Die Scrophulose, eine sociale Krankheit
Die Scrophulose, eine sociale Krankheit.
Die Kinderpoliklinik, deren ärztliche Leitung mir obliegt, war, wie gewöhnlich, von armen Frauen, welche die kleinen Patienten in Kinderwagen oder auf dem Arme oft stundenweit vom Lande herein brachten, fast überfüllt. Dreißig bis vierzig Mütter wollten in dieser einen öffentlichen Berathungsstunde wieder einmal Rath und Hülfe für ihre kranken Kinder einholen. Obgleich dreimal wöchentlich die Pforten unserer Anstalt sich zu gleichem Zwecke öffnen, vermögen doch wir Aerzte und die jüngern Mediciner, welche zum Studium der Kinderkrankheiten hier erscheinen, kaum die Krankenzahl zu bewältigen. Auch heute war der Zuspruch, trotzdem Schnee, Regen und ein scharfer Wind draußen um die Herrschaft stritten, ganz bedeutend. Und welche Gestalten zuweilen! Neben der sauber gekleideten verschämten Armuth, neben solchen, welche sicher bis vor Kurzem bessere Tage gesehen, welche traurige Gestalten, die, zuweilen mit zwei Kindern, ein kleineres in ein dürftiges Tuch geschlagen, ein größeres an der Hand, um ärztliche Hülfe baten.
Ein auswärtiger College, welcher bei uns als Gast verweilte, verfolgte den Verlauf der Ordinationsstunde mit einer Theilnahme, die wohl ebenso sehr aus Mitleid für die Besucher, wie aus Interesse für die sich darbietenden Krankheitsformen bestehen mochte. Insbesondere fiel es ihm auf, daß ein großer Theil der Leiden, so verschieden sie sich äußerten, von mir in den kurzen Auseinandersetzungen, die ich für die Studirenden an die Vorzeigung des Falles knüpfte, auf ein Grundübel, die ungenügende und unpassende Ernährung zurückgeführt und demgemäß vorwiegend mit hygienisch- diätetischen Vorschriften, in zweiter Linie erst mit Arzeneien behandelt wurde.
Daß solche Belehrungen den Müttern gedruckt mitgegeben wurden, daß wir, so weit dies möglich war, auch Nähr- und Stärkungsmittel verabreichten, schien unserem Gaste ebenfalls neu. Er interpellirte mich – angeregt durch dieses vielgestaltige Uebel – über mein Betonen der Scrophulose hinsichtlich ihrer Verbreitung, Tragweite und Bekämpfung. „Glauben Sie,“ so schloß er seine Anfrage, „daß die Scrophulose für den Einzelnen wirklich so wichtig ist, daß sie so sehr von socialer Noth abhängt und so energisch behandelt werden muß?“
Die Frage verlangte eine sofortige und ebenso offene Antwort. „Ich glaube es, bin seit Jahren fest davon überzeugt und bitte Sie, dies Leiden, wie es sich uns in jeder Stunde unter mannigfacher Gestalt darbietet, mit mir aufmerksam zu verfolgen. Sie werden sich überzeugen, daß wir diese Krankheit weder für den Einzelnen, noch für die Gesammtheit unterschätzen dürfen. Es ist, wie ich betonen möchte, eine sociale Krankheit.“
Wenn ein Staatsmann sich gern über eine Frage gegenüber der Volksvertretung äußern möchte, so läßt er sich am liebsten aus den Reihen der „gesinnungsvollen Opposition“ darüber „interpelliren“ oder von einem Berichterstatter „interviewen“. Wir Aerzte kommen täglich in die Lage, unerwartet interpellirt zu werden; auch in diesem Falle war die Interpellation nicht vorher abgekartet, mir aber nicht weniger willkommen. Die Veranlassung, über etwas, das man auf dem Herzen oder auf der Zunge hat, sich aussprechen zu können, ist nicht unangenehm. Das lange im Innern in immer klarer werdenden Vorstellungen und immer mehr gefestigter Ueberzeugung Erwogene nimmt Ausdruck und Form an.
Eine Frau mit einem Säugling trat in diesem Augenblicke in das Zimmer und präsentirte das Kind wegen eines leichten Katarrhs. Auf dem Kopfe, zwischen den Haaren, zeigten sich gelegentlich der Untersuchung zahlreiche, trockene Schuppen von Hauttalg. „Das habe ich schon gesehen,“ bemerkte uns die Frau, „aber eine Bekannte sagte mir, das dürfe man nicht ablösen, es komme vom Zahnen und vergehe von selbst wieder.“ Die Mutter beachtet die „Kleinigkeit“ gar nicht, oder läßt der Sache ihren Verlauf.
Wir jedoch gewahren ein fast unbeachtetes, unscheinbares Leiden, das von sehr verhängnißvollen Folgen sein kann. Diese Hauttalgkrustchen erregen einen Entzündungsreiz auf der Kopfhaut; unter ihnen sammelt sich Flüssigkeit an, die schließlich zu einem chronischen nässenden Kopfausschlage führt, einem der häufigsten Ausgangspunkte der Scrophulose. Denn überall, wo größere Hautflächen nässende Absonderungen zeigen, bilden sich im Gebiete dieses Hautbezirks, durch Aufsaugung der krankhaften Stoffe, Lymphgefäß- und Lymphdrüsenanschwellungen, in diesem Falle also unter der Kopfhaut und am Halse.
Gleich das nächste Kind zeigt am Kopfe und zum Theil auch im Gesicht in größerer Ausdehnung solche mit reichlicher Flüssigkeitsabsonderung verbundene Ausschläge und natürlich wieder jene stark geschwollenen Nacken-Lymphdrüsen. Auf die Frage: „Wie lange besteht dies?“ erhalten wir von der Mutter, einer handfesten Bäuerin, den Bescheid: „Seit mehreren Wochen.“ Und auf die Frage: „Warum haben Sie nicht früher dazu gethan?“ wird uns die Auskunft zu Theil: „Bei uns heißt es, daß das gerade gesund ist. Da kommt alles Schlechte aus dem Körper heraus, und wir wollten es nicht durch eine Cur wieder hineintreiben.“
Und mit solchen unsinnigen Anschauungen muß man täglich kämpfen, ohne Aussicht, sie gründlich besiegen zu können. Wenn es auch in einem Falle gelingt, den Drachenkopf des Aberglaubens, des althergebrachten, gedankenlosen Vorurtheils, mit dem scharfen Schwerte der Ueberzeugung abzuschlagen – an hundert anderen Stellen wächst genau so schnell und gewaltig ein neuer. Diese Hydra ist eben unausrottbar.
In unserem Falle ist die Unkenntniß von der Tragweite dieser schon wochenlang bestehenden Drüsenanschwellungen nach einem derartigen Kopfausschlage für das Kind sehr ernst. Schon ziehen sich Drüsenknoten, äußerlich fühlbar, bis an das Schlüsselbein, innen jedoch – unserem Finger nicht mehr zugänglich – bis in den Brustraum hinab. Schon sind einzelne Drüsen in einer höchst gefährlichen Umwandelung, die man „Verkäsung“ nennt und die ein Uebergang zur Tuberculose ist, begriffen. Andere sind zu eitrigen Abscessen geworden, die im günstigsten Falle bleibende, entstellende Narben hinterlassen. Die Gefahr einer Selbstansteckung des Körpers, von diesen erkrankten Drüsen aus, [7] droht bereits schwer, aber ahnungslos läßt man die Quelle dieser Gefahr, den ersten Anfang des Uebels, bestehen.
„Sehen Sie sich das nächste Kind an! Es ist ein ‚Ziehkind‘, dürftig, mager, blaß. Zahlreiche Furunkel bedecken seine Haut, die Mundhöhle ist erfüllt von den sogenannten ‚Schwämmchen‘, jenen Pilzwucherungen, welche durch ungenügende Reinigung der Mundhöhle, zumal durch die unglückseligen Gummihütchen, die Nachfolger des einstmaligen ‚Zulp‘, zu entstehen pflegen. Die Krankheit der Mundschleimhaut und die zahlreichen kleinen Abscesse der Kopfhaut haben auch hier bereits zu Drüsenverdickung am Halse geführt. Schon sind diese Depots krankhafter Stoffe, vergrößert und entzündlich gereizt, deutlich, aber ihre Gefahr scheint der ‚Ziehmutter‘, die das Kind natürlich, wie immer, ‚gleich so bekommen hat‘ und ‚alles Mögliche an dasselbe wendet‘, unbekannt zu sein. Das bedauernswerthe kleine Wesen zählt sein Dasein nur noch nach Tagen; wäre frühzeitig sein Leiden erkannt und beachtet worden, so konnte es noch erhalten werden. Nunmehr ist bereits die Drüsenscrophulose in vollem Gange und vollzieht ihren traurigen Weg durch ihre verschiedenen Grade.“
Mehrere Kinder mit Husten und Darmstörungen folgen jetzt. Anscheinend haben sie wenig mit Scrophulose zu thun; und dennoch ist es der Fall.
Das Eine leidet bereits mit größter Wahrscheinlichkeit (und die Section wird es wohl bestätigen) an Drüsenschwellungen in der Nähe der Hauptäste des Luftröhrensystems; ein steter Reiz zum Husten legt den ersten Keim zur Erkrankung der noch so zarten Lungen. Das Andere, das mit Kaffee, Mehltrank und Semmel aufgepäppelte Kind eines leider schon seit Wochen beschäftigungslosen Handarbeiters, hat in Folge dieser ungeeigneten Kost bereits eine Scrophulose der Darmdrüsen. Sein Darmkatarrh, sein angetriebener Leib, seine abgezehrten Arme und Beine, sein elendes Aussehen, das einen seltsamen Contrast zu dem auffallenden Heißhunger bildet – Alles das vereinigt sich zu einem Gesammtbilde sogenannter „Cachexie“, einem Siechthum, welches meist durch Uebergang in Tuberculose oder durch Entkräftung zum Tode führt.
„Liebe Frau!“ ermahnen wir. „Sie dürfen dem Kinde, wenn es erhalten bleiben soll, die bisherige Kost nicht mehr geben, müssen mehlhaltige Nahrung meiden und vorwiegend gute Milch, wohl auch Griessuppen von Fleischbrühe, oder Eiwasser geben.“ Mit diesem schönen Rath und ganz speciellen gedruckten Anweisungen über das gesammte Verhalten, über Bäder und Luftgenuß etc. glauben wir unsere Pflicht erfüllt zu haben. Und zum Ueberfluß geben wir noch einige geeignete Nährmittel, wenigstens für die nächsten Tage genügend, mit. Und doch ist Alles dies, so segensreich schon dieser Fortschritt gegen sonst ist, nur eine flüchtige Wohlthat, nicht bedeutender als ein Tropfen im Meere. Denn die abgehärmte Frau entgegnet uns einfach:
„Das Alles können wir nicht erschwingen und nicht geben! Mein Mann verdient gar nichts.“
Dieses „Non possumus“, dieses starre, eiserne „Unmöglich“ verurtheilt das Kind fortdauernd zu einer ganz unzureichenden und unpassenden Nahrung und damit zu der Abzehrung, die an die Darmdrüsen-Scrophulose sich anschließt.
Der nächste kleine Patient, ein größerer Knabe, wird uns von der Großmutter zugeführt. Sein gedunsenes Gesicht, seine kolbige Nase und wulstige Oberlippe, die gerötheten Augenlider zeigen uns, schon ehe wir die angeschwollenen Drüsen fühlen, den sogenannten „scrophulösen Habitus“. Die kinderreiche Familie, Groß und Klein, Gesunde und Kranke, bewohnen ein einziges Zimmer in einer des Lichtes und der Luft entbehrenden Hofwohnung. Fast alle Kinder der betreffenden Familie sind blaß und leidend, der Knabe am meisten. Hautleiden und Katarrhe der Athmungsorgane lösen sich bei ihm ab; die fortdauernde Neigung dazu liegt wieder in der Erkrankung der Lymphgefäße und -drüsen, die in den Weichen und der Achselhöhle, zu kleinen „Paketen“ vergrößert, sich bemerkbar machen.
Ein zweites Opfer trauriger Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse schließt sich an: ein dreijähriges hübsches blondes Mädchen, dessen blasses, aber anscheinend wohlgenährtes Gesicht kaum eine schwerere Krankheit ahnen läßt. Und doch ist dem so. Einzelne Fingerglieder sind wohl um das Dreifache verdickt, aufgetrieben und geröthet; ebenso das Gelenk eines Fußes, und an dem Schienbein des Unterschenkels befindet sich ein von monatelangem Knochenleiden herrührender Fistelgang. Diese örtlichen Leiden sind theils durch Entfernung kranker Knochentheile bereits in Heilung begriffen, theils steht der chirurgische Eingriff, welcher sicher zur Besserung führt, noch bevor. Das Grundübel – die Scrophulose – bleibt leider, und damit die Schwierigkeit vollkommener Genesung.
Ein kleines, möglichst aufgeputztes Tragekindchen ist der nächste Patient. Obwohl erst ein halbes Jahr alt, mußten ihm doch schon Ohrlöcher gestochen werden, denn es ist ja einmal so Sitte, und es hatte ja Ohrringe (noch dazu unechte) geschenkt bekommen. Sofort hat sich daran, wie bei allen Hautverletzungen von Kindern, die bis dahin noch keine sichtbare Scrophulose darboten, das Auftreten eines Ausschlags der Ohrmuschel und Drüsenverdickung am Halse geschlossen. Gegenwärtig sind die schönen Ohrringe kaum sichtbar in der entstellenden Umgebung. Die redselige Mutter schiebt es natürlich auf das „Impfen“. „Gleich nach dem Impfen bekam das Kind auch auf dem Arme Hautausschläge und die Achseldrüsen schwollen.“ Daß hier nicht das Impfen und der Impfstoff die Schuld tragen, sondern die Körperbeschaffenheit des Kindes, die auf jede, wenn auch kleine Hautwunde mit offenem Auftreten der wohl schon angeborenen Scrophulose antwortet, das sieht natürlich die Frau nicht ein.
Den Schluß unserer poliklinischen Sprechstunde bildet heute ein blutarmes, schmächtiges Schulmädchen von durchsichtiger Haut und flacher Brust. Sein kurzer, trockener Husten, an dem wir es schon wochenlang vergeblich behandeln, beruht auf Lungentuberculose. Die Mutter war als Kind drüsenleidend, der Vater ist im Hospital an Schwindsucht gestorben, und an zwei Kindern aus derselben Familie haben wir bereits die tödtlich verlaufende Miliar-Tuberculose des Gehirns und vieler anderer Organe, die sich an scheinbar ganz geringe Drüsenleiden anschloß, beobachtet. Auch dies zarte Mädchen hat noch deutliche Nackendrüsen; sein Erbtheil, die Scrophulose und die aus ihr hervorgegangene Tuberculose, werden, unseren Bemühungen zum Trotz, das Kind dahinraffen; wir haben es auf die Liste der nächsten Feriencolonie notirt, wenn es dann noch am Leben und hierfür geeignet ist.
Das Stündchen in der Kinderpoliklinik schloß damit ziemlich ernst ab.
„Sie haben sehr Recht,“ äußerte mein Gastfreund. „Ich sehe dieses Leiden doch jetzt von anderem Gesichtspunkte an. Ihre Gallexie verschiedener Scrophuloseformen zeigt wirklich, daß wir hier keine unbedeutenden Krankheiten Einzelner, sondern eine Art Volkskrankheit vor uns haben. Aber als ‚praktischer‘ Arzt möchte ich fragen: Was ist zu thun?“
„Diese Frage rein ärztlich zu beantworten, ist nicht leicht. Wir haben, wie Sie sehen, zunächst allerdings ein Leiden vor uns, das in den verschiedensten Formen, oft scheinbar nur örtlich und unbedeutend, das einzelne Kind betrifft. Allein es ist meist nicht örtlich, sondern ein Allgemeinleiden des Körpers, das nur örtlich zum Ausdruck gelangt. Das Wesentliche bei der Scrophulose ist, daß sie, selbst wenn sie bei dem einzelnen Kinde noch nicht durch Ererbung vorhanden ist, sich aus den unscheinbarsten äußeren Leiden, aus Verdauungsstörungen, ungünstigen Ernährungs- und Wohnungsverhältnissen entwickelt, daß aber die ausgebildeten Drüsenleiden nur die Brücke für Abzehrung oder für Tuberculose bilden. In ununterbrochener Kette schließen sich an einen scheinbar ganz harmlosen Kopfausschlag Furunkel, Drüsenanschwellungen, Entartungen der Drüsen, allgemeiner Körperverfall, Tuberculose an. Unmerklich wird von einer kleinen Körperstelle aus die Gesammtheit des Körpers ergriffen und das Individuum ist verloren. Es ist also, wie schon die wenigen Fälle, die heute zu unserer Beobachtung kamen, zeigen, wenn man sie im Zusammenhange beobachtet, gar nicht ausschließlich ein persönliches Leiden. Ganze Familien, ganze Generationen sind davon befallen. Die Ehen Solcher, die als Kinder ausgesprochen scrophulös waren oder später Tuberculose zeigten, sind nicht nur ein Leichtsinn, sondern ein Verbrechen an der Menschheit. Die Sprößlinge solcher Ehen tragen das Kainszeichen der ererbten Scrophulose und vererben es auf die Enkel. Ganze Geschlechter entarten, wenn nicht sehr günstige Lebensverhältnisse und gesunde Ehen der Nachkommen diese Spuren wieder vertilgen.“
„Also aus diesem Grunde halten Sie es für eine sociale Krankheit?“
[8] „Nicht nur deshalb, sondern auch weil die Ursachen und die Folgen sociale Bedeutung haben. Die Ursachen fallen, in letzter Linie, wie immer mit der Geldfrage zusammen. Nachlässigkeit, Mangel an Einsicht oder Kenntniß ließen sich schließlich durch Belehrung beseitigen. Aber die thatsächliche Unmöglichkeit, die trefflichsten Rathschläge zu befolgen, beruht nur in der Armuth. Noth und Sorge sind die Eingangspforten für die Scrophulose; über die Schwelle des Hauses Reicher oder selbst gut Situirter wagt sie sich nur verstohlen. In solchem Hause wird sie rasch entdeckt und energisch daraus vertrieben. Desto hartnäckiger setzt sie sich da fest, wo das große sociale Leiden, die Erwerbs- und Mittellosigkeit, hausen. Sociale Gegensätze sind es, die hier die Hauptrolle spielen und dem Streben des Arztes, wenigstens in seinem engeren Kreise zu helfen, fast unübersteigliche Hindernisse bieten. Social ist aber nicht blos die Entstehung, sondern auch die Tragweite der Krankheit, welche jährlich, ganz in aller Stille und ohne das lärmende Aufsehen von Epidemien, Tausende von jugendlichen Individuen vorzeitig dem Gemeinwesen entzieht, Tausende, als hülfsbedürftig und halbinvalid, seiner Unterstützung aufbürdet. Verringerung der Zahl und des Werthes an Arbeits- und Wehrkräften, directe Kosten für den Staat – Alles dies sind die letzten Consequenzen einer derartigen Krankheit, nach welcher die Kinder, wenn sie ihr nicht frühzeitig erliegen, zu untüchtigen, hülfebedürftigen Menschen heranwachsen und Familiengeschlechter entarten.“
„Wird auch gegen dieses mehr schleichende Uebel nicht der ganze Landsturm der öffentlichen Gesundheitspflege aufgeboten, wie bei Cholera, Typhus oder Diphtherie, seine verheerende Wirkung, die sich lautloser vollzieht, verdient trotzdem die vollste Beachtung. Sociale Massenleiden beseitigen, die Armuth aus der Welt schaffen zu wollen, wäre ein thörichtes Beginnen. So lange Menschen auf Erden im ‚Kampfe um’s Dasein‘ ringen, werden solche Gegensätze nicht zu heilen sein. Der Hebel kann nur bei dem Einzelnen, bei dem Individuum, bei der Familie angesetzt werden. Belehrung, Aufklärung und Hülfe im nächsten Kreise, Erkennen und Beseitigen des Uebels in seinem Beginne – das sind nicht nur für jeden Arzt, sondern für jeden gebildeteren Menschenfreund schöne und, in bescheidenen Grenzen, auch lohnende Aufgaben. Mit jedem Kinde, das man bei Zeiten und energisch vor der Scrophulose schützt oder von ihr befreit, erweist man nicht nur diesem, sondern dem Gemeinwesen und den eventuellen Nachkommen eine Wohlthat. Die kleinsten Anfänge ernst zu nehmen, kräftig einzuschreiten und möglichst mit Wort und That belehrend zu wirken, ist bei einer solchen Volkskrankheit das einzig Richtige und das läßt sich nur durch volksthümliche Auseinandersetzung und praktische Hülfe mit geeigneten Nährmitteln anstreben.“
„Sie sehen“ – so schloß ich meine Erörterungen – „daß unsere ‚Kinderpoliklinik‘ mit ihren Grundsätzen und Einrichtungen, wenn auch nur im Kreise ihrer unmittelbaren Umgebung, manches Gute stiften kann, und daß es nur zu wünschen wäre, wenn diese blos durch milde Beiträge erhaltene Anstalt von begüterten Kinderfreunden thatkräftiger unterstützt würde, um durchgreifender nützen zu können. Unsere auf lose Blätter gedruckten ‚Hygienisch-diätetischen Belehrungen‘, die wir den Müttern gratis mitgeben, unsere Nährmittel, die wir vertheilen, alles Dies könnte so viel Gutes stiften; aber auch unsere Anstalt leidet an dem ‚socialen Uebel‘. Unsere Mittel erlauben uns nicht, so zu helfen, wie wir es für gut und nöthig halten.“ – –
Daß es wünschenswerth und lohnend ist, die Bestrebungen des Kampfes gegen die Scrophulose zu unterstützen und das, weß das Herz voll ist, angesichts von Thatsachen auszusprechen, bedurfte wohl keiner Rechtfertigung. Gerade diese Seite der Kinderhygiene liegt sehr im Interesse Aller und verdient bei dem jetzt wissenschaftlich feststehenden Zusammenhange der Tuberculose mit der Scrophulose die vollste Beachtung.
Diejenigen aber, welche dies gelesen und damit im Geiste
einer öffentlichen Berathungsstunde unserer Kinderpoliklinik beigewohnt haben, werden gewiß dem Streben dieser und ähnlicher
Anstalten dadurch mit erhöhter Theilnahme folgen. Unsere Grundsätze
verdienen in weitere Kreise getragen zu werden. Es ist aber
nicht genug, ihre Wahrheit zu erkennen. Man muß selbst Hand
und Herz offen halten und sie fördern; dann löst man auch eine
„sociale Frage“. Dr. L. Fürst (Leipzig).