Die blaue Tiefe
Die Eltern des Glaubens. – Der Bischof von Bergen. – Meermänner und Meerweibchen. – Der große Seekraken von einer Poststunde im Durchmesser. – Die Ausdünstungen des Krakens. – Die große Seeschlange. – Die Riesentintenfische.
Furcht und Wundersucht sind die beiden Eltern des Glaubens. Der Mensch fürchtet sich vor dem Unbekannten, was sein Verstand unmittelbar nicht fassen, seine Sinne nur unvollständig zu entdecken vermögen; er glaubt in Erscheinungen, deren thatsächlicher Grund ihm nicht in die Augen springt, Aeußerungen übernatürlicher Kräfte zu sehen, deren Wirkungen er nicht berechnen kann, und sucht dann hinter diesen Erscheinungen Wesen als Ursachen, denen er ganz besondere Macht und besondere Eigenschaften beilegt. Hat ihn einmal die Furcht vor solchen übernatürlichen, geheimnißvollen Wesen erfaßt und durchdrungen, glaubt er einmal, sei es nun an Hexen oder Gespenster, an Teufel oder Götter, so sucht er auch die Aeußerungen solcher geheimnißvoller Wesen in allen gewöhnlichen, streng gesetzmäßig sich abspinnenden Naturerscheinungen und stellt hinter jede keimende Pflanze ein wunderbares Wesen, das sie treibt, hinter jeden Menschen einen guten Genius, der ihn inspirirt, und einen bösen, der ihn verführt. So sieht man denn bald ein Wunder in jedem Sonnenaufgang, ein Wunder in jeder Blüthe, und je unreifer die Naturauffassung, je geringer die Kenntniß der Weltgesetze, desto üppiger sproßt dieser Glaube an wunderthätige Wesen und Wunderwirkungen, der sich an die gewöhnlichen Vorgänge jedes Tages knüpft. Die unzugänglichen Orte, wo kein Fuß hinkommen, kein Auge hinsehen kann, werden dann mit solchen Wesen und ihren Geschöpfen bevölkert, und je unerreichbarer die Wohnorte, desto lebhafter bemüht sich die Phantasie, diese nach Carrière „unmittelbar vom Himmel ausströmende Gabe“, dem Leeren einen Inhalt zu schaffen. So bevölkert der Bergbewohner die unnahbaren Gipfel mit „Berges-Alten“ und ähnlichen „Gratthier-Beschützern“, bis irgend ein Alpenclub sich bildet, der mit Leitern und Seilen dem Phantom zu Leibe rückt; so versetzt der Wüstensohn in die gaukelnden Spiele des glühenden Horizontes die Fee Morgana, welche der Huf seines Rosses niemals erreichen kann; so läßt der Bergmann in dunkeln Tiefen die Gnomen und Kobolde hausen und sich mit Einstürzen und schlagenden Wettern so lange gegen den Eindringling wehren, bis Verschalungen und Sicherheitslampen die neidischen Geister ihrer Waffen berauben; so sieht der Fischer und Seemann in den Abgründen der Wellen neben Nixen und Meerweibchen räthselhafte Ungethüme ihr Wesen treiben und unendliche Schätze von Korallen und Perlen von Kraken und Seeschlangen bewacht werden, gegen welche der Walfisch nur ein Zwerg an Größe und der Hai ein Muster von Sanftmuth ist.
Ich lese in „Erich Pontoppidan’s, Bischofs über das Stift Bergen in Norwegen, Versuch einer natürlichen Historie von Norwegen, Worinnen die Luft, Grund und Boden, Gewässer, Gewächse, Metalle, Mineralien, Steinarten, Thiere, Vögel, Fische und endlich das Natural, wie auch die Lebensarten und Gewohnheiten der Einwohner dieses Königreiches beschrieben werden,“ (Kopenhagen 1753) in der Vorrede, des zweiten Theiles: „Ich hoffe, daß diejenigen, die sich an der Betrachtung der herrlichen Haushaltung des großen Schöpfers mit unvernünftigen Thieren belustigen, manche Spuren seines weisen Rathes, seiner liebreichen Absicht und seiner allmächtigen Hand darin finden und dadurch aufgemuntert werden können, mit Sirach, Cap. 43. V. 5 zu denken: das muß ein großer Herr sein, der sie gemacht hat.
Das achte Capitel, welches von den nordischen Seeungeheuern oder von den Wunderthieren in der See handelt, dürfte wohl ebensoviel hierzu beitragen, als eines derer vorhergehenden. Da man in unseren Zeiten weit mehr als vor Zeiten eine kindische Leichtgläubigkeit scheuet und aus der Ursache seinen Beifall fast allzulange zurückhält, als zu frühzeitig damit herausrucket: so sehe ich voraus, daß derjenige, welcher blos den Inhalt des bemeldeten achten Capitels lieset, und darinnen die Meermänner, die großen Seeschlangen von etlichen hundert Elen und den noch weit größeren Seekraken, Kraxen oder Horven findet, mich der vorbemeldten Leichtgläubigkeit in diesen Materien beschuldigen wird, und dieses muß ich so lange erdulden, bis er das Capitel durchgelesen hat. Alsdann aber werde ich keiner Entschuldigung bedürfen.“
Eine gute Dosis von Leichtgläubigkeit gehört nun zwar zu dem Geschäfte eines Bischofs, und ohne dieselbe könnte Einer wohl nicht dazu kommen, Bischof zu werden und zu bleiben – aber so viel wie der gute Pontoppidan in seinem achten Capitel entwickelt, dürfte für natürliche Dinge doch wohl zu viel sein. Da kommen nun zuerst die Nachrichten von Meermännchen und Meerweibchen, die begreiflicher Weise auch Kinder haben, dänisch sprechen, Königen Lieder vorsingen, und wenn auch der gute Bischof letzteres für Märchen hält, die geeignet seien zu bewirken, „daß auch nur mäßig verständige Leute den Geschichten ihren Beifall versagen und zugleich ein Mißtrauen in die Richtigkeit des ganzen Wesens und Wirklichkeit setzen, so hat man doch inzwischen keineswegs Grund oder Fug, dieses Letzte zu thun, insofern die Sache nicht an sich selbst ungereimt, geschweige unmöglich ist, oder auch wenn ihr nicht die Bekräftigung vieler unverwerflicher Augenzeugen [572] mangelt.“ Da man nun Seepferde, Seekühe, Seewölfe, Seehunde und Meerschweine habe, so meint der Bischof, könne es auch Meermenschen geben, und um diese Möglichkeit zu beweisen, steuert er mit vollen Segeln in die Darwin’sche Theorie, in die Aehnlichkeit der Affen und Menschen hinein und bekämpft zugleich Gründe gegen die Existenz der Meermenschen, die denjenigen, welche heut zu Tage gegen die Abstammung des Menschen vom Affen vorgebracht werden, eben so ähnlich sehen, wie ein Ei dem andern.
Obgleich nun der Bischof selbst gerichtlich beglaubigte und beschworene Zeugnisse von Meermännern und Kindern beibringt, so scheint doch jetzt in Norwegen der Glauben an diese Art von Seeproducten nach und nach zu Grunde gegangen zu sein – wenigstens habe ich weder selbst davon gehört, noch auch in neueren Schriften Andeutungen davon gefunden. Die Ansicht, daß es sich um seltenere Arten von Seehunden handele, an deren Anblick die Fischer nicht gewöhnt sind, scheint allmählich auch unter dem Volke Wurzel gefaßt zu haben.
Nicht so mit dem Kraken, Kraxen, Horven oder dem Ankertroll (Troll heißt jedes Zauberwesen), der an Größe einer schwimmenden Insel gleicht. „Unsere Fischer,“ meldet der Bischof, „sagen gleichsam mit einem Munde und ohne den geringsten Widerspruch, daß, wenn sie, insonderheit in warmen Sommertagen, einige Meilen in die See hinausrudern, ihre Nahrung zu suchen, und sie, nach der Kenntniß der Seegründe, welches sie ihre Mee nennen, wie gewöhnlich, eine Tiefe von achtzig bis hundert Klaftern finden sollten, sie zuweilen nur dreißig, zwanzig oder noch weniger Klaftern Wasser antreffen, darin sie aber auch ganz gewiß den größten Ueberfluß dessen, was sie suchen, an Dorschen, Längen und Brosmern (verschiedene Stockfischarten) finden. Ihre Angeln sind kaum ausgeworfen, so können sie sie schon ganz voller Fische wieder heraufziehen. Daraus merken sie, daß der Kraken im Grund ist und diese ungewöhnliche Erhöhung verursachet. Sie fahren inzwischen mit Freuden fort, sich dieser guten Gelegenheit zu bedienen, und zuweilen versammeln sich in einem mäßigen Umfange wohl zwanzig und mehr Böte. Das einzigste, worauf sie mit großem Fleiße Acht haben, ist dieses, ob die Tiefe unter ihren Seilen eben dieselbe bleibt oder ob sie nach und nach höher und das Wasser seichter wird. In diesem letzten Falle merken sie, daß der Kraken sich erhebet und höher hinaufgeht. Alsdann ist es keine Zeit mehr, länger zu warten. Sie geben ihre ganze Fischerei auf, ergreifen alle Riemen, die sie an Bord haben, und rudern auf der einen Seite so geschwind fort, als es möglich ist, um der Gefahr zu entkommen. Wenn sie nun ihre gewöhnliche Tiefe wieder erreicht haben und folglich in Sicherheit sind, so halten sie stille und nach wenigen Minuten sehen sie, daß das Ungeheuer, welches seines Gleichen nicht hat, auf das Obertheil des Wassers in die Höhe kommt und sich daselbst zeiget, obschon nicht in seiner völligen Gestalt und Größe, wie man denken kann, als welche vermuthlich niemals ein menschliches Auge zu betrachten Gelegenheit gebabt hat (außer in seiner Brut oder in seinen Abkömmlingen, von denen ich nachher reden werde), sondern blos mit dem Obertheile seines Körpers, der dem Anscheine nach eine Viertelmeile (einige sagen, noch mehr, ich will aber der Sicherheit wegen die geringste Größe angeben) zu sein scheint und anfangs nicht anders lässet, als ob eine Menge kleiner blinder Scheeren daselbst im Meere wären, die alle mit etwas, das daselbst herumschwimmt und dem Tange oder Meergrase gleichkommt, behänget wären. Hier und da bemerkt man eine größere Erhöhung, wie Hügel, worauf verschiedeue kleine Fische herumspringen, bis sie endlich über die Seiten hinabrollen. Endlich erheben sich einige glänzende Spitzen oder Zacken in die Höhe, die immer dicker werden, je weiter sie über’s Wasser hervorkommen; allein sie werden zuweilen so hoch wie mäßige Mastbäume, also daß, wenn auch eines der größten Orlogschiffe von ihnen getroffen würde, solches mit diesem Ungeheuer zu Grunde gehen müßte; denn nach einem kurzen Zeitverlauf fängt der Kraken an wieder zu sinken und begiebt sich wieder hinab in die Tiefe. Wenn dieses geschieht, so ist die Gefahr ebenso groß, wie zuvor, wenn man sich nahe dabei befindet, weil dessen sinkende Bewegung einen so großen Seeschlund im Meere verursacht, der durch das Anziehen alles mit sich hinunterziehet, nicht anders als das Malstrom bei Moskö. Aus der Erfahrung, die manche Fischer seit langer Zeit sich erworben haben, weiß man dieses, daß der Kraken einige Monate frißt und einige darauf folgende Monate hingegen sich von seinem Unflath wieder erleichtert. Wenn diese Ausleerung geschieht, so kann die Oberfläche des Wassers davon angefärbet werden, ja sie wird gleichsam dick und modericht. Man sagt, dieser Moder wäre, dem Geruche oder dem Geschmacke nach oder nach beiden zugleich, den Fischen so angenehm, daß sie sich von allen Seiten dabei versammelten, und wenn sie sich alsdann diesfalls über dem Kraken aufhielten, da eröffnete er sich oben, um diese seine angenehmen Gäste zu verschlingen und sie in eine neue Lockspeise der andern Fische zu verwandeln. So wird gesagt, relata refero, und ich kann davon keine so gewisse Erfahrung angeben, als von der Hauptsache selbst, ob ich schon nichts gegen die Natur streitendes darin finde.“
Der Kraken kommt also an warmen Sommertagen; er ist eine Viertelmeile wenigstens groß, und auf seinem einer Insel ähnlichen Rücken heben sich Zacken in die Höhe, welche Mastbäumen gleichen. Es will mich bedünken, als gebe sich die Erklärung des Zauber-Ungethüms von selbst. Diese nordischen Fischer stecken voll von den ungeheuerlichsten Aberglaubensresten; eine Menge Dinge, die sie täglich in dem Meere finden, sind für sie Trollfische, welche sie sogleich in die See zurückbefördern. Nun finden solche Fischer bei heißem Wetter und glatter See eine Bank, die sie noch nicht kannten, auf welcher Massen von Fischen sich sammeln. Sie fischen; der Strom treibt sie etwas ab während dieser Beschäftigung und treibt sie vielleicht gegen eine höhere Stelle der Bank. Nun panischer Schreck: der Kraken hebt sich! Man rudert wie besessen, aber muß wenigstens eine Viertelmeile wegrudern, denn der Kraken ist im geringsten Falle so groß. Wer aber jemals in Norwegen gereist ist, der weiß, was eine Viertelmeile ist – etwa zwei englische Meilen oder eine deutsche Poststunde! Ein Thier, eine Poststunde im Durchmesser! Aus dieser Entfernung nun sehen die vor Angst halbtodten Fischer flache Inseln, Klippen und Zacken sich erheben, mit andern Worten, jene bei stillem, heißem Wetter so häufigen Luftspiegelungen, welche, ähnlich wie die Fata Morgana in der Wüste, dem nordischen Schiffer Alles vorzaubern, was er nur irgend wünschen oder fürchten kann. Und wenn sie nun diese glänzenden, in die Luft sich erhebenden, zurücksinkenden, anschwellenden und abnehmenden Zacken gesehen haben, in welche durch diese Vorspiegelung entfernte Küsten, Inseln oder Wolken sich auflösen, so wird die Angst doppelt groß und man flüchtet heim, überzeugt, dem Kraken begegnet zu sein. Hat man nicht die gefangenen Fische als Beweis der Existenz des Ungethüms?
Aber unser Bischof berichtet mehr. „Im Jahr 1680 (also etwa siebzig Jahre vor Erscheinen seines Buches) soll ein Kraken (vielleicht ein junger und unvorsichtiger) in die Bucht Ulvangen im Kirchspiel Alstahough gekommen sein, da es sonst seine Gewohnheit ist, sich einige Meilen vom Lande aufzuhalten, daher er denn auch allhier umkommen mußte. Diese Sache soll folgendermaßen geschehen sein: es sollen seine ausgestreckten langen Zacken oder Fühlhörner, die er, wie es scheint, nach Art der Schnecken dazu gebraucht, damit hin und wieder herumzufühlen, vielleicht in einigen dicht an der Bucht stehenden Bäumen hängen geblieben sein, die aber gar leicht konnten losgerissen werden, aber vernehmlich, und wie man nachher gesehen, sind sie in einige offene Spalten, Steinritze und Klüfte an den Klippen gerathen, woran sie sich so fest gehaftet hatten, daß sie daran hängen geblieben waren, daß es sich daher nicht wieder losarbeiten konnte. Dadurch kam das Thier an selbigem Orte um, wo es auch zugleich verfaulete. Da denn dessen langsam verfaultes Aas einen großen Theil bemeldter Bucht Ulvangen soll angefüllt haben, wodurch denn diese Seite den Leuten, die eine zarte Nase hatten, ganz unwegsam geworden.“ Und das muß Alles vollkommen wahr sein, denn ein Consistorial-Assessor, Prediger und Vicarius Collegii hat es seinem mit Naturgeschichte beschäftigten Vorgesetzten erzählt! Zugleich scheint aber der Kraken, trotz seiner eigenen Ausdünstungen, eine feine Nase zu besitzen, denn wenn man Bibergeil oder Teufelsdreck bei sich trägt, so bleibt er in der Tiefe und hebt sich nicht in die Höhe, weil er den Geruch des Stoffes fürchtet.
Der Kraken geht in dem Norden nur noch unter den Fischern der niedersten Classe um, nicht bei den Gebildeten; unbestritten aber, mit Ausnahme einiger Naturforscher, die durchaus in Norwegen, wie auch in andern Ländern, sehen wollen, ehe sie glauben, ist die Existenz der großen Seeschlange, See- oder Hav-Orm, wie die Norweger sie nennen, bei den meisten Küstenbewohnern nördlich von Bergen. Auch hier ist unser würdiger Bischof eine authentische Quelle und er begiebt sich mit großem Eifer daran, zuerst [573] ihre Existenz darzuthun. „Wäre nicht,“ sagt er, „die weise und sorgfältige Einrichtung des Schöpfers solchergestalt beschaffen, daß dieses Seethier sich beständig in der Tiefe aufhielte, außer im Monat Julius und August, als in seiner Laichzeit, in welcher es, wenn die See am allerstillsten, heraufkommt, aber sogleich wieder sinket, sobald der Wind das Wasser nur im Geringsten bewegt; wäre nicht diese Einrichtung, sage ich, zur Sicherheit der Menschen solchergestalt gemacht, so erforderte die Wirklichkeit der Meerschlange weniger Beweis, als man Gott Lob! auch sogar in Norwegen nöthig hat, dessen Küsten sonst in ganz Europa die einzigsten sind, die von diesem Ungeheuer besucht werden; und dieses ist auch den Feinden der Leichtgläubigkeit zu statten gekommen, daß sie desto mehr daran gezweifelt haben, so wie ich selbst gethan habe, bis mir endlich meine Zweifel durch hinlängliche Beweismittel gänzlich benommen wurden.“
Die Fjorde von Christiansund und Molde sind die eigentlichen Heimathsorte der großen norwegischen Seeschlange: dort schwört Jedermann auf ihre Erscheinungen und jeder Besucher dieser schönen und tiefen Meerbusen kann Dutzende von lebenden Zeugen auftreiben, welche die Seeschlange mit eigenen Augen gesehen zu haben beschwören. Auch uns wurden während mehrtägigen Aufenthalts im Molde-Fjord mehrere solcher Leute bezeichnet. Pontoppidan giebt ein Actenstück, von dem hochedlen und wohlgeborenen Herrn Seecapitain und Oberlotz (Oberlootse?) Lorenz de Ferry, der im Jahre 1646 Ausgangs des Augustmonats mit seiner mit acht Ruderknechten bemannten Jacht eine Meile von Molde der Seeschlange so nahe kam, daß er mit seiner mit Hagel geladenen Flinte auf das Thier schoß, welches stracks unter das Wasser tauchte. „Das Wasser war sonst daselbst, wo die Schlange untergegangen war, gleichsam dicke und röthlich, vielleicht, daß die Körner des Hagels sie in kurzer Entfernung getroffen hatten.“ Verschiedene Pfarrer haben sie dann auch auf ihren Kirchenreisen gesehen und einer hat das Thier gezeichnet. Der grönländische Missionär Hans Egede hat nicht minder eine „andere Art“ gesehen, die sich so hoch aufrichtete, daß „der Kopf über den großen Mars hinaus reichte“, die mir aber trotz der Schlankheit in der Abbildung und vielen sonstigen Abweichungen nichts anderes, als ein spielender Finnfisch gewesen zu sein scheint.
Gegen Ende der dreißiger Jahre besuchte Heinrich Rathke, der berühmte Königsberger Naturforscher, Christiansund und nahm einige Zeugnisse, ebenfalls von Solchen, welche das Thier selbst gesehen haben wollten, auf, die er später veröffentlichte. Fasse ich nun die verschiedenen Angaben zusammen, die uns ebenfalls mündlich bestätigt wurden, so giebt derjenige Zeuge, welcher die Seeschlange auf sechs Fuß Entfernung bei seinem Boote während zweier Stunden dreimal gesehen haben will, ihre Länge nur auf fünf bis sechs Faden (dreißig bis sechsunddreißig Fuß) an – die Schätzung der Größe wächst aber auf vierundvierzig und fünfundfünfzig Fuß, fünfundfünfzig Ellen, ja dreihundert Ellen, je weiter die Zeugen von dem Thiere entfernt waren. Alle stimmen überein, daß es stark mit schlangenförmigen Bewegungen auf- und abschwamm, so daß der Körper einer Reihe von Tonnen glich, welche hintereinander auf- und niedertauchten, daß das Wasser an dem Halse brandete und links, rechts und hinten in starke schaukelnde Bewegung gerieth. Wer aber je eine schnell gleitende Schlange oder ein schnell an der Oberfläche schwimmendes Thier gesehen hat (Seehund, Delphin), wird gefunden haben, daß man sich ungemein in der Schätzung der Länge täuscht und um so mehr, je weiter man entfernt ist, indem der durch den bewegenden Körper im Auge hinterlassene Eindruck zu der wirklichen Länge unwillkürlich hinzugerechnet wird – etwa in ähnlicher Art, wie man den lebhaft geschwungenen Funken als einen Lichtkreis, den Blitzfunken als eine Linie auffaßt. So darf man also dreißig bis sechsunddreißig Fuß als die größte beobachtete Länge und jede andere Schätzung als Uebertreibung auffassen.
Die Farbe wird allgemein als dunkelbraun oder schwärzlich angegeben; der Kopf, besonders um das Maul herum, dunkler und ganz schwarz. Der Kopf selbst scheint wie ein Hut oder ein Branntweinfäßchen groß, vorn abgestumpft, mit breiten Lippen, wie ein Pferde- oder Kuhmaul und mit starken Schnurrhaaren besetzt. Nur den Kopf hat man in spitzem Winkel aus dem Wasser hervorgehoben gesehen – von dem Körper nur die Rückenfläche, doch schien derselbe lang, schlangen- oder aalartig. vollkommen rund, von der Dicke eines starken Mannes und nach hinten zu schnell abnehmend – den Schwanz hat Niemand außer dem Wasser gesehen. Die Augen sah der nächste Beobachter auf sechs Fuß sehr groß, rund, glänzend, roth, etwa von dem Durchmesser einer Theetasse – andere sahen sie auf hundert Schritt groß, glänzend, wie die einer Katze, oder bläulich-weiß, wie zinnerne Teller. Die Haut glatt, allgemein aber wird an dem Halse eine Mähne angegeben, welche [574] derjenigen eines Pferdes ähnelt, links und rechts auf dem Wasser schwimmt und die Farbe des Körpers, vielleicht etwas lichter hat. Die Fischer haben eine große Furcht vor dem Thiere, das fast alljährlich, aber nur in den Hundstagen, gesehen wird, so daß sie sich zu dieser Zeit, besonders bei stillem Wasser, nur mit Asa foetida in den Taschen auf die See begeben, weil das Thier den Geruch dieser Substanz scheuen soll.
So weit gehen etwa die thatsächlichen Angaben. Was sonst erzählt wird, ist eitel Fabel, Uebertreibung und Einbildung; die Jagdgeschichten des Continents werden in den norwegischen Seeplätzen durch Fischer- und Schiffergeschichten ersetzt. Aber etwas Thatsächliches muß doch dem Dinge zu Grunde liegen, sonst könnte eine solche Uebereinstimmung nicht vorhanden sein. Und hier müssen wir gestehen, daß wir durchaus vor dem Unbekannten stehen. Was wir wissen und ich soeben anführte, kann nur auf ein Säugethier hindeuten – kein anderes Thier kann eine Mähne, ein stumpf abgeschnittenes Maul mit Barthaaren besitzen. Aber ein Seesäugethier von solcher Größe mit einer Mähne ist auch im Norden nicht bekannt, und doch ist der Norden, seit so viele ausgezeichnete Naturforscher dort sich gebildet und mit andern civilisirten Nationen um die Wette gearbeitet haben, kein unbekanntes Land mehr. Von einer Schlange kann, wie alle Naturforscher einstimmig anerkennen müssen, gar keine Rede sein. Die Natur eines Reptils ist unverträglich mit solchen Lebensäußerungen. Die großen Augen, das lautlose Athmen, das Untersinken ohne weiteres Bedürfniß, das Erscheinen nur zu ganz bestimmter Jahreszeit in den Hundstagen und nur in sehr beschränkten Buchten könnte einzig auf einen Fisch unbekannter Art sich beziehen. Aber auch hier wäre es wunderbar, wenn gar kein Ueberbleibsel, gar kein Stück eines solchen Fisches je zum Vorschein gekommen wäre. Nichtsdestoweniger ist dies der Fall. Viele wollen die schwimmende Seeschlange gesehen haben – den Naturforschern, die sich am Moldefjord oft wochenlang in der Erscheinungszeit aufhielten, Männern wie Danielsen, Koren, Rathke und Sars, ist noch nie eine solche Erscheinung aufgestoßen und noch nie hat man gehört, daß eine Seeschlange angegriffen und getödtet oder todt an den Strand getrieben, oder ein Knochen, den man ihr zuschreiben könnte, mit den Schleppnetzen aus der Tiefe hervorgeholt worden sei.
In andern Gebieten hat man freilich in der neuesten Zeit wenn auch noch unvollständige Documente gigantischer Tiefenthiere entdecken können. In den Jahren 1639 und 1790 wurden zwei riesige Tintenfische an die Küste Islands getrieben, von welchen einzelne Stücke in dem Museum von Kopenhagen aufbewahrt sind. So viel ich mich erinnere, denn die Notiz, welche Steenstrup darüber veröffentlichte, ist mir gegenwärtig nicht zur Hand, lassen die tassengroßen Sangnäpfe auf Thiere schließen, welche Arme von der Dicke eines Schenkels und von zwanzig bis dreißig Fuß Länge hatten. Ein solches Thier muß eine schauderhafte Bestie sein. Wer jemals einen der gewöhnlichen Tintenfische, einen Pulper oder etwas dergleichen gesehen hat, wer weiß, daß das Anklammern der acht mit Saugnäpfen dicht besetzten Arme, die höchstens zwei Fuß Länge haben, ein Bein des Badenden zur Erstarrung lähmt, wird sich von einem solchen Ungeheuer einen Begriff machen können!
Außer den verstümmelten Resten sind uns aber neuere Zeugnisse überliefert worden, die wohl das Gepräge der Wahrheit an sich zu tragen scheinen.
Am 30. November 1861 traf das Dampf-Aviso Alecto, Capitain Bouger, Lieutenant der französischen Marine, zwischen Madera und Teneriffa auf einen ungeheuren Tintenfisch, der an der Oberfläche schwamm. Der Körper des Thieres maß fünf bis sechs Meter, ohne die acht gewaltigen, mit Saugnäpfen bedeckten Arme. Die Augen waren ungeheuer groß, grüngelb, fürchterlich unbeweglich; der mit einem Papageienschnabel bewaffnete Mund maß wohl einen halben Meter im Durchmesser. Man schätzte den ungeheuren, spindelförmigen, mitten sehr dicken Körper auf zweitausend Kilos (vierzig Centner). Die am hinteren Ende angebrachten Flossen waren abgerundet, wie zwei fleischige Lappen. Man bemerkte das Thier um zwei Uhr Nachmittags. Der Commandant ließ darauf zusteuern und dann halten; leider aber ging die See zu boch, so daß das Schiff stark rollte, während das Thier ihm aus dem Wege zu gehen suchte. Man lud die Gewehre und bereitete Harpunen und Seile. Nach den ersten Kugeln tauchte das Thier unter dem Schiffe durch. Es erhielt mehrere Salven; nach jeder tauchte es unter, erschien aber dann wieder auf der Oberfläche und bewegte seine langen Arme nach allen Richtungen. So dauerte die Jagd etwa drei Stunden. Der Commandant Bouger wollte sich um jeden Preis des Ungeheuers bemächtigen, wagte aber nicht, ein Boot auszusetzen, da er fürchten mußte, das Thier möchte es umreißen. Die Harpunen, die es erhielt, hafteten nicht in der weichen Masse; die Kugeln, deren etwa zwanzig getroffen hatten, schienen keine große Wirkung zu haben. Endlich erhielt es einen Kernschuß; es spritzte Schaum, Blut und schleimige Massen in Menge aus, die einen starken Moschusgeruch verbreiteten. Jetzt haftete auch eine Harpune und es gelang, ihm eine Schlinge umzuwerfen, die zwar über den glatten Körper wegglitt, aber an den Flossen festhielt. Man suchte nun das Thier an Bord zu winden und hatte es auch schon großentheils über Wasser, als eine heftige Welle die Harpune ausriß. Die Schlinge schnitt jetzt in’s Fleisch ein, das Gewicht des Körpers war zu groß, der Schwanz riß mit den Flossen ab und blieb in der Schlinge hängen und der Leib fiel in das Meer, wo er rasch zu Grunde sank. Die abgerissenen Flossen wogen etwa zwanzig Kilogrammen. Sie wurden nach Sta. Cruz auf Teneriffa gebracht, wo die Fischer beim Anblick der ungeheuren Ueberreste in nicht geringen Schrecken geriethen.
Wahrscheinlich war das Thier sehr krank oder erschöpft, so daß es am Untertauchen gehindert war.
Einer Zeichnung zufolge, die einer der Officiere des Alecto während des Kampfes machte, hatte es eine röthliche Farbe, acht gleich lange Arme und den Körperbau eines Kalmars. Diese haben aber außer den acht gleich langen, überall mit Saugnäpfen versehenen Armen zwei noch viel längere Arme, welche nur an dem verbreiterten Ende mit Saugnäpfen versehen sind und in besondere Taschen zurückgezogen werden können. Auf der Zeichnung fehlen diese langen Arme. Fehlten sie überhaupt? Waren sie schon vorher abgerissen? Oder trug sie das Thier in den Taschen zurückgezogen, ohne sie zu entwickeln?
[615]
In größere Tiefen ist bisher noch kein Blick hinabgedrungen. Was viele sogenannte populäre Naturgeschichten von Tiefen von tausend Fuß und mehr fabeln, in welche geschickte Taucher sich hinabgelassen haben sollen, ist eitel Uebertreibung. Der Mensch könnte nicht einmal den Athem so lange anhalten, wie zur Erreichung einer solchen Tiefe nöthig wäre. Genauere Messungen würden leicht zeigen, daß eine Tiefe von einhundert und fünfzig bis höchstens zweihundert Fuß die äußerste Grenze ist, die der Mensch ohne Vorrichtungen erreichen kann. Die Perlenfischer von Ceylon und Bengalen tauchen nur bis in eine Tiefe von vierzig Fuß und können kaum mehr als eine halbe Minute aushalten.
Aber auch die Tauchapparate reichen nicht viel weiter. Früher hatte man die Taucherglocke – einen ungemein großen, unbehülflichen Apparat, in welchen eine gewisse Quantität Luft eingelassen war, die dem Tauchenden das Athmen gestattete man hat sie jetzt allgemein verlassen, um dagegen den Taucherhelm zu gebrauchen – eine geschlossene, mit Augengläsern versehene Sturmhaube, welche auf den Schultern aufsitzt und in die durch eine Luftpumpe vom Bord aus beständig frische Luft eingepumpt wird. Bei gehörigen Vorrichtungen im Schiffe, von welchem aus man taucht, bei guter Einübung der Leute, welche die Pumpen dirigiren und auf die Signale, die der Taucher aus der Tiefe giebt, Acht haben, und bei zweckmäßiger Auswahl der Taucher ist diese Einrichtung vollkommen, sobald man von gutem Wetter und ruhiger See begünstigt wird. Nicht Jeder kann aber selbst in geringer Tiefe diese Maschine vertragen. Sie übt dieselbe Einwirkung, wie die Röhren, in welchen bei den neueren Brückenbauten Menschen in verdichteter Luft unter einem Drucke von einigen Atmosphären arbeiten. Viele sind unfähig, es in einer solchen Röhre auszuhalten; unerträgliche Schmerzen in den Ohren zwingen sie, in gewöhnlichen Atmosphärendruck zurückzukehren. Von zweien meiner Freunde, die an der sicilischen Küste den Taucherhelm zu unterseeischen Untersuchungen benutzten, war der eine nicht im Stande, den Druck der Luft nur unter vierzig Fuß Wasser zu vertragen, während der andere sich dabei ganz wohl befand.
So ist es denn begreiflich, daß alle die unterseeischen Apparate, die Tauchkammern und untermeerischen Kameele Bauer’s und wie alle die unzähligen Erfindungen heißen mögen, von denen die Gartenlaube früher Kunde brachte – daß alle diese Apparate ebenfalls in keine größere Tiefe als dreihundert Fuß (fünfzig Faden) reichen und daß also Alles, was unterhalb dieser Tiefe sich findet, bis jetzt fast vollkommen unzugänglich war. Je tiefer man hinabsteigt, desto größer wird der Druck, welchen das Wasser auf die Apparate ausübt, so daß starke Metallröhren wie Wachs zusammengedrückt werden. Die Substanz müßte erst noch erfunden werden, welche fähig wäre, dem Drucke einer Wassermasse von tausend und mehr Faden Mächtigkeit zu widerstehen! Und doch wäre dies nöthig, wenn der Mensch selbst oder ein anderes luftathmendes Wesen in diese Tiefen dringen wollte – es müßte ihm ein hohler, mit Luft gefüllter Raum geschaffen werden, in dem er athmen könnte.
Für größere Tiefen über fünfzig Faden müssen also andere Hülfsmittel geschaffen werden. Die Naturforscher haben hierzu in ausgedehntestem Maße das Schleppnetz (drague im französischen, dredge im Englischen) benutzt, und besonders sind es englische und nordische Forscher, welche bedeutende Resultate damit erzielt und große Strecken der europäischen Meere auf diese Weise durchsucht haben. Die Austernfischerei hat zu diesen Forschungen den Anstoß gegeben.
Ich habe einmal einen Monat in St. Malo zugebracht. Wie in Frankreich Alles reglementirt ist, so auch die Austernfischerei. Die Boote, welche sie betreiben, müssen nach vorgeschriebenem Modell ausgerüstet, mit einer bestimmten Anzahl von Leuten bemannt sein und dürfen nur zur genau regulirten Zeit fischen. Es war ein schöner Anblick, wenn Hunderte von diesen Booten auf das Zeichen eines Kanonenschusses ihre Segel entfalteten und dann, weißen Schwänen gleich, aus der Bucht an meinem Fenster vorbei zu den Bänken flatterten, die in einiger Entfernung von der Küste sich befinden. Das Schleppnetz selbst ist ein grober, an einem eisernen Rahmen befestigter Beutel, welcher mittelst einer Winde in die Tiefe von höchstens dreihundert Fuß hinabgelassen wird. Die [616] eine Seite des Rahmens ist von einer schweren Eisenklinge gebildet, die sich auf den Boden legt. Nun rudert oder segelt man mit günstigem Winde und kratzt so den Boden ab. Was die Klinge losscheuert, fällt in den Sack, der sich bald füllt. Jetzt wird er mit der Winde in die Höhe gehoben, geleert und auf’s Neue hinabgelassen. Es wimmelt darin von Meerthieren aller Art. Austern, Seesterne, Seeigel, Würmer, Schnecken und Muscheln, Korallen und Seescheiden, Schwämme und Tange füllen den Beutel, der sorgsam erlesen wird. Was die Fischer wegwerfen, ist gerade für den Naturforscher das Interessanteste, so daß man leicht mit den Leuten für Ueberlassung dieser Beute sich verständigen kann.
Aber das Geschäft hat seine Schwierigkeiten. Der Boden ist nicht gleich bevölkert; wo eine echte Austernbank ist, finden sich nur wenig anderweitige Thiere, und die Fischer haben natürlich keine große Lust, an austernleeren Orten zu fischen, selbst wenn man ihnen den Verlust reichlich ersetzt. Sie fürchten den Spott der Cameraden. Das Schleppnetz selbst aber verlangt eingeübte Arbeiter. Bald ist der Wind zu schwach, bald zu stark; der hohe Wellengang läßt eine geregelte Arbeit nicht zu; die Klinge hakt sich an einem Felsen fest und das Tau reißt, an welchem das Netz geschleppt wird, sobald man zu stark anzieht, während wieder bei größerer Lockerheit das Instrument über den Boden gleitet, ohne gehörig aufzukratzen. Der Patron der Arche hat deshalb beständig die Hand am Tau, und die Leute müssen höchst aufmerksam auf seine Befehle sein.
Will man aber in noch größere Tiefen dringen, so wird das Schleppnetz außerordentlich unsicher. Es gehören dann größere mechanische Vorrichtungen dazu, weil im Verhältniß zur Tiefe das Instrument schwerer werden muß. Die Strömungen, welche in verschiedenen Höhen übereinander das Meer durchziehen, wirbeln das Schleppnetz umher; die Fühlung geht verloren; man weiß nicht, ist man auf dem Grunde oder nicht – kurz, eine Schleppnetzfischerei in mehreren hundert Faden Tiefe ist eine außerordentlich schwierige, zeitraubende, ja fast unmögliche Operation. Als Maury sein berühmtes Werk über die physische Geographie des Meeres schrieb (jetzt vor etwa zehn Jahren), konnte er mit vollem Rechte sagen: „Es war Keinem gelungen, aus einer größeren Tiefe als dreihundert Faden (eintausend achthundert Fuß) irgend welche feste Stoffe für das Studium der Naturforscher emporzubringen, ja überhaupt nur wesentlich tiefer in die Wasserhülle unseres Planeten einzudringen!“
Die einzigen Untersuchungsmittel, welche wir jetzt noch für größere Tiefen besitzen, bestehen in dem Messungslothe und seiner Leine. Aber es ist keine Kleinigkeit, größere Tiefen, wie sie in dem Ocean vorkommen, zu lothen, und man muß, etwa in Maury oder in einem anderen technischen Werke, die betreffenden Capitel nachlesen, um sich zu überzeugen, daß man früher in der That kein sicheres Mittel hatte, das Loth bis auf den Grund großer Tiefen in senkrechter Linie zu bringen und andererseits sich zu vergewissern, ob es auch wirklich den Boden berührt habe. Endlich kam man darauf, besonderen Bindfaden machen zu lassen, der einem Gewichte von sechszig Pfunden widerstehen konnte, ohne zu reißen, und eine zweiunddreißigpfündige Kanonenkugel als Loth zu benutzen. Etwa sechshundert Fuß dieses Fadens wiegen ein Pfund, und da man Tiefen von dreißig- bis vierzigtausend Fuß zu messen und bei jeder Messung den größten Theil des Fadens, früher wenigstens, verloren geben mußte, so bedurfte es begreiflicher Weise bedeutender Quantitäten von Bindfaden. Bald stellten sich noch größere Schwierigkeiten heraus. Vom Schiffe aus war es unmöglich, solche Sondirungen vorzunehmen, man mußte ein Boot aussetzen und mit den Rudern dahin wirken, daß die Leine stets senkrecht ablief; man mußte endlich irgend eine Vorrichtung erfinden, um sich überzeugen zu können, daß das Loth wirklich den Boden berühre, denn man fand bald, daß die Leine beständig ablaufe, wenn auch der Grund längst erreicht war, weil die Strömungen den Faden links und rechts abtrieben.
Endlich erfand der Seecadett Brooke von der Vereinigten-Staaten-Flotte einen Apparat, der durch Aufbringung von Bodenproben die Sicherheit der Berührung gewährt. Die Kanonenkugel ist durchbohrt und durch dieses Loch geht ein Eisenstab, der innen hohl und am Ende mit Talg beklebt oder auch mit einer Klappenvorrichtung versehen ist, welche sich öffnet, sobald der Stab auf den Boden stößt, und sich wieder schließt, wenn er in die Höhe gezogen wird. Die Kanonenkugel selbst hängt in einem Ringe und mit Faden so an dem oberen Theile des Stabes, daß sie sich augenblicklich abhakt, sobald der Apparat den Grund berührt. Geschieht dies, so bleiben an dem Talg des Stabes Proben des Grundes hängen, etwas Schlamm wird bei der Oeffnung der inneren Klappenvorrichtung in die Röhre hineingeschlürft und darin bei dem Aufhaspeln festgehalten, und Letzteres geschieht um so leichter, als die schwere Kanonenkugel, die sich abgelöst hat, auf dem Grunde liegen bleibt.
Mittelst dieses Apparates, der bis jetzt besonders zur Sondirung derjenigen Strecken benutzt wurde, auf welchen man unterseeische Telegraphentaue legen wollte, ist es gelungen, Proben des Meeresgrundes bis zu einer Tiefe von fünfundzwanzigtausend Fuß hervorzuholen, wo man zugleich über die wirkliche Tiefe durchaus sicher war; ja einigen Angaben zufolge soll man in dem stillen Meere bis auf achtundvierzigtausend Fuß Tiefe gelangt sein. Fast die doppelte Höhe der höchsten Berge der Erde! Und diese bilden nur einzelne, aufragende Spitzen, während diese Meerestiefen über weite Strecken mit geringen Veränderungen sich hinziehen!
Begreiflicher Weise kann eine solche Sondirung nur höchst dürftige Notizen über die Bewohner der blauen Tiefe bringen. Ein Pfund Talg mit einer Oberfläche von einigen Quadratzoll, eine enge Eisenröhre, in der kaum ein Glas Wasser Raum hat, sollen uns Auskunft geben über diese weiten, unterseeischen Tiefenstrecken, welche die halbe Oberfläche unseres Erdballs einnehmen, über die Organismen, sowohl thierischen wie pflanzlichen Charakters, welche sich dort finden! Man sieht, unsere Mittel der Untersuchung nehmen um so mehr an Umfang und Schärfe ab, je weiter wir vordringen. Trotz allen unzweifelhaften Erfindungstalentes des Urhebers ersetzt die Bauer’sche Taucherkammer nur höchst unvollkommen das unmittelbar wirkende Auge; das Schleppnetz liefert blos einen mageren Ersatz für den in geringeren Tiefen anwendbaren Tauchhelm, und die Sondirleine mit dem Brooke’schen Lothe ist nur ein unbeholfenes und höchst ungenügendes Werkzeug gegenüber dem Schleppnetze.
Was kann in der That ein solches Loth an das Tageslicht bringen? Einige auf dem Boden befindliche Pflänzchen oder Thierchen vielleicht, die es gerade trifft und die an dem Talge hängen bleiben oder beim Oeffnen der Klappenvorrichtung mit dem Wasser in den Hohlstab hineingerissen werden: einige kriechende Wesen, welche sich auf irgend eine Weise an die Leine klammern und mit in die Höhe gezogen werden. Wie gering ist diese Ausbeute, wenn es überhaupt auf dem Meeresboden in der blauen Tiefe organisches Leben giebt; wie unendlich klein die Aussicht, ein gewinnendes Loos zu treffen!
Für manche Schlüsse genügt es indessen schon, durch solche Untersuchungen constatirt zu haben, daß ein organisches Leben in der blauen Tiefe existirt – denn frühere, mit dem Schleppnetze im ägäischen Meere ausgeführte Forschungen wollten schon bei einigen hundert Faden Tiefe jegliches Leben aus dem Meere geschwunden finden, wozu man auch herrliche Gründe in dem großen Drucke der Wassersäule, in dem Mangel alles Lichtes und wer weiß in noch welchen physikalischen Verhältnissen finden wollte. Man vergaß, daß das Meerthier in der Tiefe ebenso wenig den Druck des Wassers fühlt, als der Mensch den Druck der Luft an dem Grunde des Luftmeers, in welchem er lebt, eben weil der Körper des Meerthieres in gleicher Weise und noch mehr durchdringlich für das Wasser ist, als der Körper des Luftthieres für die Luft; ja daß dieser Druck sich um deswillen noch weit weniger fühlbar macht, weil das Wasser nicht elastisch und nicht zusammendrückbar ist wie die Luft, seine Dichtigkeit also mit zunehmendem Drucke kaum zunimmt, während die Luft gerade die entgegengesetzte Eigenschaft besitzt. Man vergaß, daß Versuche über die Einschluckung des Lichts durch das Wasser, welche nur an kleinen Mengen gemacht waren und bei gleichmäßiger Abnahme bereits in wenigen hundert Faden Tiefe vollständige „purpurne Finsterniß“ berechnen ließen, schon in dem Umstande eine Widerlegung finden konnten, daß manche seltene, in großen Tiefen lebende Fische, wie der Teleskop-Fisch verhältnißmäßig ungeheure Augen besitzen, während die in wirklicher Finsterniß lebenden Höhlenthiere, wie der Olm aus den Höhlen Krains und die Fische aus den Höhlen Kentuckys, gar keine oder nur ganz rudimentäre Augen besitzen. Bald belehrte auch der Fund schön gefärbter Kammmuscheln in großen Tiefen, daß dort unten doch noch Licht hinkommen müsse – denn wie läßt sich Farbe ohne Licht denken?
[617] Hier komme ich auf die zufälligen Dienste, welche der Naturforschung durch die Industrie geleistet wurden. Zuweilen ziehen Fischer aus sechshundert bis eintausend Faden Tiefe einen Seestern, eine Koralle, eine Muschel hervor, welche an ihren Netzen oder Angeln in irgend einer Weise verstrickt geblieben ist – besonders dann, wenn der Sturm ihre Geräthschaften in Unordnung gebracht und die Schwimmer, welche Netze und Angeln an der Oberfläche halten sollten, abgerissen hat. Einem solchen Zufalle verdankten wir ohne Zweifel den schönen Baum einer seltenen Koralle (Fig. 1), der heute in dem Senkenbergischen Museum in Frankfurt aufgestellt ist und der in der Nähe des Pippertind-Gletschers am Lyngen-Fjord am Strande lag neben dem Boote des Küstenlappen, der ihn weggeworfen hatte.
Noch mehr Belehrung werden uns künftig die Telegraphentaue bieten. Von Zeit zu Zeit wird immer wieder eines derselben herausgefischt werden müssen, und da jetzt fast alle kleineren Meere von solchen Kabeln durchzogen sind, so wird nach und nach, wenn die herausgefischten Stücke nur lange genug in der Tiefe gelegen haben, an diese Stücke ein ganzes Studium sich anknüpfen lassen. Sehr langer Zeit bedarf es freilich nicht; ich habe ein Stück des unterseeischen Kabels vom rothen Meere gesehen, an welchem eine fingerlange Koralle sich angesetzt hatte, obgleich das Tau der Versicherung des Ingenieurs zufolge sich nur zwei Jahre im Meere befunden haben sollte. Milne Edwards, der Sohn, hat Gelegenheit gehabt, ein Stück des Taus zu untersuchen, welches die Verbindung zwischen Cagliari auf der Insel Sardinien und Bona in Algier vermittelt hatte und das zwei Jahre lang in einer Tiefe gelegen hatte, die zwischen 2000 und 2800 Meter (6000 und 8400 Fuß) wechselte und genau gemessen worden war.
Diese einzige Beobachtung aus einem Meere, in dessen östlicher Fortsetzung, dem ägäischen Archipel, das Schleppnetz aus der geringen Tiefe von 230 Faden (1380 Fuß) kein lebendes Wesen mehr heraufgebracht hatte, schlug eine Reihe von Vorurtheilen mit einem Male zu Boden und sie verdient deshalb etwas näher in das Auge gefaßt zu werden.
Das Tau war mit Muscheln und Korallenpolypen besetzt, die darauf gelebt hatten, denn die Weichtheile waren noch erhalten und die Schalen waren an dem Tau selbst festgewachsen. Die Thiere hatten also in dieser enormen Tiefe von 7000 Fuß im Mittel gelebt, hatten sich dort auf das Tau festgesetzt, wie auf jedem anderen Gegenstand am Boden, waren da gewachsen – hatten also Nahrung und alle übrigen Bedürfnisse eines kräftigen Lebens dort gefunden.
Da saß eine Auster, die Löffel-Auster, die auch in der Zone der Edelkorallen, in etwa 600 bis 1000 Fuß Tiefe, häufig vorkommt, deren Schale sechs Zentimeter im Durchmesser hielt, also völlig ausgewachsen und so über das Tau hinübergewachsen war, daß sie seine obere Hälfte umspannte; anderwärts saß, freilich weniger fest, eine Deckel-Kammmuschel, eine der schönsten Muscheln des Mittelmeeres, von welcher wir hier eine Abbildung (Fig. 2) geben, meist mit brennendrothen oder gelben Farbenbinden geschmückt, die in dieser Tiefe auch nicht im Mindesten gebleicht erschienen; ferner eine andere, nicht minder lebhaft gefärbte Art, der Pecten testae, welcher in den Sammlungen ziemlich selten ist und gewöhnlich nur aus großen Tiefen gefischt wird. Auch Schnecken fehlten nicht: eine Spindelschnecke, so frisch, als komme sie eben lebend aus dem Wasser, und eine Einzahn-Schnecke, die in dem Mittelmeere nur äußerst selten am Strande vorkommt, dagegen bei Bergen in Norwegen nicht selten in geringer Tiefe an den Steinen sitzt – leider stand mir die Art selbst nicht zu Gebote, so daß ich keine Abbildung davon geben kann. Das ist aber eine sehr merkwürdige Thatsache, daß eine fast nordische Schnecke, die, so viel ich weiß, an den englischen, französischen und spanischen Küsten nicht vorkommt, jetzt noch einerseits die Tiefen des Mittelmeeres, andrerseits die norwegische Küste bewohnt, und dies deutet wie mit Fingern auf eine Zeit hin, wo vielleicht eine Verbindung zwischen diesen beiden Meeren quer durch den Continent hindurch, den Thälern der Rhone und des Rheines entlang bestand, eine Verbindung, die man noch aus mehreren andern ähnlichen Thatsachen erschließen kann.
Ferner waren an dem Kabel festgewachsen einige Arten von Korallen und zwar Nelkenkorallen, von denen die eine bis jetzt nur versteinert in den tertiären Schichten von Piemont und Algerien, aber nicht lebend im Mittelmeere gefunden wurde, die andere ganz neu scheint, allein vielleicht auch in Algerien fossil vorkommt; eine dritte Art, vielleicht eine neue Gattung, verwandt mit den vorigen; einige Rindenkorallen und einige Moosthiere, sowie endlich einige Deckelwärmer mit Kalkröhren, die alle wohl erkannt, aber nicht genau der Art nach bestimmt werden konnten.
Betrachtet man sich diese Liste genauer, berücksichtigt man, daß blos kleine Stücke des Taues untersucht werden konnten, so muß man zu der Ueberzeugung kommen, daß nur wenige Typen festsitzender Seethiere fehlen, kurz, daß das aus einer Tiefe von mehr als eintausend Faden gefischte Tau einem nicht minder reichen Leben zur Grundlage diente, als irgend ein nahe an der Oberfläche gelegener Punkt.
[710]
Hält man das gewonnene Resultat fest, daß ein aus einer Tiefe von mehr als eintausend Faden gefischtes Tau einem nicht minder reiches Leben zur Grundlage diente, als irgend ein nahe an der Oberfläche gelegener Punkt, so wundert man sich dann nicht mehr über einige andere Funde. Wallich, wenn ich nicht irre, ein in England naturalisirter Deutscher, machte die Reise des Bulldog zur Legung des englisch-amerikanischen Telegraphentaus mit, wobei er fleißig sondirte. Mitten im atlantischen Ocean hingen sich in 1260 Faden (7560 Fuß) Tiefe mehrere Exemplare eines Schlangensternes an die Leine. Ich gebe hier dem Leser, der diese seltsamen Wesen, welche zu den Stachelhäutern gehören, vielleicht nicht kennt, die Abbildung eines solchen Schlangensternen (Fig. 3) von unten. Man sieht in der Mitte des glatten, runden, kleinen Körpers den Mund in Gestalt eines fünfstrahligen Sternes zwischen dessen Strahlen hellere Flecken liegen.
Fünf lange, nach allen Richtungen biegsame, meist in seltsamen Windungen sich krümmende Arme, die reichlich mit vier Doppelreihen von Stacheln besetzt sind, gehen von der kleinen Scheibe aus. Wallich begnügte sich nicht damit, zu constatiren, daß diese Schlangensterne, welche nur kriechen, nicht schwimmen können, in solchen Tiefen hausen. Wenn sie dort leben, müssen sie fressen; was sie gefressen haben, müssen sie im Magen haben, und da sie keine Zähne besitzen, müssen die gefressenen Substanzen noch ziemlich unversehrt sein. Wallich untersuchte also den Mageninhalt seiner Schlangensterne mit dem Mikroskope. Nun wird uns das Leben dort unten schon anschaulicher. Auf dem Grunde bis zu 3000 Faden (18000 Fuß) hat Wallich mikroskopisch kleine Kalkschälchen gefunden, die aus mehreren zusammengehäuften, nach und nach wachsenden Kugeln bestehen – Schälchen, welche das System unter dem Namen Globigerina kennt und die zu den sonderbaren Wurzelfüßern (Fig. 4) gehören, deren Körper nur aus einem Schleimklümpchen zu bestehen scheint, das nach allen Seiten
wurzelartige Fortsätze aussendet, mittelst welcher es sich bewegt und ernährt. Schälchen dieser Globigerinen finden sich in Menge in dem Magen unseres Schlangensternes, viele davon enthalten noch den lebendigen Körperinhalt. Der Schlangenstern lebte also auf Kosten einer mikroskopischen Thierwelt, welche dort unten ihr Wesen treibt. Auch dies ist kaum wunderbar; der Schlangenstern steht zwar zu seiner Beute etwa in demselben Verhältniß, wie der Walfisch zu den zolllangen nackten Weichthieren und kleinen Krebsen, die er tonnenweise verschlingt, aber Walfisch und Schlangenstern nähren sich doch hinlänglich.
Der Schlangenstern ist ein hoch organisirtes Thier. Er hat einen Vetter, den Medusenstern (Fig. 5), der mit seinen vielfach verzweigten Armen im Wasser schwimmen kann, aber doch meistens an dem Boden rankt. Zieht man ihn aus dem Wasser, so rollt er seine Arme und Ranken so gegen den Mund hin ein, wie es unsere Abbildung zeigt, die ihn vom Rücken aus darstellt.
Man findet diese Medusensterne stets nur in gewisser Tiefe – sie nähren sich wie die Schlangensterne – es kann uns deshalb kaum wundern, wenn wir hören, daß Capitän Roß bei seiner Entdeckungsfahrt im südlichen Eismeere einen lebenden Medusenstern aus 800 Faden (4800 Fuß) Tiefe hervorzog, der sich an die Sondirleine geklammert hatte.
In demselben Jahre, wo ich das Glück hatte, mit Dr. Berna eine Fahrt um die Nordsee machen zu können, weilte auf Spitzbergen eine große, von Schweden ausgerüstete Expedition, unter welcher der unternehmende Dr. Torrell und sein Gefährte Dr. Malmgrén die vorragendsten Mitglieder waren. Diese Expedition hat mit seltener Ausdauer alle nur irgend erdenklichen Mittel in Bewegung gesetzt, um die Natur der nördlichsten Insel und Küste Europas nach allen Richtungen hin zu durchforschen. Es ist ihren unermüdlichen Anstrengungen gelungen aus 1400 Faden (8400 Fuß) Tiefe eine Menge von Thieren heraufzuholen, die heute im Reichsmuseum von Stockholm ausgestellt sind. Dabei befinden sich, nach Keferstein’s Bericht, mehrere kleine Krustenthiere, eine Schnecke, eine Kalkkoralle, eine Seewalze oder Seegurke, ein kleiner Herzigel, fünf Arten von Ringelwürmern, ein Meerschwamm und mikroskopische Thierchen und Pflanzen, Wurzelfüßer und Bacillarien oder Diatomeen – also eine förmliche Repräsentation aller niederen Thierclassen, die im Meere ihr Wesen treiben.Die kleine Schnecke (Cylichna), von welcher wir hier die größte bekannte Art abbilden (Fig. 6), gehört in die Nähe der Blasenschnecken (Bulla) und zu den wesentlich nordischen Formen, die in südlichen Meeren kaum repräsentirt sind.
Als man zum ersten Male mit der Brooke’schen Maschine Proben des Meeresgrundes bis zu 10,000 Fuß Tiefe von dem sogenannten Telegraphenplateau heraufholte, welches sich zwischen Cap Clear in Irland und Cap Race in Neufundland untermeerisch erstreckt, wurden Proben des „Thones“, wofür die Officiere den Grund ansahen, an Professor Ehrenberg in Berlin und Professor Bailey in West-Point geschickt, um ihn mikroskopisch zu untersuchen. [711] Beide erkannten darin mehrere Arten von Wurzelfüßern, mehrere Arten von s. g. Polycystinen, mehrere Arten von Bacillarien oder Diatomeen, welche Ehrenberg in seinem großen Infusorienwerke noch für Thiere ansieht, während sie jetzt allgemein, und wohl mit vollem Rechte, für Pflanzen gehalten werden. Aber einer der beiden Beobachter schien eher zu der Meinung hinzuneigen, daß diese Thiere sämmtlich todt und ihre Kalk- und Kieselschalen nur von den Meeresströmungen, namentlich dem Golfstrome, auf das Telegraphenplateau geführt und dort abgesetzt worden seien. Vielleicht war es die Ueberzeugung von der Unmöglichkeit organischen Lebens in solcher Tiefe, die damals noch herrschende Ansicht war, vielleicht die Art und Weise der Aufbewahrung, welche zu diesem Ausspruch leitete, der durch die neueren Untersuchungen Torrell’s, Malmgrén’s, Wallich’s brieflich widerlegt wird. Nicht nur möglich ist organisches Leben dort unten, sondern es findet sich auch in den zwei einander bedingenden Reichen, im Thier- und Pflanzenreiche, repräsentirt und das Thierreich zeigt, wenn auch gerade nicht viele Formen, so doch die wesentlichsten Typen, welche sich überhaupt im Meere finden – Krustenthiere, Krebschen als Repräsentanten der Gliederthiere – Ringelwürmer – Schnecken, Muscheln und Moosthiere als Vertreter der Weichthiere oder Mollusken; Seewalzen, Seeigel, Schlangen- und Medusensterne als Darsteller des Typus der Stachelhäuter; Kalk- und Rindenkorallen als Verkünder der beiden Richtungen, die in den Polypen vertreten sind, und endlich Wurzelfüßer und Schwämme als untersten Anfang thierischen Lebens.
Das organische Leben breitet sich also vollwichtig in der blauen Tiefe über den Meeresgrund aus, und seine wichtigsten Träger sind mikroskopische Pflanzen und Thierchen, die in ungeheueren Massen den Grund bedecken. Das ist aber ein wichtiger Unterschied von dem Leben in freier Luft und von der Verbreitung der Organismen in die Höhen hinauf. Auf den vereisten, schneebedeckten Kuppen der höchsten Berge erstirbt alles organische Leben, weil es dort die nöthige Wärme nicht findet, die zu seiner Entfaltung nöthig ist; in der blauen Tiefe herrscht noch immer, selbst in den höchsten Polarzonen, ein Grad von Wärme, der eine üppige Entfaltung des organischen Lebens gestattet. Ja es scheint, als ob gerade in den Polarzonen der Höhengrad des thierischen Lebens nicht, wie in den gemäßigten und heißen Zonen, an der Oberfläche und deren unmittelbarer Nähe sich finde, sondern im Gegentheile in die blaue Tiefe sich zurückziehe, wo es größere und stetigere Wärme findet, als an der Oberfläche. Wenigstens sind die Schleppnetz-Fischereien in größeren Tiefen und die Sondirungen in blauer Tiefe stets weit ergiebiger in den nördlichen Breiten gewesen, als in den wärmeren Meeren.
Dann aber scheint es mir von besonderer Wichtigkeit, daß Pflanzen- und Thierleben gleichmäßig in der blauen Tiefe entwickelt ist. Die Wurzelfüßer (Fig. 7) sind an vielen Stellen, wie auf dem Telegraphenplateau, in so ungeheuren Mengen angehäuft, daß sie
Ein wichtiges Moment für die Erdbildung liegt in dieser einfachen Thatsache. Die beiden mineralischen Stoffe, welche den größten Antheil an der Bildung der festen Erdmasse nehmen, sind einestheils der kohlensaure Kalk, anderntheils die Kieselerde. Beide fehlen kaum in irgend einem Gestein; beide bilden für sich allein große Gebirge und weite Länderstrecken. Die Thiere, welche alle, mit geringen Ausnahmen unter den Schwämmen, sich Gerüste und Schalen aus kohlensaurem Kalke bauen, sind in geologischer Hinsicht Filtrirmaschinen, bestimmt, diesen Kalk aus dem Meerwasser abzusondern – den mikroskopischen Pflänzchen ist im Gegentheile die Aufgabe zugefallen, die Kieselerde aus dem Wasser abzuscheiden. Beide Stoffe sind in so geringer Quantität in dem Meerwasser vorhanden, daß sie erst bei sehr bedeutender Abdampfung und Verdichtung sich niederschlagen würden; Kalkschichten und Kieselschichten würden sich bei einer gewissen Austrocknung eines Meeresbeckens erst kurz vor der Salzkruste bilden, welche zuletzt sich absetzte, wenn die chemischen Eigenschaften der mineralischen Processe allein in Frage kämen. Die organische Thätigkeit tritt hier aber vermittelnd ein und bewirkt, daß Kalk und Kiesel unaufhörlich eben so gut an den Küsten, wie in der größten Tiefe abgeschieden und so beständig neue Schichten aus der vom Lande herkommenden Zufuhr fester Stoffe gebildet werden. In Beziehung auf diese Stoffe selbst aber scheint die Thätigkeit der beiden Reiche in der blauen Tiefe streng getrennt – das Thier zieht den kohlensauren Kalk, die Pflanze den Kiesel an.
Es giebt, wie wir gesehen haben, Thiere, welche fast alle Tiefenzonen des Meeres bewohnen – die Deckel-Kammmuschel ist davon ein sprechender Zeuge. Es giebt aber auch viele Thiere, welche nur gewisse Tiefenzonen bewohnen, so gut, wie das Kameel nicht auf hohen Bergen und das Rennthier nicht in der heißen Ebene fortkommen kann. Schalen aus solcher Tiefe, die man in höheren Regionen findet, geben davon Zeugniß, daß das Meer früher an dem Orte eine weit größere Tiefe besessen, daß es entweder seinen Stand verändert, oder das Land sich erhoben habe. Die oben erwähnte Augenkoralle findet sich an den norwegischen Küsten vom Hardangerfjord an nördlich, um Grönland und Island, aber immer nur in blauer Tiefe von wenigstens 200–300 Faden (12–1800 Fuß). Die [712] Gründe, wo sie sich anheftet, sind den Fischern unter dem Namen „Seewälder“ als treffliche Fischbänke wohlbekannt. Mit ihr in Gesellschaft finden sich eine Menge anderer Thiere, besonders aber eine prachtvolle, blendend weiße, große Feilenmuschel (Fig. 9), die erst durch die Schleppnetze der nordischen Naturforscher entdeckt wurde und von der ich hier die Abbildung der innern Seite einer Schale in halber Größe gebe. Die äußere Seite der dünnen Muschel ist mit feinen Längsstreifen geziert – die innere Ansicht zeigt das einfache Schloß und den Eindruck des einfachen Muskels, durch den die Schale geschlossen wird. Niemals haben sich beide Gesellen in seichterem Wasser gefunden, wenigstens nicht lebend. Aber im Fjord von Christiania giebt es Stellen, wo todte Augenkorallen in wenig Faden Tiefe noch auf dem Meeresboden wurzeln und todte Feilenmuscheln dazwischen herumliegen. Hier waren also einst tausend Fuß Tiefe mehr – Land und Meer hatten eine andere Gestalt!
Hier muß ich enden, obgleich noch so Vieles zu sagen wäre. Aber es genügt, gezeigt zu haben, daß die blaue Tiefe noch Manches birgt, von dem wir nur sagenhafte oder höchst unvollständige Kenntniß haben; daß dort unten ein nicht minder lebhaftes Schaffen und Treiben wirkt, als in anderen, zugänglicheren Regionen des Meeres; daß viele Fragen, welche die Wissenschaften von der Erde und vom Leben an uns stellen, dort noch ihre Antwort finden können und werden, und daß wir die Hoffnung nicht aufgeben dürfen, Antworten auf diese Fragen zu erhalten, sobald wir die Methoden vervollkommnen, die zu Resultaten führen können.