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Die beiden Scholaren

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Die beiden Scholaren
Untertitel:
aus: Chinesische Volksmärchen, S. 76–79
Herausgeber: Richard Wilhelm
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Eugen Diederichs
Drucker: Spamer, Leipzig
Erscheinungsort: Jena
Übersetzer: Richard Wilhelm
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
E-Text nach Digitale Bibliothek Band 157: Märchen der Welt
Eintrag in der GND: [1]
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Bearbeitungsstand
fertig
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[76]
33. Die beiden Scholaren

Es waren einmal zwei Scholaren. Der eine hieß Liu Tschen, und der andere hieß Yüan Dschau. Die waren beide jung und schön. An einem Frühlingstage gingen sie miteinander in das Tiän Tai-Gebirge, um Heilkräuter zu pflücken. Da kamen sie an einen Berghang, wo auf beiden Seiten die Pfirsichbäume in üppiger Blüte standen. Mitten drin öffnete sich eine Höhle, da standen zwei Jungfrauen unter den blühenden Bäumen, die eine in roten Kleidern, die andere in grünen. Die waren über alle Maßen schön. Sie winkten den beiden Scholaren mit der Hand.

„Seid ihr da?“ fragten sie. „Wir haben lange auf euch gewartet.“

Dann führten sie sie in die Höhle und warteten ihnen mit Tee und Wein auf.

„Ich bin für den Herrn Liu bestimmt,“ sagte die Jungfrau im roten Gewand, „und meine Schwester für den Herrn Yüan.“

So wurden sie Mann und Frau. Täglich betrachteten sie die Blumen oder spielten Schach, so daß die beiden ganz der Erdenwelt vergaßen. Sie sahen nur, wie draußen vor der Höhle die Pfirsichblüten bald sich öffneten, bald wieder fielen. Auch fühlten sie unvermutet oft kalt, oft warm, so daß sie jederzeit die Kleider wechseln mußten. Die beiden fanden das im stillen wunderbar.

Eines Tages plötzlich kam sie Heimweh an. Die beiden Mädchen wußten schon darum.

„Wenn euch Herren erst das Heimweh aufsteigt, kann man euch nicht länger halten“, sagten sie.

Am Tage darauf bereiteten die Mädchen ein Abschiedsmahl; dann gaben sie noch Zauberwein den beiden mit und sprachen: „Wir sehen uns wohl wieder. Zieht nur hin!“

[77] Unter Tränen nahmen die Scholaren Abschied.

Als sie nach Hause kamen, da waren Tor und Türen längst verschwunden. Die Leute in dem Dorfe waren ihnen alle unbekannt. Sie drängten sich um sie und fragten, wer sie wären.

„Wir sind Liu Tschen und Yüan Dschau“, antworteten sie. „Wir gingen ins Gebirg und suchten Kräuter. Es mag wohl ein paar Tage her sein.“

Da kam mit schnellen Schritten ein Diener hergeeilt und sah sie lange an. Endlich fiel er hocherfreut vor Liu Tschen nieder und sagte: „Ja, Ihr seid wirklich mein Herr. Seit Ihr weggingt und uns im ungewissen ohne Nachricht ließet, ists nun wohl siebzig Jahre oder mehr.“

Darauf zog er den Scholaren Liu zu einem hohen Tore, das mit Buckeln und einem Ring im Löwenmaule reich verziert war, wie es bei hohen Herrschaften so Sitte ist.

Als er in den Saal trat, da kam eine alte Frau mit weißem Haar und krummem Rücken auf einen Stab gestützt hervor und fragte: „Was ist das für ein Mann?“

„Unser Herr ist wieder da“, erwiderte der Knecht. Und dann, zu ihm gewendet, fügte er hinzu: „Das ist die gnädige Frau. Sie ist schon hundert Jahre alt. Zum Glück ist sie noch kräftig und wohlauf.“

Der alten Frau traten vor Freuden und Kummer die Tränen in die Augen.

„Seit du weggingst unter die Unsterblichen, dachte ich, wir würden uns in diesem Leben nicht mehr wiedersehen“, sagte sie. „Welch großes Glück, daß du nun doch wiedergekommen bist!“

Noch ehe sie ausgeredet hatte, da kam die ganze Familie, Männer und Frauen, herbeigeströmt und begrüßten ihn in dichtem Gedränge draußen vor dem Saal.

Die Frau deutete einzeln auf sie und sagte: „Das ist der und der, das ist die und die.“

Als damals der Scholar verschwunden war, da hatte er nur ein winziges Knäblein hinterlassen, erst ein paar Jahre [78] alt. Der war nun schon ein achtzigjähriger Greis. Er hatte in hohem Amt dem Reich gedient und sich bereits zur Altersruhe in die heimatlichen Gärten zurückgezogen. Enkel waren drei da, lauter berühmte Minister; Urenkel über zehn, von denen fünf die Doktorprüfung schon bestanden; Ururenkel über zwanzig, von denen der älteste nach wohlbestandener Magisterprüfung soeben erst zu Hause angekommen war. Die kleinen Kinder erst, die noch auf den Armen getragen wurden, waren ohne Zahl. Die Enkel, die im Amte auswärts waren, als sie hörten, daß ihr Ahn zurückgekommen sei, erbaten alle Urlaub und kamen heim. Die Enkelinnen, die in andere Familien verheiratet waren, kamen ebenfalls herbei. Da ward er hocherfreut und bereitete ein Familienmahl im Saale, und alle seine Nachkommen mit ihren Frauen und Männern saßen rings um ihn her. Er selbst aber und seine Frau saßen oben in der Mitte, die Frau weißhaarig, ein runzliges, altes Weiblein. Der Scholar aber hatte noch immer das Aussehen eines zwanzigjährigen Jünglings, so daß alle Jungen im Kreise umherblickten und lachten.

Da sprach der Scholar: „Ich habe ein Mittel, das Alter zu vertreiben.“

Damit nahm er den Zauberwein hervor und gab ihn seiner Frau zu trinken. Als sie drei Gläser getrunken hatte, da ward ihr weißes Haar allmählich wieder schwarz, die Runzeln glätteten sich, und sie saß an der Seite ihres Mannes stattlich als junge Frau. Da kamen der Sohn und die älteren Enkel herbei und verlangten alle von dem Wein zu trinken. Wer auch nur einen Tropfen davon bekam, der wurde aus einem Greise wieder zum Jüngling. Die Sache wurde ruchbar und kam bis vor den Kaiser. Der Kaiser wollte ihn an seinen Hof berufen. Er aber lehnte dankend ab. Doch sandte er ihm von dem Zauberweine zum Geschenk. Der Kaiser ward darüber hocherfreut und verlieh ihm eine Ehrentafel, darauf geschrieben stand:

[79]
„Gemeinsames Heim von fünf Geschlechtern.“

Außerdem sandte er ihm drei Zeichen, die er mit seinem eigenen Pinsel geschrieben hatte:

„Freude langen Lebens.“

Dem andern der beiden Scholaren, Yüan Dschau, war es nicht so gut gegangen. Als er nach Hause kam, da waren Weib und Kind längst gestorben, und seine Enkel und Urenkel waren meist unbrauchbare Menschen. So blieb er denn nicht lange, sondern kehrte in das Gebirge zurück. Liu Tschen aber weilte mehrere Jahre unter den Seinen; dann nahm er seine Frau mit sich und ging abermals in den Tiän Tai-Berg und ward nicht mehr gesehen.

Anmerkungen des Übersetzers

[394] 33. Die beiden Scholaren. Quelle: vgl. Tang Dai Tsung Schu.

Die Geschichte wird in die Zeit des Kaisers Ming Di (58–75 n. Chr.) verlegt.

Das Motiv des Siebenschläfermärchens kehrt in China oft wieder. Vgl. auch die hübsche Allegorie von der „Pfirsichblütenquelle“ in der Anmerkung zum 80. Kapitel des Taoteking (übersetzt von R. Wilhelm).