Die Samojeden
Die Samojeden.
Seit einiger Zeit bereist eine sonderbare Gesellschaft die größeren Städte Deutschlands und lockt überall, wo sie erscheint, Tausende von Neugierigen herbei, welche für billiges Geld Wilde und Heiden sehen wollen. In dem Augenblicke, wo wir diese Zeilen niederschreiben, weilen die „Herrschaften“ in der Kaiserstadt Berlin und haben dort in der „schwedischen Eisbahn“ an der Pionierstraße ihre luftigen Zelte aufgeschlagen. Auf der glatten Fahrbahn treiben sie munter ihre Renthiere an, daß der Schlitten mit den eissportlustigen Herren und Damen um die Wette dahinjagt; das Frostwetter thut der Gesellschaft wohl; denn die sonderbaren Gäste stammen von hohem Norden her; Samojeden sind es.
Dort, wo die steile Grenzwand zwischen Asien und Europa, wo das Uralgebirge seine nördlichsten Ausläufer in die kalten Fluthen des eisbedeckten Polarmeeres versenkt, liegt ihre unwirthliche Heimath. An den Mündungen der Petschora, an den Gestaden des Karischen Meeres und an dem unteren Laufe des Ob lebt ihr Volk, von dem sie sich getrennt haben, um ein Gastspiel in Europa zu geben. Unterthanen des weißen Czaren sind es, deren Sitten und Gebräuche wir heute unsern Lesern zu schildern gedenken.
Der Riese Rußland ist gewaltig groß; nach West und Ost, gen Süd und Nord streckt er seine Arme aus. Viele Völker und viele Länder hält er fest umschlungen, und wenn man ihn schildern will, so muß man von vielen Menschenrassen und von vielen Erdzonen reden.
Im Süden Rußlands da reifen Mais und Weizen, da sprießt der Tabak und da gedeiht die feurige Rebe. Das ist eine der sieben klimatischen Zonen des Czarenreiches. Aber weder diese noch die drei folgenden des Obst- und Ackerbaues sind die Heimath der Samojeden. Hinauf nach Norden müssen wir ziehen, um diese zu finden, hinauf nach dem verlorenen Winkel der Erde, der nordöstlich von der Stadt Archangelsk gelegen ist.
In dieser Gegend, an der äußersten Spitze von Nowaja-Semlja, finden wir die erste klimatische Zone des russischen Reiches – die Zone des Eises. Dort giebt es keine steuerpflichtigen Völker; denn Walrosse, Seehunde, Eisbären und Polarfüchse bilden die einzigen Bewohner des Landes.
Aber unmittelbar an diese öden Strecken grenzt die Sumpfzone oder die Zone des Renthiermooses – weite kahle, baumlose Flächen. Im Winter liegt über denselben das weiße Schneetuch gleichmäßig ausgebreitet, und auch die Kraft des nordischen Sommers vermag kein höheres Pflanzenleben über diese Gefilde zu zaubern. Auf den unabsehbaren Moortriften gedeihen nur die niedrigsten und unscheinbarsten Kinder der Flora – Flechten und Moose. Ist der Grund und Boden feucht, so sprießt auf ihm Moos hervor; ist er steinig und trocken, so bedeckt ihn eine dichte Hülle von Flechten. Solche baumlose Flächen werden von den finnischen Völkern Tuntur oder Tundra genannt, und der Name hat sich mit der Zeit bei den Russen und bei anderen Völkern eingebürgert. Die Tundra ist die vorzüglichste Weide für Renthiere, und sie bildet auch die Heimath des [096] Nomadenvolkes der Samojeden, welches einzig und allein von der Renthierzucht lebt.
Seltener steigen sie mit ihren Heerden in die dritte Zone Rußlands hinauf, in die Zone der beginnenden Wälder, in welcher die Weißtanne und der Lärchenbaum die Einöden beleben und in welcher Schaaren von Eichhörnchen ihr muthwilliges Spiel treiben.
Fragt man nun nach dem Grunde, der diese Menschen bewegt, in einem so ungastlichen Lande zu wohnen, was sie davon abhält, zu wandern nach den spärlich bevölkerten südlichen Grenzländern, so findet man in der genaueren Beobachtung ihrer Lebensweise die gewünschte Antwort. Die Samojeden sind reine Nomaden, denen der Ackerbau durchaus fremd ist, und die nur durch die Zucht von Renthieren ihr Leben zu fristen verstehen. Sie müssen sich daher bei der Wahl ihres jeweiligen Wohnsitzes nicht nach eigenem Geschmacke, sondern nach den Bedürfnissen ihrer Heerden richten, und so sind sie sozusagen Sclaven ihrer Hausthiere geworden. Das Ren kann bekanntlich den Sommer in den Wäldern der südlicher gelegenen Landstriche nicht gut vertragen, da es dort von Insecten verschiedener Art in schrecklicher Weise geplagt wird, und im Winter sucht es selbst im wilden Zustande die Tundra auf, welche ihm an Flechten und Moosen Nahrung in Hülle und Fülle bietet. So wohnt der Samojede auf dem Weidelande seiner Heerde und wechselt hier seinen Sitz, so oft es nöthig ist, neue Weidegründe aufzusuchen.
Dieser Wohnungswechsel bereitet ihm freilich keine besonderen Schwierigkeiten; er ist ja ein Nomade. Sein Haus kann leicht abgebrochen und ebenso leicht wieder errichtet werden. Sein Zelt, die „Jurta“, besteht ja nur aus wenigen Stangen, die schräg gegen einander aufgestellt und mit Renthierfellen überdeckt werden. Ein kräftiger Sturmwind wirft manchmal die ganze Bude über den Haufen, aber der Sohn der Tundra ist zu wetterfest, um auf Dach und Fach besonderes Gewicht zu legen. In der luftigen Wohnung, wie sie unsere Abbildung zeigt, trotzt er, mit Renthierfellen bekleidet, dem schneidenden Froste des Polarwinters.
Wohl wärmt er sich von Zeit zu Zeit an dem Feuer, das er mitten in seiner Jurta anzündet, aber warme Speisen sind ihm völlig unbekannt. Er nährt sich vom Fleische der geschlachteten Renthiere, von Seehunden und Fischen, welche er roh verzehrt, und die einzige warme Kost, die er genießt, besteht in dem frischen Blute, welches er gierig trinkt. Diese thierische Ernährungsweise mag wohl die Veranlassung dazu gegeben haben, daß die Russen dieses Nomadenvolk Samojeden, das heißt Selbstesser oder Menschenfresser, benannten. Sie selbst nennen sich, nebenbei gesagt, „Chasawa“, was so viel wie „Menschen“ bedeutet.
Man pflegt die Culturstufe der Völker nach ihren Sitten und Gebräuchen zu bemessen. Besonders interessante Einzelheiten dürften, was dieses Capitel anbelangt, unsere Leser in diesem Falle nicht erwarten, und in der That, was wir hier zu erzählen haben, ist äußerst einfach und naiv.
Man berichtet uns, daß das Samojedenkind unmittelbar nach der Geburt tüchtig im Schnee herumgewälzt wird, wobei die Mutter die Worte spricht: „Leide Kälte, leide Hunger und Frost!“ Dieser samojedische Taufspruch scheint uns, was seine Uebersetzung anbelangt, ein wenig verstümmelt zu sein, aber einen tieferen Sinn wird ihm Niemand absprechen wallen. Dieser Sinn ließe sich wohl in die Worte zusammenfassen: „Lerne Leid und Weh ertragen, und beuge nicht dein Haupt vor dem Unglück, das wie Hunger und Frost zu den natürlichen Beigaben des Lebens zählt.“ Die Befolgung dieser samojedischen Weisheit könnten wir getrost Manchem von den Philosophen unseres hochcivilisirten Europa empfehlen.
Doch nicht mit diesen, sondern nur mit dem neugeborenen Samojeden haben wir es jetzt zu thun. Nach dem oben beschriebenen Schneebade wird das Kind in ein Renthierfell genäht, und es wächst dann ohne besondere Erziehung zum Jüngling oder zur Jungfrau heran.
Bei anderen nomadischen Völkern, wie z. B. bei den Kirgisen und Kalmücken, werden die Brautwerbung und die Hochzeit mit besonderem Prunk gefeiert. Das Weiterleben umgiebt den Sohn der Wüste mit einem eigenartigen Zauber, und unsere Leser werden sich ohne Zweifel noch des kalmückischen Brautzuges erinnern, welchen ihnen die „Gartenlaube“ (vergl. Jahrg. 1880, Nr. 50) vorführte. In der armseligen Jurta des Samojeden sind die Heirathsceremonien viel einfacher. Der verliebte Jüngling schickt einen Brautwerber in das Zelt seiner Auserkorenen, und dieser trägt eine Stange, die am oberen Ende mit einem Haken versehen ist. Behält die Familie die Stange, so wird dies als Jawort der Braut gedeutet, kehrt dagegen der Werber mit der Stange heim, so hat er sich für seinen Auftraggeber einen Korb geholt.
In den nächsten Tagen wird der Ehecontract geschlossen, wobei der Bräutigam einige Renthiere dem Vater des Mädchens übergeben muß. Eins derselben wird in der Jurta der Braut geschlachtet und von den Angehörigen der beiden Familien roh verzehrt. Nachdem die Gesellschaft ihren Hunger gestillt, wird ein Corso um die Jurta des Bräutigams veranstaltet. Der junge Mann springt aus seinem Zelt hervor, holt sich seine Frau während der Fahrt aus ihrem Schlitten und trägt sie in seine Jurta.
Damit ist die Hochzeitsfeier beendigt, aber die Ehe bindet den Samojeden nicht für ewige Zeiten. Mann und Frau können sich scheiden, wenn es ihnen beliebt, und von Neuem heirathen, und das geschieht oft; denn das Loos der Frauen ist auch bei den Samojeden beklagenswerth; sie müssen die meisten Arbeiten verrichten und für ihre Herren und Gebieter sorgen.
Wie wird nun der Samojede begraben? Einfach, ohne Sang und Klang! Man legt die Leiche in eine offene Kiste und packt in dieselbe einige Habseligkeiten des Verstorbenen. Ein Renthier schleppt diesen schlichten Sarg auf einen nahen Hügel, auf welchem es geschlachtet wird. Das Trauergeleite ißt nun von diesem Schlachtopfer, so viel es verzehren kann, und überläßt die übriggebliebenen Fleischstücke dem Todten als Wegzehrung. Nach vollendetem Mahl kehren die Lebenden heim, und die Leiche bleibt unbestattet liegen, bis sie Raubthieren zum Fraße verfällt. Aber das Andenken des Verstorbenen wird lange heilig gehalten. Drei Jahre nach dem Tode schwebt nach dem landesüblichen Glauben der Geist des Samojeden über den Gefilden seiner Väter und nimmt unsichtbar an den Leiden und Freuden der Lebenden theil. Während dieser Zeit machen sich nun die Hinterlassenen ein Holzbild des Verstorbenen, setzen es Mittags an den Ort, wo sie ihre Mahlzeit verzehren, und legen es Abends in’s Bett.
Wir haben die Samojeden im Eingange des Artikels als Heiden bezeichnet. In der That steht ihre Religion auf einer sehr tiefen Stufe der Entwickelung; denn sie glauben zwar an ein höchstes Wesen, welches sie „Num“ nennen, aber opfern dabei Götzen, die roh aus einem Holzblock gezimmert sind. Auch bei diesem religiösen Actus spielt das Schlachten eines Renthieres die Hauptrolle, und das eifrigste Verzehren des Fleisches scheint die einzige Andachtsäußerung zu bilden.
Erstaunt wird hier wohl mancher unserer Leser fragen: Ist denn in jenes „europäische Land“ das Licht des Christenthums noch nicht gedrungen? Hat denn die nicht weit entfernte abendländische Cultur dieses seiner Natur nach gutmüthige Volk mit ihren Wohlthaten nicht versorgt?
Bekehrungsversuche sind unter den Samojeden wohl gemacht worden, aber von der Civilisation haben sie nur zwei Dinge erhalten: die Feuerwaffen und das Feuerwasser. Der Branntwein, den sie „Jucasta“ nennen, ist bei ihnen sehr beliebt geworden und stürzte das Volk in schweres Unglück.
Das bezeugt die neueste Geschichte dieses Stammes, wenn von solcher überhaupt die Rede sein kann. Von kriegerischen Thaten seiner Vorfahren weiß der Samojede nichts zu berichten; denn ihm fehlt die Verwegenheit des Tekinzen und der schlaue Muth des Tataren. Während diese, seine mongolischen Brüder, die Dörfer und Städte Osteuropas bedrohten, weidete der Samojede friedlich die Renthierheerden auf den weiten Tundren des hohen Nordens.
Als das Volk der Samojeden schließlich mit den nordwärts vordringenden Russen in Berührung kam, da gerieth es zunächst unter die Abhängigkeit Nowgorod’s, dem es Tribut entrichten mußte, kam später unter das Scepter der Czaren, denen es Abgaben zu zahlen hatte, und als schließlich eingewanderte Russen auf den Tundren Renthierzucht zu betreiben anfingen, da wurden die Samojeden übervortheilt, geriethen in Schulden, verloren zum großen Theil ihre Renthierheerden und sanken herab zu Leibeigenen der Fremden.
Heute hat sich unter milderen Gesetzen ihre Lage günstiger gestaltet, aber der Stamm ist im Aussterben begriffen und zählt im europäischen Rußland kaum 6000 Seelen, während in Sibirien vielleicht noch 10,000 von ihrem Volke leben.
[097] Die gegenwärtig in Deutschland weilenden Samojeden stammen von der Insel Warandei her und sind die ersten ihres Stammes, die überhaupt nach Europa gekommen sind. Ein russischer Kaufmann, Namens Kalinzoff, trieb lange Zeit Handel mit den Samojeden und kam auf den Gedanken, einige dieser Leute zu einer „Kunstreise“ nach der civilisirten Welt zu veranlassen. Es gelang ihm auch wirklich, zwei Männer mit ihren Frauen und einem Kinde für diesen Plan zu gewinnen, und nachdem die fünfköpfige Gesellschaft ihr Hab und Gut auf Schlitten geladen hatte, zog sie von Warandei nach Archangelsk und von dort nach Petersburg. Das älteste Mitglied dieser Truppe erlag in Prag einer Krankheit; es war der alte Wasco, welcher schon arg verstümmelt zu uns gekommen war, da er im Kampfe mit einem Eisbären einen Fuß und an der rechten Hand drei, an der linken Hand aber zwei Finger verloren hatte. Die übrigen vier Samojeden erfreuen sich guter Gesundheit und werden hoffentlich ohne Unfall in ihre Tundra heimkehren.
Unsere heutige Abbildung zeigt uns die Leute und ihre Jurta, wie sie in dem zoologischen Garten zu Leipzig aufgeschlagen war. Die ältere Frau, Njeja, ist die Wittwe des verstorbenen Wasco und zählt vierzig Jahre; sie hat ihm vor sechs Jahren den Knaben Ortje geschenkt, der, in ein Renthierfell eingenäht, mit europäischem Spielzeug sich die Zeit zu vertreiben weiß. Das junge Ehepaar, der neunzehnjährige Iderach und die siebenzehnjährige Piripitja war kinderlos, als es die Reise antrat. Vor Kurzem aber erblickte ein munterer Samojedenknabe in unserer Kaiserstadt das Licht der Welt und das Heidenkind wurde in der russischen Capelle getauft.
Die kräftig gebauten, vier bis fünf Fuß hohen Leute machen keineswegs einen unangenehmen Eindruck, und widerwärtig ist nur ihr Anblick, wenn sie rohes Renthierfleisch oder blutige Weißfische verzehren. Auch ihr Hab und Gut: die Jurta, einige Kleidungsstücke aus Renthierfellen, die üblichen Schneeschuhe und ihre Hausthiere, die Renthiere, deren Zahl auf acht Stück zusammengeschmolzen ist, und der sibirische Hund, bietet viel Interessantes.
Wenn nun unsere seltenen Gäste in das Land ihrer Väter heimgekehrt sein und in der langen Polarnacht ihren Landsleuten von den Ländern und Völkern, die sie gesehen, erzählen werden, dann wird wohl ein großes Staunen im Samojedenlande herrschen, bis die Ungläubigen Herrn Iderach und seine Gemahlin, sowie die verwittwete Njeja im Stillen einer maßlosen Aufschneiderei beschuldigen.