Geistesepidemien
In den Werken unserer Dichter begegnet uns öfters eine alte
Legende, in der wird uns von einem wunderbaren Spielmann berichtet,
der durch das Land gezogen sei und mit geheimnisvollen
Melodien die Herzen und Sinne der Menschen gefesselt habe. Und
so unwiderstehlich sei die Macht seiner Töne gewesen, daß die Hörer,
alles Andere vergessend, ihnen hätten folgen müssen, erst Einige,
dann mehr und immer mehr, bis sie endlich schaarenweise dahingetrieben
worden seien. Wenn je eine Sage aus dem Leben herausgeschöpft
wurde, so ist es diese, ein Spiegelbild wirklicher Begebenheiten, die
im Strome der Zeiten immer von Neuem auftauchen und wieder
verschwinden und die man deshalb füglich unter dem Namen
„Geistesepidemien“ zusammenfassen kann, weil sie, so verschiedenartig
sie ihrem Umfange und der Art und Weise ihrer Erscheinung
nach auch sein mögen, denselben Gesetzen unseres geistigen Lebens
ihren Ursprung verdanken und nach Art ansteckender Krankheiten
von Kopf zu Kopf sich weiter verbreiten. Während solche Bewegungen
im Volke bisweilen Dimensionen annahmen, welche sie zu
weltgeschichtlichen Ereignissen erhoben, trat andere Male in der
krampfhaften Form der Bewegung das Gesundheitswidrige so deutlich
hervor, daß sie von den Schriftstellern geradezu als Volkskrankheiten
aufgefaßt wurden. Geschichtsschreiber und Aerzte haben
diesen großen Epidemien ihre Aufmerksamkeit zugewendet, und wir
besitzen eine reichhaltige Literatur, in welcher wir sie nach ihren
äußeren Umrissen beschrieben finden. Ueber den innern Grund der
[351] Erscheinung hat man sich bisher wenig gekümmert. Man hat übersehen, daß jene großen Seuchen des Mittelalters, deren ich später zu erwähnen habe, nur die natürlichen Folgen von Vorgängen sind, die sich fast tagtäglich vor unsern Augen wiederholen; man hat, wo man um eine Erklärung in Verlegenheit war, statt auf die innere Natur des Menschen zurückzugehen, es vorgezogen, den Zeitgeist zum Urheber der Erscheinungen zu erheben. Indem ich einen andern Weg einzuschlagen versuche, erinnere ich an das bekannte Goethe’sche Wort:
„Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigener Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.“
Dieses Wort des Dichters steht mir zur Seite, wenn ich bei der Betrachtung der Geistesepidemien von den einfachsten Gesetzen unseres Seelenlebens ausgehe und an dem Grundsatze festhalte, daß nur durch richtige Würdigung unserer geistigen Anlage eine Einsicht in jene sonst räthselhaften Phänomene gewonnen werden kann. Die Neugier, mit welcher man bisher den Geistesepidemien gefolgt ist, erlangt damit eine ernstere, wissenschaftliche Basis, und hierin glaube ich vom Standpunkt des Naturforschers eine genügende Entschuldigung zu finden, wenn ich für wenige Augenblicke Ihre Aufmerkfamkeit für einige Grundlehren des Seelenlebens in Anspruch nehme. Das erste Glied unserer Geistesthätigkeit ist bekanntlich die Sinnesempfindung, oder schlechtweg die Empfindung. Wir verstehen darunter das Bewußtwerden eines äußern Reizes, der, mit Hülfe der Sinnesorgane, durch die Sinnesnerven zum Gehirn geleitet wird. So erhalten wir durch die Sehnerven Lichtempfindungen, durch die Hörnerven Schallempfindung u. s. w. Alle fünf Sinne sind in fortwährender Thätigkeit, um dem Gehirn neue Reize, neue Bilder zuzuführen, eine Empfindung drängt die andere, und unser Gehirn würde förmlich mit Empfindungen überladen werden, wenn nicht ein Ausweg für diese fortwährende Zufuhr vorhanden wäre, und diese Ausgabe, diese Entladung unsers Gehirns besteht in der Bewegung. Bewegung, als einen Theil unsers Seelenlebens, nennen wir einen vom Gehirn ausgehenden Reiz, der sich einem sogenanten Bewegungsnerven mittheilt und durch diesen irgend eine Muskelpartie unseres Körpers in Thätigkeit setzt. Wir können uns also das Gehirn vorstellen als eine elektrische Batterie, die geladen wird mit Empfindungen und sich entladet in Bewegungen. Betrachten Sie nur das Kind in seinen ersten Lebensmonaten. An seinen Bewegungen, und zwar an ganz bestimmten Bewegungen, bemerkt man, daß die Sinne anfangen, Eindrücke aufzunehmen. Sehen und danach greifen, Musik hören und taktförmig die Beine in Bewegung setzen. Geruch empfinden und niesen, das sind Vorgänge, die wir beim Kinde überall als zusammengehörige auftreten sehen.
Beim Erwachsenen freilich gestaltet sich die Sache anders. Zwischen Empfindung und Bewegung schiebt sich allmählich ein anderes selbstständiges Gebiet, auf welchem die eigentliche Seelenthätigkeit zur Erscheinung kommt, das Gebiet der Vorstellungen. Die Empfindungen dürfen nun nicht mehr so ohne weiteres passiren, sie werden mit anderen bereits früher dagewesenen verglichen und müssen sich über ihren Werth und über ihre Berechtigung ausweisen. Wir lassen sie nicht mehr ohne weiteres in irgend eine Bewegung ausschlagen, wir werden zurückhaltend, oder zugeknöpft, wie es die Diplomaten zu nennen pflegen. Wie oft hemmen wir unsere Schritte, besinnen uns eines Besseren und kehren auf halbem Wege wieder um, wie manche Ohrfeige, die schon als natürlicher Ausdruck einer frischen Empfindung in vollem Gange war, bleibt uns im Gehirn stecken, oder wir lassen es höchstens bis zu einem Jucken in den Fingerspitzen kommen, und wie manches Wort, zu dem wir schon die Stimmbänder gespannt hatten, wird im Kehlkopfe zurückgehalten! Diesen Zustand, in welchem wir also jede neue uns durch einen der fünf Sinne zugeführte Empfindnug gehörig abzuwägen und den dadurch hervorgerufenen neuen Gehirnreiz richtig zu verwenden im Stande sind, nennen wir den Zustand der Besonnenheit. Die Besonnenheit kann aber durch verschiedene Umstände aufgehoben werden, und dann tritt jener ursprüngliche innere Zusammenhang zwischen Empfindung und Bewegung wieder in sein volles Recht ein. Ist ein Sinneseindruck außerordentlich stark, so können wir, selbst im Zustande vollständiger Besonnenheit, den sofortigen Uebergang in Bewegung nicht verhindern. Wird unser Ohr z. B. plötzlich von dem Schall eines Kanonenschlages getroffen, so erfährt der ganze Körper eine erschütternde Bewegung, wir fahren zusammen. Jede Empfindung, die das Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen in starkem Maße hervorruft, treibt uns zugleich an, uns derselben in irgend einer Weise zu entäußern, wie es die Sprache ganz richtig in den Ausdrücken: sich ausweinen, sich ausschütten vor Lachen, bezeichnet, und bei allen stärkeren Erregungen unseres Gemüths werden wir die äußere Form selten vermissen, in welcher diese oder jene Empfindung sich ausspricht. Es ist keineswegs Zufall, wenn der Betende die Hände faltet, wenn der Reuige in die Kniee sinkt, wenn der Zornige die Fäuste ballt; hier kommen keine Verwechselungen vor, sondern mit innerer Nothwendigkeit geschieht hier das Eine, dort das Andere.
So kommt es denn auch, daß wir häufig das Eine für das Andere setzen, und wenn wir von Jemand sagen, er lasse den Kopf hängen, oder er trage die Nase hoch, er krieche oder er mache einen krummen Buckel, so wollen wir damit das gewöhnliche Maß seiner Empfindungen bezeichnen, das sich eben in einzelnen Bewegungen vorwiegend zu erkennen giebt. Gleichartigkeit des Eindrucks und Ausdrucks, der Empfindung und der Bewegung, das ist also das erste Naturgesetz, dem wir bei Betrachtung der geistigen Vorgänge begegnen. – Aber der Zusammenhang zwischen beiden Processen ist ein so inniger, ist ein so tiefliegender und unveränderlicher, daß er auch in umgekehrter Reihe sich geltend macht, und mit diesem zweiten Gesetz befinden wir uns auf dem Boden der Geistesepidemien.
Eine Bewegung, die wir sinnlich wahrnehmen, erregt in uns dieselbe oder eine ähnliche Empfindung als diejenige war, welche jener Bewegung vorausgegangen war, die sie hervorgerufen hatte. Wir sehen Jemand weinen und werden traurig gestimmt, wir hören lachen und wir werden zur Heiterkeit aufgelegt. Ist der Eindruck stark genug oder sind wir überhaupt dazu geneigt, so kommt es bei uns ebenfalls zum Weinen oder Lachen, und auf diese Weise sehen wir z. B. in den Schauspielhäusern Wein- oder Lach-Epidemien von mehr oder minder großem Umfange sich ausbreiten. Alle Bemerkungen, die Sie hier und da über Sympathien, über das Mitleid, über den Nachahmungstrieb finden mögen, sie fallen alle in die Breite dieses einfachen Gesetzes. Von diesem Gesetz lebt die Mode, jene merkwürdige, epidemische Verbreitung der Trachten, die von Auge zu Auge wandernd zur Nachbildung der wahrgenommenen Form auffordert. Nicht das Nützliche entscheidet hier, nicht das Zweckmäßige, sondern jede einmal den Sinnen zugängliche Erscheinung pflanzt sich bis in das Unendliche fort. Nichts ist wahrer, als das Sprichwort, daß man unter Wölfen heulen müsse, und daß böses Beispiel gute Sitten verderbe.
Es ist bekannt, daß öffentliche Hinrichtungen die Verbrechen vermehren, denn der sinnliche Eindruck und der unwillkürliche Antheil an dem Verbrecher und seiner schwarzen That führt in denselben Ideengang hinein und fordert zur Nachahmung auf. Nichts reizt mehr, auf die Mensur zu treten, als wenn man öfter Zuschauer bei Duellen gewesen ist, und wer sich in die Schriften über den Selbstmord vertieft, dem kann es passiren, daß ihm zu seinem eigenen Befremden der Gedanke an den Selbstmord nahe tritt und daß ihm etwas von jener unheimlichen Lust überkommt, die Süßigkeit des Selbstmordes zu kosten, von der, wie Plutarch erzählt, die Jungfrauen von Milet einst ergriffen wurden. Diese erfaßte ein so heißes Sehnen nach dem Tode, daß sie sich aller Bitten, aller Thränen der Ihrigen unerachtet schaarenweise erhängten. Und nicht eher habe man dieses schrecklichen Triebes Herr werden können, als bis man ein anderes und mächtigeres Gefühl, das der Scham und Schande, dadurch hervorgerufen habe, daß man die nackten Körper der Selbstmörderinnen mit einem Stricke um den Hals auf öffentlichem Markte zur Schau stellte. Auch in der Form des Selbstmordes entscheidet die Mode. War es doch eine Zeit lang in Paris gebräuchlich, daß alle Selbstmörder von den Thürmen und öffentlichen Säulen heruntersprangen, und im Invaliden-Hotel hingen sich, nachdem erst das erste Opfer gefallen war, dreizehn hintereinander an derselben Säule auf, bis diese endlich entfernt und damit der Sache ein Ende gemacht wurde. In der That, wir haben Duell- und Selbstmord-Epidemien gehabt, gegen die die härtesten Gesetze ohne Erfolg waren.
Aber lassen Sie mich an weniger tragische Erfahrungen erinnern, lassen Sie mich das Gesetz der Fortpflanzung von Bewegung zur Empfindung und so weiter an einem Vorfall erläutern, der alltäglich und Jedem von uns geläufig ist. Sie kennen Alle das Gefühl der Müdigkeit; es entsteht dadurch, daß uns vermittelst [352] der Gefühlsnerven von diesem oder jenem Theil unseres Körpers her ein Verbrauch von Kraft zum Bewußtsein kommt. Hat diese Empfindung eine gewisse Stärke erreicht, so spricht sie sich in einer Bewegung aus, welche darin besteht, daß wir den Mund weit öffnen und tief ein- und wieder ausathmen, kurz in einer Bewegung, die man mit einem Wort „Gähnen“ nennt. Diese Bewegung nun ist im Stande, dem, der sie mit ansieht, ebenfalls die Empfindung der Müdigkeit zu erwecken und zwar bis zu dem Grade, daß er selbst gähnen muß, und so kann in jeder Versammlung durch einen einzigen leichtsinnigen oder böswilligen Gähner eine Gähn-Epidemie hervorgerufen werden, die Solchen, die mit den Gesetzen unseres geistigen Lebens unbekannt sind, zu ganz falschen Vorausstzungen Veranlassung geben kann.
Es giebt aber Bewegungsformen, die weniger unschuldig sind, als die eben erwähnte, und dieselbe Neigung zu epidemischer Fortpflanzung in sich tragen, ich meine die Krämpfe, die Convulsionen. Unter unzähligen Beispielen der Art erwähne ich nur eines, das mich von jeher, schon der handelnden Persönlichkeit wegen, in hohem Grade interessirte, und das mir für meine heutige Aufgabe von ausgezeichneter Beweiskraft zu sein scheint. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts ereignete es sich, daß im Armenhause zu Harlem ein Mädchen in Folge eines starken Sinneseindrucks erschrak und in Krämpfe verfiel. Ein anderes Mädchen, welches Zuschauer der Scene war, stürzt bald darauf ebenfalls, von Convulsionen ergriffen, zu Boden, es folgt ein drittes, ein viertes, auch die Knaben werden mitergriffen, endlich ist das ganze Armenhaus ein Schauplatz des Schreckens und der Verwirrung. Aber nicht genug damit, die Scenen wieherholen sich beinahe tagtäglich und spotten der ärztlichen Kunst, die von allen Seiten entboten wird. Damals lebte in Leyden ein Arzt, dessen Ruf die Grenzen Europa’s bereits überschritten hatte. Der Stolz seiner Mitbürger, wurde er häufig mit fürstlichen Ehren gefeiert, und als er einst, so erzählt uns sein Biograph, nach längerer Krankheit zum ersten Male wieder sein Haus verließ, um seinem Berufe zu folgen, da habe ganz Leyden im Glanze unzähliger Lichter gestrahlt. Dieser Mann, Hermann Boerhave ist sein Name, hörte von den Vorfällen in Harlem und folgte willig dem Rufe nach Hülfe. Es traf sich nun, daß, gerade als er in das Haus trat, ein Mädchen in Convulsionen zusammenstürzte, dem bald ein zweites folgte. Boerhave beobachtete genau, dann plötzlich ließ er sämmtliche Inwohner des Hauses um sich versammeln und befahl, ein Becken mit glühenden Kohlen mitten in den Saal zu stellen und die Gluth gehörig zu schüren. Nun legte er Glüheisen in die Kohlen und hieß sämmtliche Anwesende den rechten Arm entblößen, denn die Krankheit erfordere, daß derjenige sofort bis auf den Knochen gebrannt werde, der nun zunächst befallen würde. War es nun der außerordentliche Ruf des Mannes, war es der feierliche und bestimmte Ton seines Auftretens, oder war es vielmehr die Furcht vor der schmerzlichen Operation – kurz, Niemand wurde mehr von Krämpfen befallen, und die ganze Epidemie hatte ein für allemal ihr Ende erreicht. Darin bestand aber in diesem Falle der Scharfsinn dieses Mannes, daß er die Krankheit als den Ausdruck verloren gegangener Versonnenheit erkannte und durch einen neuen mächtigeren Eindruck den Kreislauf zwischen Bewegung und Empfindung zu sprengen suchte.
Solchen ungeregelten Bewegungen liegt immer eine krankhafte Anlage im Nervensystem zu Grunde, und wir sehen sie deshalb öfters bei schlecht genährten Kindern, in Waisen- und Armenhäusern zum Ausbruch kommen. Aus denselben Ursachen sind auf große verheerende und erschöpfende Volksseuchen ähnliche Geistesepidemien von kolossalem Umfange beobachtet worden. Es war um die Mitte des 14. Jahrhunderts, als Europa von einer der fürchterlichsten Seuchen heimgesucht wurde, die die Welt jemals gesehen hat. Aus China kommend durchzog sie Asien, die Krim, Italien, Frankreich und England und erreichte im Jahre 1349 Deutschland, wo allein 2000 Dörfer vollständig ausstarben. Die Opfer des schwarzen Todes, so nannte man diese Krankheit, zählte man nur nach Millionen; ihre Wirkung auf das sociale Leben finden Sie in dem Decamerone des Boccaccio, mit der plastischen Wahrheit, die diesem Dichter eigen ist, beschrieben. Die rohesten Auswüchse mittelalterlichen Aberglaubens traten zu Tage, und es schien, als ob der Böse selbst in die Massen gefahren sei, die in tollem Wirbel sich aufrieben. Damals zeigte sich jene merkwürdige Erscheinung, die von den Schriftstellern als die Tanzwuth oder Tanzplage beschrieben worden ist. Zu Aachen, das ganze Rheinthal auf und abwärts und in den Niederlanden erschienen Schaaren von Männern und Frauen, welche in bacchantischer Ausgelassenheit und unter den Sprüngen und Verrenkungen sich drehten. Hand an Hand schlossen sie Kreise und tanzten, ohne Scheu vor den Umstehenden. in wilder Raserei, bis sie wuthschäumend zur Erde stürzten. Immer mehr wuchs die Zahl der Neugierigen, die sich an dem wundersamen Schauspiel weideten, immer mehr aber auch die Zahl der Ergriffenen. Der Anblick der rothen Farbe, die Töne der Musik und manche andere Sinneseindrücke beförderten sichtlich den Ausbruch der dämonischen Bewegungen, welche allen Heilmitteln der Aerzte, allen Beschwörungsformeln der Priester zu trotzen schienen. Man nannte sie St. Johannistänzer, wie Einige meinen, weil bei der Feier des St. Johannisfestes das Uebel seinen Ausgang genommen, wie Andere behaupten, weil man die Befallenen dem Schutze des heiligen Johannes empfohlen hielt. Als später im Jahre 1418 in Straßburg die Tanzwuth losbrach, benutzte man die Capelle des heiligen Veit zu Beschwörungen, und von da an hießen die Ergriffenen St. Veitstänzer. Die Form der Aufzuge, wie sie die Schriftsteller der damaligen Zeit beschreiben, blieb immer dieselbe: Voran einige Sackpfeifer, dann eine Heerde Neugieriger, dann die Befallenen in ihren wunderbaren Sprüngen und Tänzen, endlich die jammernden Angehörigen, die vergebliche Anstrengungen machten, die unglücklichen Opfer zurückzugewinnen. Bisweilen versuchte man durch Schläge und Stöße die Besonnenheit bei den Tänzern zurückzurufen, und her einigen schien dies in der That zum Ziele zu führen. Bei manchen dagegen steigerte sich die Ausgelassenheit bis zum vollständigen Verlust des Bewußtseins; schäumend und brüllend tanzten sie, bis sie todt niederfielen, oder sie stürzten sich blindlings in das Wasser oder zerschmetterten den Kopf an den Wänden. So währte der Spuk in mannigfachen Variationen bis zu Anfang des 15. Jahrhunderts, wo er sich ganz allmählich verlor.
Vergebens suchen wir nach einer geistigen Triebfeder dieses wüsten und haltlosen Treibens. Es scheint vielmehr nur, als ob die durch den vorangegangenen Jammer eingetretene Erschöpfung des Nervensystems in dieser Weise die thierische Natur des Menschen herausgekehrt habe. Vor solcher trostlosen Misere hat die Vorsehung die spätern Jahrhunderte gnädig bewahrt, aber in anderer Form tritt uns der Verlust der Besonnenheit, als ein ansteckendes Massenübel, noch oft genug entgegen. – Sobald nämlich eine einzelne dunkle Vorstellung sich in den Vordergrund unseres Bewußtseins drängt, so hört das Abwägen, das Ueberlegen des Fürundwider im Bereiche unserer Vorstellungen mehr oder weniger auf, alle Empfindungen nehmen denselben Weg, und es entsteht ein unbestimmtes Streben, das sich in ebenso unbestimmten Bewegungen ausspricht und fortpflanzt. Solchen Epidemien begegnen wir auf allen Gebieten unserer Geistesthätigkeit, und es kann deshalb, wenn wir die ursprünglich treibende Idee berücksichtigen, von religiösen, von politischen und von wissenschaftlichen Geistesepidemien die Rede sein.
Gehen wir zurück bis auf die Zeit der Kreuzzüge, so begegnen wir da einem leitenden Gedanken, einem Gedanken, der Jahrhunderte lang ausschließlich die Gemüther beherrschte. Hervorgegangen aus dem tief religiösen Gefühle, die heiligen Stätten zu säubern und die frommen Pilger, die sie besuchten, vor dem Druck der Türken sicher zu stellen, stieß dennoch die Idee des Kampfes gegen die Saracenen und der Befreiung des heiligen Landes, in richtiger Erkenntniß der großen Schwierigkeiten, die sich solchem Unternehmen entgegenstellen mußten, aus zahllose Widersacher, ja es war gerade in Deutschland, wo die ersten Kreuzfahrer geradezu als Verrückte verschrieen wurden. Als es aber dazu kam, daß die Enthusiasten sich das Kreuz auf die Schulter hefteten, da schien plötzlich ein anderer Geist in die Menge zu fahren. Wie wir es heutzutage noch bisweilen erleben, daß ein Band im Knopfloch einen umstimmenden Einfluß auf die Ansichten eines Menschen ausübt, so geschah es damals im Großen. Es entstand ein hastiges Drängen, sich dem Zuge der Kreuzfahrer anzuschließen, nachdem erst in dem sichtlichen Symbol des Kreuzes ein gemeinsamer Sinneseindruck gewonnen war, der beständig an die treibende Idee erinnerte. Wenn wir bei den ersten Kreuzfahrern noch eine gewisse Einsicht in die unvermeidlichen Gefahren, in die Schwierigkeiten des vorgestecken Zieles vorfinden: später verlor sich die gesunde Ueberlegung mehr und mehr und ging in eine regellose epidemische Bewegung über.
[378]Im Jahr 1212, zu einer Zeit, wo das heilige Grab bereits wieder in den Händen der Saracenen war, fing in Frankreich, in Cloies, in der Nähe von Vendôme, ein gewisser Etienne, ein Hirtenknabe, das Kreuz zu predigen an. Seinen begeisterten Worten lauschte Jung und Alt, aber in den Kinderherzen schlug vor Allem die Flamme schwärmerischer Begeisterung zu einer stürmischen Lohe empor. Tausende strömten zusammen und ließen sich von den Reden des jungen Propheten fortreißen. Eine fieberhafte Sehnsucht nach dem heiligen Lande erfüllte bald die jugendlichen Seelen. Nach dem Meere! nach Jerusalem! das waren die Losungsworte, die von Munde zu Munde gingen. Vergebens versuchte der König Philipp August durch Gewaltmaßregeln den Strom der Begeisterung zu sperren. Schon fingen die Eltern an mitergriffen zu werden und rüsteten selbst die Kinder zum heiligen Kampf. Andere waren vernünftiger, sperrten ihre Kinder ein und hofften, daß die Schwärmerei erlöschen werde. Vergeblich, so leicht konnte der stürmische Drang nicht gehemmt werden. Die Kinder weinten und stöhnten Tag und Nacht, härmten sich ab, verschmähten Speise und Trank und verfielen in Zuckungen. Das Mitleid mit dem zarten Alter der Kreuzfahrer gewährte ihnen Pflege und Schutz, als sie die heißen Ebenen der Provence durchzogen. Oft freilich wurde die Gastfreundschaft durch den Verlust der eigenen Kinder gelohnt, welche von dem wunderbaren Triebe mitergriffen wurden. So kommen sie nach Marseille und wurden dort liebevoll aufgenommen. Zwei dortige Kaufleute, die Geschichte hat uns ihre Namen bewahrt, Hugo Ferreus und Guilelmus Porcus, thaten sich in scheinbarer Begeisterung für die heilige Sache hervor, ja sie versprachen sogar, auf sieben großen Schiffen um Gotteslohn die Knabenschaar bis an die Küste des heiligen Landes zu führen. Man traut ihren gleißnerischen Worten und sticht in See. Zwei von den Schiffen scheitern, ohne daß auch nur Einer der darauf Befindlichen mit dem Leben davon gekommen wäre. Den Uebrigen aber war ein noch traurigeres Loos vorbehalten: sie wurden die Opfer des tückischen Verrathes, den die eigennützigen Unternehmer von Anfang an beabsichtigt hatten. Die fünf Schiffe nehmen ihren Lauf nach der ägyptischen Küste. Hier wird gelandet und sämmtliche Kinder als Sclaven an die Saracenen verkauft. So nahm die französische Kinderfahrt ein jämmerliches Ende. – Etwas besser, aber immer noch schlimm genug, lauten die Nachrichten über zwei Kinderheere, welche ohne die geringste Ahnung des französischen Kreuzzuges von Deutschland aus die Alpen überschritten und so Italien und das Mittelmeer zu gewinnen suchten. Das eine ging unter der Führung eines gewissen Nicolaus den Rhein hinauf über den Mont Cenis und erreichte im August, noch 7000 Köpfe stark, Genua. Auf diesem beschwerlichen Wege über damals noch ganz unwirthbare Alpenpässe läßt sich annehmen, daß ein großer Theil schon unterwegs ein Opfer der Strapazen geworden oder zurückgeblieben sei. Die Genueser aber waren von diesem Zuzuge keineswegs erbaut, ja sie schlossen ihm geradezu die Thore. Erst nach mühsamer Capitulation erlangte man Einlaß. Aber die besonnene Kritik, die man hier an das hirnlose Unternehmen legte, wirkte abkühlend auf die jugendlichen Schwärmer. Sie zerstreuten sich, bettelten sich unter dem Hohngelächter der Leute nach Hause zurück oder traten in Dienste, um ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. – Von dem zweiten Zuge deutscher Kinder wissen wir nur sehr wenig. Er nahm seinen Weg über die Gotthardstraße nach der Lombardei und soll sehr bald an der Schlechtigkeit der Wege, an der Rauhheit des Klima’s und an der Härte und dem Eigennutz der Leute gescheitert sein. Viele der Kinder scheinen diesen Anstrengungen unterlegen, andere ebenfalls Sklavenhändlern in die Hände gefallen zu sein. Man schätzt die Zahl der Kinder, die bei diesen Kreuzfahrtspielen zu Grunde gingen, gegen 60,000, wahrlich eine ernste Mahnung, wie sorgfältig der Geist der Kinder vor Allem zu bewahren ist, was die Phantasie erhitzt, und daß man ja bei Zeiten einschreiten müsse, wo excentrische Stimmungen und eine einseitige Richtung der Gedanken zu ungeregelten Bewegungen fortreißen. Glauben Sie nicht, daß diese Warnung in unserm scheinbar so vorgeschrittenen, scheinbar so aufgeklärten Zeitalter eine überflüssige wäre. Nichts ist thörichter, als solchen Erfahrungen gegenüber sich durch die Fortschritte unseres Jahrhunderts sicher zu fühlen; denn nach der Organisation unseres Nervensystems können sie sich täglich wiederholen, und man muß sie kennen, um sich davor zu schützen. Lassen Sie mich zum Beweise dessen hier gleich an ein Beispiel erinnern, welches der allerneuesten Zeit angehört und welches, wenn auch nur von geringem Umfange, die aus einer intensiv-religiösen Stimmung sich entwickelnden Bewegungen und ihre Uebertragung klar genug veranschaulicht.
Es war im Januar vorigen Jahres, als von dem Vorstande des Waisenhauses in Elberfeld eifrige Bet- und Bußübungen angeordnet wurden, um bei den Kindern, deren Leichtsinn den Vorgesetzten Sorge machte, einen Zustand tiefer Reue und Zerknirschung hervorzurufen. Wirklich gelang es auch, die Geister dieser Kinder so vorwiegend und ausschließlich mit dem Gefühl der Buße und Vergebung zu erfüllen, daß krankhafte Erschütterung des Nervensystems die Folge war. Zuerst fing eines der Mädchen an, still zu sitzen, sich von den übrigen abzusondern und über Seelenangst und Sündennoth zu klagen. Sie weinte, stöhnte und wälzte sich auf dem Fußboden umther. Bald fand sich ein zweites, ein drittes Kind hinzu; unter frommen Anrufungen, unter häufigem Citiren von Bibelsprüchen steigern sich die Empfindungen der Angst und gehen schließlich in die heftigsten Convulsionen, ja sogar in Starrkrampf über. Anfangs Februar lagen zwanzig Knaben darnieder, in der folgenden Woche belief sich die Zahl sogar aus dreiunddreißig, und die Convulsionen waren so stark, daß die Kinder kein Wort mehr sprechen konnten. So weit war die Epidemie gediehen, als ihr durch eine strenge Untersuchung und durch geeignete Eingriffe ein Ziel gesetzt wurde.
Man stößt aber, wenn man die Elberfelder Epidemie näher in’s Auge faßt, auf andere viel umfangreichere Bewegungen, welche jenseits des Canals und jenseits des Oceans ihre Heimathstätte haben, man stößt auf die irischen und amerikanischen Erweckungen oder Revivals, über die Ihnen vielleicht Einiges aus den Berichten der Times erinnerlich ist. Diese Revivals, die noch zu dieser Stunde in Irland im Schwunge sind, sind aber wieder die Frucht der Methodisten-Predigten, welche schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Anfang nahmen, und in denen ängstliches Stöhnen und Jammern, Händeringen und Convulsionen ganz gewöhnlich waren. Es steht fest, daß die Nachrichten über die irischen Erweckungen in Elberfeld ausgebeutet wurden und daß die Gemüther der Kinder davon erfüllt waren.
Geistesepidemien, durch einseitige religiöse Geistesrichtung hervorgerufen, hat aber jedes Jahrhundert in so großer Zahl aufzuweisen, daß mir nur die flüchtige Erwähnung der bekanntesten gestattet ist. Hierher gehören die Verzückungen der Camisarden. Als nämlich nach Aufhebung des Edicts von Nantes die Reformirten in Frankreich erneuten Verfolgungen ausgesetzt waren, trat das religiöse Element bei ihnen nur um so schärfer hervor. Propheten standen unter ihnen zu Hunderten auf, und Convulsionen begleiteten ihre Gesänge und Predigten. Es liegt etwas Poetisches in dieser Schaar von Gottesbegeisterung entflammter Menschen, wie sie in ihren heimschen Bergen den Gefahren trotzen, mit denen sie von allen Seiten bedroht sind, wie sie unter Absingung feierlicher Hymnen in die Schlacht ziehen, wie sie die Weissagungen aus der Offenbarung, die die vom Krampf Befallenen in kurzen Sätzen ausstoßen, voll Gottvertrauen hinnehmen, und Sie finden die Verzückungen der Camisarden in einer reizenden, leider unvollendeten Novelle von Tieck „der Aufruhr in den Cevennen“ in diesem Lichte betrachtet.
Weit bedeutender und weit nachhaltiger war die als „Convulsionen der Jansenisten“ bekannte Epidemie. Die religiöse Seele der Jansenisten stand nämlich zu Anfang des 18. Jahrhunderts mit den Jesuiten oder Ultramontanen in heftigem Kampfe. Im [379] Jahre 1727 starb in der Hauptstadt Frankreichs der Diakonus Pâris, ein Haupt der Jansenisten, nachdem er sich durch die strengsten Bußübungen furchtbar kasteit und so zu Tode gequält hatte. Sein Grab wurde häufig von seinen Anhängern besucht, um dort Betübungen vorzunehmen und das Andenken des Verstorbenen zu ehren. Vier Jahre nach seinem Tode, es war im September 1731, verbreitete sich in Paris das Gerücht, auf dem Kirchhofe St. Médard, am Grabe des heiligen Pâris, geschähen Wunder. Kranke, besonders Gelähmte, die sich dort in der Nähe des Grabes herumgetrieben hätten, seien von unbestimmten Beängstigungen, von Zuckungen, von Starrkrämpfen ergriffen und schließlich geheilt worden. Bald war ganz Paris in Aufregung. Große Menschenmassen strömten täglich nach dem Kirchhofe St. Médard, um Zuschauer jenes seltsamen Schauspiels zu sein, das von den Einen für göttlichen, von den Gegnern für höllischen Ursprungs gehalten wurde. Zusehen und selbst mit ergriffen werden, war bald das Gewöhnliche. Aber auch für Solche wurde gesorgt, die nicht mit eigenen Augen das Gift dieser Zuckungen einzufangen vermochten. Den Abwesenden kam man dadurch zur Hülfe, daß man einige Reliquien des Verstorbenen, die Erde vom Grabe und das Wasser einer am Kirchhofe gelegenen Quelle als wunderthätig in die Provinzen verschickte. Damit gewann die Epidemie eine solche Ausdehnung, daß man bald über 800 Convulsionärs zählte. Endlich, es war im Januar 1732, und die Seuche noch im fortwährenden Zunehmen, setzte die Jesuiten-Partei es beim Könige durch, daß der Kirchhof geschlossen wurde. Die Pariser rächten sich damals durch ein Epigramm, das man am andern Tage an der Kirchhofspforte angeschlagen fand, und das ungefähr besagt, der König verbiete hiermit dem lieben Gott, fernerhin Wunder zu thun. In den Häusern und geheimen Versammlungsplätzen dauerte indessen die Epidemie in dem Maße fort, daß endlich durch königlichen Befehl geradezu alle Convulsionen verboten wurden. Die Anfälle selbst gestalteten sich verschiedenartig. Manche empfanden neben den Zuckungen die heftigsten Schmerzen, so daß ihre Glaubensgenossen ihnen zur Hülfe kommen mußten. Bald bildete sich innerhalb der Secte eine besondere Classe, die sogenannten Secouristen, welche blos Hülfsleistungen verrichteten, und zwar wie bei den Johannistänzern in der rohesten Art. Man schlug auf verschiedene Körpertheile mit Steinen, mit Hämmern, mit Degen, mit Holzstücken.
So dauerten diese merkwürdigen Zufälle, bei denen allerdings häufig genug einfache Nachahmung und Betrug mit unterlief, bis zum Beginn der Revolution, wo sie durch die dann auftretende politische Gährung ausgeglichen wurde. – Wenn bei dieser Epidemie die convulsivischen Bewegungen der Extremitäten die Hauptrolle spielten, so darf ich eine andere nicht ganz mit Stillschweigen übergehen, bei welcher die Zunge fast ausschließlich zum Ausdruck der inneren Erregung benutzt wurde. Der Uebergang geistiger Anregung auf dieses Organ ist bekanntlich ein sehr gewöhnlicher. Die meisten Menschen fühlen sich nicht eher ruhig in ihrem Innern, als bis sie sich nach jeder stärkeren Empfindung gegen Andere ausgesprochen haben. In manchen Versammlungen sehen wir dadurch förmliche Rede-Epidemien entstehen, daß manche Anwesende durch die Reden Anderer ebenso unwiderstehlich zum Selbstreden angespornt werden, wie etwa ein Canarienvogel seine Stimme erhebt, wenn in seiner Nähe gesprochen wird. In Schweden war schon in den Jahren 1842 und 1843 in der Provinz Smaeland eine Geistesepidemie ausgebrochen, von der hauptsächlich junge Mädchen ergriffen wurden. Sie fühlten einen starken Drang zur Reue und Buße, und klagten dabei über Schmerzen im Kopfe oder in der Brust. Es folgten dann starke krampfhafte Bewegungen in den Achseln und Armen, welche bis zu starkem Schütteln der Arme und des Oberkörpers ausarteten, dann aber ein Schwall von Worten, welche Ermahnungen zur Buße und zur Bekehrung enthielten, im Allgemeinen also dasselbe Bild, welches ich Ihnen in der Elberfelder Epidemie vorgeführt habe.
Weit bedeutenderes Aufsehen machte indessen die sogenannte Predigtkrankheit und Leserei, die 1850–52 in den Lappmarken verbreitet war. Hier wimmelten ganze Gemeinden und Dörfer, ganze Landstriche von Erweckten, die mit lauter unermüdlicher Stimme Predigten vorlasen, sangen und eiferten, abwechselnd aber auch still saßen und seufzten oder auch in Ohnmacht oder Zuckungen verfielen, aus denen sie manchmal erst nach 3–4 Stunden erwachten, um nun allerhand Offenbarungen und Erscheinungen zu beschreiben, die im Zustande der Erschöpfung phantastisch ihrer Seele erschienen waren. Ein schwedischer Arzt, der damals jene Gegenden bereiste, berichtet, daß sowohl der Kutscher seines Schlittens als auch ein auf dem Pferde reitender Knabe, ebenso der Kutscher des zweiten Schlittens, seines Begleiters, und ein neben diesem sitzendes Mädchen während der ganzen Fahrt laut geheult, gesungen und gepredigt hätten, so daß ihnen selbst beinahe Hören und Sehen vergangen wäre. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß die Leserei in den Lappmarken einen günstigen Einfluß auf den moralischen Zustand des Volkes zur Folge hatte, indem sie einen vortrefflichen Ableiter gegen die Trunksucht bildete, welche dort in ungewöhnlich hohem Grade verbreitet war.
Aber ich will Sie nicht weiter mit der Aufzählung von Vorgängen ermüden, die, wie die bisher erwähnten, unter sich eine große Aehnlichkeit haben, sondern wende mich zu denjenigen epidemischen Bewegungen, als deren Triebfeder politische Ideen anzusehen sind. Ich werde mich dabei nur auf einige Bemerkungen beschränken und mich ausschließlich auf französische Zustände beziehen; denn bei keinem anderen Volke kommt der directe Uebergang von sinnlicher Empfindung zur Bewegung häufiger und reiner zur Erscheinung als bei den Franzosen. Wer die historische Gallerie in Versailles durchwandert, den überfällt ein eigenthümliches Gefühl von der Wandelbarkeit menschlicher Bestrebungen, wenn er diese Reihen von Gemälden überblickt und sieht, wie verschwenderisch eine ganze Nation heute Liebe und morgen Haß gespendet, wie sie heute mit voller Hingebung dem Principe der Volkssouveränetät, morgen dem Absolutismns und der Knechtschaft gehuldigt hat. Tritt man aber in Paris heraus auf die Straße und sieht dort mit eigenen Augen den ewigen Wechsel der Erscheinungen, wie ihn die Mode erzeugt, sieht dort jene bewegliche, fröhliche, zugängliche Menge gaffend und horchend vorüberziehen, dann scheint das Räthsel jener politischen Wandlungen seiner Lösung näher zu treten. Robespierre, dieser eiserne Republikaner, wahrlich, er hatte eine richtige Ahnung, als er in der Mannigfaltigkeit äußerer Eindrücke den größten Feind der Republik erblickte und immer und immer wieder auf die Rückkehr zu einfachen Zuständen hinwies. Aber solches Bemühen war vergeblich in der Heimathstätte der Schaulust, der Moden und Novitäten. „Armer Robespierre,“ sagt Heinrich Heine in einem seiner Pariser Briefe, „Du wolltest republikanische Strenge einführen in einer Stadt, wo 150,000 Putzmacherinnen und 150,000 Perruquiers und Parfumeurs ihr lächelndes, frisirendes und duftendes Gewerbe treiben!“ Aber eben deshalb stand der Demagogie, so wenig sie auf dauernde Erfolge rechnen durfte, ein weiter und leicht zugänglicher Spielraum zu Gebote, den sie in einem bis dahin unerhörten Umfang zu benutzen verstand. Von den französischen Demagogen hatte Keiner es richtiger begriffen, als Camille Desmoulins, daß man nicht mit Vernunftgründen, daß man mit Knalleffecten, daß man mit Farben und Tönen die große Menge in Bewegung setzen müsse. Wer in Paris war, kennt die kleine Kanone, die im Hofe des Palais royal allmittaglich mit Hülfe eines Brennspiegels durch die Sonnenstrahlen abgefeuert wird. Camille Desmoulins war es, der am 12. Juli 1789 diesen Schuß gewissermaßen als Signalschuß benutzte und auf eine Bank tretend „zu den Waffen!“ rief. Er war es, der dabei vom nächsten Baume ein grünes Blatt herabriß, es als Cocarde an den Hut steckte und die dort zahlreich versammelten Spaziergänger aufforderte, seinem Beispiel zu folgen. Es bedurfte nur weniger Minuten, und alle umstehenden Bäume waren ihres Schmuckes beraubt, alle Hüte mit dem grünen Wahrzeichen der Freiheit versehen. Am folgenden Tage trug ganz Paris die grüne Cocarde, die Aufregung wuchs stündlich, bis am 14. Juli die Bastille erstürmt und damit der Revolution das Thor geöffnet wurde. Es ist bekannt, wie dann die blau-weiß-rothe und später, als man mit pikanteren Eindrücken die Sinne kitzeln wollte, die rothe Farbe das Symbol der Revolution geworden ist, und soll ich der treibenden Kraft der Töne gedenken, so erinnere ich nur an die Marseiller Freiheitshymne, die Hunderttausende in Bewegung setzte und mehr für die Republik geleistet hat, als die durchdachtesten Beweisgründe für die Vortrefflichkeit dieser Staatsform. Im Laufe der Revolution begegnen wir einem fein durchdachten System von Sinnesreizen, welche in schrittweiser Steigerung die Menge in Bewegung hielten; Paraden, Fackelzüge, Verbrüderungsfeste folgten eines dem andern und zeigten sich jedesmal als unvermeidliche Vorboten, wo der Sturz eines Theils der bestehenden Gewallt oder einer politischen Partei in Aussicht stand. Kein großartigerer Anblick aber in der [380] ganzen Geschichte, als mitten in dieser schon schrankenlosen Bewegung einen Mann zu finden, der sie mit hervorgerufen, der sie nach Kräften gefördert hatte, der aber ihre weiteren Folgen, den Sturz der Monarchie und den Eintritt der Schreckensherrschaft mit einem staunenswerthen Seherblicke voraussah und die Freiheit aus den Händen der Freiheitshelden zu retten entschlossen war. Er fühlte sich berufen, die Rolle zu übernehmen, die Boerhave in jener Harlemer Epidemie gespielt hatte, und er sah sich nur nach dem Instrument um, womit er die Operation zum Wohle des Staatskörpers vollziehen könne. Mirabeau’s frühzeitiger Tod war für seine Zeit ein unersetzlicher Verlust, der Nachwelt aber hat er das interessante Schauspiel eines Kampfes entzogen, welchen ein Genie ohne Gleichen mit einer Bewegung ohne Gleichen aufzunehmen im Begriff stand.
[472]Mehr als zwanzig Jahre waren verflossen nach dem Sturze des Königthums, kein Mensch gedachte mehr der Bourbonen, die durch ihr unseliges Regiment Frankreich in den Abgrund der Revolution gestürzt hatten, als die alliirten Fürsten an der Spitze ihrer Truppen in Paris einzogen. Da mit einem Male, es waren einige Legitimisten, von denen der Streich ersonnen war, erscholl an einzelnen Straßenecken der Ruf: „Es lebe der König!“ Dabei wurden weiße Cocarden unter das Volk ausgetheilt und mit weißen Tüchern geschwenkt. Bald vermehrte sich derselbe Ruf, bald sah man mehr und mehr die Farbe der Bourbonen, die weißen Cocarden auftauchen, und die Bewegung, so kläglich, so plump sie angelegt war, griff epidemisch um sich. Anfangs wehrten die Fürsten selbst ab, der Ruf und die ganze Demonstration erschien ihnen verfrüht und unmöglich, dann aber überzeugten sie sich, wie schnell die Massen ergriffen wurden, sie ließen gewähren, und der Thron der Bourbonen, unter den furchtbarsten Stürmen und nach unerhörten Schicksalen in Trümmer geschlagen, wurde durch einige Scheffel voll weißer Cocarden von Neuem wieder aufgerichtet.
In der napoleonischen Zeit waren es die Adler, denen man folgte, aber weit mehr noch hat der überwältigende Eindruck des großen Mannes die Menge mit fortgerissen. Ein eigentümlicher Mythus heftete sich an seine Schritte, wo er nur in seiner äußern Erscheinung sich zeigte. Seine Stellung, die Haltung der Arme, jedes seiner Kleidungsstücke wurden historische Reliquien, an denen die Einbildungskraft der großen Menge sich belebte. An diese sinnlich wahrnehmbare Erscheinung des Kaisers mußte derjenige anknüpfen, der napoleonischen Ideen in Frankreich wieder Eingang verschaffen wollte. Zweimal versuchte der Prinz Louis Napoleon, zuerst in Straßburg, später in Boulogne, in dieser Weise die Menge fortzureißen. In der äußerlichen Gestalt seines Onkels trat er unter sie. Ihm fehlten weder der Hut, noch der grüne Frack, weder der hellgraue Ueberrock, noch die classischen Stiefeln, und so mit über die Brust gekreuzten Armen hielt er in echt napoleonischem Styl seine Anrede. Bei der Landung in Boulogne hatte er außerdem ein noch feineres Spiel ersonnen. Man fand bei seiner Verhaftung auf dem Schiffe einen Adler, der gewöhnt war von seinem Hute zu fressen und der, losgelassen, in die Höhe stieg, um sich dann auf den Hut des Prinzen niederzulassen. Man hat alle diese Dinge höchst lächerlich gefunden, aber der dritte Napoleon hat gezeigt, daß vom Lächerlichen zum Erhabenen ebenfalls nur ein Schritt ist, und wenn er damals auch die Zeit nicht richtig gewählt und manche Umstände unterschätzt hatte, die Art und Weise seines Auftretens verräth den Menschenkenner, der über die Entstehung geistiger Strömungen sich ein Urtheil gebildet hatte und auf die Schwächepunkte unserer natürlichen Anlage folgerichtig zu speculiren verstand.
Die Geschichte der religiösen wie der politischen Bewegungen hat ihre Mysterien. In wahrhaft erhebender Begeisterung sehen wir Tausende, ja Millionen freudig ihr Leben opfern, heute für die Idee der Gottesbegnadigung, morgen für die der politischen Freiheit, und dann wieder sehen wir einen Zustand der Ruhe und Erschlaffung eintreten, in welchem die abgespannte Generation sich in dem Gedanken zu gefallen scheint, daß das Jagen nach idealen Gütern des Schweißes und Blutes so vieler Menschen nicht werth gewesen sei.
In solchen Zeiten tritt an die Stelle großer Affecte und Leidenschaften jene kleinliche Spielerei mit dem Geheimnißvollen, mit Giften und Arcanen, mit Elektricität und Magnetismus, und das Gefühl des unergründlichen Waltens der Naturkräfte, des unbestimmten Schauers scheint jene Lücke auszufüllen, welche der Mangel einer idealen Stimmung in der Strömung unseres geistigen Lebens erzeugte. Von den Zeiten des finstersten Aberglaubens, ich erinnere nur an die Hexenprocesse, bis auf die Helden des thierischen Magnetismus, bis auf Mesmer und Cagliostro, sind die Geister unzählige Male, von wissenschaftlichen Irrtümern befangen, epidemisch ergriffen worden. Eine große, in ihrer Art ganz eigentümliche Epidemie, die fast drei Jahrhunderte lang Italien verheerte, halte ich einer besonderen Erwähnung wert. Sie kennen die Redensart „Aufspringen wie von der Tarantel gestochen“; sie verdankt jener Epidemie ihre Entstehung. Nun ist die Tarantel eine unschuldige Erdspinne die in Apulien einheimisch ist, und der bis zum Anfange des 15. Jahrhunderts Niemand etwas Böses nachzusagen wußte. Damals aber, vielleicht auch schon etwas früher – Italien war durch mörderische Seuchen furchtbar verheert worden – damals verbreitete sich die Sage, daß der Stich der Tarantel heftige, ja höchst bedenkliche Erscheinungen im menschlichen Organismus hervorzurufen pflege.
Man nahm sich nicht die Mühe, den Feind selbst genauer in das Auge zu fassen, sondern verwechselte die hartgeschmähte Spinne bald mit einer giftigen Eidechse, bald mit anderen schädlichen Thieren. Man hielt sich nur an die muthmaßliche Wirkung, welche, phantastisch ausgeschmückt, die Köpfe erhitzte. Die Gebissenen fühlten sich beklommen, verloren den Appetit und verfielen in Trübsinn. Aber bei den ersten Tönen angenehmer Melodien sah man, die eben noch wie betäubt und ihres Verstandes kaum mächtig schienen, auf- springen aus ihrem dumpfen Hinbrüten und ihre abgespannten Körper wie von neuem Leben durchzuckt werden. Laut aufjauchzend fingen sie an in schnellen Tänzen sich zu drehen, bis sie erschöpft zu Boden sanken, oder sie verfielen in eine Art melancholischen Rausches und erfüllten mit lauten Klagen die Lüfte. Die Cither und die Flöte galten bald für Universalmittel, durch welche das Gift der Spinne im Körper zertheilt und so allmählich ausgeschieden werden könnte, und wo diese Instrumente gespielt wurden, da sah man bald von einem Ende Italiens bis zum andern große Schaaren [473] von Menschen in wilden Reigentänzen sich bewegen. Nicht etwa ein wirkliches Gift, nein, das Mitansehen der tollen Tänze, das Mitanhören der lockenden Töne, der geheime Schauer, welcher die Idee der Vergiftung, der Ausscheidung des Giftes durch die Musik, durch Tanzen und Springen begleitete – alles das zusammen wirkte ansteckend von Einem zum Andern und vermehrte die Zahl der Taranteltänzer bis in’s Unglaubliche. So erstreckte sich die Epidemie bis in das 17. Jahrhundert, wo sie ihre größte Höhe erreichte. Alljährlich im Sommer durchzogen Schaaren von Spielleuten Italien, um die Heilung der Tarantati in Dörfern und Städten vorzunehmen. Da mit einem Male im 18. Jahrhundert erlosch der gespensterhafte Spuk, wie fortgeblasen von der Erde, und die arme Tarantel erfreut sich seitdem wieder keines schlechtern Rufs, als dessen bei uns etwa Flöhe oder Wanzen genießen.
Ich würde mich einer Vernachlässigung gegen die Wissenschaft zeihen, wenn ich hier aus Zartgefühl eine Epidemie unberührt lassen würde, zu deren Opfern, wie ich mir zu vermuten erlaube, ein Theil der hochverehrten Anwesenden gerechnet werden darf. Im Jahre 1853 nämlich, zu einer Zeit, wo weder für religiöse noch für politische Dinge im Volke eine gehobene Stimmung vorhanden war, zu einer Zeit also, die ganz geeignet war mit wissenschaftlichem Humbug die matten Geister etwas anzuspornen, wurde von Amerika aus über Bremen eine Epidemie importirt, welche von dort aus bald ganz Deutschland in Bewegung setzte. Weiß der Himmel von welchem amerikanischen Spaßvogel der erste Anlaß gegeben wurde, es wurde behauptet, erst leise und ganz schüchtern, bald aber schrie man es auf allen Gassen als eine erwiesene Thatsache aus, daß man ein neues, ein kaum glaubliches Wunder entdeckt habe. Der Mensch, so hieß es, sei im Stande von der ihm innewohnenden Electricität dem todten Holze einen Theil abzulassen und es damit so weit zu beleben, daß es nicht nur selbstständige Promenaden unternehmen, nein, daß es auch zu allerhand ganz nützlichen und angenehmen Dingen, u. A. zum Wahrsagen, gebraucht werden könne. Von sämmtlichen Möbeln, die zu solchem Zwecke benutzt werden könnten, sei aber das befähigtste der ganz gemeine Tisch, dieses unentbehrliche Stück einer jeden Haushaltung. Um besagten Tisch setzten sich nun eine mehr oder weniger große Zahl von Personen, womöglich beiderlei Geschlechts, bildeten mit auf den Tisch gelegten Händen eine Kette und übten so lange einen sanften Druck auf die Hände und dadurch auf den geduldigen Tisch aus, bis dieser sich nicht mehr sicher auf seinen eigenen Beinen fühlte, bis er sich zu bewegen, zu rutschen begann.
Nun rief man Wunder über Wunder und man trennte sich voller Begeisterung, um neue Gläubige anzuwerben. Nicht lange währte es, und wohin man auch kam, in die Salons der Vornehmen, in die Stuben der Bürger, in die Hütten der Armen, überall drehten sich die Tische. Das Vergnügen war so billig, daß Jeder es mitmachen konnte. Schien es doch, als ob die alte, liebliche Fabel von dem „Tischchen, deck’ dich“ in veränderter Gestalt wieder aufgetaucht wäre, denn man konnte große Gesellschaften zu Tische einladen, ohne daß man nöthig hatte, vorher kochen und braten zu lassen. Und wie vorteilhaft unterschied sich diese Epidemie von dem wilden Drehen der Johannistänzer und Tarantati! Dieses trauliche Zusammenrücken um die häusliche Tischplatte, dieses leise Drücken, Drehen und Schieben, konnte allenfalls zarte Verbindungen stiften; das jähe Gespenst des Todes, wie es zuweilen die Tanzwuth des Mittelalters begleitete, ist den sanften Bewegungen der Tischrücker fern geblieben. Wohl suchten einige Gelehrte die wissenschaftliche Unmöglichkeit der Tischbewegung ohne mechanische Gewalt zu beweisen, aber wie einst Galilei unerschütterlich festhielt an der Bewegung der Erde, so rief man jetzt den Zunftgenossen jenes großen Physikers in Bezug auf die Tische ein allgemeines „Und sie bewegen sich doch“! entgegen. Es war ein glänzender Sieg der Majorität über die Autorität. Bald entzündete die Bewegung der Tische die Geister zu neuen Versuchen. Gab sich einmal jedes alte Stück Holz dazu her, sich elektro-menschlich begeistern zu lassen, warum, so schloß man ganz richtig, mußten es denn gerade Tische sein? Konnte man das nicht bequemer haben? So entstanden die sog. Psychographen, hölzerne Wahrsage-Instrumente, polirte Hausgötzen, die wie die Penaten bei den Griechen und Römern in schwierigen Fällen zu Rathe gezogen wurden. Sie bestimmten das Wetter, ordneten Landpartien an, schlossen sogar Ehen und kümmerten sich überhaupt um Alles, was in der Familie und in der Wirtschaft vorging. Manchmal waren sie verstimmt und antworteten
nicht; dann wurde nachgeforscht, womit man den Hausgeist beleidigt haben könnte, und man ruhte nicht eher, als bis man ihn wieder versöhnt hatte. Sie waren ein größeres Naturwunder als der Esel des Bileam, denn sie sprachen häufig mehrere Sprachen und saugten nicht selten den einfältigsten Menschen geistreiche, ja selbst poetische, wenn auch zuweilen unorthographische Gedanken aus den Fingerspitzen. Auf diesem Höhestadium brach sich indessen die Epidemie und ist gegenwärtig nur noch in leisen Nachklängen bemerkbar.
Aber ich kann mein Thema unmöglich verlassen, ohne wenigstens einen flüchtigen Seitenblick auf dasjenige Gebiet unseres Wissens zu werfen, dem ich am nächsten stehe. Die Heilkunde ist noch weit entfernt vom Wege zur Gewißheit; aber bis zu der Erkenntniß hat uns die Wissenschaft denn doch allmählich geführt, daß die Krankheiten viel eher vermieden als geheilt werden können, daß es überhaupt nur wenige Heilmittel giebt, und daß auch diese nur eine sehr beschränkte Wirksamkeit haben, im Verhältniß zu dem, was eine richtige Lebensordnung zu leisten vermag. Dem gegenüber ist aber die Lust am Leben und der Trieb nach Vollbesitz der Gesundheit unter der Menge der Menschen so unabweislich, daß zeitweise immer wieder Versuche auftauchen, die dunkle Sehnsucht nach einem Universalheilmittel zu befriedigen. Im Gegensatz zu aller wissenschaftlichen Erfahrung, zu Allem was die gesunde Vernunft einem Jeden sagen muß, wird immer von Neuem ein beliebiger indifferenter Stoff zu einem Wundermittel erhoben, und mit rasender Geschwindigkeit wächst die Menge der Gläubigen. Zeitungsannoncen verbreiten die Seuche; denn das Lesen von Heilungen giebt Vielen eine dunkle Empfindung, einen Vorgeschmack eigenen Wohlseins, und sie sind deshalb ein unentbehrliches Werkzeug in den Händen jener Gesundheits-Demagogen. Auch dadurch wird das Publicum nicht belehrt, daß diese Epidemien alle paar Jahre wechseln, daß das heute hochgepriesene Mittel nach einiger Zeit gar nicht mehr zu haben ist, und daß sich höchstens noch ein unbrauchbarer Rest davon in der Rumpelkammer irgend eines consequenten Gesundheits-Epidemikers auftreiben läßt. Einer dieser Menschheitsbeglücker schreitet immer über den Leichnam des andern, Goldberger verdrängt Morrison, Dubary wieder Goldberger, Petsch Dubary, Hoff wieder diesen, und so wird es weiter gehen. Auch die Epidemie Hoff scheint trotz aller Preismedaillen ihrem Schicksal zu verfallen. So vergeht der Ruhm der Welt, und man könnte sich kaum eines gewissen Mitleids gegen alle diese gefallenen Größen erwehren, wenn man nicht wüßte, daß sie sich vor ihrem Falle einen Nationalfonds begründet hätten, zu dem mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung die Fürsten und Völker Europas freigebig beigesteuert haben.
Die Geistesepidemien haben auch ihre humoristische Seite; sie sind unerschöpflich wie das menschliche Leben selbst, und ich bescheide mich gern in dem Mitgeteilten wenig mehr als dürftige Bruchstücke davon gegeben zu haben. Es genügt mir auf ein Feld hingewiesen zu haben, das einer weiteren Bearbeitung werth ist, und das sicherlich einen wichtigen Theil jener Zukunfts-Philosophie abgeben wird, die sich ganz allmählich unter den Händen der Naturforscher aufbaut. Auch hier wird die Naturwissenschaft ihr Loos zu erfüllen haben, indem sie einer zu idealen Auffassung unseres geistigen Lebens schonungslos entgegentritt. Sie wird zu zeigen haben, daß der Enthusiasmus ansteckend ist wie der Schnupfen, und daß, was wir Begeisterung nennen, im günstigsten Falle nichts weiter ist als eine liebenswürdige Schwäche. Und indem sie die Geschichtsforschung zu Rathe zieht, wird sie Hand in Hand mit dieser über die Bedeutung der Geistesepidemien für das Allgemeine ihr Urtheil zu sprechen haben. Irre ich nicht, so wird dieses dahin lauten, daß, wie der Sturm der Leidenschaft den Einzelnen zu einer freieren, kräftigeren Entfaltung seines Wesens anzuspornen vermag, so die Wogen der Geistesepidemie in den ruhigen Gang der Weltgeschichte das treibende Element bilden. Hier wie dort wird freilich häufig genug der Vortheil schnellerer Strömung dadurch aufgewogen, daß die Grenzen der Bewegung niemals gezogen werden können. Und wie die Leidenschaft dem Einzelnen über den Kopf zu wachsen pflegt, so haben auch jene großen geistigen Bewegungen nur zu leicht die Ziele bei weitem überschritten, die ihnen von ihren Urhebern gesteckt wurden. Diese sind vielmehr in der Regel Opfer geworden ihrer Vermessenheit, und so Mancher von ihnen hat einstimmen müssen in den Stoßseufzer jenes Zauberlehrlings:
„Herr, die Noth ist groß:
Die ich rief, die Geister
Werd´ ich nun nicht los.“