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Die selbständige Ukraine

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Autor: Oleksander Skoropys-Joltuchovśkyj
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Titel: Die selbständige Ukraine
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aus: Menschen- und Völkerleben 1 (1916), Heft 6/7, S. 109–121
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Erscheinungsdatum: 1916
Verlag: Langguth
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Erscheinungsort: Esslingen am Neckar
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Quelle: Commons
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[109]
Die selbständige Ukraine.
Von Alexander Skoropyß v. Joltuchowskyj.

Das ukrainische Volk gleicht an Zahl seiner Stammesgenossen den Italienern, so daß nur in Europa die Deutschen, Russen, Franzosen und die Engländer eine größere Zahl von Volksgenossen aufweisen, als die Ukrainer.

Wenn man das Territorium betrachtet, welches von Ukrainern bewohnt ist und sich zwischen Rußland und dem Schwarzen Meer erstreckt, so erkennt man, daß der Flächenraum fast anderthalbmal so groß ist, wie das Deutsche Reich. Dieser Raum ist bewohnt von einer Bevölkerung (zerstreute fremdsprachige Inseln eingerechnet), die an Zahl einer Großmacht wie Frankreich gleichkommt. Wenn wir berücksichtigen, daß die Ukraine die Kornkammer Rußlands ist, die ein Drittel der gesamten russischen Ernte liefert – da der Boden des Landes zu dem fruchtbarsten der ganzen Welt zählt –, daß beiläufig siebzig Prozent des in ganz Rußland gewonnenen Eisens und achtzig Prozent der Steinkohlen in der Ukraine gefördert werden, und daß achtzig Prozent des in Rußland erzeugten Zuckers aus der Ukraine stammt, so erfassen wir deutlich den ungeheuren wirtschaftlichen Wert dieses Landes.

Wenn man weiter in Erwägung zieht, daß die Söhne dieses Volkes (von dem ein Achtel in Oesterreich-Ungarn lebt) russische Gelüste tapfer abwehren, daß die Vertreter der Ukrainer feierlich erklärt haben, an der Seite der Mittelmächte stehen zu wollen, und daß Tausende von freiwilligen Schützen, indem sie ihr Blut in den Reihen der österreichisch-ungarischen Armee hinopfern, [110] hinlänglich bekunden, wohin ihr Volk sich hinwenden möchte, wenn es frei in seinen Entschlüssen wäre, – dann kommt man zum Verständnis der politischen Bedeutung der Ukraine.

Wäre es für die Ententemächte möglich, die Pläne der Aushungerung Deutschlands zu vollbringen, wenn die Reichtümer der Ukraine den Zentralmächten in dem gegenwärtigen Krieg zugute kämen? Könnten die Ententemächte in jenem Falle an einen Krieg überhaupt gedacht haben, welcher von ihnen entfesselt wurde, nur weil sie zuversichtlich darauf rechneten, daß die absolute Uebermacht auf ihrer Seite sei? Nein! Ohne den Besitz der Ukrain[e] und der Reichtümer dieses Landes und ohne Zugang zum Schwarzen Meere müßte für die Entente eine solche Uebermacht als ausgeschlossen gelten!

Wenn wir all das bedenken, wird es uns nicht als ein wunderliches und böses Märchen anmuten, daß die Deutschen bis zum Kriegsausbruch keine Ahnung von diesem Problem hatten; daß fast niemand von den deutschen Gelehrten auf die Idee kam, sich in das Studium des Problems zu vertiefen?

Der moskowitische Staat trachtete, die speziellen Umstände ausnützend, in welchen sich die Entwicklung der slawischen Völker abspielte, nicht bloß, alle Aeußerungen des nationalen Lebens der unterdrückten Völker planmäßig hintanzuhalten, unter Anwendung der europäisch organisierten Armee und Polizei, sondern auch unsere alten Kulturerrungenschaften systematisch zu vernichten.

Die Ukrainer wurden nicht nur ihrer politischen Freiheit, der selbständigen Nationalkirche und Schule beraubt, sondern auch ihrer Muttersprache, selbst ihres hergebrachten Namens, – sie wurden in Kleinrussen umgetauft, um auf diese Weise zu betonen, daß sie doch als Angehörige [111] des russischen Volksstammes anzusehen sind.

Die Deutschen, welche mit dem großen Rußland in Freundschaft lebten, hatten kein Interesse, in Friedenszeiten Näheres über das Innere von Rußland zu erfahren; denn was konnte die Deutschen der Streit zwischen den Groß- und Kleinrussen angehen?

Zwar haben die Ukrainer lange an der deutschen Pforte geklopft … aber, die einzige Monatszeitung in ukrainischer Sprache, „Ukrainische Rundschau“, welche seit achtzehn Jahren von den Ukrainern behufs Information der deutschen Oeffentlichkeit herausgegeben wird, hat bis zum Anfange des Krieges nicht einmal so viel Abonnenten sammeln können, daß sie ein selbständiges Unternehmen werden konnte.

So konnte nun auf dieser Basis der Gleichgültigkeit der deutschen Oeffentlichkeit zur ukrainischen Frage die moskowitische Diplomatie das wundersame Trugbild des einheitlichen, unteilbaren, großen Rußlands erbauen, in welchem außer einigen kleinen Völkern lauter Russen leben sollten.

Und wenn ein Deutscher auch in die Ukraine kam, so sah er auf allen Anzeigetafeln und in allen Aemtern das offizielle Rußland.

Und wenn auch manchem klar wurde, daß die Lebensführung der ukrainischen Bauernschaft im Bau der Häuser, in der Kleidung, in der Weltanschauung, in dem Klange der Sprache, ja selbst in dem Charakter des Menschen von der russischen verschieden ist, so befriedigte er sich mit den von den Russen populär gemachten flachen Analogien und Hinweisen auf die Verschiedenheit der deutschen Stämme, nur im grandiosen Maßstabe genommen – denn Rußland ist ja auch ein Riesenstaat!

Dem erbarmungslosen Vernichten aller national-ukrainischer Keime im Innern, dem Deportieren [112] der Bauern wegen Besitzes des heiligen Evangeliums in ukrainischer Sprache nach Sibirien, dem Verbot, Kirchen in ukrainischem Stile zu bauen usw., entsprach das Bestreben, Rußland nach Außen als brüderliche Einheit darzustellen; Tausende von bezahlten gelehrten Schriften bewiesen auf alle möglichen und unmöglichen Arten, daß ein ukrainisches Volk nie existierte, nicht existiert, und nie existieren wird.

Die Folge davon war, daß aus den Schulbüchern der ganzen Welt, in erster Reihe selbstverständlich Rußlands, die Geschichte des ukrainischen Volkes, ja sein Name verschwand!

II.

Aber alle diese Bestrebungen konnten unser lebensfähiges Volk nicht vernichten. Dieses lebte ein staatliches Kulturleben schon damals, als Moskau sich noch im Stadium der nomadisierenden Horden befand. Im neunten Jahrhundert war der alte Kyjiwer Staat bereits konsolidiert, und im zehnten Jahrhundert nahmen seine Bürger das Christentum an.

Aber dagegen könnte man mir vielleicht einwenden, daß dies eben die Begründung des russischen Staates, nicht des ukrainischen gewesen ist. Die offizielle russische Geschichtsschreibung des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts hat diese falsche Theorie aufgestellt und in einer sehr geschickten Weise in ganz Europa verbreitet.

Es ist hier nicht der Ort, auf diese Fachstreitigkeiten einzugehen.

Ich möchte hier nur ganz kurz die grundlegenden Richtlinien der Geschichte der Ukraine andeuten, dieses Landes, welches unser Volk ohne Unterbrechung durch mehr wie eintausend Jahre bewohnt.

Der ukrainische Staat war bereits konsolidiert, als das westliche Europa infolge der großen Völkerwanderung erst kaum wieder zur Ruhe [113] kommen konnte. Das Erbe Roms, dieses mächtigsten Kulturstaates, übernahm nach seinem Fall Byzanz, um es zu bewahren.

Daß Byzanz im Mittelalter der Führer der Kultur von Europa war, beweisen am besten die künstlerischen Denkmäler der sogenannten romanischen Epoche, welche sich fast in ganz Westeuropa vorfinden.

Und wenn wir die baulichen Altertümer Kyjiws vom zehnten und elften Jahrhundert mit denen Westeuropas vergleichen, wenn wir die Mosaiken der sogenannten unerschütterlichen Muttergotteswand der Sophienkirche und Ueberreste der Dyßjatynna-Kirche den baulichen Ueberresten Westeuropas gegenüberstellen, so muß jeder unvoreingenommene Forscher zugeben, daß die Kyjiwer Sophienkirche mit der Sophienkirche von Konstantinopel zumindest so innig verbunden ist, wie Sankt Markus mit Venedig.

In Deutschland, Frankreich und England finden wir in den gleichen Epochen nichts, was mit diesen Ueberresten der einstigen ukrainischen Kultur auf eine Stufe gestellt werden könnte.

Und die Werke der Kunst sind der sicherste und objektivste Richter über den Grad der Kulturentwicklung. Die Einwendung, daß diese Mosaiken von griechischen Künstlern ausgeführt worden sind, verändert nichts und beweist nur, daß das ästhetische Gefühl des Ukrainers des elften Jahrhunderts bereits so hoch stand, daß er in Formen arbeitete, welche wir jetzt als den Höhepunkt der Aesthetik der damaligen Zeit bezeichnen.

Die im Laufe des zehnten, elften und zwölften Jahrhunderts mit Byzanz geschlossenen Handelsverträge zeugen von engen Wechselbeziehungen und weisen darauf hin, daß Byzanz der Ukraine seine Waren und Erzeugnisse des Gewerbefleißes lieferte, während die letztere hauptsächlich Rohstoffe zum Umtausch anbot. Es wurden [114] aus Byzanz bezogen: Erzeugnisse der Goldschmiedekunst, feine Webstoffe, Keramik, Seidenstoffe, kostbare Teppiche, Weine und dergleichen. Es geht daraus hervor, daß diese Luxusartikel notwendige Gebrauchsgegenstände in der Ukraine waren.

Wenn wir die Lebensweise der ukrainischen Fürsten damaliger Zeit im Vergleich zu den Herrschern Westeuropas betrachten, kommen wir zum Schluß, daß die ersteren größeren Aufwand trieben und günstigere Gelegenheiten zur Befriedigung ihrer Kulturbedürfnisse besaßen, als es bei ihren Zeitgenossen in Westeuropa der Fall war. Dieser Umstand findet seine Erklärung darin, daß der ukrainische Staat in unmittelbarer Nachbarschaft des Kulturherdes jener Zeit lag und seine Errungenschaften sich gleich zu eigen machen konnte, so daß die Verhältnisse für die Ukrainer günstiger waren, als für das damalige Venedig.

Damit uns die internationale Weltstellung des einstigen ukrainischen Staates klar wird, dessen Macht und Einfluß unter den damaligen europäischen Staaten bekannt war, genügt es, folgende Tatsachen anzuführen:

Der ukrainische Fürst Jaroslaw der Weise (von 1019 bis 1054) war mit der Tochter des schwedischen Königs verheiratet; seinen älteren Sohn verheiratete er mit einer griechischen Prinzessin aus der Familie Konstantin Monomachs, und seine beiden jüngeren Söhne mit deutschen Prinzessinnen. Eine seiner Töchter, Elisabeth, heiratete den norwegischen König Harald, die zweite, Anna, den französischen König Heinrich I.; die dritte den ungarischen König Andreas; die Schwester Jaroslavos des Weisen war polnische Königin.

Die Ukraine geht in diesen Zeiten in der kulturellen Entwicklung mit Europa Hand in Hand. Nur die nationalen und geographischen [115] Unterschiede: die unmittelbare Abhängigkeit der Ukraine in geistiger Hinsicht von Byzanz, die mittelbare Beeinflussung Westeuropas in dieser Hinsicht durch Italien mit seinen altrömischen Traditionen mußte zu Verschiedenheiten führen, obwohl der Geist beiderseits derselbe war. Auch in der Ukraine, wie in ganz Westeuropa, begann die Bevölkerung seßhaft zu werden und wandte sich vom räuberischen Nomadenleben ab.

Die grausamen Kriegssitten, die Freude am Kampfe machten dem Sanftmute und der andächtigen Gemütsstimmung der Ackerbauer Platz, deren Schicksal und Wohlstand mehr von der friedlichen Arbeit als von der Kraft und dem abenteuerlichen Wagemut abhängt. Regen und Sonne geben reiche Ernte und segnen die Arbeit des Landwirtes.

Was für einen nationalen Ausdruck die Ukraine bei diesem Uebergange der Seele des kriegerischen Nomaden zum Leben eines friedfertigen Ackerbauers gefunden hätte, darüber kann man nichts sagen, weil unsere Geschichte uns kaum über die ersten Schritte in dieser Hinsicht aufklärt. In der Zeit, als Westeuropa den Weg einer selbständigen friedlichen Entwicklung betreten hat, ist die Entwicklung der Ukraine erstickt worden, von den Wellen der tatarischen Horden, welche aus den asiatischen Steppen wie eine Meeresflut auf Europa kamen. Der ukrainische Staat fiel in diesem Kampf; aber seine Leiche hat den Räubern den Weg nach Westen verlegt und dadurch die weitere friedliche Entwicklung Europas gesichert.

Mit dem Jahre 1240 beginnt die große Märtyrertragödie unseres Staates, unseres Volkes. Die Hauptstadt Kyjiw wurde von den Tataren verwüstet und fast gänzlich vernichtet, der Rest der Bevölkerung zog sich in das Karpathenvorland zurück.

[116] Unser, von den Tatareneinfällen arg mitgenommenes Volk kämpfte bis zum sechzehnten Jahrhundert um seine politische und nationale Freiheit, von den Tataren im Osten, von den Polen im Westen bedrängt. Die Nation vermochte dennoch in dieser Zeit soviel Lebenskraft aufzubringen, daß auf den Trümmern des ukrainischen Staatswesens, unter Heranziehung litauischer Stämme, ein litauisch-ukrainischer Staat aufgerichtet wird, in welchem ukrainische Kultur maßgebend ist und ukrainische Sprache und Schrift von der Aristokratie und der Regierung angenommen wird. Als der litauisch-ukrainische Fürst Jahajlo Ende des vierzehnten Jahrhunderts die polnische Krone annahm und seine Residenz auf Wawel, der Burg polnischer Könige in Krakau, aufschlug, hat er dort sofort ukrainische Sitten eingeführt. Vielleicht das kostbarste, aber für einen Westeuropäer zugleich unverständlichste Denkmal Krakaus ist die jahajllonische Kapelle im gotischen Dom der Wawelsburg. Der gotische Bau dieser römisch-katholischen Kirche ist reich verziert mit byzantinischen Fresken, zu denen sich geschnörkelte Aufschriften in cyrillischen Lettern gesellen.

Die Fresken ukrainischer Maler des vierzehnten Jahrhunderts, wenngleich ihre Abhängigkeit von der byzantinischen Mosaikkunst nur zu deutlich ist, weisen dennoch in ihrer Komposition und in den Details darauf hin, daß die ukrainische Malerei, den byzantinischen Einfluß abschüttelnd, sich anschickte, den Weg zum Realismus einzuschlagen, wie denselben der berühmte Italiener Giotto vertrat.

Aber es war nur zu erklärlich, daß an dem Hofe eines polnischen Königs polnische Aristokratie und polnische römisch-katholische Geistliche sich geltend machten und die ukrainisch-litauische Aristokratie verdrängten oder polonisierten.

[117] Während die Polen von der Kultur Westeuropas, welche inzwischen zu hoher Blüte gelangte, reichlich profitierten, wurde die Entwicklung der ukrainischen Kultur hintangehalten.

Die ganze Politik der polnischen führenden Kreise war vom Grundsatze der rücksichtslosesten Ausbeutung aller Schätze der Ukraine und der nationalen Bedrückung unseres Volkes getragen.

Während des ganzen jahrhundertelangen Zusammenlebens unserer ukrainischen Nation mit den Polen konnten die letzteren kein Verständnis für das ukrainische Volk und seine Interessen gewinnen und haben dadurch einen derartigen Haß in den Volksmassen gegen sich großgezogen, daß er auch noch jetzt in den breiten Volksschichten in der Ukraine lebendig ist.

Inzwischen ist Byzanz gefallen und den Erbfeinden der Ukraine, den Tataren, fließt neue Unterstützung seitens der Türken zu, von welchen sie den Islam annahmen.

Der moskowitische Staat, ein tributpflichtiger Vasalle der Tataren, wird, mit seinem tataririschen Einschlag, zu einer ansehnlichen Macht und bedroht die Ukraine von Norden her gerade zu der Zeit, als Westeuropa in seiner sozialen Entwicklung immer fortschreitet, Reichtümer anhäuft, und, der Pflege der Kultur sein Auge zuwendend, darnach strebt, die antike Kultur, wenn nicht zu überflügeln, so doch auf gleiche Stufe mit ihr zu gelangen.

Die verblutende Ukraine rafft sich nun zusammen, um den Kampf für ihre politische Freiheit wieder aufzunehmen, und diese vor dem polnischen Ansturme zu beschützen. Die Ukraine mobilisiert alle ihre Kräfte, und, nachdem sie jede Hoffnung verloren hat, in einem gemeinsamen polnischen Staate gleichberechtigtes Mitglied zu sein, zertrümmert es dieses Staatsgebilde und verkündet unter Hetman Bohdan Chmelnytzkyj [118] 1647–1657 ihre Staatssouveränität. Aber Polen rüstete wieder zum Kampfe, vom Osten her drohten mit einem Ansturme die Krimtataren und die Türken, und Chmelnytzkyj, der nach einem Rückhalte suchte, schloß im Jahre 1654 eine Personalunion mit Moskau ab, unter Wahrung der selbständigen inneren Organisation der Ukraine, – des eigenen Heeres – und mit dem Recht, unmittelbar mit anderen Staaten diplomatisch zu verhandeln.

Chmelnytzkyj hatte im Sinne ein zeitweiliges Bündnis mit Moskau, wie er derartige bereits früher mit den Tataren und den Türken geschlossen hatte, aber mit den verschmitzten Moskauer Politikern war es nicht so leicht fertig zu werden, wie es Chmelnytzkyj meinte. Die Nachfolger Chmelnytzkyjs, die gewählten Hetmane, zögerten: die einen sahen Rettung in einer Wiedererneuerung des Bündnisses mit Polen gegen Bestrebungen Moskaus, die ukrainische Staatsorganisation zu vernichten, die andern waren für ein Bündnis mit der Türkei und für einen Kampf gegen die gefährlichsten Feinde: Polen und Moskau.

Dieses Zögern, die nicht gesicherte Lage der Ukraine und die fortwährenden Anstürme auf die Ukraine, bald von der Seite des einen Nachbarn, bald von der des anderen nützte die mit Bestechungen arbeitende Moskauer Diplomatie zu einer Wühlarbeit in den Massen des ukrainischen Volkes aus, das Volk immer mehr entzweiend und die Fangarme um das Land ausbreitend. Vom Anfange des Einfalles der Tataren im dreizehnten Jahrhundert hat die Ukraine während der fünf Jahrhunderte das durchleben müssen, was das deutsche Volk während des Dreißigjährigen Krieges durchgemacht hat. Wenn wir diesen Vergleich vor Augen haben, so werden wir ermessen können, was für eine kolossale Masse kultureller Errungenschaften in dieser Zeit der Vernichtung [119] preisgegeben wurden, und erkennen, daß der ukrainischen Nation dadurch jede Möglichkeit einer staatlichen und kulturellen Entwicklung genommen war.

Diese Martyrologie unseres Volkes wird gekrönt durch das blutige Drama bei Poltawa im Jahre 1709, wo der Hetman Mazeppa im Bunde mit Karl XII. zum letzten Male die Anstrengung machte, die politische Unabhängigkeit zu erkämpfen.

Schon im Jahre 1721 beraubt der Besieger Mazeppas, Peter I., die ukrainische nationale Kirche, die bisher nur in nomineller Abhängigkeit vom Konstantinopeler Patriarchate stand, ihrer Selbständigkeit.

In demselben Jahre 1721 verbot Peter I. die Heilige Schrift in ukrainischer Sprache zu drucken, und dieses Verbot wurde von der russischen Regierung bis zum Jahre 1905 aufrecht erhalten!

Nach dem ersten mißlungenen Versuche im Jahre 1723, das Amt des Hetmans abzuschaffen, gelingt es Katharina II. im Jahre 1764, dieses Ziel zu erreichen.

Im Jahre 1775 vernichtet die Kaiserin die militärische Organisation des ukrainischen[WS 1] Staates.

Im Jahre 1781 wird die administrative Selbständigkeit der Ukraine abgeschafft, indem das ukrainische Gebiet in Gouvernements aufgeteilt wird.

1783 wird in der ganzen Ukraine die Leibeigenschaft eingeführt.

Das sind all die Segnungen, die der Ukraine unter Vereinigung mit der Moskauer „Kultur“ zuteil wurden!

Indessen geht Polen, welches durch den Verlust der Ukraine die eigene Verteidigungskraft verlor, denselben Weg und verliert 1772 seine Selbständigkeit.

Auch die Krimtataren erlahmen, und die Türkei hat immer mehr mit inneren Schwierigkeiten [120] zu kämpfen. Die Ukraine verliert dadurch die Rückendeckung im Kampf mit Moskau. Noch einmal raffte sich der ukrainische Adel zu einem organisierten Handeln auf, und Graf Kapnist fährt im Jahre 1791 nach Berlin, um Waffenhilfe für einen projektierten Aufstand der Ukrainer zu erreichen, doch vertrösteten ihn die offiziellen Kreise auf später.

Die auf eigene Kräfte angewiesene Ukraine, des eigenen Heeres beraubt und durch große, über ganz Ukraine zerstreute Militärgarnisonen im Zaum gehalten, ergibt sich nun ihrem Schicksal ....

Das Moskauer politische Polizeisystem ging darauf aus, in unserem Volk jeden Keim einer selbständigen Entwicklung zu ersticken. Wir stellen aber die Tatsache fest, daß die anderthalbhundertjährigen andauernden Bestrebungen Moskaus, das ukrainische Volk zu denationalisieren, kläglich mißlungen sind, denn unsere Nation bewahrte voll ihre nationale Individualität. Daß sie aber kulturell nicht derartige Fortschritte machen konnte, wie es die Fähigkeiten der Ukrainer erwarten lassen – das ist das Verdienst der Moskauer Kulturträger!

Selbstverständlich schlief der politische Gedanke unserer Intelligenz nicht; von ihrer Arbeit zeugen die langen Reihen von Namen der Ukrainer, welche in Sibirien und in den Kerkern schmachten mußten.

Das ukrainische Volk stand unter dem Drucke einer – sogar in Rußland als Ausnahmsgesetz betrachteten – Verfügung vom Jahre 1876, die folgendes besagt:

„Seine Majestät geruhte zu verfügen:

1. Die Einfuhr von ukrainischen Druckschriften, seien es Bücher oder Broschüren, die im Auslande erscheinen, wird ohne besondere Genehmigung der Hauptzensurbehörde verboten.

[121] 2. Das Erscheinen und Drucken von Originalwerken oder Uebersetzungen in ukrainischer Sprache wird im russischen Reiche verboten.

3. Es werden verboten alle Theatervorstellungen und Vorlesungen in ukrainischer Sprache, wie auch das Drucken von Musiktexten.“

Und wenn wir trotz dieser drakonischen Maßregeln im neunzehnten Jahrhundert eine Literatur entwickelt haben, welche unserer politisch-historischen Tradition treu bleibt, so konnte all dies nur durch große Opfer erkauft werden. Das hatte aber zur Folge, daß das zwanzigste Jahrhundert die Ukraine bereits politisch wachgerüttelt auffindet.

Es entstehen politische Parteien, welche unter den breiten Volksmassen Anhänger für ihre politischen Ideale werben; selbstverständlich sind alle diese Parteien revolutionär gesinnt! Denn die Revolution ist ja der Versuch, das herrschende Regime mit allen seinen Organen umzustürzen.

Jeder Ukrainer, welcher die Heilige Schrift in ukrainischer Sprache lesen wollte, mußte das Buch über die Grenze herüberschmuggeln und dabei das Erschossenwerden riskieren!

Jeder Ukrainer, welcher Volkslieder und Volksmärchen sammelte und sie im Originaltexte zu veröffentlichen versuchte, wurde als gefährlicher Umstürzler sofort zum Gerichte geschleppt.

Die Entwicklung der westeuropäischen Kultur hängt davon ab, ob es gelingen wird, die Gefahr, welche der moskowitische Staat für die Kultur bedeutet, aus der Welt zu schaffen. Und das geeignetste Mittel dazu wäre es, uns, den Ukrainern, die Möglichkeit zu geben, in die Reihe der Kulturvölker Europas einzutreten.

Aus der Zeitschrift: „Deutschlands Aufgaben im Osten und Südosten“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ukrainishen