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Die Sängerrunde am Weinsberger Thurm

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Autor: unbekannt
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Titel: Die Sängerrunde am Weinsberger Thurm
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 4–8
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Justinus Kerner und seine Dichterfreunde in Weinsberg
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[4]
Die Sängerrunde am Weinsberger Thurm.
I.


Nur eine Stunde von Heilbronn, durch einen hohen Bergrücken von ihm getrennt, liegt Weinsberg; in zehn Minuten fährt man’s mit der Eisenbahn, und doch wie ganz anders wird plötzlich der Charakter der Gegend! Dort der Neckar mit flachen Ufern, unbestimmte Fernsicht, moderne Häuser, lärmende Fabriken, Wunsch und Blick schweifen in die Weite; hier ein stilles, von grünen Bergen umschlossenes Thal, in seiner Mitte auf steilem, isolirtem Bergkegel die Ruinen der Weibertreu, ihr zu Füßen das alte, amphitheatralisch gebaute Städtchen mit der grauen, romanischen Kirche, der säulengestützten alten Linde. Dem Wanderer wird plötzlich so heimathlich zu Muthe, er möchte hier rasten, ist es ihm doch, als wäre er da einmal in früher Jugend gewesen oder als müsse er die Gegend im Traume einst gesehen haben; fast thut es ihm leid, daß auch dieses trauliche Thal von der modernen Schlange durchzischt wird. In diesem lieblichen romantischen Weinsberg lebte seit 1818 als würtembergischer Oberamtsarzt Justinus Kerner, und die Eisenbahn war noch nicht vollendet, als er starb.

„Aus Weinsbergs Friedhof hebet sich mein Grab,
Wann mit dem Dampfroß ihr vorüberflieget.“

Ja, dort rechts ist der Kirchhof, unter dem epheuumrankten Granitsteine ruht der müde, blinde Sänger im gemeinsamen Grabe mit seiner Gattin. „Friederike Kerner und ihr Justinus“ sagt die einfache Inschrift auf der Metallplatte.[1] Oben am Weg, der zur Weibertreu führt, am äußersten Ende des Städtchens, unweit der Kirche und dem unlängst für Kerner errichteten Denkmal, steht unter Bäumen und Reben schalkhaft versteckt das kleine Dichterhaus, wo einst die Ritter des Geistes ihre Tafelrunde hielten und mit ihnen welches Gefolge von Knappen! Wie in einem romantischen Zauberspiele oder in einer laterna magica wechselten da bunt durcheinander Könige und Bauern, Philosophen, Studenten, Dichter und Edelfrauen, Diplomaten, Pietisten, Somnambule, Verrückte, Teufel, Geister und anderes Volk. Für Alle hatte das kleine Häuschen Platz, bot Jedem gastliche Aufnahme. Wie war das möglich? Dehnten sich die Wände? War hier nicht Zauberei im Spiel? Man hat Kerner oft Geisterseher und Magier genannt. Geister hat er nie gesehen, es auch nie, selbst im Scherze nicht, behauptet, und mit dem Bösen stand er auch nicht im Bunde, aber ein Amulet trug er bei sich, das Alle magnetisch anzog, alle Menschen ihm dienstbar machte: den durch nichts zerstörbaren Glauben, jeder Mensch habe seine guten vortrefflichen Seiten und diese müsse man in ihm erkennen, das Uebrige als menschliche Zuthat geduldig ertragen; in jedem Menschen schlummere, wenn auch oft durch Schlacken versteckt, ein göttlicher Funke, den man wecken und pflegen müsse. Und mit dieser

[5]

Im Garten bei Justinus Kerner. Oelbild für die Gartenlaube gemalt von H. Rustige.
Theobald Kerner.      N. Lenau.      G. Schwab.      Alex. v. Würtemberg.      Carl Mayer.      Frau Friederike Kerner.      Varnhagen van Ense.
Justinus Kerner.      Ludwig Uhland.

[6] Religion der Liebe, des Vertrauens kam er Allen herzlich entgegen, bot Jedem die Hand zu freundlichem Willkomm und erfaßte ihn liebreich in seiner Eigenthümlichkeit, und da war Keiner, dem nicht das Herz aufging, welcher Geistesstufe er angehören mochte, dem es nicht warm in der Seele wurde, der sich nicht geistig gehoben fühlte in seiner Nähe. Wie der Muhammedaner die Schuhe auszieht, ehe er den Tempel betritt, so ließ Jeder gern Ansprüche an Comfort und Rang vor der Thür und freute sich der ungezwungenen, idyllischen Einfachheit; war er aber wieder im Gebiete des Lebens, so erfaßte es ihn oft heimwehvoll nach dem kleinen Dichterhause und seinem Justinus.

So schrieb Lenau an ihn, Wien, Januar 1837: „O Freund, Du bist ein sehr guter Mensch, denn in meinen besten Stunden liebe ich Dich am meisten, da geht mir erst Dein Bild recht auf. Du bist einer von den Wenigen, nach denen ich mich umsehen, nach denen ich fragen werde, wenn ich dort ankomme, wo kein Zweifel mehr ist und kein Haß, sondern nur Wahrheit und Liebe!“ Und Ludwig Tieck im März 1853:

„Ich bin jetzt achtzig Jahre und habe schon seit lange eine wunderbare Sehnsucht nach meinem großen, starken, herzlichen Justinus Kerner getragen, ich möchte ihn noch einmal wiedersehen!“

Die Tochter eines armen Lehrers aber schrieb an ihn: „Seit meine Eltern gestorben, fühlte ich mich so unaussprechlich einsam und verlassen, die Erde bot mir nur Unglück und der Himmel keinen Trost, mir war’s, als wären die Sterne für mich ausgelöscht, und in der Seele war tiefe Nacht. Seit Sie mit mir so väterlich und herzlich gesprochen haben, mir so schön den Satz erklärten: die Letzten werden die Ersten sein, und daß meine Eltern meine Schutzgeister geworden seien und mich umschweben, solang ich brav und gut sei, habe ich wieder Vertrauen zu mir selbst und zu Gott und kann wieder beten und heiter sein. Ich zähle die Tage, wann ich Sie wieder besuchen kann.“

Auch wir wollen jetzt eintreten in das gastliche Dichterhaus, um uns in seinen verschiedenen Räumen heimisch zu machen. In seinem Grundstein ruht eine Pergamenturkunde des Inhalts:

„Dieses Haus ward mit Gott erbaut von Justinus Kerner, dem Arzte, der auch Lieder sang, und seiner Hausfrau Friederike, zur Zeit da man schrieb Eintausend achthundert zwanzig und zwei, als des Himmels Gestirne wärmend wie kaum je schauten auf Berg und Thal, aber Europas Fürsten abgewandt von den Sternen des Himmels eiskalt stunden und zuschauten dem teuflischen Morde von Hellas.“

Nicht ohne große Sorgen, denn Kerner und sein Riekele waren arm, ward der Bau dieses Hauses beschlossen; auch ergriff Kerner noch oft die Sehnsucht nach den Wäldern des Schwarzwalds und Welzheimer Waldes, wo er lange als Arzt gewesen.

Wär’ ich nie aus euch gegangen,
Wälder hehr und wunderbar!
Hieltet liebend mich umfangen
Doch so lange, lange Jahr!

Eure Wogen, eure Halle,
Euer Säuseln nimmer müd,
Eure Melodieen alle
Weckten in der Brust das Lied. –

Doch bald war ihm das kleine rebenumrankte Haus inmitten der Gärten eine liebe Heimath geworden und er konnte beglückt singen:

Jetzt, was kaum ich sah im Traume,
Bildete sich wirklich aus!
An dem Berg der Frauentreue
Stehet unter grünen Bäumen
Freundlich unser kleines Haus,
Und geliebter Kinder dreie
Hüpfen fröhlich ein und aus.

Theobald Kerner hat das Haus nach einem Plane seines Vaters, an dessen Ausführung diesen die einbrechende Blindheit hinderte, hübsch restaurirt, doch mit ängstlicher Pietät Zimmer und Einrichtung, die an den Vater erinnern, unverändert gelassen; gerne führt er uns durch die lieben Räume, es freut ihn, von alter Zeit mit uns reden zu können.

Gleich zu ebener Erde gelangen wir in das Zimmer, wo einst die Seherin von Prevorst ihr stilles magnetisches Traumleben lebte, wo später die Besessenen tobten, zwischen Fluchen und Beten hinein das Exorcico te, immunde spiritus erschallte. Die Seherin von Prevorst war bekanntlich jene nervenkranke Förstersfrau aus Kürnbach im Schwarzwald, in deren jahrelangem schmerzlichen Leiden merkwürdige somnambule Momente eintraten, während welcher die Kranke Geister zu sehen glaubte. Später (1826) in Kerner’s Haus gebracht, ward sie von diesem bis zu ihrem 1829 erfolgenden Tode magnetisch behandelt und der Verlauf dieser Behandlung in seiner vielgenannten Schrift „Die Seherin von Prevorst“ veröffentlicht. Einst in einer solchen Nacht, in der exorcirt wurde, sprangen General Kerner (Bruder von Justinus) und Minister Wangenheim schreckensbleich herauf in das Wohnzimmer.

„Es ist nimmer zum Aushalten, es ist das Gräßlichste, was der Teufel im Wahnsinn erfinden konnte!“ rief Wangenheim.

„Ich habe die Schrecken des russischen Feldzugs mitgemacht,“ sagte General Kerner, „aber die Teufelsscene unten überbietet Alles.“

In diesem Zimmer wohnte auch Lenau zur Winterszeit, im Sommer schlief er im Garten gegenüber in dem nach dem Grafen Alexander von Würtemberg sogenannten Alexandershäuschen. Wie oft trug noch um Mitternacht der Wind die Töne seiner Geige herüber! Sein Bild, von Rahl in Wien gemalt, hängt an der Wand. Welch’ herrliches melancholisches Auge, welche schönen geistigen Züge! Wie passend wählte Rahl zum Hintergrund eine öde Haide, eine schwarze Gewitterwolke; es ist als ob sie den Blitzstrahl bärge, der nachher zerrüttend auf Lenau’s Gehirn niederzuckte. Wie Lenau auch längst vor der Katastrophe das Nahen derselben fühlte, sehen wir aus seinem Briefe, Heidelberg, November 1831: „O Kerner, Kerner, ich bin kein Ascet, aber ich möchte gerne im Grabe liegen. Helfen Sie mir von dieser Schwermuth, die sich nicht wegscherzen, nicht wegpredigen, nicht wegfluchen läßt. Mir wird oft so schwer, als ob ich einen Todten in mir herumtrüge. Helfen Sie mir, mein Freund! Die Seele hat auch ihre Sehnen, die, einmal zerschnitten, nie wieder ganz werden. Mir ist als wäre Etwas in mir zerschnitten, zerrissen.“

Und Kerner, ahnend, daß es so traurig kommen könnte, wie es später gekommen, schrieb 1834 an Carl Mayer: „Gott sei mit ihm und dem Ende seines Lebens, vor welchem Keiner glücklich zu nennen ist!“

Im Zimmer nebenan hängt das lebensgroße Bild Mesmer’s mit der Unterschrift: F. A. Mesmer, Dr. M., âgé 76 ans, auteur du magnétisme animal. 1810. Unter diesem steht das Mesmerische Baquet, an welchem einst Isidorus Orientalis (Graf von Löben) Heilung suchte; vor Allem aber interessirt uns der „Nervenstimmer“ der Seherin von Prevorst, sie hat ihn im magnetischen Schlafe gezeichnet, die Construction angegeben, und manche Stunde saß sie davor, ihre zerrütteten Nerven zu heilen. Ueber diesem „Nervenstimmer“ hängt das Bild der Seherin, ein interessantes bleiches Gesicht mit schwarzen Augen, ein Tuch um den Kopf geschlagen, fast wie eine Nonne anzuschauen; und ringsum magnetische, elektrische, galvanische Apparate in voller Thätigkeit, und Kranke an Körper oder Seele gehen ab und zu. Wir sehen, diese Zimmer bleiben schon dazu bestimmt stygischen Kräften zu dienen, doch der gute Stern Kerner’s steht über dem Hause und Vielen wird Genesung.

Gehen wir eine Stiege höher, durchwandeln wir Kerner’s Wohnzimmer, Schlafzimmer, Studirzimmer, das Marienzimmer, so benannt von einem alten lebensgroßen Marienbilde von Alabaster, das einst in der Herbergskapelle im Welzheimer Walde stand und zu dem, wegen der Wunder, die es gethan haben soll, viele Wallfahrten geschahen, wonach sich eine eigene Brüderschaft die „Herbergsbrüder“ nannte – überall alte liebe Erinnerungen! Da noch an der gewöhnten Stelle der Armsessel, in dem Justinus in seinen kranken Tagen saß, da sein Stock, der treue Gefährte seiner Blindheit, da sein Trinkglas, ihm von Lenau 1831 geschenkt, da die Trinkbecher von des Grafen Alexander von Würtemberg Hand gedreht und hier Mesmer’s Doctordiplom auf Pergament unter Maria Theresia ausgestellt. Von der Wand schauen ernste Ahnenbilder, zwischen ihnen, von Ottavio Albucci 1850 gemalt, Justinus, die Maultrommel, auf der er Virtuos war, in der Hand. Unter diesem Bilde hängt ein kleineres, eine liebe freundliche Frau in schwarzem Häubchen darstellend. Das ist sein treues Riekele, die unsterbliche Liebe seiner Jugend, seines Alters, sie, von der David Strauß in seinen friedlichen Blättern so wahr sagte: „Der Dichter ist glücklich zu preisen, der wie Kerner eine Gattin findet, welche einerseits zwar seinem schwärmenden Gefühle den ordnenden Verstand gegenüberstellt, doch aber andrerseits selbst so viel Gefühl und poetischen Sinn besitzt, um das, was des [7] Dichters Brust bewegt, innig mitempfinden und sein Leben im vollen Sinne theilen zu können.“

Treten wir aus dem Wohnzimmer gegen die andere Seite des Hauses, da ist das im Schweizerstil gebaute, getäfelte Speisezimmer mit der Aussicht auf den Garten, den alten sogenannten Geisterthurm und die Weibertreu. Noch steht der schwere eichene Eßtisch in der Mitte. Wie Viele, die mit Justinus fröhlich um ihn saßen, Mathison, Tieck, Schwab, Uhland, W. Müller, Alexander von Würtemberg, Lenau, Varnhagen, Rahel, Schelling, Schubert, Görres, deckt jetzt das Grab, wenn auch nicht die Vergessenheit! Was könnte der Tisch erzählen von Ernst und Scherz, Freude und Leid! Wie sprudelte der Humor, wenn nach dem Nachtessen der weingefüllte Pocal und die Uhlandskappe – eine Sommermütze, die einst Uhland auf der Durchreise zurückgelassen hatte – herumging und Jeder von ihr begeistert einen Vers improvisiren mußte! Und wie geisterhaft still wurde es, wenn Kerner die Lichter löschte und die überirdischen Töne der Maultrommel durch’s Zimmer schwebten, während zwischen Weibertreu und Thurm der Mond hereinschien und von fern die Eule krächzte! Da saß auch der letzte Generalissimus der Polen Rybinski – noch hängt in jenem erinnerungsreichen, von Kerner besonders geliebten Alexandershäuschen drüben, wo er eine Woche wohnte, ein Lorbeerkranz mit den polnischen Bändern, den ihm eine Deputation überreichte, er aber als Besiegter ablehnte – im Winter 1832 mit neun flüchtigen Polen beim Nachtessen; sie waren von verschiedenen Regimentern und hier zusammengekommen, wie sie gerade das Schicksal zusammengewürfelt hatte. Ein lebhafter politischer Streit, in polnischer Sprache unter denselben geführt, nahm eine immer drohendere Haltung an, schon fiel das Wort „Verräther“; da erhob sich rasch Rybinski und sprach mit bewegter Stimme: „Ich bin ein Flüchtling wie ihr und habe euch nichts mehr zu befehlen, doch heute sollt ihr noch einmal mich im Unglück ehren und so befehle ich euch als euer General: Keiner spricht heute mehr ein Wort!“ Wie wurde es jetzt so still am Tisch! Kerner spielte die Maultrommel und mehr als Einem glänzte eine Thräne im Auge, sie dachten wohl an ihre ferne Heimath und an die Wanderung in’s fremde Land.

Hier saß auch auf ihrer Pilgerschaft durch die Welt Therese Milanollo mit ihren Eltern. „Nein, Sie dürfen nicht spielen,“ sagte Kerner, als sie die Violine ergreifen wollte, „bei mir sollen Sie nur Ihre armen Nerven ausruhen!“ Freundlich dankte ihm das müde Kind.

„Wo soll man heute essen?“ fragte jeden Mittag und Abend das Riekele, die Fee Tischleindeckdich, wie sie wegen ihrer Rührigkeit und Gastfreiheit Brentano nannte, ihren Justinus. „Im Zimmer? auf dem Thurme? im Garten? und wo in diesem? unter der Rebenlaube oder dem Apfelbaum oder dem Nußbaum?“

Das war eine Frage, die nicht so leicht abzumachen war, denn der Gedankengang war bei jedem Ort unwillkürlich ein anderer. Unter dem Rebgang, unter dem Apfelbaum, wo der Storch gravitätisch heranschreitend seinen Antheil am Mahl forderte und der Rabe stahl, was es zu stehlen gab, war die Stimmung eine heitere, idyllische; auf dem Thurme oben mit der Aussicht auf die Weibertreu, Löwenstein, das Grab der Seherin, den nahen Rappenhof, wo die Frau von Krüdener einst residirte, gab all das, was nah und fern der Blick streifte, den Gesprächsstoff; unter dem alten, riesigen Nußbaume aber, der sich an die epheuumwachsene Mauer und den grauen Thurm anlehnt, wurde einem legendenartig zu Muthe, war die Stimmung eine ernste, romantische. Hier war ein Tag, wo durch einen glücklichen Zufall die Dichter Schwabens, Uhland, Gustav Schwab, Carl Mayer, Graf Alexander von Würtemberg und mit ihnen Lenau und Varnhagen unter diesem Baume bei Kerner versammelt saßen. Das war eine heilige, weihevolle Stunde! Wie rauschte es da von alten Volksliedern und neuen Gedichten, von Legenden und Märchen! Uhland erzählte, wie er einst mit Kerner den Schwarzwald durchwanderte; unter einer Eiche fanden sie einen Hirtenknaben eingeschlafen. Leise steckte ihm Uhland ein blankes Guldenstück in die Hand, Justinus aber legte ihm eine lange Fingerhutpflanze mit dunkelrothen Blüthen in den Arm und unhörbar eilten sie weiter in der seligen Hoffnung, der Hirtenknabe werde beim Erwachen glauben, eine Fee habe ihn besucht und ihn zu ihrem Dienste auserkoren.

Lenau, in seinem polnischen Röckchen, mit den schwarzen Augen und Haaren und der gelben Gesichtsfarbe selbst an einen Zigeuner mahnend, sprach von den Zigeunern Ungarns und spielte einige ihrer Weisen.

„Mein Alexander, warum so still heute?“ rief Justinus. „Du warst ja auch in Ungarn, erzähle Etwas von den Räubern dort oder von Corsica!“

Wehmüthig schüttelte Alexander das Haupt: „Ich will Dir heute lieber etwas Anderes sagen:

‚Mein Leben gleicht dem alten Thurme,
Verwittert blickt er in die Welt,
Wohl trotzet er noch manchem Sturme,
Bis er in sich zusammenfällt,
Doch sind die Glocken drin zersprungen,
Ein Blitzstrahl traf mir das Gemüth,
Die heitern Lieder sind verklungen,
Nur eine düstre Flamme glüht
Die Phantasie auf dem Altare
Der Dichtkunst noch und wirft ihr Licht
Auf eine stille Todtenbahre,
Bis daß der Leib zusammenbricht.‘

War es eine Ahnung? Der liebe, schöne Alexander, von dem Justinus sagte: „Jeder Muskel ist bei ihm ein Herz!“ war von denen, die damals unter dem Nußbaum beisammensaßen, der Erste, der sterben mußte.

Der Nußbaum selbst hat auch sein Geschichtchen. Im Herbste 1844 ertönte – man wollte gerade zu Bette gehen – vom Garten her zuerst dumpf, dann immer lauter der Ruf: „Hülfe! Hülfe!“ Er kam offenbar vom Nußbaum her und aus den höchsten Aesten. Am Stamm lehnte, wie man bei Laternenschein entdeckte, ein Stock und Ränzchen, eine Stimme von oben aber rief flehentlich: „Ich bitte, mir zu leuchten, daß ich herabsteigen kann.“ Man kletterte mit der Laterne entgegen, und langsam stieg ein blutjunges Studentchen herunter und folgte in größter Verlegenheit in’s Haus, wo es von Kerner freundlich begrüßt wurde. „Ich bin aus Kiel, komme von Heidelberg,“ sagte er. „Ich war auf der Weibertreu, schon im Hinaufgehen schaute ich immer am Haus herauf, hätte Sie gar gern gesehen, hatte aber doch nicht den Muth, Sie zu besuchen. Im Heimweg dachte ich, ich wolle mir wenigstens als Andenken ein paar Nüsse von Ihrem hohen Nußbaume mitnehmen, und kletterte hinauf, hoffte auch, vielleicht vom Baume aus ins Zimmer sehen zu können, unterdessen wurde es aber plötzlich so Nacht, ich sah die Aeste nimmer und konnte nimmer herabsteigen.“

„Das ist brav von meinem alten Nußbaum, daß er Sie nicht herabgelassen hat,“ sagte Justinus, „sonst hätte ich ja jetzt nicht die Freude, Sie bei mir zu sehen; seien Sie mir herzlichst willkommen!“

Die Rasenbank an der Rosenhecke drüben weiß auch Etwas. Da war einst an einem schwülen Nachmittage Gustav Schwab bei einem Buche eingeschlafen; die Andern hielten bald da, bald dort ihre Siesta. Ein frommer Herr vom Rauhen Hause kam zum Besuch, es war auch einer von denen, die glaubten, in diesem Hause müsse ihnen jeder Schritt etwas Sonderbares zeigen. Theobald führte ihn durch den Garten. „Dort schläft Einer,“ sagte der Fremde, „was ist’s mit dem?“

„Das ist ein Somnambuler,“ sagte Theobald, „gehen Sie leise hin und legen Sie ihm die rechte Hand auf die Herzgrube, dann wird er sprechen.“

Voll Freude, so schnell in die Wunderwelt des Magnetismus eingeführt zu werden, schlich der Herr hinzu, doch als er eben seine Hand unter die Weste Schwab’s steckte, fuhr dieser vom Schlaf auf, glaubte nicht anders, als es stehe ein Taschendieb vor ihm, packte ihn am Arm und rief: „Zum Teufel auch, wer sind Sie? was wollen Sie?“ Es gab eine drollige Scene, über die nachher viel gelacht wurde; Kerner sagte: „Mein Theobald hatte eigentlich nicht so ganz Unrecht, jeder Dichter ist ja ein Seher und mehr oder minder somnambul.“

Aber im Juni 1846 da ging es auch lebhaft im Garten zu; es war das große Turnfest in Heilbronn. Die Turner zogen nach Weinsberg und brachten Kerner ein Ständchen; er lud sie in seinen Garten, und einer, Metternich von Köln (er starb in Amerika), hob Kerner mit Riesenstärke in die Höhe und rief: „Damit Ihr ihn Alle sehet!“ Kerner ließ es lächelnd geschehen, doch während sie nachher sangen: „Wo Muth und Kraft“[WS 2] schlich er sich leise davon, holte das Bild Lenau’s und sprach: „Höret die Worte [8] eines alten Mannes! Ich war einst jung und kräftig wie Ihr, jetzt bin ich ein kranker Greis und wenn ich sterbe, geschieht es nach dem wohlthätigen Gesetze der Natur. Doch nicht immer wartet das Schicksal so lange, oft greift es mitten in’s volle Leben; seht hier das Bild Lenau’s und höret das letzte Gedicht, das er dichtete, ehe ihn Wahnsinn umfing:

’s ist eitel Nichts, wohin mein Aug’ ich hefte,
Das Leben ist ein unruhvolles Wandern,
Ein wüstes Jagen ist’s von dem zum andern,
Und unterwegs verlieren wir die Kräfte.
Ja könnte man zum letzten Erdenziele
Noch als derselbe frische Bursche kommen,
Wie man den ersten Anlauf hat genommen,
Da möchte man noch lachen zu dem Spiele.
So aber trägt uns eine dunkle Macht
Wie ’s Krüglein, das am Bronnenstein zersprang
Und seinen Inhalt sickert auf den Grund,
So weit es geht, den ganzen Weg entlang,
Jetzt ist es leck, wer mag daraus noch trinken?
Und zu den andern Scherben muß es sinken.

Darum übt Euren Körper, doch vergeßt dabei nicht die ernste Pflege Eures Geistes, damit man einst an Euren Scherben noch sehen möge, daß Ihr edle Gefäße waret. Dies ist der Segensspruch, den ich Euch auf den Weg gebe; lebt wohl und grüßt mir Eure Eltern!“

Einst kehrte ein müder Wanderer im grauen Kleid, ein Ränzchen auf dem Rücken, bei Justinus ein. Im gothischen Zimmer des alten Thurmes, wo 1525 im Bauernkrieg Graf Helfenstein die Nacht vor seiner Hinrichtung gefangen lag, saßen sie lange allein beisammen, Kerner begleitete ihn auf die Weibertreu und dann das Thal entlang, der kleine Theobald durfte das Ränzchen tragen. Traurig, mit der Welt zerfallen, war der Fremde gekommen, sichtbar getröstet, aufrecht ging er von dannen. Auf dem Berg oben, wo der Weg sich Heilbronn zu hinabsenkt, nahmen sie Abschied von einander. „Die Menschen haben Ihnen eine irdische Krone vom Haupte genommen und Gott hat Ihnen dafür eine himmlische in’s Herz gelegt, seien Sie froh!“ sprach noch Justinus. Stumm drückte ihm der Fremde die Hand und ging schnell weiter. Doch als Kerner schon eine gute Strecke von ihm und kaum noch unter den Bäumen sichtbar war, drehte sich der Fremde noch einmal um und rief: „Dank! Dank!“

Es war Oberst Gustavsohn, der entthronte König von Schweden.




  1. Wir brauchen unsern Lesern nicht auseinanderzusetzen, was unsere deutsche Literatur, ja unser deutsches Volk in Justinus Kerner besaß. Wer kennt nicht den gemüthvollen Humoristen, den herzenswarmen Lyriker, der zu den hervorragendsten Mitgliedern der schwäbischen Dichterschule zählt, den Verfasser der „Seherin von Prevorst“, den Sänger jenes hinreißenden Abschiedsliedes „Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein!“[WS 1] das wir Alle schon gesungen haben, im Freundeskreise, wenn wir „nicht mehr beim ersten Glase saßen“. –
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)