Menschen- und Völkerleben 1 (1916), Heft 6/7
und Völkerleben
Das ukrainische Volk gleicht an Zahl seiner Stammesgenossen den Italienern, so daß nur in Europa die Deutschen, Russen, Franzosen und die Engländer eine größere Zahl von Volksgenossen aufweisen, als die Ukrainer.
Wenn man das Territorium betrachtet, welches von Ukrainern bewohnt ist und sich zwischen Rußland und dem Schwarzen Meer erstreckt, so erkennt man, daß der Flächenraum fast anderthalbmal so groß ist, wie das Deutsche Reich. Dieser Raum ist bewohnt von einer Bevölkerung (zerstreute fremdsprachige Inseln eingerechnet), die an Zahl einer Großmacht wie Frankreich gleichkommt. Wenn wir berücksichtigen, daß die Ukraine die Kornkammer Rußlands ist, die ein Drittel der gesamten russischen Ernte liefert – da der Boden des Landes zu dem fruchtbarsten der ganzen Welt zählt –, daß beiläufig siebzig Prozent des in ganz Rußland gewonnenen Eisens und achtzig Prozent der Steinkohlen in der Ukraine gefördert werden, und daß achtzig Prozent des in Rußland erzeugten Zuckers aus der Ukraine stammt, so erfassen wir deutlich den ungeheuren wirtschaftlichen Wert dieses Landes.
Wenn man weiter in Erwägung zieht, daß die Söhne dieses Volkes (von dem ein Achtel in Oesterreich-Ungarn lebt) russische Gelüste tapfer abwehren, daß die Vertreter der Ukrainer feierlich erklärt haben, an der Seite der Mittelmächte stehen zu wollen, und daß Tausende von freiwilligen Schützen, indem sie ihr Blut in den Reihen der österreichisch-ungarischen Armee hinopfern, [110] hinlänglich bekunden, wohin ihr Volk sich hinwenden möchte, wenn es frei in seinen Entschlüssen wäre, – dann kommt man zum Verständnis der politischen Bedeutung der Ukraine.
Wäre es für die Ententemächte möglich, die Pläne der Aushungerung Deutschlands zu vollbringen, wenn die Reichtümer der Ukraine den Zentralmächten in dem gegenwärtigen Krieg zugute kämen? Könnten die Ententemächte in jenem Falle an einen Krieg überhaupt gedacht haben, welcher von ihnen entfesselt wurde, nur weil sie zuversichtlich darauf rechneten, daß die absolute Uebermacht auf ihrer Seite sei? Nein! Ohne den Besitz der Ukrain[e] und der Reichtümer dieses Landes und ohne Zugang zum Schwarzen Meere müßte für die Entente eine solche Uebermacht als ausgeschlossen gelten!
Wenn wir all das bedenken, wird es uns nicht als ein wunderliches und böses Märchen anmuten, daß die Deutschen bis zum Kriegsausbruch keine Ahnung von diesem Problem hatten; daß fast niemand von den deutschen Gelehrten auf die Idee kam, sich in das Studium des Problems zu vertiefen?
Der moskowitische Staat trachtete, die speziellen Umstände ausnützend, in welchen sich die Entwicklung der slawischen Völker abspielte, nicht bloß, alle Aeußerungen des nationalen Lebens der unterdrückten Völker planmäßig hintanzuhalten, unter Anwendung der europäisch organisierten Armee und Polizei, sondern auch unsere alten Kulturerrungenschaften systematisch zu vernichten.
Die Ukrainer wurden nicht nur ihrer politischen Freiheit, der selbständigen Nationalkirche und Schule beraubt, sondern auch ihrer Muttersprache, selbst ihres hergebrachten Namens, – sie wurden in Kleinrussen umgetauft, um auf diese Weise zu betonen, daß sie doch als Angehörige [111] des russischen Volksstammes anzusehen sind.
Die Deutschen, welche mit dem großen Rußland in Freundschaft lebten, hatten kein Interesse, in Friedenszeiten Näheres über das Innere von Rußland zu erfahren; denn was konnte die Deutschen der Streit zwischen den Groß- und Kleinrussen angehen?
Zwar haben die Ukrainer lange an der deutschen Pforte geklopft … aber, die einzige Monatszeitung in ukrainischer Sprache, „Ukrainische Rundschau“, welche seit achtzehn Jahren von den Ukrainern behufs Information der deutschen Oeffentlichkeit herausgegeben wird, hat bis zum Anfange des Krieges nicht einmal so viel Abonnenten sammeln können, daß sie ein selbständiges Unternehmen werden konnte.
So konnte nun auf dieser Basis der Gleichgültigkeit der deutschen Oeffentlichkeit zur ukrainischen Frage die moskowitische Diplomatie das wundersame Trugbild des einheitlichen, unteilbaren, großen Rußlands erbauen, in welchem außer einigen kleinen Völkern lauter Russen leben sollten.
Und wenn ein Deutscher auch in die Ukraine kam, so sah er auf allen Anzeigetafeln und in allen Aemtern das offizielle Rußland.
Und wenn auch manchem klar wurde, daß die Lebensführung der ukrainischen Bauernschaft im Bau der Häuser, in der Kleidung, in der Weltanschauung, in dem Klange der Sprache, ja selbst in dem Charakter des Menschen von der russischen verschieden ist, so befriedigte er sich mit den von den Russen populär gemachten flachen Analogien und Hinweisen auf die Verschiedenheit der deutschen Stämme, nur im grandiosen Maßstabe genommen – denn Rußland ist ja auch ein Riesenstaat!
Dem erbarmungslosen Vernichten aller national-ukrainischer Keime im Innern, dem Deportieren [112] der Bauern wegen Besitzes des heiligen Evangeliums in ukrainischer Sprache nach Sibirien, dem Verbot, Kirchen in ukrainischem Stile zu bauen usw., entsprach das Bestreben, Rußland nach Außen als brüderliche Einheit darzustellen; Tausende von bezahlten gelehrten Schriften bewiesen auf alle möglichen und unmöglichen Arten, daß ein ukrainisches Volk nie existierte, nicht existiert, und nie existieren wird.
Die Folge davon war, daß aus den Schulbüchern der ganzen Welt, in erster Reihe selbstverständlich Rußlands, die Geschichte des ukrainischen Volkes, ja sein Name verschwand!
Aber alle diese Bestrebungen konnten unser lebensfähiges Volk nicht vernichten. Dieses lebte ein staatliches Kulturleben schon damals, als Moskau sich noch im Stadium der nomadisierenden Horden befand. Im neunten Jahrhundert war der alte Kyjiwer Staat bereits konsolidiert, und im zehnten Jahrhundert nahmen seine Bürger das Christentum an.
Aber dagegen könnte man mir vielleicht einwenden, daß dies eben die Begründung des russischen Staates, nicht des ukrainischen gewesen ist. Die offizielle russische Geschichtsschreibung des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts hat diese falsche Theorie aufgestellt und in einer sehr geschickten Weise in ganz Europa verbreitet.
Es ist hier nicht der Ort, auf diese Fachstreitigkeiten einzugehen.
Ich möchte hier nur ganz kurz die grundlegenden Richtlinien der Geschichte der Ukraine andeuten, dieses Landes, welches unser Volk ohne Unterbrechung durch mehr wie eintausend Jahre bewohnt.
Der ukrainische Staat war bereits konsolidiert, als das westliche Europa infolge der großen Völkerwanderung erst kaum wieder zur Ruhe [113] kommen konnte. Das Erbe Roms, dieses mächtigsten Kulturstaates, übernahm nach seinem Fall Byzanz, um es zu bewahren.
Daß Byzanz im Mittelalter der Führer der Kultur von Europa war, beweisen am besten die künstlerischen Denkmäler der sogenannten romanischen Epoche, welche sich fast in ganz Westeuropa vorfinden.
Und wenn wir die baulichen Altertümer Kyjiws vom zehnten und elften Jahrhundert mit denen Westeuropas vergleichen, wenn wir die Mosaiken der sogenannten unerschütterlichen Muttergotteswand der Sophienkirche und Ueberreste der Dyßjatynna-Kirche den baulichen Ueberresten Westeuropas gegenüberstellen, so muß jeder unvoreingenommene Forscher zugeben, daß die Kyjiwer Sophienkirche mit der Sophienkirche von Konstantinopel zumindest so innig verbunden ist, wie Sankt Markus mit Venedig.
In Deutschland, Frankreich und England finden wir in den gleichen Epochen nichts, was mit diesen Ueberresten der einstigen ukrainischen Kultur auf eine Stufe gestellt werden könnte.
Und die Werke der Kunst sind der sicherste und objektivste Richter über den Grad der Kulturentwicklung. Die Einwendung, daß diese Mosaiken von griechischen Künstlern ausgeführt worden sind, verändert nichts und beweist nur, daß das ästhetische Gefühl des Ukrainers des elften Jahrhunderts bereits so hoch stand, daß er in Formen arbeitete, welche wir jetzt als den Höhepunkt der Aesthetik der damaligen Zeit bezeichnen.
Die im Laufe des zehnten, elften und zwölften Jahrhunderts mit Byzanz geschlossenen Handelsverträge zeugen von engen Wechselbeziehungen und weisen darauf hin, daß Byzanz der Ukraine seine Waren und Erzeugnisse des Gewerbefleißes lieferte, während die letztere hauptsächlich Rohstoffe zum Umtausch anbot. Es wurden [114] aus Byzanz bezogen: Erzeugnisse der Goldschmiedekunst, feine Webstoffe, Keramik, Seidenstoffe, kostbare Teppiche, Weine und dergleichen. Es geht daraus hervor, daß diese Luxusartikel notwendige Gebrauchsgegenstände in der Ukraine waren.
Wenn wir die Lebensweise der ukrainischen Fürsten damaliger Zeit im Vergleich zu den Herrschern Westeuropas betrachten, kommen wir zum Schluß, daß die ersteren größeren Aufwand trieben und günstigere Gelegenheiten zur Befriedigung ihrer Kulturbedürfnisse besaßen, als es bei ihren Zeitgenossen in Westeuropa der Fall war. Dieser Umstand findet seine Erklärung darin, daß der ukrainische Staat in unmittelbarer Nachbarschaft des Kulturherdes jener Zeit lag und seine Errungenschaften sich gleich zu eigen machen konnte, so daß die Verhältnisse für die Ukrainer günstiger waren, als für das damalige Venedig.
Damit uns die internationale Weltstellung des einstigen ukrainischen Staates klar wird, dessen Macht und Einfluß unter den damaligen europäischen Staaten bekannt war, genügt es, folgende Tatsachen anzuführen:
Der ukrainische Fürst Jaroslaw der Weise (von 1019 bis 1054) war mit der Tochter des schwedischen Königs verheiratet; seinen älteren Sohn verheiratete er mit einer griechischen Prinzessin aus der Familie Konstantin Monomachs, und seine beiden jüngeren Söhne mit deutschen Prinzessinnen. Eine seiner Töchter, Elisabeth, heiratete den norwegischen König Harald, die zweite, Anna, den französischen König Heinrich I.; die dritte den ungarischen König Andreas; die Schwester Jaroslavos des Weisen war polnische Königin.
Die Ukraine geht in diesen Zeiten in der kulturellen Entwicklung mit Europa Hand in Hand. Nur die nationalen und geographischen [115] Unterschiede: die unmittelbare Abhängigkeit der Ukraine in geistiger Hinsicht von Byzanz, die mittelbare Beeinflussung Westeuropas in dieser Hinsicht durch Italien mit seinen altrömischen Traditionen mußte zu Verschiedenheiten führen, obwohl der Geist beiderseits derselbe war. Auch in der Ukraine, wie in ganz Westeuropa, begann die Bevölkerung seßhaft zu werden und wandte sich vom räuberischen Nomadenleben ab.
Die grausamen Kriegssitten, die Freude am Kampfe machten dem Sanftmute und der andächtigen Gemütsstimmung der Ackerbauer Platz, deren Schicksal und Wohlstand mehr von der friedlichen Arbeit als von der Kraft und dem abenteuerlichen Wagemut abhängt. Regen und Sonne geben reiche Ernte und segnen die Arbeit des Landwirtes.
Was für einen nationalen Ausdruck die Ukraine bei diesem Uebergange der Seele des kriegerischen Nomaden zum Leben eines friedfertigen Ackerbauers gefunden hätte, darüber kann man nichts sagen, weil unsere Geschichte uns kaum über die ersten Schritte in dieser Hinsicht aufklärt. In der Zeit, als Westeuropa den Weg einer selbständigen friedlichen Entwicklung betreten hat, ist die Entwicklung der Ukraine erstickt worden, von den Wellen der tatarischen Horden, welche aus den asiatischen Steppen wie eine Meeresflut auf Europa kamen. Der ukrainische Staat fiel in diesem Kampf; aber seine Leiche hat den Räubern den Weg nach Westen verlegt und dadurch die weitere friedliche Entwicklung Europas gesichert.
Mit dem Jahre 1240 beginnt die große Märtyrertragödie unseres Staates, unseres Volkes. Die Hauptstadt Kyjiw wurde von den Tataren verwüstet und fast gänzlich vernichtet, der Rest der Bevölkerung zog sich in das Karpathenvorland zurück.
[116] Unser, von den Tatareneinfällen arg mitgenommenes Volk kämpfte bis zum sechzehnten Jahrhundert um seine politische und nationale Freiheit, von den Tataren im Osten, von den Polen im Westen bedrängt. Die Nation vermochte dennoch in dieser Zeit soviel Lebenskraft aufzubringen, daß auf den Trümmern des ukrainischen Staatswesens, unter Heranziehung litauischer Stämme, ein litauisch-ukrainischer Staat aufgerichtet wird, in welchem ukrainische Kultur maßgebend ist und ukrainische Sprache und Schrift von der Aristokratie und der Regierung angenommen wird. Als der litauisch-ukrainische Fürst Jahajlo Ende des vierzehnten Jahrhunderts die polnische Krone annahm und seine Residenz auf Wawel, der Burg polnischer Könige in Krakau, aufschlug, hat er dort sofort ukrainische Sitten eingeführt. Vielleicht das kostbarste, aber für einen Westeuropäer zugleich unverständlichste Denkmal Krakaus ist die jahajllonische Kapelle im gotischen Dom der Wawelsburg. Der gotische Bau dieser römisch-katholischen Kirche ist reich verziert mit byzantinischen Fresken, zu denen sich geschnörkelte Aufschriften in cyrillischen Lettern gesellen.
Die Fresken ukrainischer Maler des vierzehnten Jahrhunderts, wenngleich ihre Abhängigkeit von der byzantinischen Mosaikkunst nur zu deutlich ist, weisen dennoch in ihrer Komposition und in den Details darauf hin, daß die ukrainische Malerei, den byzantinischen Einfluß abschüttelnd, sich anschickte, den Weg zum Realismus einzuschlagen, wie denselben der berühmte Italiener Giotto vertrat.
Aber es war nur zu erklärlich, daß an dem Hofe eines polnischen Königs polnische Aristokratie und polnische römisch-katholische Geistliche sich geltend machten und die ukrainisch-litauische Aristokratie verdrängten oder polonisierten.
[117] Während die Polen von der Kultur Westeuropas, welche inzwischen zu hoher Blüte gelangte, reichlich profitierten, wurde die Entwicklung der ukrainischen Kultur hintangehalten.
Die ganze Politik der polnischen führenden Kreise war vom Grundsatze der rücksichtslosesten Ausbeutung aller Schätze der Ukraine und der nationalen Bedrückung unseres Volkes getragen.
Während des ganzen jahrhundertelangen Zusammenlebens unserer ukrainischen Nation mit den Polen konnten die letzteren kein Verständnis für das ukrainische Volk und seine Interessen gewinnen und haben dadurch einen derartigen Haß in den Volksmassen gegen sich großgezogen, daß er auch noch jetzt in den breiten Volksschichten in der Ukraine lebendig ist.
Inzwischen ist Byzanz gefallen und den Erbfeinden der Ukraine, den Tataren, fließt neue Unterstützung seitens der Türken zu, von welchen sie den Islam annahmen.
Der moskowitische Staat, ein tributpflichtiger Vasalle der Tataren, wird, mit seinem tataririschen Einschlag, zu einer ansehnlichen Macht und bedroht die Ukraine von Norden her gerade zu der Zeit, als Westeuropa in seiner sozialen Entwicklung immer fortschreitet, Reichtümer anhäuft, und, der Pflege der Kultur sein Auge zuwendend, darnach strebt, die antike Kultur, wenn nicht zu überflügeln, so doch auf gleiche Stufe mit ihr zu gelangen.
Die verblutende Ukraine rafft sich nun zusammen, um den Kampf für ihre politische Freiheit wieder aufzunehmen, und diese vor dem polnischen Ansturme zu beschützen. Die Ukraine mobilisiert alle ihre Kräfte, und, nachdem sie jede Hoffnung verloren hat, in einem gemeinsamen polnischen Staate gleichberechtigtes Mitglied zu sein, zertrümmert es dieses Staatsgebilde und verkündet unter Hetman Bohdan Chmelnytzkyj [118] 1647–1657 ihre Staatssouveränität. Aber Polen rüstete wieder zum Kampfe, vom Osten her drohten mit einem Ansturme die Krimtataren und die Türken, und Chmelnytzkyj, der nach einem Rückhalte suchte, schloß im Jahre 1654 eine Personalunion mit Moskau ab, unter Wahrung der selbständigen inneren Organisation der Ukraine, – des eigenen Heeres – und mit dem Recht, unmittelbar mit anderen Staaten diplomatisch zu verhandeln.
Chmelnytzkyj hatte im Sinne ein zeitweiliges Bündnis mit Moskau, wie er derartige bereits früher mit den Tataren und den Türken geschlossen hatte, aber mit den verschmitzten Moskauer Politikern war es nicht so leicht fertig zu werden, wie es Chmelnytzkyj meinte. Die Nachfolger Chmelnytzkyjs, die gewählten Hetmane, zögerten: die einen sahen Rettung in einer Wiedererneuerung des Bündnisses mit Polen gegen Bestrebungen Moskaus, die ukrainische Staatsorganisation zu vernichten, die andern waren für ein Bündnis mit der Türkei und für einen Kampf gegen die gefährlichsten Feinde: Polen und Moskau.
Dieses Zögern, die nicht gesicherte Lage der Ukraine und die fortwährenden Anstürme auf die Ukraine, bald von der Seite des einen Nachbarn, bald von der des anderen nützte die mit Bestechungen arbeitende Moskauer Diplomatie zu einer Wühlarbeit in den Massen des ukrainischen Volkes aus, das Volk immer mehr entzweiend und die Fangarme um das Land ausbreitend. Vom Anfange des Einfalles der Tataren im dreizehnten Jahrhundert hat die Ukraine während der fünf Jahrhunderte das durchleben müssen, was das deutsche Volk während des Dreißigjährigen Krieges durchgemacht hat. Wenn wir diesen Vergleich vor Augen haben, so werden wir ermessen können, was für eine kolossale Masse kultureller Errungenschaften in dieser Zeit der Vernichtung [119] preisgegeben wurden, und erkennen, daß der ukrainischen Nation dadurch jede Möglichkeit einer staatlichen und kulturellen Entwicklung genommen war.
Diese Martyrologie unseres Volkes wird gekrönt durch das blutige Drama bei Poltawa im Jahre 1709, wo der Hetman Mazeppa im Bunde mit Karl XII. zum letzten Male die Anstrengung machte, die politische Unabhängigkeit zu erkämpfen.
Schon im Jahre 1721 beraubt der Besieger Mazeppas, Peter I., die ukrainische nationale Kirche, die bisher nur in nomineller Abhängigkeit vom Konstantinopeler Patriarchate stand, ihrer Selbständigkeit.
In demselben Jahre 1721 verbot Peter I. die Heilige Schrift in ukrainischer Sprache zu drucken, und dieses Verbot wurde von der russischen Regierung bis zum Jahre 1905 aufrecht erhalten!
Nach dem ersten mißlungenen Versuche im Jahre 1723, das Amt des Hetmans abzuschaffen, gelingt es Katharina II. im Jahre 1764, dieses Ziel zu erreichen.
Im Jahre 1775 vernichtet die Kaiserin die militärische Organisation des ukrainischen[WS 1] Staates.
Im Jahre 1781 wird die administrative Selbständigkeit der Ukraine abgeschafft, indem das ukrainische Gebiet in Gouvernements aufgeteilt wird.
1783 wird in der ganzen Ukraine die Leibeigenschaft eingeführt.
Das sind all die Segnungen, die der Ukraine unter Vereinigung mit der Moskauer „Kultur“ zuteil wurden!
Indessen geht Polen, welches durch den Verlust der Ukraine die eigene Verteidigungskraft verlor, denselben Weg und verliert 1772 seine Selbständigkeit.
Auch die Krimtataren erlahmen, und die Türkei hat immer mehr mit inneren Schwierigkeiten [120] zu kämpfen. Die Ukraine verliert dadurch die Rückendeckung im Kampf mit Moskau. Noch einmal raffte sich der ukrainische Adel zu einem organisierten Handeln auf, und Graf Kapnist fährt im Jahre 1791 nach Berlin, um Waffenhilfe für einen projektierten Aufstand der Ukrainer zu erreichen, doch vertrösteten ihn die offiziellen Kreise auf später.
Die auf eigene Kräfte angewiesene Ukraine, des eigenen Heeres beraubt und durch große, über ganz Ukraine zerstreute Militärgarnisonen im Zaum gehalten, ergibt sich nun ihrem Schicksal ....
Das Moskauer politische Polizeisystem ging darauf aus, in unserem Volk jeden Keim einer selbständigen Entwicklung zu ersticken. Wir stellen aber die Tatsache fest, daß die anderthalbhundertjährigen andauernden Bestrebungen Moskaus, das ukrainische Volk zu denationalisieren, kläglich mißlungen sind, denn unsere Nation bewahrte voll ihre nationale Individualität. Daß sie aber kulturell nicht derartige Fortschritte machen konnte, wie es die Fähigkeiten der Ukrainer erwarten lassen – das ist das Verdienst der Moskauer Kulturträger!
Selbstverständlich schlief der politische Gedanke unserer Intelligenz nicht; von ihrer Arbeit zeugen die langen Reihen von Namen der Ukrainer, welche in Sibirien und in den Kerkern schmachten mußten.
Das ukrainische Volk stand unter dem Drucke einer – sogar in Rußland als Ausnahmsgesetz betrachteten – Verfügung vom Jahre 1876, die folgendes besagt:
„Seine Majestät geruhte zu verfügen:
1. Die Einfuhr von ukrainischen Druckschriften, seien es Bücher oder Broschüren, die im Auslande erscheinen, wird ohne besondere Genehmigung der Hauptzensurbehörde verboten.
[121] 2. Das Erscheinen und Drucken von Originalwerken oder Uebersetzungen in ukrainischer Sprache wird im russischen Reiche verboten.
3. Es werden verboten alle Theatervorstellungen und Vorlesungen in ukrainischer Sprache, wie auch das Drucken von Musiktexten.“
Und wenn wir trotz dieser drakonischen Maßregeln im neunzehnten Jahrhundert eine Literatur entwickelt haben, welche unserer politisch-historischen Tradition treu bleibt, so konnte all dies nur durch große Opfer erkauft werden. Das hatte aber zur Folge, daß das zwanzigste Jahrhundert die Ukraine bereits politisch wachgerüttelt auffindet.
Es entstehen politische Parteien, welche unter den breiten Volksmassen Anhänger für ihre politischen Ideale werben; selbstverständlich sind alle diese Parteien revolutionär gesinnt! Denn die Revolution ist ja der Versuch, das herrschende Regime mit allen seinen Organen umzustürzen.
Jeder Ukrainer, welcher die Heilige Schrift in ukrainischer Sprache lesen wollte, mußte das Buch über die Grenze herüberschmuggeln und dabei das Erschossenwerden riskieren!
Jeder Ukrainer, welcher Volkslieder und Volksmärchen sammelte und sie im Originaltexte zu veröffentlichen versuchte, wurde als gefährlicher Umstürzler sofort zum Gerichte geschleppt.
Die Entwicklung der westeuropäischen Kultur hängt davon ab, ob es gelingen wird, die Gefahr, welche der moskowitische Staat für die Kultur bedeutet, aus der Welt zu schaffen. Und das geeignetste Mittel dazu wäre es, uns, den Ukrainern, die Möglichkeit zu geben, in die Reihe der Kulturvölker Europas einzutreten.
[122]
Die Insel Sachalin, von der seit dem russisch-japanischen Krieg mehr als früher die Rede ist, ist bis jetzt ein noch zum großen Teil unbekanntes und unerforschtes Stück des großen Zarenreiches, mit noch ungehobenen Schätzen.
Wie Dornröschen liegt es im Schlafe, nicht von Rosenhecken umwachsen, aber durch fast undurchdringlichen Urwald und unwirtschaftliche Tundra von der zivilisierten Welt abgeschlossen. Wird Japan der Prinz sein, der kühn die Wildnis durchbricht, die Schätze der Insel praktisch verwertet und den Bewohnern die Vorteile der Zivilisation zugänglich macht?
Durch einen Gebirgszug, der sich, wie die Insel selbst, von Norden nach Süden zieht, wird diese in zwei Hälften geteilt: auf der östlichen dehnt sich längs der Küste des Ochotskischen Meeres die unfruchtbare Tundra, die westliche, dem Festlande zugekehrte, ist zum Teil von dichtem Walde bedeckt, der auf den Höhen und längs den Flußtälern aus Laubbäumen, im übrigen aus Nadelholz besteht. Die landwirtschaftlichen Verhältnisse Sachalins sind recht ungünstige: von den Getreidearten gelangt nur der Weizen in milderen Lagen zur Reife, und auch da nicht jedes Jahr; die Viehzucht ist sehr erschwert durch den Mangel an großen Wiesenflächen, und in den feuchten Flußtälern finden sich freie mit Gras bewachsene Flächen, zudem gibt das zwar üppige Gras schlechtes Heu. Der wahrhafte Reichtum Sachalins besteht in seinen Wäldern und Steinkohlenlagern, sowie in den Fischen, welche [123] das Meer und die Flüsse bevölkern – in den letzten Jahren wurden auch Naphtaquellen entdeckt. Bis jetzt sind nur die Steinkohlenlager verwertet worden; der Wald ist noch jungfräulicher Urwald, echte undurchdringliche sibirische Taiga, in der auf weite Strecken hin noch nie der Schuß eines Jägers oder das Beil des Holzfällers erscholl. Die Fische, an welchen die Flüsse reich sind, bilden fast die einzige Nahrung der eingeborenen Völkerstämme, doch spielen wie gesagt weder Fische noch Holz bis jetzt für den Handel eine Rolle. Japan wird es ohne Zweifel bald gelingen, sich die Vorteile, welche die Insel bietet, zunutzen zu machen, und den Teil der Insel, der ihm durch den Frieden mit Rußland zugesprochen ist, wird sich in jeder Hinsicht sicherlich bald aufs Günstigste von der russischen Hälfte unterscheiden. Bekanntlich hat der russische Staat die Insel bis jetzt überhaupt durch verbannte Verbrecher kolonisiert; außer den eingeborenen Völkerstämmen der Insel, den Ostjacken, Giljacken, Oroken und Ainos, welche sich sämtlich noch in primitivstem Zustand der Zivilisation befinden, besteht die Bewohnerschaft reichlich zur Hälfte aus Sträflingen, deren Zahl nach der letzten Schätzung 22 000 bis 24 000 beträgt, die entlassenen Sträflinge, die gezwungen werden, auf Sachalin zu bleiben, mitgerechnet; die Zahl der Männer zu derjenigen der Frauen verhält sich wie 8:1.
Bei den Verbannten ist Sachalin sehr unbeliebt, obschon dort die Beaufsichtigung viel weniger streng ist als in Sibirien; die Ursache dieser scheinbaren Milde liegt jedoch einfach darin, daß die Lage Sachalins als Insel sowohl wie seine Unwirtlichkeit das Gelingen einer Flucht fast ausschließen. Die seltenen Fälle, in denen es Flüchtlingen gelang, in einem Fasse den tataririschen Golf, der die Insel vom Festlande scheidet, zu überschiffen, – daß die Wache eines der [124] Regierung gehörenden Bootes getötet und das Boot zur Flucht benützt wurde – diese Fälle gehören, wie gesagt, zu den seltenen Ausnahmen. Die Eisbrücke, die im Winter den tatarischen Golf am nördlichen Teil der Insel bedeckt, wo dieser nur eine geringe Tiefe besitzt, wird wohl von den Eingeborenen benützt, von wilden Renntieren, selbst von Tigern, die manchmal aus dem Amurgebiete der Insel einen Besuch abstatten – die Gefängnisse aber, wie auch die Ansiedelungen sind viel weiter südlich gelegen, und zur Winterszeit wird das Wandern durch die Taiga mit ihrer Weglosigkeit fast unmöglich, da niemand die damit verbundene Ermüdung, Sorge und Hunger lange auszuhalten vermag. Im Sommer ist das Leben in der Taiga zur Not möglich; Beeren, Wurzeln und Fische dienen dann zur Nahrung. Aber im Winter? Der Schnee liegt dann mehrere Meter hoch und bedeckt alles weit und breit – und auf Sachalin gibt es keine freien Bewohner, die, wie dieses im Innern von Sibirien Sitte ist, ein Brot vors Fenster legen für „Unglückliche“. Beim Heranrücken des Winters müssen die Flüchtlinge entweder ins Gefängnis zurückkehren, wo sie Peitschenhiebe und Verlängerung der Strafzeit um 10 Jahre erwartet – oder, wenn sie sich in der Taiga verirrt haben, Hungers sterben. Die „Warnacki“, wie in Sibirien die flüchtigen Sträflinge genannt werden, fallen manchesmal auch den Giljacken zum Opfer. Diese halbwilden Eingeborenen wissen wohl, was ein Warnack ist, daß er sich ohne Berechtigung in der Taiga aufhält und darum ebenso gejagt werden kann wie ein Tier. Von allen Geschöpfen, die den Pfeilen der Giljacken zum Opfer fallen, ist ein Warnack die kostbarste Beute: dem Erschlagenen kann man Hemd und Kleidung ausziehen, und oft findet sich bei ihm ein Beil oder Messer, unbezahlbare Schätze, die selbst durch das Fell oder Fleisch eines Bären nicht aufgewogen werden. [125] Allerdings machen auch die Flüchtlinge wenig Umstände und töten oft eine ganze Giljackenfamilie, die in ihrer einsamen Jurte lebt, um sich in den Besitz von getrockneten Fischen und sonstigen Lebensmitteln zu bringen. Wie der wilde Vogel im Käfig unruhig wird, wenn die Zeit naht, wo seine freien Genossen die Wanderschaft antreten, so zeigen sich, wenn das Transportschiff der Küste Sachalins naht, oder doch bei Beginn des nächsten Frühjahrs, bei den Sträflingen alle Anzeichen, daß sie Lust verspüren, das Weite zu suchen.
In ganzen Scharen fliehen sie – und in ganzen Scharen kommen sie im Herbst zurück zur körperlichen Strafe, in verschärfte Haft. Dieser fast instinktive Drang zu Fluchtversuchen kann nur dem Sehnen entspringen, sich – wenn auch nur auf kurze Zeit – als freier Mensch zu fühlen, tun zu können, wozu man eben Lust hat, sich im Grase zu wälzen und zum blauen Himmel hinaufzuschauen, ohne beständig die Blicke der Aufseher auf sich gerichtet zu fühlen.
Als blasser Hoffnungsschimmer könnte ja am Ende die Sage dienen von einzelnen Glücklichen, denen es gelang, die Ostküste zu erreichen und die von einem ausländischen Walfischfänger, der an der Insel anlegte, um Wasser aufzunehmen, als Matrosen mitgenommen wurden – die langjährigen Erfahrungen mißlungener Fluchtversuche hat aber sicher die Sträflinge eines Besseren belehrt, als sich solchen unbegründeten Hoffnungen hinzugeben – sie fliehen nur, um zu fliehen, ohne zu denken, daß sie entfliehen könnten.
Unter den Verbrechern Sibiriens sind zwei Arten von Sträflingen zu unterscheiden, die gar keine Aehnlichkeit miteinander haben – solche ohne Familie und solche mit Weib und Kindern. Erstere sind die eigentlichen Sträflinge. Sie arbeiten in den Kohlenbergwerken, schleppen Lasten aus einer Ortschaft in die andere und was [126] der Zwangsarbeiten noch sind. Sie leben gemeinsam in Kasernen, die natürlich in jeder Hinsicht an Komfort ermangeln; die Nahrung ist gelinde gesagt, nicht zu üppig; schimmeliches Salzfleisch und sauer gewordener Kohl stehen nicht selten auf dem Speisezettel.
In ganz anderer Lage befinden sich die Verbannten, die eine Familie haben; sie leben frei in Ansiedelungen, jede Familie hat eine eigene Hütte und eigenes Land und erhält außerdem die zur Bestellung des Ackers nötigen Werkzeuge, manche auch Vieh. Korn zur Aussaat wird den Ansiedlern ebenfalls gegeben, doch muß dieses mit einer Zugabe von 4% zurückerstattet werden. An drei Tagen der Woche arbeiten diese Leute für sich – an drei für den Staat; letztere Arbeit besteht in Gemüse- und Ackerbau, Holzfällen, Anlegen von Wegen und sonstigen Arbeiten, die jedem Bauer bekannt und gewohnt sind. So führen diese Kolonisten ein ziemlich erträgliches Dasein; Dr. Nikolsky, dessen Arbeit ich meine Mitteilungen zum größten Teil entnehme, berichtet sogar, manche dieser Sträflinge hätten ihm offen gesagt, ihr jetziges Leben sei ein weit besseres als das, welches sie daheim vor ihrer Verbannung geführt. Solche Ansiedlungen machen vollständig den Eindruck russischer Dörfer: dieselben Hütten, auf den Gassen weißhaarige, barfüßige Kinder, Weiber im Sarafan, echte russische Bauern im Kaftan oder Kittel, meist mit gutmütigem Gesichtsausdruck – alles dies läßt den Beschauer fast vergessen, daß er eine Verbrecherkolonie vor sich hat. Der einzige äußere Unterschied zwischen den unfreien Ansiedlungen und freien Dörfern besteht darin, daß man hier selten ein Lied erklingen hört, und wenn einmal eines ertönt, so ist es sicher ein wehmütiges. In manchen Kolonien sind Schulen für die Kinder der Sträflinge; in einer derselben traf Dr. Nikolsky als Lehrerin die Tochter eines Sträflings, [127] welche auf Sachalin aufgewachsen ist und sich auch hier zur Lehrerin ausgebildet hat. Große Ansprüche werden dort ja wohl nicht gemacht.
Zu seiner Forschungsreise ins Innere der Insel wurden Dr. Nikolsky und seinen Begleitern von der Regierung 4 Sträflinge zum Tragen des Gepäcks und sonstigen Hilfeleistungen zur Verfügung gestellt, mit ihnen ein Aufseher, der mit einem Säbel und einem verrosteten Revolver bewaffnet war, zu welchem eine einzige, mit Grünspan bedeckte Patrone gehörte. Die vier Männer waren sämtlich wegen Mord verbannt worden, und demnach könnte die Ausrüstung des Aufsehers mit dem stumpfen Säbel und der grünen Patrone als ungenügende Garantie erscheinen für die Sicherheit des Forschungsreisenden. In Wirklichkeit war die Bewaffnung hauptsächlich ein Bestandteil der Uniform – wenn es den vier Mördern in den Sinn gekommen wäre, die beiden Herren mit samt dem Aufseher in der Taiga im Stiche zu lassen oder sie eigenhändig in ein besseres Jenseits zu befördern, so hätte auch eine tadellose Ausrüstung ihres Begleiters nichts genützt. Dr. Nikolsky beschreibt die vier Sträflinge folgendermaßen: „Unsere Mörder“ waren prächtige und zudem zuverlässige Kerls.
Der eine von ihnen hatte vor zwei Jahren die eigene Frau im Zorn mit dem Messer niedergestoßen. Der zweite hatte als Fuhrknecht bei der sibirischen Post gedient, und einst im Winter, als der Postwagen den Amur passierte, geriet dieser in ein Eisloch, wobei der Postillon und die Post, bei welcher sich eine Geldsumme in Goldstücken befand, im Wasser versanken. Die Verhältnisse lagen so unglücklich, daß das Gericht den Fuhrknecht wegen Ermordung des Postillons und Beraubung der Post schuldig sprechen und verurteilen mußte. Ich weiß nicht, ob das sibirische Gericht selbst an die Gerechtigkeit seines Urteils glaubte – ich bin der Meinung, daß es [128] sich geirrt hat, denn ich konnte mir nie vorstellen, daß unser Simon (Ssemyion) mit seinem stillen und sanften Charakter und dem gutherzigen russischen Gesicht, im Stande gewesen wäre, einen Raubmord zu begehen. Unser dritter Begleiter hatte während seiner Militärzeit gemordet. Irgendwo im Gebiet Ussuri (Nebenfluß des Amur) war er mit 8 Kameraden in einer Hütte im Walde stationiert, als eines Tages Mandschuren herbei kamen, um die Hütte Reisig legten und es anzündeten. Da griffen die Soldaten zu den Gewehren und töteten gegen zehn der chinesischen Räuber, die übrigen entflohen. Da nun die Mandschuren mit Hintansetzung einiger spezieller Regeln der militärischen Disziplin ins Jenseits geschickt worden waren, so verwandelte sich die Waffentat der Soldaten in Mord, und statt eine Belohnung zu erhalten, wurden sie in die Verbannung geschickt. Das größte Interesse verdiente aber unser letzter „Mörder“, ein Tscherkesse von Geburt, hatte er bei der kaukasischen Miliz gedient. Durch den, den kaukasischen Bergvölkern heiligen Brauch der Blutrache war er verpflichtet, an einem seiner Kameraden, der aus dem gleichen Aul (kaukasisches Dorf) stammte, Rache zu üben. Eines Tages, als beide vor den Augen der Vorgesetzten in der Front standen, erstach er mit seinem Dolch den Stammesfeind – und wurde zur Verbannung verurteilt. Zuerst kam er nach den Karinschen Bergwerken auf dem sibirischen Festlande, floh von dort und kehrte in seine Heimat zurück.
Die Verwandten des Ermordeten erfuhren dies und brachten es zu Wege, daß Mustafa aufs neue verschickt wurde. Wir lernten ihn schon als bejahrten Mann kennen, als alle Gedanken an eine Flucht aus seinem Kopfe verschwunden waren: Wenn wir des Abends um das flackernde Feuer saßen, erzählte uns Mustafa oft von seinen Erlebnissen auf der zweijährigen Wanderung [129] durch Sibirien als Warnack. Mehr als einmal pfiff dicht an seinem Ohr die Kugel des im Gebüsch versteckten Burjäcken vorbei, die für ihn bestimmt gewesen war – als Wohnung diente ihm das verlassene Lager eines Bären, oder er nächtigte zwischen Baumwurzeln, oft sogar unter dem Schnee. Monate lang nährte er sich von Beeren und Pilzen – mehrmals war er in Gefahr zu ertrinken, an einem Fuß hatte er zwei Zehen erfroren – und trotz alledem erreichte er seine Heimat. Kaum aber hatte er das Wiedersehen mit seinen Brüdern gefeiert, wurde er aufs neue verhaftet und nach Sachalin geschickt. Dies waren unsere Reisegefährten, zu denen wir ein solches Vertrauen hatten, daß wir zwei derselben mit Schrotflinten ausrüsteten, damit sie uns bei der Jagd behilflich sein konnten.“
Kurz vor Beendigung seiner Reise begegnete Dr. Nikolsky einem flüchtigen Sträfling, den er in die nicht mehr weit entfernte Ortschaft Derbino mitnahm, oder richtiger, der Warnack selbst wünschte mitgenommen zu werden.
Nikolsky sagt hierüber: Der Flüchtling fuhr stromabwärts auf dem Flusse Tymi, indem er auf einem aus rohen Balken gefügten Floße stand, das er vermittels einer Stange lenkte. Natürlich dachte ich nicht daran, ihn zu fangen, das war nicht meine Sache. Als wir ihm begegneten (die Expedition von Dr. Nikolsky fuhr auf demselben Flusse aufwärts) sagten wir ihm, was ihm bevorstehe, wenn er seine Fahrt fortsetze und sein Floß an den Felsen der Stromschnellen, welche sich weiter unten im Fluß befinden, zerschellen müßte. Und wenn er sogar am Leben bliebe, würde er sicher den Speeren der Giljäken, dieser habgierigen Menschenjäger, nicht entgehen. Der Sträfling überlegte – ließ seine Stange fallen und stieg in unser Boot. Nach seiner Aussage war er im Zorn von Derbino fortgelaufen, nachdem er Prügel erhalten hatte; seine [130] Ausrüstung bewies auch, daß er die Reise unvorbereitet angetreten hatte: sein ganzer Vorrat bestand aus einem Säckchen Zwieback, für vier Tage ausreichend, dem Tabaksbeutel und einem halben Päckchen Zündhölzer. „Wo fährst du denn hin?“ frugen wir ihn. „So – den Fluß hinunter,“ war die Antwort. „Und wohin fließt denn der Fluß?“ „Das weiß Gott – irgendwo fließt er eben hin.“ „Bist du schon lange flüchtig?“ „Sieben Tage.“
Dies bedeutete, daß dem leichtsinnigen Warnack nach seiner Heimkehr in Derbino Peitschenhiebe und Verlängerung der Strafzeit um 10 Jahre erwarteten. Wir versprachen, ein gutes Wort für ihn einzulegen, daß seine Wasserfahrt ihm nicht als Flucht angerechnet würde, was uns auch gelang. – – – –
Der Krieg hat eine Menge von neuen Problemen plötzlich aufgerollt, die gebieterisch eine sofortige Beantwortung fordern. Viele Illusionen machen eine kleine, aber durchaus gründliche Arbeit des bekannten Geographen, Prof. A. Philippson, über die Türkei (Das Türkische Reich. 12. Band der Deutschen Orientbücherei, herausg. von E. Jaeckh), zu nichte. Diese kleine Schrift gibt die notwendigsten Voraussetzungen zur Beurteilung der wirtschaftlichen und politischen Aussichten der Türkei. Wenn es natürlich auch übertrieben ist, in der „Weltlage, der natürlichen Beschaffenheit und in der Art der Bewohner“ allein die „Grundlagen aller menschlichen Kultur und Wirtschaft eines Landes und ihre Entwicklungsmöglichkeiten“ zu sehen, so ist es selbstredend, daß gerade für solche noch wenig entwickelten Agrarländer, wie [131] die Türkei, die natürlichen Faktoren von besonders schwerwiegender Bedeutung sind. Darum wird diese Schrift viel zu kühleren Betrachtungen der vorderasiatischen Probleme beitragen.
Wenn man über die künftigen Entwicklungsmöglichkeiten der asiatischen Türkei spricht, wird oft darauf hingewiesen, daß diese Gebiete einst die Wiege der menschlichen Kultur waren, und sehr reiche Länder dargestellt hätten. Das mag fürs Altertum zutreffend sein; seitdem haben sich aber die geographischen und wirtschaftlichen Grundlagen dieser Länder stark verändert und zwar bedeutend verschlechtert. Einige glauben sogar, die Türkei stelle noch Raum genug für eine europäische Einwanderung dar. Dem widerspricht Professor Philippson aufs entschiedenste. Er teilt das türkische Reich in zwei ganz verschiedene Gebiete: in dem einen ist Ackerbau ohne künstliche Bewässerung möglich; es umfaßt die Randteile Kleinasiens und den größten Teil Syriens. Hier wohnen ungefähr 12 Millionen Menschen, also etwa 30 Personen auf das Kilometer, was der normalen Bevölkerungsdichte solcher Länder durchaus entspricht. Eine Vermehrung der Bevölkerung und ohne Ausdehnung des bebauten Landes ist hier fast unmöglich, intensivere Kultur wird allerdings die Aufnahmefähigkeit des Landes erhöhen können; dem stehen aber die politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse sowie vor allem der unerträgliche Steuerdruck im Wege. „Im ganzen,“ sagt Philippson, „habe ich den Eindruck gewonnen, daß nicht mehr allzuviel anbaufähiger Boden frei ist, abgesehen von dem, der sich durch neue Bewässerungsanlagen in Trockengebieten gewinnen ließe. Im jetzigen Zustande dürfte das Türkische Reich keine erhebliche Einwanderung von Ackerbauern mehr aufnehmen können.“
Bleiben also die Trockengebiete, die die Phantasie Vieler erregen. Philippson beschäftigt [132] sich mit den Problemen der Bewässerung sehr wenig, wohl deshalb, weil das für ihn recht zweifelhafte Zukunftsmusik ist. Zu dem durch Bewässerung kultivierbaren Boden gehören die Flußebenen und Oasen von Babylonien, ein großer Teil Ober-Mesopotamiens, die Oasen im östlichen Streifen Syriens und ein großer Teil des syrischen Grabens. Philippson meint, daß hier wohl Getreide für den eigenen Bedarf, keineswegs aber für die Ausfuhr hergestellt werden könnte. Denn die Produktion von Getreide auf bewässertem Boden kommt zu teuer zu stehen und kann mit dem Getreide nicht konkurrieren, das ohne künstliche Bewässerung erzeugt wird. Er empfiehlt daher den Anbau von Baumwolle.
Allein die Bewässerung Mesopotamiens wird ein Kapital von über einer halben Milliarde Mark beanspruchen, die nach dem Kriege weniger denn je werde aufgebracht werden können. Aber auch dann würde man nur etwa eine Million Baumwollballen erhalten können (F. Frech, in der „Geographischen Zeitschrift“, Heft 1, 1916), während der Verbrauch Deutschlands allein 1,58 Milionen Ballen beträgt.
An Erzen ist die asiatische Türkei nicht reich; vor allem mangelt es an brauchbarer Kohle, die die Erzgewinnung ermöglichen könnte. Darum führten die Versuche, Erze zu gewinnen, meist zu Enttäuschungen. Immerhin sei in der Zukunft eine reiche Entwicklung des türkischen Erzbergbaues im Bezirk Balia Maden in Mysien, wo sich ein Braunkohlenlager befindet, zu erhoffen. Dort befinden sich auch Chromeisenerzlager. Wichtiger ist die Petroleum-Zone in Mesopotamien, die aber zumeist auf persischem Gebiete liegt.
Alles in allem darf man also wohl sagen, daß die asiatische Türkei kein Eldorado zukünftiger europäischer Ansiedelungen, schon wegen der unerträglichen Hitze, noch einen zukünftigen [133] bedeutenden Rohstofflieferanten oder gar Getreideproduzenten darstellt. Das mögen sich alle Schwärmer für Vorderasien hinters Ohr schreiben.
Den ethnographischen, wirtschaftlichen und politischen Kern des Türkischen Reiches sieht auch Philippson wie viele andere in Kleinasien. Ob sich die anderen Teile werden halten lassen, inwieweit und unter welchen Vorbedingungen sie zur Stärkung der Türkei beitragen können, erörtert Philippson nicht. Eine aufmerksame Lektüre seiner Arbeit kann aber auch in dieser Beziehung manche Anhaltspunkte finden. Hingegen tritt Philippson entschieden gegen die Aufgabe Konstantinopels ein, dessen Verlust auch den Kleinasiens mit sich ziehen müßte. Damit wäre der Untergang des Türkischen Reiches nur eine Frage kurzer Zeit, meint Philippson.
Wahn und Irrtum im Leben der Völker. Als derzeitiger Rektor der Universität Tübingen hatte sich Prof. Gaupp zur Festrede am Geburtstage des Königs von Württemberg das zeitgemäße Thema erwählt: „Wahn und Irrtum im Leben der Völker“. Die Frage, ob es geistige Volkskrankheiten – einen Völkerwahn – gibt, muß die ärztliche Wissenschaft verneinen, während der Kulturhistoriker sie angesichts der Greuel des Hexenwahns, der religiösen, politischen und wirtschaftlichen Volkserregungen aus Vergangenheit und Gegenwart zu bejahen geneigt ist. Was man Wahn eines Volkes oder Volksteiles nennt, sind Wirkungen der Suggestion, die von Kranken und Gesunden, von leidenschaftlich begeisterten Schwärmern und kühlen Betrügern ausgeübt werden.
Voraussetzung aller Suggestion ist die geistige Lenksamkeit; handelt es sich um aufgepfropfte Ideen, die gläubig übernommen, aber auch leicht wieder abgestreift, nicht wie der Wahn des Verrückten in tiefem, oft schmerzlichem Erleben erzeugt werden. So grundverschieden die „suggerierte Idee“ vom Wahn eines Geisteskranken ist, kann sie doch gelegentlich in gewissen Epochen der Geschichte eine Macht über die Gemüter ausüben, die dem Wahn des Kranken nicht viel nachzugeben scheint; ihrem Wesen nach ist sie [134] ein korrigierbarer Irrtum, und der Lauf der Geschichte hat immer gezeigt, daß die Korrektur eintritt, sobald die Selbstbesinnung zu ihrem Recht kommen kann. Die Zahl der Irrtümer, von denen wir die europäische Menschheit heute erfüllt sehen, ist unendlich, und zwar nicht nur bei unseren Feinden, sondern auch bei unserem eigenen Volke; aber der heutige Zustand will für die Lebensbeziehungen der Völker nach dem Kriege gar nichts besagen. Die hohen Ideale einer über den Nationen stehenden Menschlichkeit, einer reichen, alle Völker umfassenden Weltkultur sind nicht für alle Zukunft ernsthaft gefährdet. Die Leidenschaften der Stunde werden vergehen, die Geistesarbeit der Jahrhunderte wird bestehen. Wichtiger als die Sorge um die künftigen Beziehungen der Völker unserer Erde ist heute der gemeinsame Kampf gegen die verheerende Macht des internationalen Kapitalismus, auf dem der Fluch dieses Weltkrieges ruht, und die klare Besinnung der Völker auf die letzten und höchsten Werte alles menschlichen Seins.
Tolstoi-Jünger vor dem Kriegsgericht. Das Moskauer Kriegsgericht verhandelte bei geschlossenen Türen gegen eine Anzahl Anhänger der Lehren Leo Tolstois. Sie stehen, wie man dem „Journal de Genéve“ berichtet, unter Anklage, weil sie im Oktober 1914 durch eine im Bezirk Tula an Zäunen und Telegraphenstangen angeschlagene Proklamation die bekannten Anschauungen Tolstois über den Krieg zu verbreiten suchten; daß sie Soldaten zum Ungehorsam und zur Dienstverweigerung aufgefordert haben, kann ihnen nicht nachgewiesen werden. Die Aufrufe wiesen die vollen Namen und die genauen Adressen der Verfasser auf. Bei einer sofort vorgenommenen Haussuchung fand man einen zweiten Aufruf, der von zahlreichen Tolstoianern aus allen Teilen Rußlands unterzeichnet, aber nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt war. Unter den Angeklagten befinden sich Tolstois ehemaliger Sekretär Bulgakow und der greise Hausarzt des Dichter-Philosophen Dr. Makowizky, der österreichischer Untertan ist. Im ganzen sind 28 Personen angeklagt, unter ihnen eine ganze Familie Rodin – Vater, Mutter, Tochter und zwei Söhne –, ferner der finnische Schriftsteller Arvid Ernfeld und ein gewisser Gremberg, der wegen des gleichen „Verbrechens“ schon in Charkow vor Gericht stand und zum Verlust aller bürgerlichen Rechte und zur lebenslänglichen Verbannung nach Sibirien verurteilt worden ist. Einer der Hauptangeklagten, Popow, stammt aus einer reichen Kaufmannsfamilie; schon als Gymnasist wurde er ein Jünger Tolstois und ging, nachdem er sein Vaterhaus verlassen hatte, auf die Wanderschaft. Als ihn der Vorsitzende des Gerichtshofes fragte, wer er sei, antwortete er: „Gottes Sohn.“ Für die Arbeit, die er bei Bauern verrichtete, [135] nahm er kein Geld, sondern nur Brot und Feldfrüchte. Er ist Vegetarier der strengsten Observanz und ißt zum Beispiel keinen Honig, weil man, um ihn zu erlangen, Bienen töten muß. Er hält es auch für Sünde, mit Pferden zu pflügen. Der Angeklagte Bespalow, der in einer dörflichen Gemeinde als Schreiber angestellt war, erregt Aufsehen durch sein gründliches Wissen auf dem Gebiete der Philosophie und der Literatur. Der Angeklagte Nowikow ist jener Bauersmann, zu dem Tolstoi sich begeben wollte, als er kurz vor seinem Tode die berühmte Flucht in Szene setzte …
Galsworthy über den Weltkrieg. In „Scribners Magazine“ schrieb der bekannte englische Schriftsteller Galsworthy vor kurzem „Glossen zum Weltkrieg“.
Heute lesen wir in den Zeitungen, daß in den Reihen unserer Feinde ein Sozialist oder ein Pazifist seine Stimme erhoben hat gegen die Pöbelleidenschaft und die Kriegswut seiner Landsleute, und wir denken: „Wahrlich, welch aufgeklärter Mann!“; am nächsten Tag lesen wir in denselben Zeitungen, daß der Herr Soundso dasselbe getan hat, aber in unserem eigenen Land, und wir sagen: „Herrgott, den sollte man aufhängen!“
Jetzt hören wir begeistert einem unserer Staatsmänner zu, der uns von dem letzten Blutstropfen und von dem letzten Pfennig spricht: „Das ist Patriotismus!“ Dann lesen wir, wie ein feindlicher Staatsmann seinem festen Entschluß Ausdruck gibt, auch Hunde und Katzen zu bewaffnen, und wir schreien: „Welch ein barbarischer Wahn!“
Am Montag erfahren wir, daß ein verkleideter Mitbürger bis ins Innerste des Feindeslandes vorgedrungen ist, um uns irgendeine wichtige Aufklärung zu verschaffen. Wir denken uns: „Das ist echter Heldenmut!“ Am Dienstag erbittert uns die Nachricht, daß mitten unter uns ein Feind gepackt wurde, der spionieren wollte, und wir sagen: „Gemeiner Spion!“
Unser Blut kocht am Mittwoch, weil wir von der schlechten Behandlung hören, die einer der Unsern in Feindesland erdulden mußte. Am Donnerstagabend nehmen wir den Bericht von der Zerstörung feindlichen Eigentums durch unsern Pöbel mit Befriedigung zur Kenntnis: „Was können Leute anderes erwarten, wenn sie zu dieser Nation gehören?“
Unsere Feinde singen einen Haßgesang, und wir verachten sie deshalb. Wir selbst hassen und schweigen. Aber wir fühlen uns ihnen sehr überlegen.
Sollten wir nicht lieber unsern Kampf ehrlich zu Ende kämpfen und auf diese Ironie verzichten?
[136] Die Verletzung des Briefgeheimnisses im Reichstag. Abg. Zubeil: Ein sehr schwarzes Kapitel, das an die schwärzeste Reaktionsperiode des vorigen Jahrhunderts erinnert, ist die Verletzung des Briefgeheimnisses. Unser Ansehen im Auslande kann dadurch nicht gefördert werden. Es ist gar keine Rede mehr davon, daß, wie Herr Stephan einst mit Stolz sagte, der Brief bei der Post so heilig sei wie die Bibel auf dem Altar. Unser Antrag fordert mit Recht, daß die Postbeamten dem Ersuchen von Militärbefehlshabern auf Verletzung des Briefgeheimnisses keine Folge leisten. Die militärischen Befehlshaber sind keine Vorgesetzten der Postbeamten, aber auch abgesehen davon, dürfen Befehle, die im Widerspruch mit dem Gesetz stehen, nicht ausgeführt werden, und der Reichskanzler hat alle Ursache, dem Gesetze Achtung zu verschaffen.
Staatssekretär des Reichspostamts Kraetke: Es kann gar keine Rede davon sein, daß Postbeamte das Briefgeheimnis verletzen. Gesetzmäßigen Beschlagnahmen müssen sie natürlich Eolge leisten.
Abg. Stadthagen: Der Staatssekretär sprach davon, daß die Postbeamten gesetzmäßigen Beschlagnahmen Folge leisten müssen. Ihm ist aber bekannt, daß in der Kommission Fälle vorgetragen worden sind, in denen nicht auf richterliche Anordnung, sondern auf Anordnung vom Generalkommando Briefe geöffnet worden sind. Dazu hat der Staatssekretär erklärt, er wäre dafür nicht verantwortlich. Ein solcher Zustand aber ist rechtswidrig. Der Staatssekretär geht um die Sache herum. Er müßte klipp und klar erklären, daß er auch gegenüber Anforderungen vom Generalkommando keine Gesetzesverletzung zulassen wird. Wo soll es hinführen, wenn ein Staatssekretär strafbare Handlungen soll begehen dürfen, wenn es ein Generalkommando will. Wir verlangen Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses auch gegenüber Generalkommandos. Strafbare Handlungen dürfen von den obersten Beamten des Reiches nicht geschützt werden.
Ministerialdirektor Lewald: Ich muß die Behauptung, daß Stellvertretende Kommandierende Generale, wenn sie die Oeffnung von Briefen anordnen, etwas Strafbares tun, entschieden zurückweisen. Unter dem Belagerungszustand sind bekanntlich eine Reihe Garantien der persönlichen Freiheit aufgehoben. Dazu gehört es auch, daß über gewisse Personen Briefsperre verhängt und festgestellt wird, mit wem sie korrespondieren. Das geschieht auf Grund der Aufhebung der betreffenden Bestimmung der preußischen Verfassung unter dem Belagerungszustandsgesetz. Das hat auch das Reichsgericht anerkannt.
Abg. Stadthagen: Das Gegenteil ist richtig. Durch Aufhebung eines Artikels der preußischen Verfassung, der sich nicht mit der Briefsperre beschäftigt, kann nicht eine [137] Reichsbestimmung aufgehoben werden. Die persönliche Freiheit in der preußischen Verfassung hat mit § 5 des Reichspostgesetzes nichts zu tun. Da wo das Belagerungszustandsgesetz überhaupt eingreift, z. B. das Preßgesetz, ist das ausdrücklich bestimmt. Von einer persönlichen Freiheit ist hier überhaupt nicht die Rede, durch die Verletzung des Briefgeheimnisses wird ein Staatsbürgerrecht, ein Staatsgesetz verletzt. Die Sperre kann nur der Richter anordnen, niemals ein Generalkommando. Das Reichsgericht hat im Band 49 seiner Entscheidungen, Seite 162, ausführlich dargelegt, daß die vollziehende Gewalt, die die Militärbefehlshaber erhalten haben, sich nur darauf beziehe, daß sie die zur Ausführung eines Gesetzes nötigen Anordnungen zu erlassen haben, also zu prüfen haben: Ist es nötig, solche Anordnungen zu erlassen? Niemals aber sind sie dadurch berechtigt zur Aufhebung eines Gesetzes. Eine solch ungeheuerliche Auslegung ist in keinem Kommentar zu finden. Es wäre dasselbe, als wenn man deduzieren würde, der König sei als vollziehende Gewalt berechtigt, ein Gesetz aufzuheben. Das Tatbestandsmerkmal einer strafbaren Handlung liegt bei diesem Vorgehen des Generalkommandos zweifellos vor. Diese Verletzung des Briefgeheimnisses erinnert an die schwärzesten Zeiten des schwarzen Kabinetts. In einem um seine Freiheit ringenden Deutschland dürfen solche Dinge nicht Vorkommen.
Ministerialdirektor Lewald: Der Vorredner legt das Belagerungszustandsgesetz zu eng aus. Das Reichsgericht hat wiederholt anerkannt, daß auf Grund des § 9b auch neues Recht geschaffen werden kann.
Abg. Stadthagen: § 9b handelt nur von Verboten. Was für ein Verbot ist denn hier ergangen? Glaubt der Ministerialdirektor etwa, daß ein Gericht sich findet, das einen Postbeamten bestraft, wenn er entgegen der Anordnung des Generalkommandos einen Brief aushändigt? Er ist ja zur Aushändigung verpflichtet. Wir müssen diesen Anfängen eines schwarzen Kabinetts mit aller Entschiedenheit entgegentreten.
Die Resolution Bernstein über die Verletzung des Briefgeheimnisses wird gegen die Stimmen der Soz. Arbg., Sozialdemokraten und Polen abgelehnt.
Ein englisches Gebet. Am 2. Januar 1916 fand in der Paulskathedrale in London ein nationaler Bittgottesdienst statt, dem unter anderen der Oberbürgermeister von London, die Stadträte und Sheriffs (oberste Beamte der Grafschaft) und einige achtzig Mitglieder der Londoner Kaufmannschaft in Amtstracht beiwohnten. Der Erzbischof von Canterbury leitete den Gottesdienst, der folgendes Gebet enthielt:
- „Lasset uns Gott bitten, daß er aus den Wirren und dem Elend des Krieges ein besseres Verständnis für das
[138] wahre Verhältnis von Recht und Macht erwachsen lasse und ein tieferes Erfassen der Botschaft Christi in seiner Bedeutung für die Gemeinschaft der Völker. Mögen wir keinen Wunsch haben, unsere Feinde vernichtet zu sehen, nur um ihrer Demütigung willen.
- Lasset uns für sie wie für uns selbst wünschen, daß ihre Augen für die Erkenntnis der Wahrheit geöffnet werden mögen; lasset uns beten, daß durch die Gnade Gottes der Tag kommen möge, an dem wir einander verstehen und achten lernen, und uns als Freunde vereinigen, um nach dem gemeinsamen Guten zu streben.
- Und vor allem lasset uns beten, daß wir, wenn der ersehnte Friede kommt, von dem festen Willen erfüllt sein mögen, die bittere Erinnerung an unsere Kämpfe dadurch auszulöschen, daß wir von neuem als Menschen von gutem Willen uns in den Dienst der hohen Aufgabe stellen, die Völker der Welt zur wahren Erkenntnis unseres einzigen Erlösers und des Herrn über uns alle und zum Gehorsam gegen ihn zu führen.“
Möchten alle Geistlichen sich angetrieben fühlen in diesem Sinne, jeder in den Formen, die sein Bekenntnis ihm eingibt, die einstige Verständigung der Völker vorbereiten zu helfen.
Die Frage eines Ausgleichsfriedens. Die „Zürcher Post“ vom 27. Mai enthält folgende Zuschrift: In den letzten Apriltagen wurde die Berner Postbehörde von der französischen Postbehörde verständigt, daß die Militärzensur eine Sendung des „Bundes der Menschheitsinteressen“ an den Präsidenten Wilson beschlagnahmt habe. Dieselbe enthielt die „Menscheit“ und die „Voix de l’Humanité“ vom 15. März mit den von Professor Dr. R. Broda (Bern) stammenden Vorschlägen für einen Ausgleichsfrieden und eine Bitte an die amerikanische Regierung, dieselbe wolle die Vorschläge zum Ausgangspunkt einer Vermittlungsaktion nehmen.
Soeben ist jedoch am Sitze des Bundes für Menschheitsinteressen in Bern ein Schreiben des Staatsdepartements zu Washington eingetroffen, dahingehend, daß die amerikanische Regierung die Vorschläge erhalten habe und in entsprechende Erwägung ziehen werde. Es scheint also, daß die französische Regierung die auf Beschlagnahme lautende Verfügung der eigenen Zensurbehörde wieder zurückgezogen hat. Seither hat Präsident Wilson bekanntlich auch in seiner Rede zu Charlette eine solche Aktion in Aussicht gestellt.
Ein weiteres Symptom für das Interesse an der Idee eines Ausgleichsfriedens mag darin erblickt werden, daß dem Bunde für Menschheitsinteressen auch von amtlicher [139] Stelle des Deutschen Reiches ein Dankschreiben für die Ueberreichung seiner Vorschläge zugekommen ist.
Erläuternd mag beigefügt werden, daß dieselben die territorialen Streitfragen durch einen auf die relativ stärksten spezifischen Bedürfnisse jedes Staates aufgebauten Austausch von Zugeständnissen zu lösen suchen und zwecks Sicherung eines Dauerfriedens eine Ausgestaltung des Völkerrechts im einzelnen darlegen und begründen.
In Königsberg starb der Landschaftsdirektor a. D. Adolf Eckert im Alter von 85 Jahren, der langjährige Vorsitzende unserer Ortsgruppe. Ehre seinem Andenken!
Der Vorstand der Niederländischen Organisation für einen dauernden Frieden, hat am 9. Mai ein Telegramm folgenden Inhalts an Mr. Hamilton Holt in New-York geschickt:
„Der Vorstand des „Niederländischen Anti-Oorlog Raad“ betrachtet die Tatsache, daß die Deutsche Regierung in ihrer letzten Note an Amerika erklärt, zweimal ihre Bereitschaft zum Frieden bekundet zu haben, als einen neuen Grund zur Einleitung einer Vermittlungsaktion von neutraler Seite. Die Schwedische zweite Kammer hat offiziell den Wunsch für eine Zusammenarbeit der[WS 2] Neutralen zu Gunsten der Vermittlung ausgesprochen. Der Anti-Oorlog Raad hat denselben Gedanken bei der Niederländischen Regierung befürwortet. Auch in der Schweiz gibt es eine starke Bewegung in derselben Richtung. Der Niederländische Vorstand hofft, daß sie ein Zusammenwirken von amerikanischen Friedensorganisationen zu diesem Zweck für möglich erachten werden. Wollen Sie nicht im Einverständnis mit der Lake-Mohonk Conference, Präsident Wilson bitten, das Zustandekommen einer Neutralen-Konferenz zu fördern, die ihrerseits ein Vermittlungsangebot machen sollte? Die letzten Reden von Bethmann-Hollweg und von Asquith eröffnen die Möglichkeit einer Verständigung.
Wie man in Holland über das Kriegsende denkt. Eine Amsterdamer Korrespondenz der „Neuen Zürcher Zeitung“ enthält eine recht interessante Zusammenfassung der Aeußerungen, die der ehemalige holländische Finanzminister Treub kürzlich einem ungarischen Journalisten gegenüber gemacht hat.
„Fassen wir – heißt es in dem erwähnten Bericht – die Auslassungen des ehemaligen Finanzministers zusammen, so ergibt sich daraus zunächst die Gewißheit eines [140] viel rascheren Kriegsendes, als man vielfach befürchtet. Man glaubt hier nur noch an eine einzige große Offensive der Verbündeten, und zwar längstens für die Sommermitte. Eine bis zum Herbst andauernde Untätigkeit der beiderseitigen Heere, wie sie sich in kleinen militärischen Aktionen von lokaler Bedeutung widerspiegelt, hält man hier für ausgeschlossen, ebenso den dritten Winterfeldzug, von welchem man in pessimistischen Kreisen gelegentlich bereits spricht. Herr Treub glaubt persönlich nicht an einen so starken Erfolg der bevorstehenden Verbündeten-Offensive, daß sie zur Befreiung Nordfrankreichs und Belgiens von der deutschen Umfassung und Umklammerung führen könnte. An der Wiederherstellung der belgischen Unabhängigkeit und an der Rückgabe des von den deutschen Truppen besetzten französischen Gebietes zweifelt Herr Treub nicht, aber er ist überzeugt, daß erst der Friedensschluß diese glückliche Lösung bringen wird, nachdem das Deutsche Reich die Sicherheit erlangt haben wird, daß ihm alle seine Kolonien zurückgegeben werden. Die Veränderungen der europäischen Landkarte werden ausschließlich den Osten und den Balkan betreffen. Alle diese Kriegsergebnisse werden in zwei bis drei Monaten so unabänderlich feststehen, daß niemand mehr die Hoffnung haben wird, sie noch weiter zu seinen Gunsten zu verschieben. Dann wird der psychologische Augenblick zum Niederlegen der Waffen für alle Kriegführenden gekommen sein. Eben weil die Kriegsdauer sich ersichtlich ihrem Ende nähert, hält Herr Treub an der Ueberzeugung fest, daß Holland nicht mehr in den Weltkrieg verwickelt werden und in der Lage sein wird, seine Neutralität bis zum Schluß des gewaltigen Völkerdramas zu wahren.“
Eine Eingabe von irischen Frauenrechtlerinnen an Mr. Asquith. Folgende Briefe richtete die Vorsitzende des irländischen Ausschusses für dauernden Frieden an Mr. Asquith und an[WS 3] Mr. Redmond.
Sir,
Wir sehen uns gezwungen, Ihnen unser tiefstes Bedauern darüber auszusprechen, daß Sie in der Debatte im Unterhaus vom 23. März unterlassen haben, in bestimmten Ausdrücken zu erklären, unter welchen Bedingungen die Regierung bereit ist, Friedensvorschläge in Betracht zu ziehen. Wir befinden uns in voller Sympathie mit dem Entschluß der Regierung, Belgien und Serbien ihre vollständige Wiederherstellung zu verschaffen.
Aber wir sind überzeugt, daß die Rechte der kleinen, europäischen Staaten nicht durch die Gewalt der Waffen auf eine unanfechtbare Basis gestellt werden können.
[141] Das Ziel kann nur erreicht werden, wenn sämtliche Großmächte sich von der Gerechtigkeit und der Vernunft werden leiten lassen, und wenn sie nach dem Prinzip handeln, daß Autonomie keinem Volke oder keiner Nation auf ihren Wunsch verweigert werden soll.
Wir beklagen fernerhin die Wiederholung der unbestimmten Phrase, „bis die militärische Herrschaft Preußens ganz und endgültig niedergerungen ist.“
Diese Phrase wird allgemein so aufgefaßt, als ob es auf die Zerstörung und Zerstücklung von Deutschland abgesehen wäre. – Solch ein Kriegsziel der Alliierten würde den Widerstand der Mittelmächte stärken und eine nutzlose Verlängerung des Krieges, die den wahren Interessen der Alliierten wie denen ihrer Feinde zuwiderläuft, nach sich ziehen. – Wenn jenes Kriegsziel der Alliierten verwirklicht werden könnte, würde es eine tyrannische Verletzung der Rechte der Nationen bedeuten, welche für die Zukunft der kleinen Nationen von schlimmer Vorbedeutung wäre. Wenn die landläufige Auslegung nicht die richtige ist, so halten wir es für äußerst wichtig, daß sie sofort öffentlich von der Regierung zurückgewiesen wird und das wahre Kriegsziel der Alliierten in Worten ausgedrückt werde, die weniger mißdeutet werden können.
Im Namen des Irischen Comitees der Internationalen Frauen-Liga verbleibe ich Ihre ergebene
An John Redmond.
Sir,
Ich beehre mich beifolgend die Abschrift eines Briefes zu überreichen, der von dem Ausschuß der irischen Frauen der Internationalen Liga an Mr. Asquith, bezüglich seines Ausspruches über die Kriegsziele der Alliierten, gerichtet worden ist.
Da das irische Volk durch Gefühl, Tradition und Interesse an das Prinzip der Nationalität gebunden ist, muß dasselbe es als seine besondere Pflicht erachten, daß dieses Prinzip von jeder in den Krieg verwickelten Nation gewahrt werde, und jede Tendenz seitens der Alliierten, dasselbe außer Acht zu lassen, in dem Wunsche, die deutsche Nation zu zerschmettern, zurückweisen.
Indem wir den Entschluß der Alliierten, die Freiheit Belgiens, Frankreichs und Serbiens sicherzustellen unterstützen, möchten wir sie an die Verantwortung der irischen Partei erinnern, jeden Vermittlungsversuch für einen gerechten und ehrenhaften Frieden zu ermutigen.
Die höchsten Interessen der Menschheit und der Zivilisation verlangen ein schleuniges Ende der Barbareien dieses Krieges. Wir glauben, daß die irische Partei einig ist mit [142] denen, welche wünschen, zwischen Groß-Britanien und Irland einen Meinungsaustausch zu erlangen, der dazu beitragen wird, die Furcht, das Vorurteil und die Kriegsleidenschaft des Feindes zu mäßigen anstatt sie zu schüren.
Im Namen des irischen Frauen-Comitees der Internationalen Liga verbleibe ich Ihre ergebene
Turin, 18. Mai. (T. U.) Der Londoner Vertreter der „Stampa“ berichtet seinem Blatte, daß die in London gegründete Friedensliga ein Bureau eröffnete und einen Friedensappell ausgab. Es wurden Druckschriften[WS 4] ausgelegt, die zur Unterzeichnung einer Petition an die Regierung um Friedensschluß auffordern.
Die in Amsterdam erscheinende Zeitung „International“ enthält in ihrer April-Nummer Teile eines offenen Briefes französischer Frauen, der in möglichst getreuer Uebersetzung hier wiedergegeben wird.
Zur Friedensdebatte im Unterhause. „Rotterdamsche Courant“ meldet aus London: In einer Friedensdebatte im Unterhause sagte der liberale Abgeordnete Ponsonby: Es ist ebenso Pflicht des Unterhauses, die Arbeit der Diplomatie zu leiten, wie über die Kriegführung zu wachen. Wir haben keine Ursache, uns zu diplomatischen Erfolgen vor oder während des Krieges zu beglückwünschen. Wenn der Krieg fortdauern soll, bis der deutsche Reichskanzler und der Staatssekretär des Aeußern sich darüber geeinigt haben, wer für den Ausbruch des Krieges verantwortlich ist, fürchte ich, daß das Ende noch in weiter Ferne liegt. Der Redner fuhr fort: Hat Deutschland sich geweigert, Belgien wiederherzustellen und Frankreich und Serbien zu räumen? Hat es sich geweigert, ein unabhängiges Königreich Polen aufzurichten und an der Ernennung einer internationalen Kommission, zur Erhaltung des europäischen Friedens mitzuwirken? Wir wissen es nicht, und Deutschland wurde nie darum gefragt. Das englische Volk muß wissen, ob Deutschland diese Dinge verweigert hat, oder ob ein anderes geheimes Abkommen England daran hindert, Friedensverhandlungen anzufangen.
Friedensdemonstrationen in Schottland. Der „Labour Leader“ berichtet über die glänzende Maifeier in vielen schottischen Städten. Sie stand überall im Zeichen der Friedensidee und des internationalen Sozialismus. Besonders großartig verlief die Feier in Glasgow. Ueber 200 Organisationen nahmen an ihr teil und marschierten mit [143] Fahnen und Musik nach dem für das Meeting bestimmten Platz Glasgow Green. Dort versammelten sich 30 000 Personen um 14 Rednertribünen. Es war die größte Kundgebung, die die Stadt gesehen hat. Sie verlief ohne jede Störung. Einen besonders regen Anteil nahmen die Frauen, die einen Blumentag zugunsten der Partei organisierten.
Der Verlauf der Kundgebungen im ganzen Lande hat gezeigt, daß Schottland für eine mächtige Friedenskampagne reif ist.
Kriegsfeindliche Kundgebungen in Moskau. Nach einer Stockholmer telegraphischen Meldung des „Lokal-Anzeigers“ fand in Moskau auf dem Roten Platz eine gewaltige Teuerungskundgebung statt. 10 000 Menschen, vornehmlich Arbeiter, waren zusammengeströmt. Allgemein wurde geschrieen: „Nieder mit dem Krieg! Wir hungern!“ Die Mehrzahl der Geschäfte schloß sofort. Trotzdem stürmte die Menge eine Anzahl Läden und plünderte sie aus. Die Polizei hielt sich den Kravallen fern. Der Moskauer Stadthauptmann ließ am nächsten Tage ein Beruhigungsmanifest anschlagen, worin es heißt: „Ich sehe mit Kummer, daß die Moskauer die ernste Lage Rußlands nicht verstehen. Eine allgemeine Unzufriedenheit herrscht vor! Lebensmittel fehlen! Alles schreit: Möge der Krieg enden! Vergeßt nicht, alle Entbehrungen sind fürs Vaterland! Statt euren Aerger auszutoben, bedenkt: Auch der Feind entbehrt! Erinnert euch des Wortes einer der tüchtigsten Generale, die besseren Nerven siegen! Die schweren Tage werden bald vorbei sein, und Moskau hat wieder alles in Fülle. Moskau gebe der Welt ein Beispiel heißer Vaterlandsliebe[!]“
Schweden und die Friedensaussichten. Am 21. Mai fanden in Stockholm große Friedensdemonstrationen statt. In zwei überfüllten Versammlungen sprachen Hjalmar Branting, Dr. Albert Schenk aus Bern, Dr. Gulli Petrini, Dr. Lockmer, Dr. de Jong van Beek en Donk (der Geschäftsführer des Anti-Orloog Raad). Auf den Straßen wurden weiße Narzissen als Friedensblumen verkauft.
Hauptredner der Versammlung im „Auditorium“, die Branting Lindhagen leitete, war H. Branting.
Man müsse sich, meint Branting später, über die Auffassungen in den kriegführenden Ländern über einen sicheren und dauerhaften Frieden vergewissern, denn allein einen solchen könnten die Friedensfreunde anstreben. Die vorbereitende Friedensarbeit, die in der weiteren Präzisierung der Kriegsziele liegt, geht deutlich vorwärts.
Die Friedensgedanken sind, meint Branting, auf alle Fälle im Anmarsch. Gewiß sind noch Schwierigkeiten zu [144] überwinden, aber so trostlos wie vor einem Jahr ist es nicht. Die ersten schwachen Strahlen der Friedenssonne beginnen den Horizont zu erhellen. Es ist zu hoffen, daß die Sonne höher steigt und daß es nicht mehr lange währt bis zu den Tagen des sicheren und dauernden Friedens, daß die Menschheit wieder aufatmen kann nach dem fürchterlichen Alpdruck dieses Krieges.
Die Vereinigten Staaten in und nach dem Kriege. Die Vereinigten Staaten wollen sich den Markt der Vierverbandsländer nicht sperren lassen. Das ist angesichts ihrer kolossalen Ausfuhr nur allzu verständlich. Der Ausfuhrüberschuß ist von 1913 bis 1915 von 800 auf 1 700 Millionen Dollar oder 7,5 Milliarden Mark gestiegen. Durch diese gewaltige Verbesserung der Zahlungsbilanz, die durch die Einschränkung des Reiseverkehrs, die Verschlechterung der europäischen Währungen, die Verringerung der von den Auswanderern nach Hause gesandten Ersparnisse noch gefördert wurde, sind die Vereinigten Staaten zu einer Schuldentilgung in gewaltigstem Maßstabe befähigt, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Aus dem kolonialen Schuldnerland wird ein starker, ausdehnungslustiger, mit Kapital übersättigter Staat, dessen Reichtum mehr noch im Verhältnis zum verarmenden Europa als absolut wächst.
Der Prozeß der Umwandlung der Vereinigten Staaten aus einem Schuldner- in einen Gläubige[r]staat ist noch nicht abgeschlossen, wurden doch die amerikanischen Verpflichtungen an Europa vor dem Kriege auf nicht weniger als sechs Milliarden Dollar geschätzt. In der Politik bedingt die Entschuldung der Vereinigten Staaten, die Verschuldung Europas einen fundamentalen Wandel der Stellung und Beziehungen aller Kolonialländer, Kanadas sowohl wie Argentiniens.
Die amerikanische Ausfuhr besteht zum überwiegenden Teil aus Metallen, Petroleum, Getreide, Vieh und Fleisch. Darum ist die Kriegskonjunktur in den Vereinigten Staaten allgemein, darum ist ihre Volkswirtschaft gesund, darum gewinnen nicht nur wenige Trustmagnaten, sondern auch die Farmer. Die Vereinigten Staaten sind ein Land mit sehr starkem bäuerlichen Einschlag. Geht es den Bauern gut, so dem ganzen Land. Die für die amerikanische Wirtschaft so wichtigen Eisenbahnen verdienen wenig an der Verfrachtung von Munition und viel an der der Ernte; der Stahltrust weist nicht wegen Panzerplattenlieferungen fabelhafte Rekorderträge aus, sondern weil die allgemein glänzende Konjunktur zur Erneuerung alten Materials und Erweiterungen mächtig anregt.
Daraus folgt, daß der wirtschaftliche Aufschwung der Vereinigten Staaten nicht kurzlebig sein wird, daß er zwar eine Folge des Krieges ist, aber mit dem Kriege nicht [145] aufhören wird. Kehrt der Frieden wieder, so wird sich erst die jetzt künstlich zurückgehaltene Begehr nach Baumwolle stürmisch austoben und die Pflanzer der Südstaaten als erste von der Friedenskonjunktur gewinnen lassen. Und die Preise für Getreide, Vieh, Metalle, Fabrikate werden hoch über dem alten Friedensstand bleiben, solange die europäische Landwirtschaft ihre alte Ergiebigkeit nicht wiedergewonnen hat, die europäische Industrie nicht mit Rohstoffen versehen und auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig ist.
Auf diese wirtschaftliche Macht vertrauen die Vereinigten Staaten in der gegenwärtigen Krise. Wie würden die Vierverbandsmächte jubeln, wenn sie, denen der Erfolg der Waffen versagt geblieben ist, in der Sperrung des amerikanischen Marktes und der amerikanischen Erzeugnisse das stärkste Druckmittel auf Deutschland hätten. (z)
Die Friedensbewegung in Amerika. Die erste Versammlung zur Herbeiführung des Friedens wurde abgehalten. Es waren 2000 Personen anwesend, darunter Vertreter der Universitäten, Geschäftsleute und Arbeiterpolitiker. Die Beratungen waren rein akademisch. Unter den Rednern waren Taft und der Staatssekretär für den Krieg.
Eine Friedensrede Wilsons. Präsident Wilson hielt die erwartete Rede vor Friedensliga, in der er sagte, die Ursachen des europäischen Krieges seien gegenwärtig unwesentlich. Die großen Nationen der Welt müßten ein Abkommen über die Grundlage ihrer gemeinsamen Interessen erreichen. Erstens sei jedes Volk berechtigt, seine eigene Souveränität zu wahren, zweitens hätten die kleinen Staaten das Recht auf die gleiche Achtung ihrer Souveränität und Integrität wie die großen Staaten. Drittens hätte die Welt einen Anspruch darauf, von jeder Störung des Friedens befreit zu werden, die von einem Angriff ausgehe. Wilson sagte zum Schluß, die Vereinigten Staaten seien bereit, sich jedem Bunde von Nationen anzuschließen, der sich zur Verwirklichung dieser Ziele und zu ihrem Schutze gegen eine Verletzung bilde.
Präsident Wilson erklärte weiter, Recht und Eigentum in den Vereinigten Staaten seien durch den Krieg sehr in Mitleidenschaft gezogen. Je länger der Krieg dauere, desto tiefer würden sie davon betroffen. Er sollte ein Ende nehmen. Sobald er beendet wäre, wären die Vereinigten Staaten ebenso wie die Kriegführenden daran interessiert, daß der Friede ein dauernder werde. Wofern es überhaupt ein Vorrecht der Vereinigten Staaten sei, einen Vorschlag zu machen oder die Friedensbewegung unter den kriegführenden Völkern anzuregen, sei er sicher, daß das Volk der Vereinigten Staaten den Wunsch hege, daß die Regierung folgende Richtlinien innehalte:
[146] Erstens: Beilegung des Zwistes zwischen den Kriegführenden. Was die Interessen der Vereinigten Staaten beträfe, so verlangten sie nichts Wesentliches für sich selbst. Sie seien in keiner Weise Partei im Streite.
Zweitens: Eine allgemeine Vereinigung der Nationen, um die Sicherheit der Hochstraßen der See für den gemeinsamen, unbehinderten Gebrauch aller Völker der Welt unverletzt aufrechtzuerhalten und um zu verhindern, daß ein Krieg begonnen werde entweder gegen diese Verträge oder ohne Warnung und ohne volle Unterwerfung der Ursachen unter die Meinung der Welt. Das sei eine tatsächliche Bürgschaft für die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit.
Bei Orell Füßli, erschienen:
1. in 3 Heften die geistvollen Predigten von H. Kutter über Gideons Geist – ein flammender Protest gegen den schlappen Fatalismus, gegen die angebliche Eigengesetzlichkeit von Politik und Geschäft, sowie gegen den Doktrinarismus[WS 5] der Theologie. Kutter will an Stelle des gepredigten Gottesbegriffs Gott selbst in der Macht des Gewissens und der Gerechtigkeitsforderung erleben und schreit nach der befreienden Tat, die uns über die Verdumpfung und Versumpfung des Zeitgeistes hinausheben soll. Es ist ein Rauschen und Brausen aus der Quelltiefe religiöser Ursprünglichkeit, das man in diesen Predigten vernimmt, und daher kann auch ein modern denkender Mensch sich daran wahrhaft erbauen.
2. Der arabische Orient und der Krieg von Dr. A. Mi-Baschan. Preis 1 Mk. Eine sehr instruktive Schrift, die tiefe Einblicke in die Verlotterung des Orients, aber auch in die wertvolle Kulturarbeit der Schwaben und Zionisten sowie in die politische Bedeutung des Araberstammes gewinnen läßt. Es ist eine reiche Fülle von Aufgaben, die der europäischen Kultur im nahen Orient gestellt sind. Die Schrift ist auch in hochpolitischer und wirtschaftspolitischer Hinsicht von hohem Wert.
Briefe eines Kriegsuntauglichen von Dr. Ludwig Zoepf. Bei Holland u. Josenhans, 56 Seiten. Preis 50 Pfennig.
Wir haben diese Briefe im einzelnen bereits empfohlen und freuen uns für den Verfasser, daß es ihm gelungen ist, seine Geisteserzeugnisse zu einem Bändchen zu vereinigen. Die Briefe sind von einer tief empfundenen Religiosität, von wahrer Vaterlandsliebe und starkem Opfersinn durchweht, der Weg zu sittlicher Erneuerung wird mit Inbrunst gesucht; der drohenden Gefahr der Veräußerlichung und Verflachung mit heiligem Ernst gewehrt.
[147] Osteuropäische Zukunft. Zeitschrift für Deutschlands Aufgaben im Osten u. Südosten. Herausgegeben von: Dr. Falk Schupp[.] Verlag: J. F. Lehmann, München. Die Zeitschrift enthält interessante und mit großer Sachkenntnis geschriebene Artikel, die zwar von einseitigem Standpunkt aus geschrieben, doch geeignet sind, gewisse Streiflichter auf schwierige politische Gegenwartsprobleme zu werfen. Ein besonderes Interesse erwecken die Aufsätze über die Ukraine, die mit besonderer Vorliebe geschrieben sind, nennt sich doch die Zeitschrift neben ihrem Haupttitel: „Amtliches Organ für ukrainische Freiheitsbestrebungen.[“]
Die richtige Ansicht über die Entstehung der menschlichen Handlungen. Aus dem Böhmischen von K. J. Rohan. Bei Josef Pelcl, Prag. Preis 1,50 M. Der Verfasser hat recht, wenn er den Willen als determiniert erklärt, aber unrecht, wenn er in ihm keine dauernde Kraft, sondern nur einzelne unzusammenhängende Akte darin sehen will. Die Hoffnung, daß seine „Entdeckung“ eine weltumwälzende Bedeutung haben werde, können wir nicht teilen. Die Entlastung der Gemüter, die er mit seiner Anschauung erreichen will, schließt doch die Wahrheit nicht aus, daß die Menschen die Ursache von ungeheuren Zusammenbrüchen werden können, daher kann auch das Wort Schuld nicht aus dem Wörterbuch der Menschheit gestrichen werden.
Hans Paasche, Fremdenlegionär Kirsch. Von Kamerun in den deutschen Schützengraben. Verlag A. Scherl, Berlin. 180 Seiten. Ich habe selten eine Schrift mit so viel Genuß gelesen, wie die vorliegende. Die abenteuerliche Flucht eines Deutschen aus englischer Gefangenschaft, die Wendung seines Schicksals, die ihn zum französischen Fremdenlegionär machte, sein Aufenthalt in Bayonne, Lyon und im französischen Schützengraben, und die Flucht in die deutsche Linie hinein, ist so anschaulich und packend geschrieben, daß man den mutigen und tapferen Mann unwillkürlich liebgewinnt und sich des Gelingens seines Abenteuers mit ihm freut. Von besonderem Interesse ist dabei, daß man den Krieg zwar mit den Augen eines Deutschen, aber doch von französischer Seite aus beleuchtet sieht. In dieser Hinsicht ist die Schrift in gewissem Sinn dem Zusammenbruch von Zola an die Seite zu stellen, ein Werk, das bekanntlich dadurch seinen besonderen Reiz auf die deutschen Leser ausübt, daß es inmitten aus dem französischen Volk heraus die Erlebnisse des eisernen Jahrs vor Augen führt.