Die Morphiumsucht
Die Morphiumsucht.
In dem milchigen Safte, welcher in den grünen Samenkapseln und Stengeln der Mohnpflanze enthalten ist, findet sich ein beim Eintrocknen jenes Safts gewonnener, harzähnlicher Stoff, das Opium, gleichzeitig eines der bekanntesten Gifte und der wichtigsten Heilmittel. In der ganzen civilisirten Welt seit langen Zeiten nach beiden genannten Richtungen gekannt und verwendet, ist das Opium namentlich im fernen Osten auch zu einem Genußmittel geworden, dessen oerbreiteter Gebrauch dort ungeheure Geldsummen verschlingt und aus dem Lande führt, indem das Rohprodukt meist aus Indien, wo eine starke Anpflanzung von Mohn statthat, in den Handel gebracht wird. Auch nach Europa, besonders nach einzelnen Seestädten, wie London, hat das Opium als Genußmittel seit langer Zeit Eingang gefunden, und es wird ihm dort in einzelnen „Opiumkneipen“ namentlich von Solchen gehuldigt, die seinen Genuß im Orient kennen gelernt haben. Der Verbrauch des Opiums – soweit es nicht in einem kleinen Bruchtheile medicinisch verwendet wird – geschieht dort in der Weise, daß dasselbe, in Pillen gedreht, aus Thonpfeifen geraucht wird, wobei der Raucher zunächst eine außerordentlich angenehme Aufregung der Sinne verspürt und hernach in traumreichen Schlaf versinkt, aus welchem er mit wüstem Kopf, abgespannten Nerven und allen Uebeln des mit „Katzenjammer“ bezeichneten Zustandes erwacht, welcher zunehmend so lange anhält, bis eine wiederholte Gabe des Mittels die traurigen Folgen wieder auf kurze Zeit verscheucht hat.
Der neuesten Zeit, den Fortschritten der Civilisation ist es vorbehalten gewesen, auch in die ganze alte Welt und nicht in die geringsten Schichten ihrer Bevölkerung ein dem Opium entnommenes Mittel einzuführen, welches feiner, aber auch gefährlicher als dieses, in kürzerer Zeit dieselben Wirkungen hervorruft und stets in weitere Kreise dringend eine nicht zu unterschätzende Gefahr für unsere Gesellschaft bildet. Das Morphium, dieser wirksamste Bestandtheil des Opiums, seit einer Reihe von Jahrzehnten den Aerzten als wohlthätigstes Mittel bekannt, wo es gilt, Schmerzen zu lindern und dadurch erregte Nerven zu beruhigen, ein Arzneimittel ersten Ranges, ohne welches man nicht Arzt sein möchte, wird leider in immer weiteren Kreisen als Genußmittel mißbraucht.
Dargestellt aus dem Opium durch einfache Scheidungsprocesse, erscheint das Morphium als kristallinisches weißes Pulver von geringem specifischen Gewicht und sehr bitterem Geschmack; es ist löslich in Wasser und in Weingeist, beim Erhitzen schmilzt es zunächst, um sodann vollständig zu verbrennen. Das Morphium ist demnach viel leichter verdaulich als das Opium, seine Löslichkeit in Wasser macht es geeignet zur Anwendung in Form von Einspritzungen unter die Haut, und gerade diese Anwendungsweise ist es, mit welcher am meisten Mißbrauch getrieben wird, aus welcher am häufigsten Morphiumsucht entsteht. Dies hat seine Ursache wohl darin, daß es keine Art der Anwendung des Morphiums giebt, welche gleich schnell und sicher wirkt, sodaß bei Leidenden schon nach der ersten Einspritzung und ihrer Wirkung das Vertrauen zu dem Mittel unbedingt feststeht. Die Einspritzung geschieht so, daß eine kleine Spritze, die ein Gramm [91] Flüssigkeit hält, mit der Morphiumlösung ganz oder theilweise gefüllt und dann nach einem Stich durch die Haut, welchen man mittels des nadelförmig zugespitzten Ausflußrohres der Spritze ausführt, unter die Haut entleert wird; der Einstich verursacht einen unbedeutenden Schwerz, der noch Niemand vom Morphiumgebrauch abhielt.
Die schnelle, sichere Wirkung der Einspritzung hat für Menschen die an sehr schmerzhaften Uebeln leiden, etwas ungemein Bestechendes; sie sind glücklich, ein Mittel gefunden zu haben, durch welches sie ihre Qualen vertreiben, wenigstens auf Stunden vergessen oder den oft langentbehrten Schlaf wieder finden können. Kleinere, im Gefolge der Einspritzung auftretende Unannehmlichkeiten wie Uebelsein, Brechneigung und wirkliches Erbrechen kommen kaum in Betracht gegenüber der zauberhaft wohlthätigen Hauptwirkung, sie werden bald vergessen und bei wiederholter Anwendung leicht überwunden. So kommt es, daß bei fortdauerndem Leiden die erlösende Einspritzung stets mehr begehrt wird, der Kranke die Zeit derselben kaum erwarten zu können glaubt; noch nicht vertraut mit den traurigen Folgen des Morphiummißbrauchs, setzt er, um in den Genuß der angenehmsten Empfindungen zu kommen, auch dem abnehmenden Uebel zunehmende Morphiumgaben entgegen; um in deren Besitz zu kommen, scheut er sich nicht, seine Umgebung und den Arzt zu täuschen. Einmal bekannt geworden mit den lockenden Genüssen des Morphiumrausches, kommt der Mensch, wenn er nicht ungewöhnlich willensstark ist, kaum noch davon ab, ehe er die tiefen Qualen des Morphiumelends durchgekostet hat. Es ist etwas Dämonisches in diesem Mittel, was die häufig wiederholte Steigerung seiner Gaben fordert: auf ungenügende Mengen folgt bald der jämmerlichste Zustand, das Gefühl körperlichen und geistigen Elends, Zittern, weinerliche Verstimmung, Reizbarkeit hohen Grades, Schwächedelirien, während genügende und besonders zunehmende Gaben wie mit Zauberschlag all diese Uebel verscheuchen, die angenehmste, gehobene Stimmung herbeiführen, im Körper ein Gefühl des Wohlseins und der Kraft erzeugen und alle Sorgen weithin verscheuchen. So benutzt der richtige Morphinist das geliebte Mittel nicht, wie viel geglaubt wird, um sich Ruhe und Schlaf zu verschaffen, sondern vorzugsweise, um sich der furchtbar lästigen, eben aus dem Morphium entstandenen Uebel zu entledigen, ganz ebenso, wie der Schnapstrinker immer wieder trinkt, um sich dem immer drohenden Katzenjammer zu entziehen. Bei vieler Aehnlichkeit, welche der gewohnheitsmäßige Mißbrauch des Morphiums mit dem des Alkohols hat, giebt es doch auch wichtige Unterschiede, welche das Morphium viel gefährlicher erscheinen lassen. Ist der Branntwein vorwiegend das Berauschungsmittel der ungebildeten Klassen, so ist das Morphium am häufigsten bei den Gebildeten zu finden; dem Genusse des letzteren wird regelmäßig sehr geheim gefröhnt, der Alkohol treibt auf die Gassen; der letztere wird meist ohne Steigerung der Gabe länger ertragen, das Morphium häufiger rasch gesteigert, bis es nicht mehr wirkt oder unendlicher Ekel, Schlaflosigkeit, Nervenzerrüttung, Geisteskrankheit eingetreten sind.
Thatsächlich enthalten die genannten Zustände die Aussichten, welche jedem Morphiumsüchtigen drohen, wofern er nicht zeitig umkehrt, und am sichersten, wenn er sich zum beständigen Steigern der Gaben verführen läßt. Es ist kaum glaublich, zu welchen Mitteln die Morphinisten greifen, um in den Besitz des einmal nöthigen Giftes zu gelangen, wie entsetzlich elend oft ihr Zustand ist, wenn sie in die Behandlung der Aerzte gelangen, von denen sie Errettung hoffen und erwarten.
Ein Morphinist, den ich mit bleibendem Erfolg heilte, hatte lange Zeit hindurch täglich drei Gramm Morphium verbraucht, zu dessen Ankauf sein ganzes Gehalt eben ausreichte; als er in Behandlung trat, rang er mit dem Entschluß des Selbstmords. Zwei Damen aus den besten Ständen, beide in den dreißiger Jahren, das Morphium als Genußmittel mißbrauchend, sind gehäuften Gaben desselben zum Opfer gefallen, und erst nach ihrem unerwarteten Tode ergaben angestellte Nachforschungen, daß und wie viel dieselben dem Gifte fröhnten. In solchen Fällen wiederhalt sich bei den „Einspritzern“ die sittliche Schwäche der Schnapstrinker, alle Rücksichten opfern sie blind dem ersehnten Augenblicksgenuß, sie sind in diesem, nur ein Ziel der Befriedigung kennenden Zustande zu Allem fähig, wenn es nur zum Zwecke führt. Als körperliche Vergiftungserscheinungen beobachtet man: Muskelzittern, Krämpfe, Lähmung der Schließmuskeln der Blase und des Mastdarms, Nervenschmerzen jeder Art, neben der eigenthümlich fahlen auf Blutleere und schlechte Ernährung deutenden Farbe der Haut, besonders des Gesichts und der matten, tiefliegenden verschleierten Augen. Diese schweren Störungen der Ernährung erklären auch, daß bei den Unglücklichen die oft zwanzig- bis dreißigmaligen Einspritzungen häufig örtliche Gewebsentzündungen an den Einspritzstellen hervorrufen, so daß Eiterbeulen und Pusteln in unzähliger Menge den Körper bedecken und abschreckende Geschwüre und Narben entstehen an den zum Einspritzen zumeist gewählten Stellen, an den Armen, der Brust, den Oberschenkeln etc., welche jede Bewegung der betreffenden Stellen, sogar das Liegen im Bett unerträglich machen, bevor nicht wieder eingespritzt ist.
So treiben die Armen, zwischen Ueberreiz und trostloser Abspannung hin und herschwankend, dem häufig absichtlich gesuchten Tode oder, wenn es gut geht, dem Irrenhause, sonst einer Anstalt, einem Spital entgegen, wo, um sie von ihren Leiden zu befreien, die Abgewöhnungs-, die sog. Morphiums-Entziehungskur an ihnen gemacht werden muß. Diese unter Umständen höchst unangenehme Behandlung besteht darin, daß entweder schnell, mit einem Schlage, oder, was die jetzt gewöhnlichere Methode ist, allmählich dem Kranken der Genuß des Morphiums entzogen wird, indem zunächst der innerliche Gebrauch desselben Mittels oder anderer Opiate, des Bromkalis, Chloralhydrats an Stelle eines Theils der Einspritzungen gesetzt wird.
Die Entziehungskur kann nur mit vollem Einverständniß der Leidenden vorgenommen werden und schlägt fast regelmäßig fehl, wenn letztere sich nicht entschließen, in eine geeignete Anstalt einzutreten und ihren Willen ganz dem des leitenden Arztes unterzuordnen. Trotz dieses stets erlangten Einverständnisses erlebt der abgewöhnende Arzt selbst von sonst ehrenhaften Menschen, welche die dringendste Noth zum Entschluß der Entziehungskur trieb, häufig die unerwartetsten Täuschungen; eine geheim gehaltene, verborgene Spritze, ein Vorrath von Morphium, dessen Vorhandensein regelmäßig geleugnet wird, begleiten oft genug den „Einspritzling“ in die Klause der Entziehung, um bei geeigneter Zeit heimlich benützt zu werden.
Ein mir befreundeter, höchst ehrenwerther Kollege, starker Morphinist, an dem ich die Entziehungskur vornehmen sollte, da er durch Morphiumgenuß dienstunfähig geworden war, nahm es höchst übel auf, daß ich ihn aus dem zuerst für einige Stunden ihm angewiesenen Zimmer nach einem Bad, wo seine abgelegten Kleider durchsucht wurden, nun plötzlich in ein bereit gehaltenes anderes Zimmer bringen ließ. Die Nachforschung ergab aber, daß er in dem Ofen des ersten Zimmers eine Spritze und eine ganz bedeutende Quantität Morphium sorgsam versteckt hatte.
Ein Anderer, ebenfalls Arzt, scheinbar schon ganz abgewohnt, benutzte den ersten freien Ausgang, um sich Morphiumpillen zu verschreiben, die er als Abführpillen mir gegenüber deklarirte. So sind auch die Rückfälle nach der Abgewöhnung so häufig, daß dieselben 40 bis 60 Procent der Abgewöhnten betragen. Ob das neuerdings bei der Entziehungskur in Anwendung gebrachte Cocaïn hierin eine Besserung bringen wird, bleibt bei den wenigen Erfahrungen, die mit demselben gemacht worden sind, noch abzuwarten.
Angesichts der großen Gefahren aber, die unstreitig der Mißbrauch des Morphiums in stets zunehmender Weise gerade für die gebildeteren Kreise der Bevölkerung mit sich führt, dürfte es sich verlohnen, darauf hinzuweisen, was von Seiten der Gesetzgebung und der Einzelnen zu deren Abwehr geschehen kann. Hierher gehörte die scharfe Handhabung des bestehenden Verbotes der Repetition von wirksamen Arzneivorschriften in den Apotheken ohne neue ärztliche Verordnung, sowie die angemessene Bestrafung bei Uebertretungen dieser Vorschrift. Sehr wünschenswerth wäre sodann die Ueberwachung des Handels mit den verderblichen Morphiumspritzen und ihren Bestandtheilen, eines Handels, der eine von den Meisten ganz ungeahnte Größe des Absatzes an Nichtärzte ausweist. Außerdem wäre sehr zu wünschen, daß die in neuester Zeit überall entstehenden nützlichen Vereine gegen den Mißbrauch der alkoholischen Getränke auch den Morphiummißbrauch in den Bereich ihrer Aufgaben ziehen möchten.