Die Verwaisten
[447] Die Verwaisten. (Zu dem Bilde S. 432 und 433.) Das reizende Bild von Werner Zehme, auf welchem die Kinder des Försters verwaiste oder eingefangene Rotwildkälber tränken, verdankt sein Entstehen einer Reise in Oberbayern, wo der Künstler bei einem Forsthause zwei Hirschkälber, die schon so stark waren, daß sie munter ums Haus und im Hause herumtollten, gerade so füttern sah, wie es uns sein Stift erzählt. Ich möchte daran aus meiner eigenen Erfahrung einige weitere Beispiele knüpfen, wie leicht das in freier Wildbahn so scheue Rotwild, jung eingefangen, zahm und geradezu zum Haustier werden kann.
Als ich vor einigen Jahren einmal den Harz durchstreifte, sah ich auf der Försterei Oderbruck ein Wildkalb, das im und beim Hause frei umherging, der Frau Förster wie ein Hund folgte und ebenso gefüttert wurde wie die beiden auf der Zeichnung. Ein Jahr alt, zog es mit den Kühen auf die Weide und kam mit denselben zur Försterei zurück. Es lebt auch heute noch und durchstreift nach wie vor den Forst, und wenn es auch einmal einige Tage ausbleibt, um seiner Verwandtschaft einen Besuch abzustatten oder auf die Liebesschwüre eines Hirschjünglings zu lauschen, so ist doch sein Standort die Försterei geblieben.
Auf der Oberförsterei Torfhaus, von welcher aus einstmals Goethe mitten im Winter bei tiefem, aber überhaltendem Schnee den Brocken bestieg, wurde ebenfalls längere Jahre hindurch ein zahmer Hirsch gehalten, der im Sommer, so lange es warm und die Aesung nicht knapp war, im Harz umherzog und nur selten gesehen wurde. Sobald aber im Herbste die ersten Schneeflocken durch die Luft wirbelten, schloß er sich der Kuhherde an und kam mit ihr aufs Gehöft so vertraut zurück, als hätte er niemals auf eigene Faust einen Ausflug in den weiten Forst gemacht.
Auch auf dem Wolkenhause über Harzburg sind einige zahme Stücke Wild, die in den Anlagen zwischen den Gästen umherspazieren, ohne alle Scheu ihnen von diesen gereichten Zucker und Milchbrot naschen, sich von jedem streicheln lassen und mit ihrem Herrn weite Gänge machen, ja sogar mit ihm nach andern Gasthäusern wandern und sich dort so lange heimisch fühlen wie ihr Gebieter.
Aber nicht nur mit der Flasche aufgebuddeltes Rotwild wird vollkommen zahm, auch älteres, aus freier Wildbahn stammendes lernt bei richtiger Behandlung sehr bald seinen Wärter kennen und wird ihm und bald auch Fremden gegenüber vertraut. Der letzte sehr strenge und schneereiche Winter hat trotz aller Pflege und Fütterung wie überall so auch auf dem Harze manches Opfer an Hirschen und Wild gefordert. Immerhin sind aber auch einige fast schon dem Tode verfallene Stücke gerettet.
[448] So wurde ein verklamtes Schmaltier, das nicht mehr stehen konnte und zweifellos bei der grimmigen Kälte in kurzer Zeit eingegangen wäre, von zwei Forstaufsehern gefunden und zur nahen Försterei Rehhagen gebracht. Der Förster flößte ihm sofort warme Kuhmilch ein, gab ihm dann aufgelöstes Glaubersalz zu trinken, weil erfahrungsmäßig solche im Winter aufgefundene Stücke an Verstopfung leiden – und heute ist dasselbe so gesund und munter und auch so zahm, daß es nicht nur der Förster, sondern auch seine Familienmitglieder streicheln können, und es ihnen willig das Futter aus der Hand nimmt. Ob es aber aus Dankbarkeit gegen seine Wohlthäter, wenn es freigelassen wird, in der Nähe der Försterei seinen Stand nimmt oder hin und wieder zurückkehrt oder sich im Freien streicheln lassen wird, dürfte doch wohl zweifelhaft sein. Karl Brandt.