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Die Zwergmaus

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Textdaten
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Autor: Alfred Brehm
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Titel: Die Zwergmaus
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[764]
Die Zwergmaus.[1]
Von Brehm.

So schmuck und nett alle unsere keinen Mäuse sind, so allerliebst sie sich in der Gefangenschaft betragen: das kleinste Mitglied der Familie, die Zwergmaus, übertrifft jene doch in jeder Hinsicht! Sie ist beweglicher, geschickter, munterer, kurz ein viel anmuthigeres Thierchen, als alle übrigen. Ihre Länge beträgt blos 5 Zoll, und davon kommen auch noch 21/3 Zoll auf das Schwänzchen, sodaß der eigentliche Körper nur etwa 2½ Zoll lang ist. Die Höhe am Widerrist beträgt nur einen Zoll; das Gewicht schwankt zwischen ein und zwei Quentchen. Die Zwergmaus verdient also ihren Namen; es giebt ja auch nur ein einziges Säugethier noch, die uns schon bekannte Zwergspitzmaus, welche kleiner ist als sie.

Ganz wunderbar im Verhältniß zu dieser geringen Größe ist die auffallende Verbreitung des lieblichen Thierchens. Von jeher hat die Zwergmaus den Thierkundigen viel Kopfzerbrechens gemacht. Pallas entdeckte sie in Sibirien, beschrieb sie genau, bildete sie auch ganz gut ab; aber fast jeder Forscher nach ihm, dem sie später in die Hände kam, stellte sie als eine neue Art auf, und jeder glaubte, in seinem Rechte zu sein. Allerdings wechselt die Pelzfärbung der Zwergmaus nicht unbeträchtlich ab. Gewöhnlich ist sie zweifarbig, die Oberseite des Körpers und der Schwanz gelblich braunroth, die Unterseite und die Füße scharf abgesetzt weiß; nun aber kommen dunklere und hellere, röthlichere und bräunlichere, grauere und hellere vor; die Unterseite steht nicht so scharf im Gegensatz mit der oberen; junge Thiere haben andere Körperverhältnisse als die alten und noch eine ganz andere Leibesfärbung, nämlich viel mehr Grau auf der Oberseite: kurz, diese Verschiedenheit kann den nicht sehr sorgfältig prüfenden Forscher schon verwirren. Außerdem erschien es ja auch zu wunderbar, daß ein Thier, welches in Sibirien entdeckt wurde, in Deutschland leben sollte! Aber die fortgesetzte Beobachtung ergab als unumstößliche Wahrheit, daß unser Zwerglein wirklich von Sibirien an durch ganz Rußland, Ungarn, Polen und Deutschland bis nach Frankreich, England und Italien reicht, und jetzt wird allgemein angenommen, daß sie nur ausnahmsweise in manchen Gegenden nicht vorkommt. Sie findet sich eigentlich in allen Ebenen, wo der Ackerbau blüht, und keineswegs immer auf den Feldern, sondern vorzugsweise im Schilf und im Rohr, in Sümpfen und in Binsen. In Sibirien und in den Steppen am Fuße des Kaukasus ist sie gemein, in Rußland und England, in Schleswig und Holstein wenigstens nicht selten. Aber auch in den übrigen Ländern Europa’s kann sie zuweilen häufig werden.

Während des Sommers findet man das schmucke Thier in Gesellschaft der Wald- und gemeinen Feldmaus in Getreidefeldern, im Winter massenweise unter Feimen oder auch in Scheunen, in welche sie mit der Frucht eingeführt wird. Wenn sie im freien Felde überwintert, bringt sie einen großen Theil der kalten Zeit zwar schlafend zu, fällt aber niemals in völlige Erstarrung und sammelt sich deshalb während des Sommers auch recht hübsche Vorräthe in ihren Höhlen ein, um davon leben zu können, wenn die Noth an die Pforte klopft. Ihre Nahrung ist die aller übrigen Mäuse, Getreide und Sämereien verschiedener Gräser, Kräuter, namentlich aber auch kleine Kerbthiere aller Art.

In ihren Bewegungen zeichnet sich die Zwergmaus vor allen anderen Arten der Familie aus. Sie läuft ungeachtet ihrer geringen Größe ungemein schnell und klettert mit größter Fertigkeit, Gewandtheit und Zierlichkeit. An den dünnsten Aesten der Gebüsche, an Grashalmen, die so schwach sind, daß sie sich mit ihr zur Erde beugen, schwebend und hängend, läuft sie empor, fast eben so schnell an Bäumen, und der dünne Schwanz wird dabei so recht geschickt als Wickelschwanz benutzt, gerade, als hätte der kleine Nager solche Künste den Brüllaffen abgestohlen. Auch im Schwimmen ist die Zwergmaus wohl erfahren, und im Tauchen sehr geschickt. So kommt es, daß sie überall wohnen und leben kann.

Ihre größte Fertigkeit entfaltet die Zwergmaus aber doch noch in etwas Anderem. Sie ist eine Künstlerin, wie es wenige giebt unter den Säugethieren, eine Künstlerin, die mit den begabtesten Vögeln zu wetteifern sucht. Sie baut ein Nest, das an Schönheit alle andern Säugethiernester weit übertrifft. Als hätte sie es einem Rohrsänger oder Stufenschwanz abgesehen, so eigenthümlich wird der niedliche Bau angelegt. Das kugelrunde Nest, welches ungefähr faustgroß ist, steht nämlich, je nach der Ortsbeschaffenheit, auf zwanzig bis dreißig Riedgrasblättern, deren Spitzen zerschlissen und so durch einander geflochten sind, daß sie das eigentliche Nest von allen Seiten umschließen, oder hängt über zwei bis drei Fuß hoch über der Erde frei an den Zweigen eines Busches, an einem Schilfstengel und dergleichen, so daß es aussieht, als schwebe es in der Luft.

In seiner Gestalt ähnelt es am meisten einem stumpfen Ei, einem rundlichen Gänseei z. B., dem es auch in der Größe ungefähr gleichkommt. Die äußere Umhüllung besteht immer aus gänzlich zerschlitzten Blättern des Rohrs oder Riedgrases, deren Stengel die Grundlage des ganzen Baues bilden. Die keine Künstlerin nimmt jedes Blättchen hübsch mit den Zehen in den Mund und zieht es mehrere Male zwischen den nadelscharfen Zahnspitzen durch, bis jedes einzelne Blatt sechs-, acht- oder zehnfach getheilt, gleichsam in mehrere besondere Fäden getrennt worden ist; dann wird das Ganze außerordentlich sorgfältig durcheinander geschlungen, gewebt und geflochten. Das Innere ist mit Rohröhren, mit Kolbenwolle, mit Kätzchen und Blüthenrispen aller Art ausgefüttert. Eine kleine Oeffnung führt von einer Seite hinein, und wenn man da hindurch in das Innere greift, fühlt sich das Ganze oben wie unten gleichmäßig geglättet und überaus weich und zart an. Die einzelnen Bestandtheile sind so dicht miteinander verfilzt und verwebt, daß das Nest einen wirklich festen Halt bekommt. Wenn man die viel weniger brauchbaren Werkzeuge dieser Mäuse mit dem geschickten Schnabel der Künstlervögel vergleicht, wird man jenen Bau nicht ohne hohe Bewunderung betrachten und muß die Arbeit der Zwergmaus gewiß über die Baukunst manches Vogels stellen, der weit besser ausgerüstet ist.

Jedes dieser Nestchen wird immer zum Haupttheil aus den Blättern derselben Pflanze gebildet, welche den netten Ball trägt. Eine nothwendige Folge hiervon ist, daß das Aeußere fast oder ganz dieselbe Farbe hat, wie der Strauch selber, an dem es hängt. Nun benutzt die Zwergmaus jeden einzelnen ihrer Paläste blos zu ihrem Wochenbette, und das dauert nur ganz kurze Zeit; so [765] sind die Jungen regelmäßig ausgeschlüpft, ehe das Blätterwerk um das Nest verwelken und hierdurch eine auffällige Farbe annehmen konnte.

Man glaubt, daß jede Zwergmaus jährlich zwei bis drei Mal Junge wirft, jedesmal ihrer fünf bis neun. Aeltere Mütter bauen immer künstlichere und vollkommenere Nester, als die jüngeren, aber auch in diesen zeigt sich schon der Trieb, die Kunst der alten auszuüben; denn bereits im ersten Jahre bauen sich die kleinen Dingerchen ziemlich vollkommene Nester, um darin zu ruhen. Gewöhnlich verweilen die Jungen so lange in ihrer prächtigen Wiege, bis sie sehen können. Die Alte hat sie jedesmal warm zugedeckt, oder vielmehr die Thüre zum Neste verschlossen, wenn sie es verlassen mußte, um sich Nahrung zu holen. Sie ist inzwischen wieder mit den Männchen ihrer Art zusammengekommen und gewöhnlich bereits von Neuem trächtig, während sie ihre Kinder nach säugen muß. Kaum sind dann diese so weit, daß sie zur Noth sich ernähren können, so überläßt sie die Alte sich selbst, nachdem sie höchstens ein paar Tage lang ihnen Führer und Rathgeber gewesen ist.

Zwergmäuse.

Falls das Glück Einem wohlwill und man gerade dazukommt, wenn die Alte ihre Brut zum ersten Male ausführt, hat man Gelegenheit, sich an einem der anziehendsten Familienthierbilder aus dem Säugethierleben zu erfreuen. So geschickt die junge Schaar ist, etwas Unterricht muß ihr doch werden, und sie hängt auch noch viel zu sehr an der Mutter, als daß sie sogleich selbstständig sein und in die weite, gefährliche Welt hinausstürmen möchte. Da hängt nun eines an diesem, das andere an jenem Halme; das zirpt zu der Mutter auf, jenes verlangt noch die Mutterbrust; dieses wäscht und putzt sich, jenes hat ein Körnchen gefunden, welches es hübsch mit den Vorderfüßen hält und aufknackt; das Nesthäkchen macht sich noch im Innern des Baues zu schaffen; das beherzteste und muthigste Männchen hat sich schon am weitesten entfernt und schwimmt vielleicht bereits unten in dem Wasser herum, aus dem das Riedgras sich erhebt; kurz, die ganze Familie ist in der lebhaftesten Bewegung und die Alte gar gemüthlich da mitten drin, hier helfend, dort rufend, führend, leitend, die ganze Gesellschaft beschützend.

Man kann dieses anmuthige Treiben so recht gemächlich betrachten, wenn man sich das ganze Nest mit nach Hause nimmt und in einen enggeflochtenen Drahtbauer bringt. Mit Hanf, süßen Aepfeln, Birnen, Hafer, Fleisch und Stubenfliegen sind die Zwergmäuse leicht zu erhalten, und sie vergelten jede Mühe, welche man sich mit ihnen giebt, durch ihr angenehmes Wesen tausendfach. Ganz allerliebst sieht es aus, wenn man eine Fliege hinhält. Da fahren alle mit großen Sprüngen auf sie los, packen sie mit den Füßchen, führen sie zum Munde und tödten sie mit einer Hast und Gier, als ob ein Löwe ein Rind erwürgen wolle; dann halten sie ihre Beute allerliebst mit den Vorderpfoten und führen sie damit zum Munde. Die Jungen werden sehr bald zahm, aber mit zunehmendem Alter wieder scheuer, falls man sich nicht ganz besonders oft und fleißig mit ihnen abgiebt. Um die Zeit, wo sie sich im Freien in ihre Schlupfwinkel zurückziehen, werden sie immer sehr unruhig und suchen mit Gewalt zu entfliehen, gerade so, wie die im Käfig gehaltenen Zugvögel zu thun pflegen, wenn die Zeit der Wanderung herannaht. Auch im März zeigen sie dasselbe Gelüste, sich aus dem Käfig zu entfernen. Sonst gewöhnen sie sich bald ein und bauen auch ganz lustig an ihren Kunstnestern, nehmen Blätter und ziehen sie mit den Pfoten durch den Mund, um sie zu spalten, ordnen und verweben sie, tragen allerhand Stoff zusammen, mit einem Worte, sie suchen sich so gut als möglich einzurichten.



  1. Die vorstehende Thiercharakteristik ist einem noch ungedruckten Hefte von Dr A. E. Brehm’s im Verlage des Bibliographischen Instituts zu Hildburghausen erscheinendem „Illustrirtem Thierleben“ entlehnt. Die competentesten Urtheile stimmen darin überein, daß das Buch sich durch Inhalt und Illustrationen gleich auszeichnet und durch seinen verhältnißmäßig billigen Preis auch dem minder bemittelten Naturfreunde zugänglich ist. Von der lebendigen, frischen Darstellung wird unsere Leser der hier mitgetheilte Abschnitt überzeugen.       D. Red.