten ihre Haushaltungen und sparten ihr Taschengeld auf, um es bei diesen Gelegenheiten verbrauchen zu können. So kam es zuletzt, daß alle möglichen nervösen Verstimmungen sich im Tarantismus Luft machten; besonders war es die Hysterie, jene eigenthümliche, bizarre und vielgestaltige Krankheit, welche die Frauen auf die Tanzplätze trieb, wo sie sich, nachdem das einsame [694] Leben, wie es die damaligen italienischen Frauen führten, ihren Trübsinn und ihre Verstimmung auf das Höchste gesteigert, gehörig austoben konnten.
Jetzt änderte sich auch das ursprüngliche Krankheitsbild; mit den wilden Tänzen mischten sich die Aeußerungen einer bis zum Wahnsinn gereizten Sinnlichkeit, welche oft in dem Bedürfniß des Selbstmordes endete, wie es denn nicht selten war, daß diese Unglücklichen sich in die Brunnen stürzten.
An anderen Orten, namentlich in Messapia, erkrankten mehr Männer als Frauen, doch bildete auch hier überreizte Sinnlichkeit ein hervorragendes Symptom der Krankheit.
Die Melodien, welche zu den Tänzen aufgespielt wurden, waren verschiedenartig, da nicht jeder Kranke auf die gleiche Musik reagirte. Im Allgemeinen wirkte die Musik der „Tarantella", eine monotone Melodie, die mit immer rascher werdendem Tempo gespielt wurde; die „Tarantati" machten entsprechend schnellere Bewegungen, bis sie erschöpft niedersanken und sich ein reichlicher, wohlthuender Schweiß einstellte. Zu der Melodie wurden oft noch Lieder gesungen, welche je nach der Eigenthümlichkeit der ersteren bald wilde, ungestüme Dithyramben, bald Liebeslieder oder idyllische Gesänge waren. Als Instrumente wurden vorzüglich die Hirtenflöte und die türkische Trommel angewendet. Ein paar zur Zeit der großen Epidemie in Apulien vielfach gebrauchte Curmelodien mögen hier der Curiosität halber folgen. Wir entnehmen sie aus Athanasius Kircher’s „Mages, s. de Arte magnetica“. Rom, 1654.
Die folgende Tarantella ist diejenige, welche noch gegenwärtig in Spanien am häufigsten zur Heilung angewendet wird:
Mit dem siebenzehnten Jahrhundert ließ der Tarantismus allmählich nach und trat nur noch vereinzelt und in Folge einer persönlichen Verstimmung auf.
Die enge Verknüpfung mit der Tarantel, in welcher diese wunderliche Erscheinung geschichtlich auftritt, sichert der genannten Spinnenart ein besonderes Interesse. Daß die Tarantel nicht unbedingt erforderlich war, um von Tarantismus ergriffen zu werden, ist bereits bemerkt. Nach dem Erlöschen der Epidemie ging der Skepticismus schon des vorigen Jahrhunderts soweit, zu behaupten, daß die Tarantel ein in keiner Weise gefährlicheres Geschöpf sei, als Wanzen und Flöhe, und heute noch wird diese Behauptung, gestützt auf ein paar zu ähnlichem Resultat gelangte Untersuchungen, einfach aus einem Lehrbuch in das andere herübergenommen. (Vergl. auch die Bemerkungen in einem früheren Aufsatze der „Gartenlaube“ über Geistesepidemieen, Jahrg. 1863, S. 473.) Indessen wäre es immerhin schwer verständlich, warum das Mittelalter gerade diesen Spinnen eine solche Gefährlichkeit zugeschrieben, wenn nicht irgend etwas an der Sache wäre. Zudem giebt es wenigstens eine Spinne, die Malmignatte, deren stark giftige Wirkung nicht geleugnet wird.
Versuchen wir es einmal mit einer sorgfältigeren kritischen Zusammenstellung dessen, was aus neuerer Zeit an genauer Beobachtung über die Wirkung des Bisses unserer großen europäischen Giftspinnen, der Taranteln und der Malmignatte, vorliegt, um die rechte Mitte in Entscheidung der Frage zu gewinnen.
Die Taranteln gehören zur Familie der Wolfsspinnen. Sie haben acht Augen von ungleicher Größe, von denen zwei kleinere [695] Paare ganz vorn am Stirnrande in einer Linie stehen, während die zwei anderen größeren Paare sich hinter diesen befinden. Von den vier langen Beinpaaren ist das dritte das kürzeste. Diese Spinnen laufen schnell und überfallen ihre Beute im Schuß. Des Tages halten sie sich in Löchern auf, aus denen sie gewöhnlich nur in der Dämmerung oder des Nachts hervorkommen, um auf Raub auszugehen. Die Weibchen sind größer als die Männchen; sie tragen ihre Eier mit sich herum und vertheidigen diese sowie die ausgeschlüpften Jungen muthig gegen alle Angriffe. Einige Taranteln tragen sogar ihre Jungen auf dem Rücken mit sich.
Der Ursprung des Namens „Tarantel“ ist dunkel. Man verweist auf die „Terrantola“, eine Eidechse, welche von den Römern für giftig gehalten wurde, und meint, dieser Name sei später auf die Spinne übertragen worden. Andere bringen den mittellateinischen Namen „Tarantula“ mit der Stadt Tarent oder dem Flusse Thara in Apulien in Beziehung, wo der Tarantismus besonders heftig und häufig auftrat. Dunkel ist auch das Verhältniß der Bezeichnung für den Tanz Tarantella zu dem Namen des Thieres; schwerlich ist jene durch Ableitung von diesem entstanden.
Die Taranteln sind in südlichen Ländern ziemlich häufig; oft zeigt dieselbe Art hier oder dort eine kleine Abweichung in der Farbe oder der Größe, was allein noch nicht berechtigt, verschiedene Arten zu unterscheiden. Ferner ändert sich die Farbe der Taranteln nach dem Alter und nach dem Wohnort, und daher kam es, daß dieselbe Spinne von verschiedenen Beobachtern abweichend beschrieben und benannt wurde. Alle haben sie große Giftdrüsen und vertical stehende, stark entwickelte Klauen. Wir nennen die schwarzbäuchige und die apulische Tarantel.
Die schwarzbäuchige Tarantel (Lycosa melanogastra oder narbonensis) lebt im Süden Frankreichs, der Türkei und in den pontischen Steppen, wo sie sich in trockenen, steinigen und unbebauten Gegenden aufhält. Sie erreicht eine Länge von zwei Centimeter und darüber. Ihr Rücken hat gelbbraune Färbung; die Zeichnung desselben ist aus untenstehender Illustration ersichtlich. Der Bauch ist ganz schwarz und die Füße sind unregelmäßig schwarz und weiß gefleckt. Während des Winters bleibt die Spinne in ihrer Höhle, deren Oeffnung sie mit Geweben verschließt, wodurch dieselbe für Regen und Schnee undurchgängig wird. Zu dieser Zeit sind die Spinnen scheu und zeigen keine Lust zum Beißen.
Die apulische Tarantel (Tarantula Lycosa) erreicht eine Länge von drei Centimeter. Der ganze Körper ist dicht behaart, der Hinterleib dunkel schwarzblau mit mannigfaltigen regelmäßigen Zeichnungen. Die Füße sind sehr lang, mit zahlreichen weißen und schwarzen Flecken versehen. Sie lebt in Spanien und im südlichen Italien und kommt hauptsächlich in den heißen Sommermonaten zum Vorschein, wo sie dann auf Heuschrecken, Grashüpfer und allerlei andere lebende Insecten Jagd macht. Sie baut sich eine Höhle in die Erde, welche etwa ein Fuß tief ist und im Zickzack erst senkrecht, dann wagerecht, endlich wieder senkrecht verläuft; die Wände derselben sind mit Geweben austapeziert. In diesen Höhlen legen die Thiere ihre Eier nieder, welche sie treulich pflegen und hüten.
Die Malmignatte (Latrodectus malmignatus oder Aranea tredecimguttata) ist in Italien, auf Corsica und auf den Antillen häufig, gehört aber nicht zu den Wolfsspinnen, sondern zur Familie der Webspinnen. Sie erreicht eine Länge von zwei Centimeter. Der Körper ist schwarz, mit dreizehn Punkten gezeichnet, deren Form und Anordnung aus der Abbildung ersichtlich ist. Diese Punkte sind bei jungen Individuen weiß und werden später blutroth. Die acht Augen sind einander in der Größe fast gleich; sie stehen in zwei Reihen hinter einander, so zwar, daß die vordere Linie schwach concav, die hintere schwach convex nach vorn gebogen ist. Die Beine sind ungleich lang, und das dritte Paar ist das kürzeste. [696] Die Spinne baut sich über dem Erdboden ein unregelmäßiges, verworrenes Fangnetz und lauert aus einer kleinen sauberen Zelle in dessen Nachbarschaft auf ihre Beute, welche sie durch ihren giftigen Biß rasch tödtet. Die Giftdrüsen sind stark entwickelt, die Klauen jedoch verhältnißmäßig klein und schwach.
Im Jahre 1830 trat diese Spinne in einigen Gegenden Spaniens in großer Zahl auf und verursachte[WS 1] bei der Bevölkerung durch ihren gefährlichen Biß viel Furcht und Schrecken. 1833 erschien sie wieder, und zwar in einer solchen Menge, daß die Landleute kaum mehr wagten ihre Wohnungen zu verlassen und auf dem Felde zu arbeiten.
Die Malmignatte wird auf Corsica besonders zur Erntezeit den Schnittern gefährlich.
[706]
Sämmtliche Spinnen, nicht blos die im vorgängigen Abschnitt gekennzeichneten, besitzen Giftwaffen, wenn auch die bei weitem größte Zahl von Spinnen für den Menschen durchaus unschädlich ist. Je größer die Spinne ist, um so gefährlicher ist ihr Biß, doch hängt dessen Wirkung auch wesentlich von der Jahreszeit und dem Alter des Thieres ab. In den Herbst- und Wintermonaten ist ein Tarantelbiß eine unbedeutende Verletzung, während er in den heißen Sommermonaten oft von sehr bösen Folgen begleitet ist; ebenso nimmt die Wirksamkeit des Spinnenbisses ab, wenn man das Thier aus seiner südlichen Heimath in nördliche Länder exportirt. Letzterem Grunde allein ist es zuzuschreiben, daß Heinzel („Oesterreichische Zeitschrift für praktische Heilkunde“ 1866) von dem Bisse einer Tarantel, die er sich von Syra nach Wien kommen ließ, nicht mehr Unbequemlichkeit, als nach dem Stiche einer Wespe empfand; hätte er das Experiment mit einem gesunden Thiere in dessen Heimath angestellt, so wäre er auch nicht so leichten Kaufes davongekommen.
Der Giftapparat der Spinnen besteht aus zwei Mandibeln (Fangarmen), an deren Ende sich je eine eingeschlagene Klaue
befindet. Die Giftdrüse ist oft sehr groß und reicht dann bis weit in den Kopf- respective Brusttheil hinein; bei anderen Arten beansprucht sie nur einen kleinen Theil der Mandibel. Die Gefährlichkeit des Bisses steht im geraden Verhältnisse zur Größe der Giftdrüse. Diese stellt einen blind endigenden birnförmigen Sack dar, dessen Wände äußerlich von zahlreichen glatten Muskelfasern umhüllt sind, während im Innern eine große Anzahl sogenannter schlauchförmiger (tubulöser) Drüsen liegt; letztere münden alle in einen gemeinsamen Ausführungsgang, welcher die ganze Länge der Mandibel durchläuft und an der Spitze des Hakens durch einen länglichen Spalt nach außen mündet. Die Klaue selbst ist während der Ruhe umgeschlagen und theilweise in eine Vertiefung der Mandibel versenkt. Bei einigen Spinnen liegt sie wagerecht; bei anderen steht sie senkrecht oder schief geneigt.
Das Gift der Spinnen hat im Gegensatze zum Schlangengifte die Eigenschaft, daß es auch, durch den Magen genommen, wirksam bleibt, eine Thatsache, welche schon dazu führte, das Gift als Arzneimittel ist die Medicin aufzunehmen Das giftige Secret bildet eine ölartige, wasserhelle Flüssigkeit von saurer Reaction und von sehr bitterem Geschmacke; ersteres wird nach Will’s Untersuchungen durch Ameisensäure, letzteres durch die Gegenwart eines thierischen Fettes bedingt.
Das Gift wirkt auf Insecten, unter Umständen selbst auf kleinere Säugethiere und Vögel tödtlich. Der Biß einer Tarantel oder einer Malmignatte vermag zu Zeiten Kaninchen den Tod zu bringen und bei Menschen schwere Erkrankungen zu erzeugen. Auch die Spinnen selbst unterliegen dem Bisse; wenn zwei Thiere mit einander kämpfen, so sterben sie gewöhnlich beide nach wenigen Minuten in Folge der erhaltenen Wunden; sie laufen schwankend und unsicher umher, fallen häufig um und verenden zuletzt unter heftigen Zuckungen.
Der Biß der Spinne erzeugt beim Menschen zunächst eine kleine Quaddel in der Haut, während sich unter Jucken die Umgebung [707] der Wunde röthet; selbst mit dem Biß unserer Kreuzspinne hat es nicht mehr auf sich. Dagegen verursachen die großen Spinnenarten, besonders die außereuropäischen darunter, schwerere Allgemeinsymptome; bald stellen sich Frostschauer ein, leichte Delirien und ein geringes Fieber; in schweren Fallen kommen vereinzelt Convulsionen hinzu, und der Kranke gesundet gewöhnlich, unter reichlichen Schweißen, erst nach einigen Tagen.
Innerlich genommen, erzeugt das Spinnengift ähnliche Symptome, nur in geringerem Grade: sie bestehen in einem unbeschreiblichen Wehe- und Krankheitsgefühl, Herzbeklemmung und erhöhter allgemeiner Reizbarkeit. Zuweilen treten auch hier Convulsionen auf, gewöhnlich aber erfolgt die Heilung sehr rasch, nachdem wiederum ein reichlicher Schweißausbruch den kritischen Zeitpunkt angezeigt. Die Symptome sind nicht dieselben und deuten nicht eine Einwirkung auf eine bestimmte Sphäre an. Sie sollen jedoch periodisch jeden Tag um dieselbe Zeit wieder auftreten und aus diesem Grunde wurden die Spinnen, besonders Tarantel, Kreuzspinne und die nordamerikanische Clubione, entweder gepulvert, oder in Oel oder Spiritus aufgelöst, von französischen und spanischen Homöopathen gegen Wechselfieber empfohlen, auch gegen andere periodisch auftretende Leiden, wie Epilepsie und Hysterie angewendet, deren Symptome der Wirkung des Giftes verwandt sind.
In Nordamerika werden einige Spinnenarten als blasenziehendes Mittel verwerthet, indem man sie zerquetscht und ohne weiteres auflegt. Der Effect ist derselbe wie bei den spanischen Fliegen, nur etwas schwächer. Die Neger auf den Antillen gebrauchen die Thiere als ein Mittel gegen Zahnschmerzen. Die unleugbare Einwirkung des Spinnengiftes auf die geschlechtliche Sphäre muß hier wenigstens erwähnt werden.
Was nun speciell die Wirkungen des Tarantelbisses betrifft, so sind diese jedenfalls übertrieben geschildert worden, namentlich von älteren Beobachtern, welche in Folge der Berichte über die Tarantel-Epidemie an starker Voreingenommenheit litten. Aber auch heute noch werden von spanischen Aerzten Krankengeschichten veröffentlicht, welche an Absurdität Großes leisten. Am vertrauenswerthesten sind verhältnißmäßig die Beobachtungen von Ozanam und Nuñez, welche im Wesentlichen auf Folgendes hinauslaufen: Der Biß der Tarantel erzeugt einen heftigen Schmerz, welcher von Einigen mit dem eines Bienenstiches, von Anderen mit dem des Bisses einer Ameise verglichen wird. Zugleich hat der Verwundete ein Gefühl der Kälte in dem verletzten Theile. Die Wunde umsäumt sich bald mit einem rothen Hofe; sie wird hart, schmerzhaft und etwas erhaben. Bald bemächtigt sich des Kranken ein unbestimmtes Gefühl der Ermattung, des Unbehagens; dazu kommen oft leichte Zuckungen einzelner Muskeln; es erfolgen Klagen über Schwindel; der Puls wird klein, unregelmäßig und sehr schnell. Bald stellt sich eine Apathie gegen die Umgebung ein, eine Theilnahmlosigkeit, welche in schweren Fällen in Schlafsucht übergeht. Dabei ist die Reizbarkeit ungemein erhöht, sodaß die Kranken bei jedem Geräusche erschrecken und zusammenfahren. Die Zunge wird trocken; der Appetit verschwindet, und der Durst wird sehr groß. Bald tritt Aufstoßen und galliges Erbrechen hinzu, oft mit heftigen Leibschmerzen verbunden; bald werden alle Glieder schmerzhaft, Schweiß bricht aus, der zuweilen, indem er die Oberhaut in Bläschen abhebt, einen oberflächlichen Ausschlag erzeugt. Melancholie, mitunter an Tobsucht wurden beobachtet.
Die Intensität dieser Symptome soll durch gewisse Farben gesteigert oder gemildert werden; musikalische Dissonanzen sollen die Kranken gereizt und wild machen. Mit dem Eintritt der kälteren Jahreszeit lassen die Erscheinungen allmählich nach, ebenso durch Bewegungen, welche starken Schweiß erzeugen, „sowie auch durch den Klang der Tarantella“. Zuweilen sollen täglich um die gleiche Stunde die Symptome an Heftigkeit zunehmen, und gewöhnlich soll die Krankheit jährlich am Tage des Bisses wieder auftreten. Sobald die Tarantella ertönt, richten die Kranken sich auf, bewegen ihre Glieder erst langsam, dann geschwinder; zuletzt springen sie, indem sie ihre Schwäche und ihren trostlosen Zustand überwinden (oder vielleicht auch vergessen), vom Lager auf und tanzen einen wilden Tanz, bis sie ermattet niedersinken. Dann sind sie geheilt, wenigstens für ein Jahr; bricht im nächsten Jahre um dieselbe Zeit die Krankheit wieder aus, was aber nicht nothwendig geschieht, so kann auch dann nur die Tarantella retten.
Es liegt kein Grund vor, sich gegen die Schilderung der Krankheitssymptome in diesen Berichten ablehnend zu verhalten. Man muß allerdings dabei als einen wesentlich steigernden Factor der Wirkung die Todesfurcht des spanischen Volksaberglaubens mit hinzunehmen, welcher recht wie absichtlich dazu beiträgt, die Wirkung zur möglichsten Höhe zu steigern, unter Anderem auch, indem er jedes Hülfsmittel mit Ausnahme des Tanzens verschmäht. Um wieviel anders die Berichte lauten würden, wären sie im Süden von Osteuropa geschrieben, wird demjenigen sofort klar, welcher weiß, daß die südlichen Völker im Osten Europas sich von dem Biß der Tarantel durch Auflegen von Oel oder von Branntwein auf die Wunde curiren; sie sterben davon nicht und fühlen niemals das Bedürfniß, zu tanzen. Sie kennen eben dieses Mittel nicht, oder glauben vielleicht auch nicht daran. Es ist hier die Stelle, um auch an den Bericht des Dr. R. Brehm über seine Erfahrungen bezüglich des Tarantelbisses zu erinnern, welchen die „Gartenlaube“ früher einmal (Jahrgang 1863, Seite 95) veröffentlicht hat. In Spanien selber, in der Provinz Murcia, hat Brehm von der Tarantel Gebissenen Querschnitte über die Geschwulst gemacht und diese mit Ammoniak eingerieben, worauf die Wirkung des Bisses bald verschwand, und er hatte die Genugthuung, die alte Heilmethode bei einem Theile der Bevölkerung – nicht den Gebildeten und den Aerzten! – in Mißcredit zu bringen. Es ergiebt sich hieraus zum wenigsten, daß an und für sich von einer Nothwendigkeit des Tanzens oder auch nur starker Bewegungen beim Hören einer bestimmten Musik weder in Folge des Tarantelbisses, noch zum Zweck seiner Heilung die Rede sein kann. Damit ist nun freilich nur die Nothwendigkeit, nicht die Möglichkeit von beidem geleugnet. Es ist vielmehr nicht zu bezweifeln, daß bei abnormen Nervenzuständen ebensowohl jenes wunderliche Verhalten gegen Farben, wie eine krankhafte Empfänglichkeit für Musik namentlich bei südlichen, der Musik und dem Tanz leidenschaftlich ergebenen Völkern, auftreten können. Dergleichen plötzlich auftauchende und wieder verschwindende Idiosynkrasien zeigt beispielsweise der Verlauf des weiblichen Lebens, wie denn schon früher der Hysterie als einer symptomverwandten Erscheinung gedacht worden ist. Daß in der That die Nervendisposition der Tarantismus-Periode des Mittelalters eine heruntergekommene war, ist am Anfang unseres Artikels bemerkt worden. Auch die periodische Wiederkehr der Krankheitserscheinungen ist nichts Unmögliches, namentlich unter dem Einfluß der Angst vor einer solchen. Es giebt ja eine ganze Anzahl periodisch repetirender Leiden. Endlich ist wohl als feststehend zu betrachten, daß factisch ein Zusammenhang zwischen Musik und Tanzen einerseits und der Heilung andrerseits bestanden hat und besteht. Wie aber diese Wirkung zu denken ist – das ist noch eine dunkle Sache. Moderne Schriftsteller wollten dieselbe einzig der Musik zuschreiben und letztere gleichsam als ein homöopathisches Heilmittel in die Wissenschaft einzuführen versuchen. Die Musik soll ihrer Anschauung nach das Gift neutralisiren und zersetzen, wie aber dieser Proceß vor sich gehen soll – eine Antwort darauf bleiben uns jene Beobachter schuldig.[1]
Die Heilerfolge der Musik bei der Cholera (Veitstanz), welche einige Autoren als etwas der Wirkung der Tarantella Verwandtes anführen, gehören gar nicht hierher. Bei der Cholera werden die beabsichtigten Bewegungen übertrieben oder verkehrt ausgeführt, der Wille beherrscht die Bewegungen nicht mehr vollständig, und diese fallen deshalb gegen den Willen der Kranken und falsch aus. Die Patienten wurden nun angehalten, nach dem Tacte der Musik zu marschiren und ihre Glieder in regelmäßigem Tempo zu bewegen; dadurch verlor sich nach und nach die übertriebene Wirkung des Willens, und die Bewegungen schnappten nicht mehr auf eine nicht beabsichtigte Sphäre über.
Allem Vermuthen nach war es die gesteigerte psychische und [708] körperliche Erregung, welche, indem sie den kritischen Schweiß erzeugte, die Tarantati genesen ließ; gestattete man ihnen dieses Mittel nicht, welches ihrer festen Ueberzeugung nach allein im Stande war, sie vor dem Tode zu bewahren, so verfielen sie bald, im Bewußtsein, ein tödtliches Gift in sich zu bergen, in Trübsinn und Melancholie und glaubten zuletzt als Hypochonder alle möglichen Leiden an sich wahrzunehmen.
Was hier der Tanz thut, würde vermuthlich jedes schweißtreibende Mittel auch leisten, aber von einer speciellen neutralisirenden Wirkung der Musik auf das Tarantelgift zu reden, ist eine Absurdität, welche ihren höchsten Grad erreicht, wenn man noch dazu behauptete, daß auch Schwerhörige und Taube durch Musik geheilt wurden.
Die Wirkungen des Malmignattebisses hat Cauro auf Corsica näher beobachtet und gefunden, daß die Symptome wesentlich dieselben sind, wie nach dem Bisse der Tarantel. Der Biß sieht einem Flohstich sehr ähnlich und erzeugt schnell heftige, nach allen Seiten ausstrahlende Schmerzen; es bemächtigt sich des Kranken eine große Reizbarkeit und Unruhe, eine gewaltige Ermattung aller Glieder. Ein reichlicher Schweiß geht stets der Genesung voran. Der Tod kann zuweilen erfolgen, doch ist die Heilung der gewöhnlichste Ausgang, selbst wenn auch heftigere Erscheinungen, wie Delirien und hohes Fieber, eintreten. Die Dauer der Krankheit soll jedoch gewöhnlich vierzehn Tage betragen.
Toti stellte einige Versuche an, indem er eine Hündin und mehrere kleine Vögel von der Malmignatte beißen ließ. Die Hündin kam nach einem nicht näher beschriebenen Unwohlsein mit dem Leben davon, während die Vögel alle nach wenigen Stunden starben. Toti ließ einige Vögel die Spinnen verschlucken, und auch diese starben bald nach der Mahlzeit.
Die Mittel, mit deren Hülfe die corsicanischen Aerzte die Krankheit heilen, bestehen hauptsächlich in Kampher, Wein und großen Dosen Opium. Dr. Froment wendete in Südfrankeich die Musik auch nach dem Bisse der Malmignatte als Heilmittel an – und hatte einen Erfolg, dessen Erklärung aus dem bisher Gesagten gefunden werden mag.
- ↑ Man hat in neuester Zeit die Beobachtung gemacht, daß gewisse musikalische Klänge im Stande sind, chemische Zersetzungen zu bewirken. So explodirt z. B. Jodstickstoff, wenn man auf einer Baßgeige einen Ton anstreicht, dessen Schwingungszahl sechszig in der Secunde erreicht, aber nicht übersteigt. In diesem Falle werden offenbar die intramolecularen Schwingungen der chemischen Verbindung durch die Schallschwingungen vergrößert, sodaß sich dadurch die einzelnen Molecüle trennen und der Körper sich unter Explosion zersetzt. Eine analoge Wirkung der Musik auf das Tarantelgift ist nicht anzunehmen, um so weniger, als hier nicht ein gewisser physikalischer Ton von bestimmter Schwingungszahl einwirkt, sondern eine Melodie, also eine beliebige Gruppe auf einander folgender Töne, gleichviel ob höher ob tiefer gesetzt.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: verursuchte