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Die Mysterien von Paris

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Textdaten
Autor: Max Stirner
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Titel: Die Mysterien von Paris von Eugene Sue
Untertitel:
aus: Max Stirner's Kleinere Schriften und Entgegnungen auf die Kritik seines Werkes: „Der Einzige und sein Eigenthum“ aus den Jahren 1842—1848. S. 278-296
Herausgeber: John Henry Mackay
Auflage: Zweite, durchgesehene und sehr vermehrte Auflage
Entstehungsdatum: 1843
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Bernhard Zack’s Verlag
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
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[278]
DIE MYSTERIEN VON PARIS
VON EUGENE SUE


Die Mysterien haben großes Aufsehen in der Welt gemacht, und schon drängen sich die Nachahmungen in Masse. Man will den verborgenen Grund, die „unterste Schicht“ der Gesellschaft kennen lernen, und neugierig blickt man sich in den finsteren, grauenvollen Winkeln um. Aber mit welchen Augen schaut man hinein? Mit dem Auge der gesicherten Sittsamkeit, des tugendhaften Schauders. „Welch’ ein Abgrund des Verderbens, welche Greuel, welche Tiefe des Lasters! Herr Gott, wie darf es in deiner Welt so ruchlos zugehen!“ Aber bald erwacht die christliche Liebe und rüstet sich zu allen Werken des Mitleids und der thätigen Hülfe. „Hier muss gerettet, hier muss der List des Satans entgegengearbeitet werden; o gewiss, hier ist viel zu retten, und dem Reiche des Guten manche Seele zu gewinnen.

Nun beginnt die Rührigkeit der Gedanken, und auf tausend Mittel und Wege wird gesonnen, wie dem Uebel abzuhelfen, der grenzenlosen Verderbtheit zu steuern sei. Kerker mit abgesonderten Zellen, Leihhäuser für heruntergekommene Arbeiter, Stifter für gefallene und reuige Mädchen, und unzähliges Andere wird nicht nur vorgeschlagen, sondern auch zugleich unternommen. Es werden auch ganze Wohltätigkeits-Gesellschaften zusammentreten, wie man sie nie zuvor in solcher Ausdehnung gesehen hat und an Aufopferung und Mildthätigkeit wird kein Mangel sein. Rudolph, der Großherzog von Gerolstein, ist von Eugene [279] Sue als leuchtendes Vorbild dieser so sichtlich erstarkenden Nächstenliebe aufgestellt worden.

Welches Uebel will man denn heben?’ Das Laster, die Sündenlust! Ihm sollen die Quellen durch nützliche Reformen abgeschnitten, die verführten Seelen entrissen und zur Lust an der Sittlichkeit bewogen werden. Und wer will diess grosse Werk, die Sünde um ihre Opfer und Diener zu bringen, verrichten? Wer anders als diejenigen, welche die Tugend lieben und einen sittlichen Lebenswandel für den wahren Beruf des Menschen erkennen.

Also die Tugendhaften wollen die Lasterhaften auf den rechten Weg bringen, die Diener im Reiche des Guten wollen das Reich des Bösen zerstören.

Seid ihr nicht alle damit einverstanden, dass es nichts Grösseres und Edleres geben könne, als die Verherrlichung des Guten, und habt ihr wohl etwas anderes an euch zu tadeln und zu bereuen, als dass ihr nur allzuoft noch vom Wege des Guten abweicht und „sündiget“? Fällt es einem von Euch jemals ein, zu fragen, ob das Gute wohl werth sei, dass man darnach strebe, und ob das Gute wirklich dasjenige sei, was der Mensch durch sein Leben zu verwirklichen suchen müsse? Ihr zweifelt ebensowenig daran, als die Lasterhaften und Gottvergessenen etwas Gründliches dagegen einzuwenden wissen, wenn sie auch noch so viel dagegen — sündigen.

Ihr, die ihr die Sünder bekehren und bessern wollt, ihr seid ja selbst unbekehrbar und unverbesserlich. Ihr lasst den Zweifel gar nicht an euch kommen, ob das Gute nicht eben ein — leerer Wahn sei, und wenn ihr auch eingestehen müsst, dass ihr selbst es gleich den Philosophen, die auch nur „Liebhaber der Weisheit“ bleiben, niemals erreicht, ihr meint doch, die Sünder müssten zum Guten vermocht und dahin gebracht werden, „gut zu thun.“ Ihr wollt die Sünder bekehren von der Lust am Bösen, mögt ihr euch vielleicht nicht selbst von der Lust am Guten bekehren? [280] Fragt euch nicht, was das Gute sei, sondern ob es überhaupt sei, oder wollt ihr durchaus wissen, was es sei, so fragt euch zu allererst, ob es nicht euere — Einbildung sei. —

Doch ihr seid schlagend mit eueren Beweisen, indem ihr ja nur auf Beispiele hinzuweisen braucht: „die Lüge ist böse, die Aufrichtigkeit aber ist gut, die Unbussfertigkeit ist böse, die Bussfertigkeit und Reue ist gut, die Unkeuschheit eine Sünde, die Keuschheit eine Tugend u.s.w.“

Wohlan denn, blicken wir in die Mysterien und sehen dem Spiele zu, das Tugend und Laster in diesem Romane mit einander treiben. Ich werde von dem Zusammenhange und Verlaufe dieser Geschichte nichts sagen, denn ich setze voraus, dass ihr’s gelesen habt. Eben so wenig will ich von dem sogenannten Kunstwerthe des Buches sprechen. Wenn ein sogenannter Jongleur die halsbrechendsten Stücke producirt, oder ein Taschenspieler das Erstaunlichste leistet, so wird man doch am letzten Ende sagen, es waren eben Jongleur- und Taschenspielerkünste, ausgezeichnet in ihrer Art; aber über die Art selbst spricht man ohne besondere Achtung. So will ich auch unserem Verfasser nicht über die Kunstfertigkeit im Abschildern der socialen Kontraste und Charaktere zu nahe treten, wenn gleich er feineren Kunstkennern schwerlich überall ein Genüge gethan haben mag; über das Abschildern selbst aber denke ich nicht gross genug, um mich durch das darin bewiesene Talent gegen den Mangel an aller tieferen und gewaltigeren Einsicht in das Wesen der Gesellschaft blind machen zu lassen. Görres hat auch ein schönes Talent an die Verstocktheit eines dummen Gedanken verschwendet und muss in diesen Kindereien sich zu Tode gängeln lassen, wie er, so viele Andere.

Obwohl der Grossherzog von Gerolstein nicht als der Held des Romans gelten kann, so wird doch nicht allein das ganze Getriebe desselben durch ihn in Bewegung gesetzt, [281] sondern er repräsentirt auch die Höhe der Anschauungen und Gedanken, zu welcher der Dichter selbst sich emporschwingt. Diese Höhe ist aber keine andere, als die Idee der Sittlichkeit, und an jeden Gedanken und jede That wird ein für allemal dasselbe Ellenmaass angelegt: das der Sittlichkeit.

Wir haben also ein dichterisches Kunstwerk vor uns, das, ganz von dem Standpunkte der Sittlichkeit aus gearbeitet, zeigen wird, welcherlei Menschen dieser Standpunkt erzeugt, und was überhaupt unter der Herrschaft dieses Princips zu Tage kommt.

Durch eine Versündigung gegen das geheiligte Haupt seines Vaters und Herrn, auf den er in einem Augenblicke der Liebeswuth das Schwert gezückt, ist Rudolph (der Grossherzog) zu dem Entschlusse reumüthigster Busse getrieben worden, die er nach seiner Meinung nur dadurch bethätigen kann, dass er „nach Kräften Gutes wirkt.“ Dieser Vorsatz bringt ihn nach Paris, wo er die Spelunken der Armuth und des Verbrechens aufsucht, um Leiden zu lindern, verhärtete Herzen zu erweichen, oder durch ein fürchterliches Strafgericht in Verzweiflung zu stürzen, und um zu helfen, wo geholfen werden kann. Bei seinen fürstlichen Mitteln gelingt es ihm leicht, mancher physischen Noth zu steuern, und die Familie Morel unter Andern verdankt ihm ihr Lebensglück; näher indess, als die Beseitigung physischer Leiden, liegt ihm die Entfernung moralischer Gefahren am Herzen, und dieses Bestreben führt ihn mit der eigentlichen Heldin dieses Romanes zusammen.

Fleur de Marie (Marien-Blume), oder wie wir sie schlechtweg nennen wollen, Marie, das Kind seiner ersten Liebe, von dessen Existenz Rudolph keine Ahnung hatte, ist in der Haft, unter den grässlichen Händen der Eule (Chouette) und in anderen traurigen Verhältnissen zu einem blühenden Mädchen aufgewachsen, und muss endlich, von Armuth gepresst und von Kupplerinnen beschwatzt, sich entschliessen [282] das Gewerbe eines Freudenmädchens zu ergreifen. Noch unergriffen von der Lust an dieser Lebensweise, wird sie befleckt, ohne sich selbst zu beflecken: sie ist unbetheiligt und noch keine Sklavin der Begierde, die ihrem Stande erst die rechte Bekräftigung geben würde. So findet sie Rudolph, und was das Laster an ihr nicht zu leisten vermocht hatte, das versucht jetzt die Tugend: sie versucht das arme Kind, das eine Beute des Lasters zu werden droht, zur Tugend zu führen. Rudolph bietet alle Versprechungen und Verlockungen auf, durch die er die leicht erregbare Phantasie des Mädchens zu bestechen hoffen darf. Sie, die mitten in einem taumelnden Lasterleben nicht „gefallen“ war, sie widersteht den einschmeichelnden Verheissungen des Tugendwerbers nicht und — fällt. Doch möchte sie immerhin fallen, wenn sie sich nur wieder erhöbe. Wie aber soll ein E. Sue, der Dichter des tugendreichen und liberalen Bürgerwesens, sie zu einer weiteren Erhebung kommen lassen? Ist sie nicht gerettet, wenn sie in den Schooss der allein seligmachenden Sittlichkeit sich geflüchtet hat? Meint man etwa, sie sollte sich zur Frömmigkeit erheben, so geschieht das ja in vollem Maasse, wie denn wahre Sittlichkeit und wahre Frömmigkeit sich niemals ganz von einander trennen lassen; denn selbst diejenigen Sittlichen, welche den persönlichen Gott leugnen, behalten ja am Guten, am Wahren, an der Tugend ihren Gott und ihre Göttin.

Doch ich meine nicht, dass Marie nach jenem Falle sich zur Frömmigkeit erheben sollte; ich meine nur, dass, wenn es etwas Werthvolleres gäbe, als Sittlichkeit und Frömmigkeit, unser Dichter davon nichts wissen könnte, weil es nicht in seinem Gedankenkreise liegt, und seine Personen sich nie dazu erheben könnten, weil die Besten darunter doch nicht besser zu sein vermögen, als ihr Schöpfer. Marie, die von Rudolph für den Dienst der Sittlichkeit angeworben wurde, wird darin fortan in Treue [283] und Gehorsam, als ein ergebener und folgsamer Dienstbote verharren, und welche Geschichte auch ihr nun folgendes Leben aufzeigen möge, sie wird immer nur die Schickungen enthalten, welche der strenge Dienst ihrer Gottheit über Marien, die treue Magd, verhängt.

Den Klauen der Eule, die nur den Leib verderben konnte, entronnen, geräth Marie in die Macht des Priesters, der ihre zarte Seele mit der frommen Lehre verdirbt, dass ihr Leben von nun an ein Leben der Busse sein müsse, um bei Gott sich dafür die künftige Vergebung zu erkaufen. Das entscheidet über ihre ganze Zukunft. Dieser Wurm, den ihr der Priester ins Herz setzte, nagt fort und fort, bis er sie zur Entsagung und Zurückziehung aus der Welt gezwungen, und endlich gar das gottergebene Herz zerfressen und zerbröckelt hat. Und doch ist jene fromme Lehre des Priesters die wahre Lehre der Sittlichkeit, gegen welche zuletzt alle „vernünftigen“ Einwendungen Rudolphs verstummen müssen.

Rudolph nämlich giebt sich der süssen Hoffnung hin, am Hofe zu Gerolstein mit Marien, seinem reizenden Töchterchen, die Wonne eines innigen Familienlebens und die Freuden eines Vaters kosten zu können, der sein von Allen verehrtes und angebetetes Kind, die sittsame und tugendreiche Prinzessin, täglich mit neuen Gaben der Liebe überhäufen, und für die einst erduldeten Qualen eines verstossenen Daseins fürstlich und väterlich entschädigen kann. Alle Lust der Welt, wie sie ein grossherzoglicher Hof nur bieten kann, soll ihr von nun an offen stehen.

Aber um welchen Preis müsste Marie die Lust der Welt erkaufen? Nur wenn Niemand ihre frühere Aufführung erfährt, wird man die Liebenswürdigkeit ihres gegenwärtigen Betragens anerkennen; erführe man sie, so schützte kein Glanz der Krone die arme Prinzessin vor den giftigen Blicken und dem verächtlichen Achselzucken dieser unerbittlichen Verehrer der Sittenreinheit. Das weiss Rudolph [284] sehr wohl, und trägt desshalb auch nicht das leiseste Bedenken, seine gesammte Umgebung über Mariens Jugendjahre zu belügen. Welcher vernünftige Mensch wird auch anders handeln? Nur kein Ultra, selbst nicht in der Sittlichkeit! So spricht der sittliche Liberale.

Allein Marie, die reine Priesterin des sittlichen Prinzips, kann die, statt alle Folgen ihrer Missethat jetzt, da sie in die sittliche Welt eingetreten ist, bussfertig zu tragen, die Busse durch eine Lüge von sich weisen? Darf sie durch Täuschung sich einschleichen und reiner erscheinen wollen, als sie ist? „Täuschen, immer täuschen, ruft sie verzweifelnd aus, immer fürchten, immer lügen, immer beben vor dem Blicke desjenigen, den man liebt und achtet, wie der Verbrecher zittert vor dem unerbittlichen Blick seines Richters!“ Darf Marie, die Dienerin am Altare der Sittlichkeit, darf sie — lügen? —

Die Lüge ist eine Sünde, die kein sittlicher Mensch sich vergeben kann. Er mag sich mit der Noth entschuldigen, so viel er will, auch die Nothlüge bleibt eine Lüge. Wie kann der der Wahrheit dienen unter allen Versuchungen, der sich in mancher Versuchung zur Unwahrheit verleiten lässt? Kein Sittenlehrer kann die Lüge rechtfertigen, und wird dennoch von sittlichen Menschen so viel gelogen, so beweist diess eben nur, dass das Prinzip der Sittlichkeit oder des Guten zu kraftlos ist, um das wirkliche Leben zu leiten. Denn in diesem wird der Mensch unbewusst zu Thaten geführt, die seinem schwächlichen Prinzipe Hohn sprechen, und ihn ermuntern könnten, sich von dem Gängelbande desselben loszureissen; aber man reisst sich von einem Wahne nicht anders los, als wenn man ihn theoretisch überwindet.

Marie, einmal gewonnen für den Cultus des Guten, ist zu feinfühlend, um sich zu einer Ausnahme von seiner Regel zu bereden. Sie kann nicht lügen. Aber wie, könnte sie der Welt, dieser „unerbittlichen Richterin“ nicht gestehen, [285] was sie verbrochen? Sie könnte es gestehen, aber dann wäre sie auch „gerichtet.“ Die Welt des Guten könnte nicht bestehen, wenn sie nicht „Güter“ hätte, und unter diesen Gütern ist die Keuschheit ein Gut, dessen Einbusse sie keinem — Weibe verzeiht. Eine nachfolgende dauernde Züchtigkeit kann die ursprünglich, der sittlichen Ehre geschlagene Wunde vernarben lassen, aber den Schandfleck der Narbe wäscht keine Zeit ab. Die Welt, welche an die Sittlichkeit und ihre Güter glaubt, kann — nicht vergessen; für sie haben diese Güter einen Werth, und sie mag es anstellen, wie sie will, die Empfindung eines Mangels und Gebrechens kann sie da, wo eines dieser Güter, an denen ihr Wahn klebt, verloren gegangen ist, nicht gänzlich unterdrücken. Ein Weib, das seine Keuschheit preisgegeben, das unter dem „Auswurf der Gesellschaft“ gelebt, das sich „entwürdigt“ hat, wird für alle Zeit scheel angesehen werden; denn es ist „befleckt, vergiftet, berührt von Schändlichkeiten,“ es ist — „geschändet.“ Und für die zugezogene Schande fordert die Welt als Busse eine unausgesetzte Scham, eine Scham, die sie stets in der Büsserin wach zu erhalten beflissen sein wird.

Vielleicht meint man aber, es sei das nur eine Ueberspanntheit und falsche Scham, die jeder nicht zu reizbare Mensch leicht überwinden würde. Wir müssen aber doch fragen, was in dem sittlichen Urtheil der Welt denn eigentlich Geltung habe, ob der Mensch als solcher oder — seine Güter. Es ist nicht ohne den innigsten Zusammenhang, dass gerade die Zeit des Liberalismus und der Bourgeoisie so viel auf Sittlichkeit hält: ein Banquier und ein Sittlicher beurtheilen den Menschen aus ein und demselben Gesichtspunkte, nämlich nicht nach dem, was er durch sich ist, sondern nach dem, was er durch seinen Besitz ist. „Hat er Geld?“ Mit dieser Frage läuft die andere parallel: „Hat er Tugenden?“ Wer kein Geld hat, mit dem befasst [286] sich der Banquier nicht: er „macht ihm Schande;“ wer die Tugenden eines ehrbaren Bürgers nicht „besitzt,“ der muss ihm nicht zu nahe kommen. Nach Gütern misst der eine wie der andere, und der Mangel eines Gutes ist und bleibt ein Mangel. Wie ein Pferd, das alle Tugenden des besten Pferdes, aber eine schlechte Farbe hat, einen Makel behält, so haftet an einem Weibe, das um die unbefleckte Reinheit gekommen ist, auf Zeit ihres Lebens ein Flecken. Und mit Recht, denn es fehlt ihr eines der hauptsächlichsten Güter, die einem sittlichen Weibe Ehre machen. Ist Marie auch jetzt keusch, so ist sie es doch nicht immer gewesen, ist sie auch jetzt unschuldig, so war sie es doch vorher nicht. Die Unschuld ist so zarten Wesens, dass sie niemals berührt worden sein darf; einmal verletzt, ist sie auf immer verschwunden. Unschuld ist eine so fixe Idee, dass Morel an ihr zum Wahnsinnigen wird und Marie zur Betschwester. — Es muss auch so sein. Ist der Abstand der Verworfenen von den Reinen, der Unsittlichen von den Sittlichen, einmal ein fixer, so drückt Marie nur zart, innig und unverholen das Gefühl dieses unauflöslichen Gegensatzes aus. Sie ist — „entweiht.“

Was soll die Einwendung beweisen, dass man ja längst nicht mehr so penibel sei und gegen früher einer grossen Nachsicht in diesem Punkte huldige? Erstlich liesse sich diese Behauptung überhaupt bestreiten, weil man zwar keine Kirchenstrafen mehr verhängt, sittlich aber weit weniger lax urtheilt, als in den Zeiten des ancien regime; sodann aber hat die grosse Masse von jeher an vielen Stellen ihrer Haut harte Schwielen gehabt und gegen die strengen Consequenzen ihrer Glaubensartikel sich unempfindlich gezeigt. Soll darum ein zarter empfindendes und strenger denkendes Wesen, wie Marie, dem Schlendrian der Alltagsmenschen verfallen müssen?

Vielmehr müssen wir anerkennen, für sie, die den Anforderungen der Sittlichkeit ein volles Genüge zu thun sich [287] gedrungen fühlte, war die Zurückziehung aus der Welt unvermeidlich. Denn belügen durfte sie die Welt nicht, ohne unsittlich zu handeln, und eingestehen durfte sie’s nicht, wenn sie nicht, statt des Genusses, den Hohn und Spott der Welt erndten wollte. Jede Freude, die sich ihr künftig darbieten konnte, würde sogleich durch den Stachel der Scham vergiftet worden sein. In diesem Gefühle ruft sie aus, als ihr Vater dem Prinzen Heinrich, ihrem Geliebten, Eröffnungen zu machen gedenkt: „Sie wollen, dass ich sterbe, mich in seinen Augen so erniedrigt zu sehen!“ Sie hatte von der Welt, vor der sie entweder etwas auf dem Gewissen behalten, oder von der sie sich etwas nachtragen und gedenken lassen musste, nichts mehr zu hoffen: sie hatte es mit ihr verdorben.

Warum aber flüchtet sie sich zu Gott? Weil weder die Welt noch sie selbst ihre Sünde ihr abnehmen können. Nur Gott kann ihr vergeben. Die Menschen müssen sich nach dem Gesetzbuche des Guten richten und sind nur Unterthanen im Reiche des Guten; Gott allein ist der absolute König, dem auch das Gute unterworfen ist, und er fragt nicht, wo er begnadigen will, nach dem Guten, sondern nach seinem unumschränkten Willen. — Was liegt nun in dieser Hinwendung Mariens zu dem Herrn? Wiederum diess, dass sie fühlt, wie nach dem sittlichen Maassstabe ihr nimmermehr Gerechtigkeit werden könne, und wie sie darum eines anderen Maasses und Urtheils bedürfe. Dass sie die Lossprechung gerade von Gott durch ein reuevolles Leben zu erkaufen sucht, das ist gleichfalls das Werk des frommen Priesters, der ihr freilich nicht sagen konnte noch durfte: Wer sich selbst bindet, der ist gebunden, und wer sich selbst löset, der ist gelöst. Was sie selbst sich zu leisten vermöchte, das sucht sie ausser sich zu erflehen; aber sie wäre eben weder sittlich noch fromm, wenn sie anders verführe.

Wie konnte auch das sittliche Mädchen sich erst die [288] Unkeuschheit und hernach gar die Lüge vergeben? Dazu gehört mehr als Sittlichkeit, und könnte sie’s, so fiele ja das ganze hübsche Bauwerk E. Sue’s in ein lächerliches Nichts zusammen, so wäre das Gute nicht mehr das Höchste, so wäre der Mensch erhaben über Tugend und Laster, über Sittlichkeit und Sünde.

Die ganze Collision besteht darin, dass ein Paar Bornirte es mit einander zu thun haben, bornirt beide durch den Wahn des Guten und Bösen. Wie die Welt urtheilt: das und das dürfen wir thun, denn es ist gut, jenes aber, z. B. lügen, dürfen wir nicht, weil es böse ist, so denkt auch die durch Rudolph der Tugend zugeführte Marie.

Legte der Dichter an Marie nicht das Richtscheit der Tugend und Sittlichkeit, sondern mässe sie nach ihr selbst als ihrem eigenen Maasse, wie man gescheidter thäte, wenn man den Löwen nicht nach einer menschlichen Eigenschaft, der Grossmuth, beurtheilte, sondern nach der thierischen Löwennatur, so käme vielleicht das wunderbare Resultat zum Vorschein, dass Marie erst von dem Augenblick an ein elendes, verlorenes Kind wurde, wo sie die Tugend kennen lernte und ihrem Dienste sich weihte, während sie in der Zeit ihres unehrlichen Wandels ein gesunder, freier und hoffnungsvoller Mensch gewesen war. Diess soll nicht etwa nur den oberflächlichen Sinn haben, dass die mit der Tugend zusammenhängende Reue das arme Mädchen unglücklich stimmte und um seinen Frohsinn brachte, sondern den schärferen, dass sie eine gedrückte Sklavin werden musste, sobald sie in die sittliche Welt eintrat und ihren Pflichten sich zu unterwerfen begann. Als der Würgengel der Bekehrung es einmal erfasst hatte, da war es um diess zarte Kind geschehen. Unter dem Druck der Verhältnisse, in welche ihr Schicksal sie geworfen hatte, hätte der offene sinnige Geist dieser Bajadere das starke Zornfeuer ansammeln können, das dazu gehört, um die lastende Erdwucht einer erstarrten Gesellschaft [289] zu durchbrechen, und aus dem Stande der Erniedrigung heraus sich zu — empören. Was lag am Verluste der Keuschheit bei einem Mädchen, das diesen und jeden Verlust an der ganzen schuldigen Welt zu rächen Muth und Geist hatte?

Aber ein E. Sue kennt kein anderes Glück als das der ehrlichen Leute, keine andere Grösse als die der Sittlichkeit, keinen andern menschlichen Werth als den der Tugendhaftigkeit und Gottergebenheit. Ein Menschenkind, aus dem ein freier Mensch werden konnte, musste zum Tugenddienste verführt, ein noch unverdorbenes Gemüth musste mit dem Wahn der „guten Menschen“ vergiftet und verderbt werden. Wenn ein Dichter darzustellen vermag, wie seine Heldin, die mitten im Gewühl der schmutzigsten Laster ihr Leben führen und selbst die Blüthe ihres Leibes ihm zur Beute lassen muss, nicht gleich der Chouette oder dem Schulmeister, oder auch ihren weiblichen Altersgenossen zu einer Dienerin des Lasters wird, sondern ähnlich einer Atheistin, welche die kirchlichen Gebräuche zwangsweise erfüllt, völlig frei bleibt: sollte man da nicht meinen, er müsste sie auch über den Einfluss der Tugend erhaben halten können? Aber nein, der schwächliche, vom Ideale des „rechten Bürgerthums und wahren Staates“ träumende Poet macht aus ihr, statt eines gestählten Charakters, ein sentimentales, vom Wahne des „Guten“ leicht berückbares Gemüth, macht dasselbe Mädchen, das sich gegen das Laster behauptete, zu einem schwachen, kraftlosen Geschöpf, das sich mit Leib und Seele in die Sklaverei der Tugend anheim giebt.

Auch nicht Eine Person findet sich in dem ganzen Romane, die man einen selbstgeschaffenen Menschen nennen könnte, einen Menschen, der, rücksichtslos sowohl gegen seine Triebe als gegen den Antrieb eines Glaubens (Glaube an Tugend, Sittlichkeit u.s.w. und Glaube an das Laster) sich kraft der eigenen schöpferischen Allmacht selbst erschüfe. [290] Die Einen nämlich folgen blindlings der Leitung ihres Herzens, ihrer Gemüthsart, ihrer Natürlichkeit. So die Rigolette (Lachtaube): sie ist eben so, wie sie ist, ein zufriedenes Gemüth und eine glückliche Mittelmässigkeit, und was sie ist, das wird sie immer bleiben, ein Wesen ohne alle Entwicklung, wie eben ihre Kanarienvögel auch; sie können nur Schicksale erfahren und erleiden, aber sie können nicht anders werden. Die Kehrseite zur Rigolette giebt der kleine Lahme ab, ein schadenfrohes Kind, das eben immer von seiner Lust, der Schadenfreude, die natürlich mit dem Alter an hämischem Wesen zunimmt, sich bestimmen lassen wird, bis es einmal auf dem Schaffot endet, und so geschichtlos in die Grube kommt, wie Rigolette in ein ehrsames Grab. — Welche Art von Trieb eine lebenswierige Herrschaft über das Individuum ausübt, macht hierbei keinen wesentlichen Unterschied; bei Ferrand ist’s der Geiz, bei dem Spitzigen die energielose Schwatzhaftigkeit u. s. w.

Für die zweite Gattung entwickelungsloser und unfreier Menschen, derjenigen nämlich, welche weniger von ihrem natürlichen Triebe, desto mehr aber von einem Glauben, einer fixen Idee abhängen, hat E. Sue, der selbst ein Knecht unter diesen Knechten nichts Besseres kennt, besonders auf die Tugendbeflissenen eine pathologische Genauigkeit verwendet. Obenan steht sein tugendgläubiger Grossherzog, der zu dem grossen Orden der „Wohlthäter der leidenden Menschheit“ gehört und sein Ordenszeichen nicht auf, sondern in der Brust trägt. Dieser „barmherzige Bruder“ Rudolph, milde und streng und ganz dazu gemacht, die Menschen zu „bemuttern,“ will die im Sündenpfuhl verkommenden Unglücklichen physisch und moralisch bessern und — belohnen, die hoffnungslos Verdorbenen aber unschädlich machen, und durch ausgesuchte Seelenmartern — bestrafen. So zieht er in Paris ein und so zieht er, ungeheilt von seinem Wahnsinn, wieder hinaus, nachdem [291] er seine Tochter in das Gotteshaus der Tugend eingeführt, und um die letzte Möglichkeit gebracht hat, ein eigener Mensch zu werden. Als die Tugend diess Kind endlich ganz um den Verstand und ums Leben bringt, da gehen dem barmherzigen Bruder zwar die Augen auf, aber nicht etwa über den Götzen, für dessen Priesterdienst er die Unglückliche geopfert, sondern über die „Gerechtigkeit des unerforschlichen Gottes,“ der seinen Angriff auf den Vater jetzt an ihm als Vater durch den Verlust der Tochter rächt. So schwachsinnig ist dieser Kämpfer für Tugend und Religion, dass er in der consequenten Durchführung seines eigenen Princips, die er in der Handlungsweise der Tochter anzuerkennen und zu bewundern nicht umhin kann, nichts sieht, als ein „Zorngericht“ Gottes. Marie erfüllt ganz und vollständig das, was Sittlichkeit und Religion fordern; ihr Vater muss selbst bekennen, dass „sein unglückliches Kind in allem, was das Zartgefühl des Herzens und der Ehre betrifft, mit einer so unerbittlichen Logik begabt sei, dass man ihr nichts erwidern könne,“ — er „giebt es auf, sie zu überreden, da alle Vernunftgründe zu ohnmächtig sind gegen eine so unüberwindliche Ueberzeugung, die aus einem edlen und erhabenen Gefühle herstammt,“ — ja er gesteht, dass er in Märiens Namen auch „so würdig, so muthig“ gehandelt haben würde: — und nun, was erkennt er in dieser unbeugsamen, vollendeten Sittlichkeit seiner Tochter? Eine „Züchtigung“ Gorttes, der ihm diese Erhabenheit seines Kindes zur „Strafe“ schicke! Wahrlich, man kann das feige Juste-milieu unserer liberalen Zeit nicht grausamer, nicht hohnlachender zeichnen, als ein weichmüthiger Anhänger desselben es unfreiwillig hier selber gethan hat. — Der gute Fürst hat bei seiner Bussfahrt „nichts gelernt und nichts vergessen.“ Als Mensch ohne Entwicklung und Selbstschöpfung erfährt er nur die harten Schicksale, welche der Dienst der Tugend ihren Gläubigen bereitet: er macht nur theologische Erfahrungen, keine [292] menschlichen. Oder unterwirft er jemals den Herrn, welchem er dient, der Kritik, und fällt es ihm auch nur einmal ein, die Ideen der Sittlichkeit, Religiosität, Ehrlichkeit u.s.w., für deren Dienst er wirbt, nach ihrem Kern zu fragen? An ihnen steht ihm, als an festen Grenzen, der Verstand still, und jede weitere Erhebung, jede Erlösung und Befreiung von diesem absoluten Herrn ist dem von diesem Punkte an urtheilsvollen Fürsten unmöglich. So scharfsinnig er sich auch erweisen mag, als sittlicher Mensch, so durchaus geistlos ist er im Urtheil über den Menschen, ein treues Abbild seines tugendpriesterlichen, armseligen Dichters.

Im entgegengesetzten Glauben eingekerkert und mit Fanatismus ihm ergeben, ist die Mutter Martial. Auch das Verbrechen hat und muss seine Fanatiker haben, die daran glauben, und es zu Ehren bringen wollen: die Mutter Martial ist eine — Lasterheldin. Sie lebt und stirbt für ihr Ideal, das Verbrechen. Wie die Tugendgläubigen, so ist auch sie, die Lastergläubige, von einer fixen Idee um alle Entwicklung und Schöpfung ihrer selbst gebracht; sie muss untergehen mit diesem Pathos, weil sie nicht heraus kann. Auch für sie gilt jenes „Hier steh ich, ich kann nicht anders.“ Erstarrt und ergraut in ihrem Glauben, ist sie der Kritik, der einzigen Erlösung von jedem bis zur unnahbaren Heiligkeit anschwellendem Wahne so unfähig, wie irgend ein anderer Gläubiger; ja alle Gründe, welche sie daraus erretten könnten, dienen ihr vielmehr, wie es bei Wahnsinnigen der Fall ist, zur Bestärkung. Für sie giebt es keine andere Erfahrung, als die der Schickungen, welche der Wahn, der ihr Leben abspinnt und zu realisiren sucht, auf sie hereinbrechen lässt: sie macht nur unsittliche und heillose Erfahrungen, wie ihre Gegenfüssler nur sittliche und fromme machen.

Der Glaube an die Tugend zur festen Gesinnung geworden, ist der Geist Rudolphs; das Laster als feste [293] Gesinnung repräsentirt die Mutter Martial. Welch’ fürchterliches strenges Gericht lässt sie über ihren „missrathenen“ Sohn ergehen, der von der strengen Gesinnung des Lasters nichts wissen will. Sie handhabt das Hausregiment, als eine Frau von Grundsätzen, erfüllt von Grundsätzen des Verbrechens, wie andere Familienhäupter von Grundsätzen des Guten erfüllt, eine schneidende Herrschaft üben, und gleich Brutus das Vatergefühl ersticken. Ist die Majestät der Tugend eine wesentlich andere, als die Majestät der Lasters, und die eine feste Satzung erträglicher, als die andere? An seinem früheren Romane Atar Gull hätte E. Sue lernen können, wie Rachgefühl und Rechtsgefühl identisch sind, wie das Gute und Böse in Eins zusammenfallen, wie der schwarze Mohr des Teufels ist, nur wegen seiner Schwärze, der weisse Pariser aber, der jenem den Tugendpreis zuerkannt, Gottes, nur wegen seiner undurchglühten Weisse; aber an dem guten Dichter ist so wenig mehr zu bessern, als an seinen Romanfiguren, die, wenn sie sich bekehren, nur jämmerlicher und sklavischer werden, und werden müssen, als sie zuvor waren.

Da wir an den Hauptpersonen und einigen andern sehen, dass sie gebundene, geknechtete Charaktere sind, die durch ihre Triebe und durch ihren Glauben beherrscht, und um alle Selbstschöpfung und Selbstangehörigkeit gebracht werden, so brauchen die untergeordneten nicht besonders erwähnt zu werden. Es ist klar, der Dichter brachte es zu nichts, als zu bornirten Menschen, denen ungebildete Natürlichkeit oder unnatürliche Bildung, Begierden, oder Satzungen, die und die Schicksale bereiten. So ist allerdings die Welt, und E. Sue hat nur bewiesen, dass er sich das Wohlgefallen dieser Welt erwerben, aber nicht, dass er sie aus ihren Angeln heben und — erlösen kann.

Kein Wunder, dass die Mysterien so grossen Anklang fanden. Die sittliche Welt empfängt ja an ihnen die gelungenste [294] Ausgeburt der Philisterhaftigkeit, das getreue Abbild ihrer eigenen Menschenfreundlichkeit, das volle Echo derselben Klagen, in welche auch sie ausbricht, die gleiche Reformsucht in Dingen, an denen so wenig mehr zu reformieren ist, als am Türkenthum. Mahmud II. war nicht der einzige wohlwollende und unnütze Reformator unserer Zeit; der gesammte Liberalismus — und wer wäre heute nicht, er stehe hoch oder niedrig, liberal! — veredelt unter grossen Hoffnungen ein Türkenthum. „Unsere Zeit ist krank!“ so redet betrübten Blickes der Freund den Freund an, und alsbald machen beide einen botanischen Streifzug, um unter den lieblichen Kräutern des Landes das „rechte Heilmittel“ zu suchen.

Ihr Freunde, eure Zeit ist nicht krank, sie ist abgelebt; darum quält sie nicht mit Heilversuchen, sondern erleichtert ihr letztes Stündlein durch Beschleunigung und lasst sie — genesen, kann sie nicht mehr — lasst sie sterben.

„Ueberall Mängel, Gebrechen!“ Das räumt ihr selbst ein, und hegtet ihr etwa noch Zweifel, so schlagt die Mysterien auf, um das ganze Elend der Gebrechlichkeit anzuschauen. Versucht’s einmal, das Türkenthum zu „reformiren.“ Indem ihr hofft, es zu heilen, werdet ihr’s — zerfetzen. Es hat keine Mängel, so wenig als ein Greis, als Greis deren hat. Freilich geht dem Greise die Kraftfülle der Jugend ab, aber er wäre eben nicht Greis, wenn er sie hätte, und wer diesem „Mangel“ des Greisenalters abhelfen wollte, der wäre ein wohlmeinender Reformator, wie Mahmud II. und unsere Liberalen. Der Greis geht der Auflösung entgegen, ihr aber möchtet ihn verjüngen, sein schlotterndes Gebein wieder straff ziehen. Nicht krank ist unsere Zeit, um geheilt zu werden, sondern alt ist sie und ihr Stündlein hat geschlagen. Dennoch springen Tausende von E. Sue’s herbei und bieten ihre heilsamen Quacksalbereien an. [295] Soll man schliesslich noch ein Wort verlieren über die vortrefflichen Einrichtungen des Fürsten aus dem Wohlthäterorden und die philanthropischen Vorschläge des Romanschreibers selber? Sie laufen ja alle darauf hinaus, die Menschen durch Belohnung oder Bestrafung so lange zu „treten“, bis sie die Tugend zu ihrer Herrin machen! Es sind Anträge zu Staatsverbesserungen, wie man vor der Reformation deren unzählige zur Kirchenverbesserung machte: Verbesserungen, wo nichts mehr zu verbessern ist.