Die Locke der Charlotte Corday
„Die Mondesschimmer fliegen,
Als säh’ ich unter mir
Das Schloß im Thale liegen,
Und ist doch so weit von hier!“
Eichendorff.
Ich sehe es wirklich, in diesem Augenblick, das alte melancholische Herrenhaus auf der vereinsamten Landstraße nach H–, und eine Eichendorff’sche Mondbeleuchtung paßte zu den grauen Mauern, der breiten Steintreppe, dem mächtigen Park mit seinen steinernen Göttergestalten, die alle heimlich Leid trugen um eine fehlende Nase, einen abgebrochenen Arm, eine zerbröckelte Hand, einen losgelösten Fuß. Jetzt ist es seit vielen Jahren unbewohnt und der Obhut eines alten Castellans überlassen, denn der junge M., der es nach dem Tode seiner Verwandten erbte, besitzt eine reizende Villa am Comer See und zieht den Aufenthalt in Licht und Glanz begreiflicher Weise dem Leben in jenem grauen Palaste vor. Und dennoch scheuen manche Fremde, die auf der breiten Schienenstraße Deutschland durchfliegen, jenen Umweg und Zeitverlust nicht, um dem alten Schlößchen einen Besuch zu machen. Man zeigt nämlich dort das einzige wahrhaft getreue Portrait des Mädchens von Caen, der wunderbaren Charlotte Corday. Auf einer Staffelei im Erkerzimmer des linken Flügels steht es, in einen schwarzen Holzrahmen gefaßt, in ergreifender Schönheit. Es ist nur flüchtig angelegt, fast skizzenhaft, von mattem Farbenton, aber der Charakter dieses seltenen Kopfes ist so großartig aufgefaßt, der Blick der Augen so über die Welt gleichsam hinausschauend, daß die Wirkung den Betrachtenden überwältigt. Charlotte Corday trägt ein helles Kleid mit anschließenden Aermeln, ein hochhinaufreichendes Busentuch und die bekannte französische Haube. Ihre aschblonden Haare fallen schwer und etwas nachlässig herab auf die Schultern, aber diese Schultern sind bei aller Fülle in ihren Umrissen fein und edel. Lange Wimpern und schön gezeichnete Brauen beschatten die wundersamsten Augen der Welt. Der Mund ist weich und zärtlich, es sind die sanften und keuschen Lippen einer Frau, während auf der Stirn eine männliche Entschlossenheit thront und die Nase dem Gesicht einen kühnen Ausdruck giebt; die Profillinie ist etwas streng, trotz ihrer Feinheit. Und wie kommt dies lebensvolle, offenbar unmittelbar nach Anschauung gemalte Portrait des berühmten Mädchens in dies deutsche abgelegene Schlößchen? Das ist eine seltsame Geschichte; der alte Sanitätsrath in D., dem hübschen Badeorte, hat sie mir vor langer Zeit einmal erzählt.
Hier ist sie.
Vor vielen, vielen Jahren war das graue Herrenhaus von glücklichen Menschen bewohnt und es gab nichts Erfrischenderes als in die grüne Dämmerung dieses mächtigen Gartens zu blicken, wo auf reinlich gehaltenen Wegen fröhliche Kinder spielten, und gar mancher Wanderer auf der Landstraße blieb an dem eisernen Gitterthor stehen und vergaß alle Müdigkeit, wenn das helle Lachen der Kinderstimmen an sein Ohr schlug. Herr M., der Besitzer dieses Hauses, hatte zwar nur eine einzige Tochter, aber er ließ zu ihrem Vergnügen oft die Kinder der benachbarten Güter in einem großen mit Leinwand überzogenen Wagen abholen und belebte auf diese Weise seinen Park und entzückte zugleich das Herz seines Kindes. Sie sollte durchaus fröhlich sein und nie Zeit finden ihre Mutter, die sie schon im zwölften Jahre verlor, zu vermissen. Eine ältliche brave Pfarrerstochter vom Rhein wurde in’s Haus genommen, eine französische Bonne und eine englische Gespielin. Fräulein Köhler, welche die Leidenschaft besaß, Verse zu machen und Romane zu schreiben, die nie zum Druck gelangen wollten, war sehr gewissenhaft sorglich und treu, und ihre Sentimentalität störte den Hausherrn nicht, da Melanie gar keine Anlage zu irgend einer Gefühlsschwärmerei zeigte und ganz das Naturell ihrer Mutter, einer Französin, geerbt zu haben schien. Auf dem Sterbebett dieser Mutter wurde die kleine Hand Melanie’s in die eines blassen Jünglings gelegt: „Er soll dereinst Dein Mann werden und Du wirst in Paris leben!“ hatte sie zu ihrem Kinde gesagt.
Alphons Dacier[WS 1] war der einzige Sohn eines früh verstorbenen Bruders und die Geschwister hatten ausgemacht, ihre Kinder mit einander zu verheirathen; Herr M. hatte Nichts gegen diesen Plan einzuwenden, da der junge zukünftige Schwiegersohn sehr reich war. Alphons kam nun regelmäßig im Sommer auf einige Wochen in das Schloß, und Melanie verbrachte ein Jahr gleich nach ihrer Confirmation bei einer Tante ihres Verlobten in Lyon. Herr M. selbst hatte sich inzwischen von allen Geschäften zurückgezogen und überließ sich nur noch dem Umgang mit seiner Tochter und einer geheimen Leidenschaft, die er vor den etwas unbarmherzigen Augen seiner verstorbenen Frau hatte verbergen müssen: seiner Neigung zur Malerei. Alle M.’s, die vor ihm das graue Schloß bewohnt, hatten irgend eine wunderliche Grille gehabt. War auch bei dem jetzigen Besitzer von keinem Talent die Rede, wie bei seinem Vorgänger, der ein bedeutender Musiker gewesen, so stand er doch keinem seiner Ahnen in Eifer und Hingabe an seine Neigung nach. Sein Fleiß ließ ihn oft Speise und Trank vergessen, ja nicht selten sogar den Liebling seines Herzens, die reizende Melanie. Er hatte sich ein Atelier eingerichtet in dem größten Zimmer des nördlichen Flügels und brachte dort den größten Theil [626] des Tages zu. Nichts konnte strahlender sein als sein Gesicht, wenn er vor einem frisch aufgespannten Malertuch stand und sich anschickte irgend ein Bild aus der bedeutenden Sammlung seiner Vorfahren zu copiren. Diese Copien wurden nach ihrer Vollendung auf das Schönste eingerahmt und in dem oberen Saal des Schlosses aufgehängt. Die wenigen, gewaltig ernsthaft blickenden Familienbilder, die hier früher ihren Platz gehabt und welche Melanie höchst respectwidrig die Käfersammlung zu nennen pflegte, mußten sich gefallen lassen in das anstoßende Erkerzimmer verbannt zu werden.
In dem Saal dieser Copien nun pflegte Herr M. Winter und Sommer sein Mittagsschläfchen zu halten. Es war gar zu süß mitten unter seinen Schöpfungen einzuschlummern und zu erwachen – halb blinzelnd eine in unbeschreiblichen Farben prangende Kuh nach Potter, eine Landschaft nach Salvator Rosa, ein Portrait nach van Dyk anzusehen, denn Herr M. malte Alles – um sich zu sagen: „Deine Hand hat sie geschaffen!“ Unbekleidete Figuren zu malen hatte er aufgegeben, bis auf Weiteres, seitdem sein Töchterchen ihn einmal gefragt, als er einen Engel nach Fiesole copirt: „Papa, ist der arme Junge mit den Flügeln in ein blanc manger gefallen? er guckt ja nur noch mit dem Kopf heraus!“ – „Der Kukuk mag wissen, wie sie es anfangen, die Maler, so ein Stück ordinären Fleisches herauszubringen,“ brummte Herr M. nachher, „es ist gewißlich nichts, als ein kleiner Taschenspielerkunstgriff dabei; man geräth aber von selbst nicht darauf. Nun, ich muß mir’s sagen lassen, sobald mir ein Maler einmal in den Wurf kommt.“
Melanie’s siebenzehnter Geburtstag war herangekommen. Das war ein aufregender Tag, dieser 15. Mai! Man feierte an ihm die feierliche Verlobung Melanie’s mit Alphons Dacier, der von Paris herübergekommen war, um einige Wochen im Schlosse zu bleiben. Alle die jungen Freundinnen des Mädchens waren eingeladen, nebst den dazu gehörigen Vätern, Müttern und Brüdern; die Sonne strahlte, der Flieder blühte und wie weiße Schmetterlinge flatterte die Mädchenschaar im Park umher.
Am späten Abend, als es wieder still geworden war, geschah es, daß Melanie sich auf das Bett ihrer Gouvernante setzte. Sie begann sich ihr Haar für die Nacht aufzuflechten und sagte mit einem glücklichen Lächeln: „Das war ein hübsches Fest! Es giebt doch nichts Angenehmeres, als sich zu verloben, und ich bedauerte alle meine Freundinnen, daß sie nicht auch ihre Verlobung feiern konnten.“
Fräulein Köhler zog die Garnitur ihrer Nachthaube ein wenig tiefer über ihre Lockenwickel, lockerte die Stirnbinde, die sie der allzutiefen „Denkerfalte“ wegen allnächtiglich zu tragen pflegte, legte ihre Hände über die Augen und bat: „Liebe, stelle einen Schirm vor das Licht, das Du hereingebracht. Schone meine Augen!“
Eine Secunde später lag die Gouvernante im tiefsten Schatten und der volle Lichtschein traf nur Melanie. Ihr leichtes, spitzenbesetztes Nachtkleid fiel bis auf die Füße herab. Sie standen auf einem kleinen Tabouret. Daß Melanie eine französische Mutter gehabt, zeigten diese Füße. Sie steckten noch in den kleinen rosenrothen Atlasschuhen mit den schwarzen Spitzenrosetten, in denen sie getanzt, und es gab nichts Zierlicheres als die Form dieser Füßchen mit den feinen Knöcheln. Fräulein Köhler’s mit wunderbaren Blumen bestickte Morgenschuhe – ihre zahllosen Nichten versahen sie mit diesem abscheulichen Artikel – hatten das Ansehen einer Wiege für die Füße des jungen Mädchens.
Als das Fräulein noch immer schwieg, sanken plötzlich die Hände Melanie’s in den Schooß, ein Zug von Trauer überflog das reizende Gesicht: „Mein Gott, ich habe ihr gewiß wehe gethan,“ dachte sie, „die Arme hat ja nie ein so schönes Fest gefeiert!“ Unwillkürlich neigte sie sich herab, um ihre Lehrerin zu küssen. „Wie vergnügt war der Papa heut! Nicht wahr, Sie verlassen ihn nie, wenn ich einmal fort bin, und begleiten ihn immer nach Paris, wenn er kommt mich zu besuchen?“
„Gutes Kind! Darüber reden wir ein ander Mal,“ antwortete die Köhler gerührt, „ich habe allerlei Pläne. Du sollst später Alles erfahren. Ja, Du hast Recht, es ist ein schönes Fest, das Du heut gefeiert, aber ich glaube, es wird doch noch schöner sein, wenn – wenn die rechte Liebe dabei wäre, die muß aber bei Dir erst kommen!“
„Nun, wenn sie bei Alphons da ist, dann dürfte es ja einstweilen genug sein,“ lachte das junge Mädchen. „Ich muß ihn freilich erst kennen lernen; es ist recht gut, daß er jetzt einen Monat hier bleibt. Meinen Sie, daß ein Monat genug Zeit ist, um sich lieben zu lernen?“
„Thörin!“ erwiderte die Gouvernante mit Nachdruck, „ein einziger Augenblick genüge, sagen die Dichter! Wie war Dir’s denn zu Muth, als Du Deinen Verlobten zum ersten Male sahst?“
„Lassen Sie mich ein wenig nachdenken,“ erwiderte Melanie und machte ein allerliebstes ernsthaftes Gesicht. „Ach ja, das war, als Mama noch lebte, vor fünf Jahren. Alphons ist sieben Jahr älter als ich, und ich meinte damals, er sähe sehr alt aus und wolle Alles besser wissen als ich. Nachher war er da, als die arme Mama starb, und ich hatte ihn sehr gern, weil er mich so zärtlich zu trösten versuchte und mit dem Papa so viel plauderte, und jetzt finde ich ihn recht hübsch und so unterhaltend und gewandt, wie keinen einzigen der jungen Herren, die ich kenne. Ist das noch nicht die Liebe, die man braucht, um eine glückliche Frau zu werden?“
„Ich denke, nein! Die wirkliche Liebe ist etwas ganz Anderes: ein immer aneinander Denken, ein immer beieinander Sein, ein Treubleiben in Noth und Tod. Nun, das wird Alles noch kommen!“
Das junge Mädchen antwortete nicht sogleich. Sie saß in tiefes Sinnen verloren. Wie hübsch sie in diesem Augenblick aussah, so unberührt von jedem Kummer, so schuldlos, so froh und frisch! Melanie hatte zwar mit ihrer Erzieherin manches Liebesgedicht, manche rührende Geschichte, worin von Liebe die Rede war, gelesen, aber sie gestand sich, daß sie trotzdem noch niemals ernsthaft über die Liebe nachgedacht. Und jetzt war sie doch schon Braut! –
„Die Liebe muß doch sicher die höchste Zufriedenheit sein,“ begann sie nach einer Weile, „und so meine ich, daß ich bereits anfange zu liebe. Ich bin zufrieden mit Alphons, mit Papa, mit mir selber, ich möchte Nichts anders haben und ich freue mich kindisch auf Paris.“
Und die hübschen Finger nahmen ihre unterbrochene Beschäftigung wieder auf, sie flochten das goldbraune Haar ein.
Das Fräulein seufzte. „Mein liebes Kind, wolle Gott keinerlei Prüfung über Dich kommen lassen!“
„Prüfung? Was verstehen Sie darunter?“ fragte Melanie.
„Allerlei ernsthafte Dinge: Kummer, Elend, Noth. Dergleichen besteht nur die echte und rechte Liebe mit Ehren.“
„Ich habe nicht gewußt, liebste Köhler, ob Alphons arm oder reich war, als ich mich mit ihm verlobte: also würde ich ihn genau so angenehm finden, wenn er Nichts hätte, sollte ich denken. Würde er krank, so will ich ihn gewißlich treu pflegen – dann muß er ja bald wieder gesund werden. Und Noth?! Ach, der gute Papa ist ja da und in Noth braucht ja nicht Jeder zu gerathen.“
„Melanie – Du sollst im nächsten Winter in Paris in die Gesellschaft eingeführt werden; Dein Papa will, daß Du vor Deiner Verheirathung ein Wenig von der Welt siehst; glaubst Du nicht, daß ein anderer Mann Dir jemals besser gefallen könnte als Dein Verlobter? Und Du wirst dort gewiß schöne Männer sehen, und geistvolle und liebenswürdige zu Dutzenden.“
„Das weiß ich nicht. Sollte das aber geschehen, nun so würde ich das sofort dem Papa und Alphons sagen, und wir würden schnell abreisen.“
„Das hilft nicht immer, mein Kind!“
„O, wenn ich nur Alphons sehe, liebe ich ihn auch wieder, das weiß ich gewiß! Und ich habe ja auch der todten Mama versprochen ihn zu heirathen – also das sind eigentlich unsinnige Plaudereien, ich weiß gar nicht, wie wir darauf kamen, schade, daß Alphons nicht malt oder singt, das würde Papa mehr Freude machen und mir wäre es auch recht!“
„Nun, das thut Nichts, wenn er Dich nur recht liebt, wie Du es verdienst!“
„O, wir sind doch hübsch genug ihn zu fesseln, liebe Köhler, das ist meine geringste Sorge! Und ich bin auch nicht seine erste Liebe, ich habe ihn neulich darum gefragt, und das ist mir recht lieb, dann weiß er doch, daß die Frauen nicht vollkommen sind, und nimmt mich wie ich bin.“
Es war unmöglich der Sprecherin böse zu sein, wie sie so plauderte, sie sah schelmisch dabei aus wie ein Kind, tausend neckische Geister trieben in den dunkeln Augen und in den Grübchen der Wangen ihr Wesen. Fräulein Köhler unterdrückte deshalb auch [627] ihre Strafpredigt und begnügte sich seufzend damit, ihre verlobte Schülerin zu Bett zu schicken.
„Noch Eins,“ sagte Melanie schon im Begriff dem Gebot Folge zu leisten, „ich habe eine Bitte. Alphons trägt ein schwarzes verschlossenes kleines Portefeuille in seiner Brusttasche – ich sah es, aber er schloß es mir nicht auf und behauptete, es enthalte ein Geheimniß, das ich erst an unserm Hochzeitstage erfahren dürfte. Vielteicht ist es das Portrait seiner verstorbenen ersten Liebe. Bitte, bitte, liebe Köhler, fragen Sie ihn einmal recht eindringlich danach – mir würde er ja doch keine aufrichtige Antwort geben, und dann – ich möchte um die Welt nicht, daß er mich für neugierig oder gar für eifersüchtig hielte!“
Seit jener Unterredung waren Monate verflossen, man hatte den Winter in Paris vorüberrauschen lassen und lebte erst seit vierzehn Tagen wieder im alten Herrenhause. Wie im Traume war Melanie auf den hochgehenden Wogen eines wechselvollen Daseins dahingeschwommen. Fräulein Köhler mußte sehr viele Abende einsam zubringen in jenem kleinen, eleganten Quartiere, das man in Paris gemiethet, und fand Muße genug, sich ihrer Leidenschaft hinzugeben, Romane zu schreiben, und Betrachtungen anzustellen über die Vergnügungssucht junger Mädchen. In dem Hause Alphons’ repräsentirte seit dem Tode seiner Eltern eine alte Tante, sie machte die Honneurs mit mehr Würde als Grazie. Alle seine übrigen Verwandten von Nah und Fern drängten sich herbei, die junge, reiche Braut kennen zu lernen. Melanie wurde gefeiert, wo sie sich zeigte, man umschwärmte die reizende, frische Erscheinung, man fand sie piquant ohne alle deutsche Sentimentalität und beneidete den Bräutigam um diese anmuthige Zugabe eines bedeutenden Vermögens. Aber alle derartigen Huldigungen schienen keinen sonderlichen Eindruck zu machen auf das Herz des jungen Mädchens, zur großen Beruhigung der besorgten Gouvernante; Alphons tanzte besser, als alle Andern, plauderte amüsanter, war achtsam auf alle Wünsche – man mußte ihn lieben, so lautete der Refrain aller Berichte Melaniens. Sie genoß das rauschende Paris mit einer Unbefangenheit und ruhigen Freude, die ihre Erzieherin in das lebhafteste Erstaunen versetzte.
Herr M. war in den letzten Tagen seines Pariser Aufenthaltes ungewöhnlich guter Laune. Er hatte in der Ausstellung ein Bild gekauft, das ihn unwiderstehlich reizte: Adam Lux, der bekannte schwärmerische Anbeter Charlotte Corday’s, auf seinem Wege zum Schaffot. Anordnung und Gruppirung waren meisterhaft und das Colorit von großer Wärme und Kraft, der Ausdruck der verschiedenen Köpfe frappirend. Die Bekanntschaft mit dem Maler dieses Bildes erklärte er für die interessanteste in Paris, er hatte ihn auch sofort auf mehrere Wochen zu sich nach Deutschland eingeladen. Gaston Dumont – so hieß der talentvolle junge Künstler – hatte die Aufforderung angenommen und versprochen, sobald er seine kränkelnde Mutter in das kleine deutsche Bad D. nahe bei H. gebracht, im Schlosse einzutreffen.
Der alte Herr stellte seinen Schützling seiner Tochter und seinen übrigen Angehörigen vor und war sehr verwundert über den verschiedenen Eindruck, welchen die Erscheinung des jungen Mannes hervorbrachte. Während Melanie angezogen ward von dem schwermüthigen Ernst des Ausdruckes dieses ungewöhnlichen Gesichtes und von der melancholischen Ruhe seines ganzen Wesens, betrachtete ihn Alphons mit einer Art gehässigen Mißtrauens, und die Köhler endlich fand ihn durchaus uninteressant. Er sah ja garnicht aus wie ein Maler – keine fliegenden Locken, kein Sammetbarett, keinen zurückgeschlagenen Kragen – blos ein anständiger Mann aus der guten Gesellschaft. Es war wirklich schade. Wie hübsch hätte ein mehrwöchentliches Zusammenleben mit einem echten Maler werden können! So aber, wie er, konnte jeder Assessor aussehen! –
Man war endlich wieder im grauen Schlosse und der Frühling auch, und die Fenster standen den ganzen Tag weit offen, wie die Glasthür nach dem Garten, und Melanie mußte immer daran erinnert werden, Handschuhe anzuziehen und ihren runden Hut aufzusetzen, wenn sie die Steinstufen hinabsprang. Gaston Dumont hatte seine Zusage erfüllt; er hatte sich eingestellt auf dem Schlosse. Er arbeitete mit dem Hausherrn und gab auf dessen besonderen Wunsch dem jungen Mädchen täglich eine Stunde Zeichenunterricht. Außerdem unternahm er häufig größere Streifereien in die Umgegend, skizzirte fleißig und besuchte an jedem Sonntag D. und seine Mutter.
Wie gern hätte Melanie die Mutter einmal gesehen, an der dieser Sohn mit so leidenschaftlicher Zärtlichkeit hing! Das kleine Miniaturportrait, welches er von ihr bei sich trug, zeigte ein tiefmelancholisches, wunderschönes Frauengesicht.
„Ich habe nie traurigere Augen gesehen!“ sagte das junge Mädchen, während sie das Bild betrachtete.
„Sie hat auch viel gelitten in ihrem Leben, viel verloren!“ antwortete Gaston.
Wie mochte es nur sein, wenn man viel litt und verlor! Melanie sprach indeß nicht mit Fräulein Köhler über das Bild.
Alphons kam in dieser ersten Zeit auf einige Tage, allein Melanie wunderte sich im Stillen, daß sie sich nicht mehr über seine Gegenwart freute. Er brachte so viel Unruhe in das Stillleben und spottete so über ihre Zeichenstunden. Er hatte freilich Recht: Melaniens Talent war gering, sie nahm aber zum ersten Male in ihrem Leben eine Sache ernst. Je mehr Mühe es ihr verursachte, die Vorlagen ihres Lehrmeisters nachzubilden, desto größer wurde ihr Eifer. Sie wollte um jeden Preis Etwas lernen und ihrem Lehrer Freude machen. Sie war entzückt, wenn er sie in seiner ruhigen Weise lobte.
Nur mit Widerstreben erlaubte sie ihrem Verlobten, in den Unterrichtsstunden zugegen zu sein. Herr Dumont würde dann sicher nicht mehr von seiner Mutter erzählen, wie er das sonst that, und Alphons war die Veranlassung, daß sie auf Etwas verzichten mußte, was ihr ein unbeschreibliches Vergnügen gewährte. Zudem behandelten sich beide Männer so kalt, Gaston war so stolz, Alphons so hochfahrend und gereizt, daß Melanie ein lebhaftes Unbehagen empfand, wenn sie Beide zusammensah.
„Ich hätte nie gedacht, daß Alphons so kindisch sein könnte,“ sagte sie einmal zu ihrer Gouvernante, „er redet die ganze Zeit von lauter albernen Dingen, und dabei soll man zeichnen!“
Eines Tages wollte man nach H. in’s Theater fahren, um ein paar neue Lustspiele zu sehen. Alphons hatte zu dem Ausfluge beredet, er liebte die Einförmigkeit des Landlebens nicht und langweilte sich im Stillen entsetzlich. Unmittelbar vor der Abfahrt, mit ihm auf der breiten Terrasse auf- und niedergehend, warf Melanie ihrem Verlobten sein unfreundliches Benehmen gegen den Gast ihres Hauses und den Künstler von Ruf vor. Er antwortete gereizt und abweisend, und der erste Zwist setzte sich zwischen dem Brautpaar in Scene.
„Dein plötzlicher Fleiß ist kindisch, liebe Melanie,“ sagte Alphons, „aber noch kindischer ist, daß Du empfindlich darüber bist, wenn man sich für Deinen Lehrmeister noch weniger interessirt, als für Deinen Zeichenunterricht. Ich habe nun einmal eine unüberwindliche Antipathie gegen diesen Herrn, und es ist eine alte Erfahrung, daß man Leute, die sich vom ersten Blick an nicht mögen, um keinen Preis zwingen soll, miteinander zu verkehren; es entsteht Unglück daraus. Ich finde sein Gesicht unangenehm und sein Wesen unerträglich.“
„Es ist mir leid, daß unser Geschmack auseinander geht,“ antwortete das Mädchen mit blitzenden Augen, „ich finde ihn in jeder Weise edel und angenehm.“
„Seine Nähe und Unterhaltung gönne ich Dir gern, Theuerste, sobald ich nur nicht Theilhaber zu sein brauche. Ich warte geduldig auf die unvermeidlich eintretende Abkühlung Deines Enthusiasmus und weiß, daß Du mir dann wieder Gerechtigkeit widerfahren lassen und einsehen wirst, wie sehr ich Recht habe.“
„Ich fürchte, Du wirst auf diese sogenannte Abkühlung lange warten müssen, mein Freund. Ich habe mir vorgenommen, mich ernstlich mit der Kunst des Zeichnens zu beschäftigen. Lange genug habe ich thörichte Dinge getrieben. Ich möchte auch ein wenig malen lernen.“
„Versuche es, wenn es Dir Vergnügen macht, sobald wir verheirathet sind. Ich werde Dir dann den besten Lehrer in Paris zuführen und – bezahlen.“
„Ich würde nie einen besseren verlangen und bei keinem anderen lieber lernen. Doch bin ich dafür, die Zeit vor unserer Hochzeit zu benützen.“
„Der Termin ist zu kurz, liebes Kind!“
„Wenn ich nun einen längeren beanspruchte?“ – –
„Nimmermehr, Melanie! Anfang October werden wir uns verheirathen.“
[628] Hier unterbrachen die Uebrigen das Gespräch. Der Wagen fuhr vor, Melanie reichte Fräulein Köhler zum Abschied die Hand. „Ich wollte, Sie führen mit nach H. an meiner Stelle; ich habe keine Lust in’s Theater zu gehen,“ flüsterte sie.
Der Wagen rollte aber trotzdem wenige Minuten darauf mit ihr davon. In der Loge nahm ihr Vater neben ihr Platz, die beiden jungen Männer saßen hinter ihrem Sessel. Die Lustspiele waren allerliebst, Melanie blieb jedoch schweigsam und zerstreut. Im Zwischenact des Theaters besuchte Alphons das Foyer, er glaubte in der Loge der Schauspielerinnen eine hübsche Sängerin der Opéra comique erkannt zu haben und ging, sie zu begrüßen. Herr M. plauderte mit einem Logennachbar.
„Warum so ernst?“ fragte plötzlich Gaston leise.
„Um Ihretwillen,“ hätte das Mädchen beinahe geantwortet, aber sie bezwang sich und sagte nur: „Ich bin traurig und – und habe Kopfschmerzen.“
„Wird Herr Dacier Sie bald verlassen?“
„Uebermorgen.“
„Er wird ja in wenigen Monaten wieder hier sein.“
Es war ihr in diesem Augenblick unerträglich, daß er denken könnte, es sei der Schmerz der Trennung, der jetzt schon ihr Herz belaste, und die ganze Offenheit ihres Wesens brach hervor, als sie antwortete: „O, ich bin nicht traurig um ihn, ich war noch nie traurig um seinetwillen! Ich freue mich, daß ich mit Papa noch allein zusammenbleiben und zeichnen lernen darf.“
Sie wendete nach diesen Worten ihr Gesicht nach ihm hin und sah zum ersten Mal ein Lächeln in seinen Augen. Wie eine Fluth von Licht überströmte es sie plötzlich. Eine wunderbare Freudigkeit durchdrang ihr Herz. Aller Kummer war wie mit einem Zauberschlag verschwunden. Sie hörte freundlich und geduldig den Berichten ihres Verlobten zu, der jetzt wieder hinter ihr Platz nahm, und Alphons war am Schlusse der Vorstellung äußerst zufrieden mit dem Erfolg seiner Unterhaltung. Melanie war offenbar in heiterer Stimmung. Alle Gereiztheit schien vergessen. Und nie war sie ihm hübscher erschienen, als eben jetzt, wo sie ihm in dem rasch dahinrollenden Wagen in der hellen Mondnacht gegenüber saß. Ihr Gesicht in dem Rahmen des rothen Cachemircapuchons strahlte, die Lippen lächelten und ihre Stimme klang so süß, wenn sie ihrem Vater Schmeichelworte gab.
Sie redete mit den Andern fast gar nicht, aber sie scherzte mit dem Vater über seine Studien, und Gaston betheiligte sich an diesem Scherz, Alphons hatte ihn nie so belebt gesehen. Aber was kümmerte ihn der Maler! Melanie war ja sein unbestrittenes Eigenthum, und seine Freunde hatten wirklich ein Recht, ihn um die Braut zu beneiden; er war wirklich ein Glückskind. Als der Wagen hielt, nahm er sich allen Ernstes vor, ein wenig freundlicher gegen Gaston Dumont zu sein. Mit lebhafter Zärtlichkeit drückte er die Hand des jungen Mädchens, als er Melanie unter dem Portal des Schlosses aus dem Wagen hob und in’s Haus führte.
Aber die feinen Finger, die er umschloß, erwiderten seinen Druck nicht. „Bist Du wieder gut?“ fragte er leise.
„Gewiß,“ antwortete sie ruhig, doch sie zog die Hand langsam aus der seinen.
Dann sagte sie dem Vater zärtlich gute Nacht, bat, sich zurückziehen zu dürfen, und bot ihrem Verlobten die Hand. Er umfaßte Melanie, aber sich sanft aus seiner Umarmung lösend, ging sie auf Gaston zu und reichte ihm zum ersten Mal die Spitzen ihrer Finger. Sie berührten sich einen flüchtigen Moment, diese schlanken Hände, dann war Melanie verschwunden.
Nach der Abreise Alphons’ kamen ruhige Tage, reizende helle Stunden, Sonnenschein und Blumen. Man lebte fast den ganzen Tag im Freien und Melanie nahm ihre Zeichenstunden unter einem schattigen Zelt auf der Terrasse. Herr M. arbeitete weniger eifrig als sonst, er studirte Lichter und Schatten unter den grünen Bäumen; auch der Roman der Gouvernante blieb liegen, dagegen entstanden zahllose Gedichte mit Sonne und Wonne, Flieder und Lieder, Blätter und Geschmetter – wäre nur eine mitfühlende Seele da gewesen, sie zu verstehen! Sie konnte es nicht verschmerzen, daß der Maler so gar nicht poetisch war. Wie war es nur möglich, daß Melanie so gern mit ihm plauderte! Was sie sich nur immer zu erzählen hatten? Wie sie an seinen Lippen hing, wenn er redete! Zuweilen hörte die Köhler ein Weilchen zu – allein es war wirklich gar zu langweilig, fortwährend von einer kranken Mutter reden zu hören, oder von Gegenden und Menschen, die man nicht kannte. Sie begriff ihre sonst so ungeduldige Schülerin nicht!
Es war an einem Julimorgen, als Melanie den Stift niederlegte und zu ihrem Lehrer aufblickend sagte: „Ich habe eine Bitte an Sie.“
„Ich würde glücklich sein, sie erfüllen zu können,“ lautete die Antwort, und die großen dunkeln Augen begegneten den ihren.
„In wenigen Wochen feiern wir Papa’s Namenstag, ich möchte ihm so gern mein Portrait schenken, würden Sie dasselbe als Bleistiftzeichnung ausführen mögen?“
Eine tiefe Blässe flog über das Gesicht des Künstlers.
„Nein,“ sagte er hastig, fast rauh, „ich darf nicht! Es bringt Unglück, wenn eine Hand aus unserer Familie eine Frau malt.“
„Ueber wen? Ueber den Maler oder über die Frau?“ frug Melanie erstaunt.
„Ueber Beide.“
„Dann werde ich Sie nicht mehr bitten! Aber Sie malten, wie Sie mir erzählten, einst Ihre Mutter?“
„Das war zu jener Zeit, als ich noch nichts von dem seltsamen Fluche wußte. Und doch folgte die Strafe. Meine Mutter verlor ihren Gatten und ihre einzige Schwester kaum einen Monat nachher. Sie hat jetzt nur noch mich!“
[641] Melanie streckte ihre kleine Hand lebhaft nach Gaston aus. „O, das war ein böser Zufall, ein schauerliches Zusammentreffen,“ sagte sie. „Trotzen wir solchem Zufall! Ich fürchte mich gar nicht – nicht ein Bischen – und da, denke ich, können Sie es getrost wagen! Bitte, bitte, sagen Sie Ja!“
„Dringen Sie nicht in mich, ich kann und darf Ihren Wunsch nicht erfüllen, es ist eine Unmöglichkeit! Versprechen Sie, mich nie wieder darum zu bitten!“
Er stand dicht vor ihr und sah auf sie herab. Aber ihre Augen blieben gesenkt, sie spielte mit dem Stift in ihren Händen und sagte nur langsam und traurig: „Sie sind ungalant!“
„Melanie!“
Hatte er wirklich ihren Namen mit diesem unbeschreiblichen Accent der Trauer und Leidenschaft genannt? Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es ihr Herz, ihr Athem flog, ihre Hände zitterten. Eine Empfindung, wie sie nie gekannt, durchdrang mit diesem einen Laut ihr Inneres. War es denn möglich, daß dies eine kleine Wort, ihr eigener Name, solche Wirkung hervorbrachte?! Wie im Traume flüsterte sie: „Es ist gut – ich werde nie wieder bitten!“
„Später erzähle ich Ihnen Alles – nur jetzt, nur heute nicht. Sie vor allen Frauen der Welt würde ich nicht malen!“ sprach Gaston mit einem eigenthümlich wehmüthigen Ausdruck in seinem Gesicht.
Ein Schauer überflog sie bei diesen hastigen, leidenschaftlichen Worten. Eine glühende Röthe stieg in ihre Wangen, sie beugte sich über ihre Zeichnung. In diesem Augenblick trat Herr M. ein. „Ich habe ein kleines Geschäft im Bade D.,“ sagte er, „haben Sie Lust mich zu begleiten, so wird es mir eine Freude sein – vorausgesetzt, daß Sie Nichts dagegen haben, wenn ich meinen Wildfang hier und die gute Köhler mitnehme!“
Eine Stunde später war man auf dem Wege nach dem reizenden Curorte.
Köstliches Wetter, Fahrt nach D. Hochgefühl des Daseins! Weicher Wagen, beim Einsteigen mir aufs Kleid getreten, gute Pferde. Welt, wie bist du so schön! Melanie sah recht hübsch aus in ihrem braunen Hütchen, obgleich sie ohne Zweifel besser in einem schwarzen mit rothem Federbusch ausgesehen haben würde, zu welchem ich sie vergeblich beredete. Sie ist eben eigensinnig und ihre Seele hat keine Flügel! Dies ist der Abgrund zwischen uns Beiden. Ein Erdenkind ist sie, aber in Weiß wirklich reizend. Ich begreife den Maler nicht, daß er sich nicht in sie verliebt. Es wäre so natürlich gewesen! Eben so natürlich, wenn er mich dann zur Vertrauten gewählt. O, ich würde ihn so sanft zur Entsagung geführt haben! Aber die Romantik ist ausgestorben. Heut verliebt sich Niemand mehr in’s Blaue hinein, weder Mann noch Mädchen. Wo ist sie geblieben, jene himmelstürmende, titanenhafte Liebe? Sollte sie sich wirklich in ein gewisses keusches, streng verschlossenes Frauenherz geflüchtet haben? Ja, ich, Ludmilla Köhler, die schlichte Pfarrerstochter vom grünen Rhein, würde so geliebt haben, und wenn der Mann mit dem unersättlichen Herzen, mein angebeteter Lord Byron, von dem ich zwar nur einige Kleinigkeiten gelesen, mir begegnet wäre, er würde zur Ruhe gekommen sein. Aber er hat mich nicht gekannt! Später freilich, wenn die glühenden Träumereien meiner bis zur Stunde noch verkannten Seele flügge geworden sind, würde er, der große Brite, eingesehen haben, daß nur ein deutsches Frauenherz ihn zu begreifen vermocht. Die Engländer – o, wie ich für diese reinlichen Menschen mit der tadellosen Wäsche furchtsam schwärme, bei deren Händen man allezeit denken muß: wie leicht könnten sie dich erschlagen! – haben das ausdrucksvolle Wort: fall in love (in Liebe fallen). Melanie lachte darüber wie ausgelassen, mir ist es immer rührend gewesen. Die starke Nation so kindlich demüthig in der Liebe zu sehen, hat etwas mächtig Ergreifendes. Sie fallen in die Liebe. Ja, ich verstehe sie! Es ist himmlisch, in Liebe zu fallen; aber, es muß doch eigentlich immer eine Hand da sein, die da aufhebt. Ludmilla, sei ehrlich und gestehe hier in deinem Tagebuche, daß du sehr oft wieder allein aufstehen mußtest! Seit jener rührenden, fast Jean Paul’schen Idylle meiner Jugend, wo ich mich mit dem im Hause meiner Eltern wohnenden Unterlehrer an der Armenschule verlobte, hat mein Herz nie wieder Glück gehabt in der Liebe. Zwölf Jahre lang war ich seine treue Braut. Anfangs liebte ich ihn nur, weil er blaß war und die Leute von ihm sagten, er würde die Schwindsucht bekommen. Ach, einen schwindsüchtigen Geliebten haben, welch’ Entzücken für ein poetisches Gemüth! Leiser Husten, verklärter Blick, ätherische Ernährung! Du stehst wieder vor mir, stille Gestalt mit dem blonden, scharf zurückgestrichenen Haar. Er hieß – noch jetzt sträubt sich meine Feder, diesen prosaischen Namen niederzuschreiben: Christian Wurm. Aber nur vor den Menschen nannte er sich so, ich rief ihn Arthur Vermis. Es ist unmöglich für ein höher begabtes Wesen, einen Christian zu lieben! Aber Arthur ist der echte Heldenname! Alle Helden meiner Romane heißen Arthur!
Ach, er war so geduldig, mein Arthur, und trank ohne Klage den furchtbaren Kräuterthee, er lächelte so verklärt, wenn ich ihm [642] meine Gedichte vorlas, die alle nur ihn zum Gegenstande hatten. Und zuletzt sagte er doch: ‚Liebe Milla, ich hätte Dich zwar gern geheirathet und zur stattlichen Oberlehrerin gemacht, aber es ist doch vielleicht besser, daß es nicht dazu kommt. Du bist zu etwas Anderem bestimmt. Du mußt in einem reichen Hause leben, wo Niemand Strümpfe zerreißt und Keiner sich selber Etwas zu kochen braucht.‘
Es ist doch eine tiefliegende, unüberwindliche Abneigung, die wir Frauen gegen die Zahlen haben. Still davon. Ich kann es beschwören, daß ich einmal achtzehn Jahre alt war. Das genüge. Ich kenne ein reizendes Wort:
‚Was kümmert mich die Zahl der Jahre,
Das Herz bleibt jung, doch Schelme sind die Haare.‘
Man sollte es als Motto über alle Frauenbiographien schreiben! Nun, Gott sei Dank, von weißen Haaren zeigt sich noch keine Spur in dem Scheitel Ludmilla Köhler’s. Heut in D. sagte der prosaische Sanitätsrath L., der auch unser Hausarzt: ‚Liebes Fräulein, der blaue Hut mit dem kleinen Schleier steht Ihnen zwar sehr gut, aber Sie kommen mir doch etwas gelblich vor. Sollten Magen und Leber wieder ihre bekannten kleinen Streiche zu spielen Lust haben? Ich rathe, wieder zu unsern Pillen zu greifen!‘ Voll Entrüstung wies ich ihn in seine Schranken. O, diese Worte! wie ich ihn hasse, den Magen, wie ich sie verachte, die Leber! Der Kurzsichtige ahnt freilich nicht, daß ich heut in dem eilften Capitel des ersten Bandes meines Romanes bereits zwei Mordthaten beging. Und dabei soll man rothwangig aussehen! O, diese Dichterarbeit! Wie sie aufreibt und verzehrt! –
Melanie hat mit ihrem Lehrer und Vater einen Besuch bei der kranken Mutter des Herrn Dumont gemacht. Sie kam sehr bleich zurück und war gewaltig schweigsam. Jedenfalls hat sie sich sehr gelangweilt. Herr M. wurde von der Kranken nicht empfangen. Nach einem sehr guten Souper fuhren wir wieder heim. Herr Dumont kommt erst morgen nach. In einem Monat reist er mit seiner Mutter nach Frankreich zurück. Sie wollen sich dann in Lyon oder Marseille niederlassen. Melanie hatte Kopfweh, sie hat jetzt öfter Kopfweh. Das macht die Sehnsucht nach Alphons. Gott sei Dank, sie liebt ihn. Ich habe das vorausgesehen. Er paßt vortrefflich zu ihr und ist der angenehmste Mensch, den man sich denken kann. Poetisch freilich nicht, aber sie hat ja auch keine Flügel. Noch drei Monate, und wir feiern eine Hochzeit. Warum kann ich dies Wort nicht ohne ein gewisses Zittern niederschreiben? Seltsamer Zauber! Ich will schlafen gehen, heut kann ich nicht mehr schreiben – meine Prinzessin und der schöne, räthselhafte Jäger müssen warten.
In den Romanen braucht die Entwickelung von Herzensneigungen, die Wandlung von Empfindungen viel mehr Zeit und bedarf des Decorationswechsels weit häufiger, als in der Wirklichkeit. Je stiller und einförmiger das wirkliche Dasein, je gleichmäßiger der Verlauf der Stunden, desto tiefer und gewaltiger wirken die Eindrücke, die von außen an uns herantreten, ein Tag schafft Wunder und eine Woche vermag unser ganzes bisheriges Leben mit all’ seinen Consequenzen umzuwerfen. Melaniens Seele und Herz erfuhren solche Wandlung, sie wendeten sich, wie die Blumen dem Licht, allmählich einer Erscheinung zu, welche dem bisherigen Schmetterlingssein des jungen Mädchens eine andere Richtung gegeben. Zuerst war es der männliche Ernst, die ruhige Festigkeit seines Wesens im Contraste mit der Ruhelosigkeit und Oberflächlichkeit ihres Verlobten, die ihr imponirten, dann kam das Mitleid mit dem so zärtlichen Sohne einer kranken Mutter, darauf der Reiz des Geheimnißvollen, der Beide wie ein dunkler Schleier umhüllte. Das Leben auf dem Lande bringt die Menschen ohnedies viel rascher und näher zusammen, als das zersplitternde Stadtleben, wo man sich nur gleichsam in voller Toilette sieht.
Auf dem Lande zeigen sich die Naturen sehr bald offen und ungekünstelt, man kann sich wohl auf Stunden, aber nicht auf Tage und Wochen beherrschen und anders geben, als man ist. Niemand hält es aus, vom frühen Morgen bis zum späten Abend en grande tenue zu erscheinen; ein loses, bequemes Kleid braucht der äußere wie der innere Mensch. Melanie und der Gast ihres Vaters waren sehr viel aufeinander angewiesen, da Herr M. viel malte und schlief und ungern spazieren ging, und die Köhler alle ihre häuslichen Geschäfte mit großer Peinlichkeit zu vollbringen pflegte. Man las zusammen, man plauderte, zeichnete, unternahm weite Spaziergänge, und es war dem jungen Mädchen oft zu Muthe, als habe sie bis zur Stunde eine Brille getragen, die das köstliche helle Licht matt und farblos erscheinen ließ. Wie leer und nichtssagend erschienen ihr Alphons’ Briefe, wie schwer und immer schwerer wurde es ihr, sie zu beantworten, ohne von jenem Einen zu sprechen, dessen Sein und Wesen jetzt ihr äußeres und inneres Leben ausfüllte! Mit Entsetzen dachte sie an den Tag seiner Abreise, was dann? Wie eine Wüste lag die nächste Zukunft vor ihr. Wohin war die Freude auf Paris, auf das glänzende Leben, das ihr Alphons immer zu schildern sich bemühte? Eine tödtliche Angst nahm ihr oft den Athem, wenn sie weiter zu denken versuchte. Sie wagte nicht, sich die Empfindungen ihres Herzens klar zu machen, sie betete zu ihrer Mutter, sie schrieb zärtliche Briefe an ihren Verlobten, sie versicherte ihm, daß sie sich nach ihm sehne, und bat ihn dennoch flehentlich, den Termin ihrer Hochzeit noch bis zum nächsten Frühjahr hinauszuschieben. Hätte der Vater nur einmal gesagt, daß er sich schwer von ihr zu trennen vermöchte! Aber er hatte auf alle ihre Fragen nur die eine Antwort: „Ich freue mich, Dich in Paris als glückliche kleine Frau besuchen zu können, dann erst sind wir Alle glücklich.“
War es nicht seltsam, daß es dem Vater nie auffiel, wie unruhig und haltlos Alphons sich zeigte? Und wie oft hatte er doch gesagt: „Du mußt einst eine feste Hand über Dir fühlen, Wildfang, sonst geht Dein Glück in die Brüche!“ Feste Hand?! Zu weiß und weich und wohlgepflegt war die Hand ihres Verlobten, die konnte nicht sicher und fest durch’s Leben führen, die hielt nicht fest bis in’s Grab! Da war eine andere, feste, ernste, bräunliche Hand, Melanie hätte sich von ihr über den schwindelnden Steg eines Abgrundes leiten lassen, ohne zu zittern. Zuweilen meinte sie, es müsse irgend ein Wunder geschehen, das Alles rings umher veränderte; was aber jenes Wunder verändern sollte, gestand sie sich nur in ihren Träumen. O, diese Träume! Sie ängstigte sich oft, daß seine forschenden, tiefen Augen am Morgen auf den Grund ihrer Seele blicken und diese Träume erkennen möchten! Und er? Nun, er war ein Mann, in dem einen Augenblick sich rückhaltlos einer glühenden Leidenschaft hingebend, im nächsten voll bitterer Selbstvorwürfe sich zurückziehend. In einem jener Momente war es, wo er seine Abreise festsetzte und dem Schloßherrn anzeigte, daß die Gesundheit seiner Mutter die schleunigste Rückkehr nach Frankreich nothwendig mache und er mit ihr deshalb schon in drei Tagen D. zu verlassen gedenke. Er hatte dies Alles hastig in fremdem, fast hartem Tone gesprochen, kein Blick fiel dabei auf Melanie, die wenige Schritte von ihm in der Thür zur Terrasse saß. Die Rosen blühten, die Bäume wiegten ihre Wipfel im Abendsonnenschein. Das Mädchen schaute, von dem Sprechenden abgewendet, regungslos hinaus. Sie hörte wie im Traume ihren Vater Worte des Bedauerns reden, lebhaft den Plan seines Gastes bekämpfen und endlich sagen: „Bitte Du ihn, Melanie, gegen eine junge Dame darf er nicht ungalant sein; er muß wenigstens noch eine Woche zugeben, bis ich mit meinem Adam Lux fertig bin. Versuche Dein Heil, mein Kind, ich muß noch einmal nach H. In zwei Stunden bin ich wieder bei Euch!“
Der alte Herr küßte im Vorübergehen seine Tochter auf die Stirn und verließ das Zimmer. Wie zu Stein erstarrt, erschien die Gestalt des jungen Mädchens, kein Hauch bewegte die weißen Falten ihres Kleides, lässig lagen ihre Hände in ihrem Schooße. Das heimlich Gefürchtete war da, unabwendbar, er wollte sie verlassen, der Boden wich unter ihren Füßen, langsam näherte sich jetzt ein Schritt, sie wußte, wer da auf sie zukam, sie fürchtete seine Nähe und schloß zitternd die Augen.
„Sie werden mich nicht bitten, zu bleiben,“ sagte seine sympathische Stimme erregt, „ich könnte ja nicht ‚nein‘ sagen und dann wäre ich verloren, ehrlos in meinen und in Ihren Augen.“
„Werden wir uns wiedersehen?“ fragte sie, ohne sich zu ihm hinzuwenden.
„Nein, Melanie!“
„Sie haben Recht! Sie sind besser, als ich. Gehen Sie, und Gott segne Sie!“
„Ich gehe nicht eher, als bis ich Ihnen das Geheimniß meines und eines andern Lebens, das mir das theuerste auf Erden, anvertraut. Das ist das Einzige, was ich Ihnen zu Füßen legen darf, das Einzige, was Sie von mir annehmen dürfen. Keine Frau der Welt außer Ihnen wird dies Geheimniß erfahren. Wissen Sie, was solch’ Vertrauen bedeutet?“
[643] Das Mädchen streckte bebend, ohne aufzustehen, die Hand nach ihm aus. Da fühlte sie sich festgehalten, diese kleine, schlanke Hand, und mit glühenden Küssen bedeckt. Heiße, halblaute Worte hauchten seine Lippen auf die zuckenden Finger, ach! und Melanie wehrte ihnen nicht. Draußen blühten ja die Rosen zum letzten Mal! Dann zog Gaston ein Tabouret neben den Sessel der Geliebten und begann leise, leise zu reden, ohne ihre Hand zu lassen. Wie aus weiter Ferne klang seine Stimme; erzählte er ein Märchen oder eine todestraurige Wahrheit? Melanie lauschte mit heftig klopfendem Herzen.
„Es war ein junger, talentvoller Maler, Johann Jacob Hauer, aus Gau-Algesheim in Rheinhessen, der am 18. Juni 1793 in die Conciergerie zu Paris beschieden wurde, um das Portrait einer Frau zu skizziren, welche an einem der nächsten Tage hingerichtet werden sollte. Obgleich die Gefängnisse damals mit einer Menge von Unglücklichen angefüllt waren, die den Tod aus Henkershand erwarteten, so konnte der Künstler doch keinen Augenblick im Zweifel sein, wessen Portrait er malen sollte, – das Bild der schönen Charlotte Corday, der Mörderin Marat’s. Ganz Paris war ja wie im Fieber über dies Ereigniß, Charlottens Name schwebte auf allen Lippen, ihr Proceß beschäftigte alle Gemüther. Ein Franzose, Armand Rouer, hatte ihr Bild bereits vor dem Tribunal begonnen, man erzählte sich aber, daß er es nicht vollenden durfte, weil er eine rasende Leidenschaft für das wunderbare Mädchen gefaßt und Pläne zu ihrer Befreiung entworfen. Der Feuerkopf wurde sofort in sichern Verwahrsam gebracht. Einige meinten sogar, daß man ihn im Geheimen hingerichtet, Andere, daß man ihn in’s Ausland geschafft. Es war eben die Zeit der Gerüchte und des Schreckens, und Thatsache nur das spurlose Verschwinden Armand Rouer’s. Auch in das harmlose Stillleben des deutschen Malers, der mit Weib und Kind und einer jungen entfernten Verwandten, der reizenden Laura, die von den Malern nur die blonde Spanierin genannt ward, im Quartier Latin wohnte, war das Gerücht gedrungen. Er war heimwehkrank und wollte in wenigen Wochen in sein deutsches Vaterland heimkehren. Blos die schwere Krankheit seiner Frau, bei deren Schmerzenslager Laura die Rolle der barmherzigen Schwester übernommen, hatte ihn bis zur Stunde zurückgehalten. Sein Name als Maler hatte einen guten Klang, er lieferte tüchtige Portraits von warmer Farbe und idealer Auffassung; die Ruhe und Harmlosigkeit seines Wesens, sowie sein Verkehr mit dem Volke, schützten ihn und sein Haus vor jeder Beschuldigung und jedem Angriff. Johann Jacob Hauer verlor keinen Augenblick seine Besonnenheit, selbst als er die Treppe betrat, die zu dem Kerker Charlottens führte. Er hatte zudem ein Vorurtheil gegen ein Mädchen, dessen Hand Blut vergossen, und sah, seiner Natur nach, mehr mit Schauder und Widerwillen, als mit Theilnahme und Interesse, seiner Zusammenkunft mit der Verurtheilten entgegen. Nur wenige Stunden waren ihm zur Aufnahme des Bildes gegönnt, aber diese kurze Zeit genügte, ihn vollständig zu verwandeln. In einer Erregung ohne Gleichen kehrte er nach Haus zurück und aufgelöst in Thränen, warf er sich in die Arme seines Weibes mit den Worten: ‚Ich sah eine Heilige, die sich zur Himmelfahrt vorbereitet.‘ Die ganze Nacht blieb er auf, um jedes Wort aufzuzeichnen, das sie zu ihm geredet, Alles zu beschreiben, was er in ihrer Nähe gesehen, und am nächsten Morgen ging er schweren Herzens noch einmal in die Conciergerie, um in ihrer Nähe die letzte Hand an sein Bild zu legen.
Am Tage ihrer Hinrichtung war er so krank, daß er dem Arzte große Besorgniß einflößte, und erst lange Zeit nachher hatte er sein gewöhnliches Gleichgewicht in dem Maße wiedergefunden, daß er ausführlich von dem wunderbaren Mädchen zu reden vermochte. Er konnte nicht müde werden, den Eindruck zu schildern, den ihr Anblick auf ihn gemacht. ‚Ich erwartete eine fanatische Heroine zu sehen, als sich die Thür ihres Kerkers öffnete,‘ sagte er, ‚und fand ein sanftes, schönes Mädchen mit der Stimme eines Kindes. Wie ein Licht umfloß die edelste Weiblichkeit ihr ganzes Wesen, all ihre Bewegungen. Der gewöhnliche Ausdruck ihres Gesichts war eine fast verklärte Sanftmuth, nur wenn sie sprach und lebhaft wurde, flog jener hinreißende Zug kühner Entschlossenheit über ihre Stirn, den ich in ihrem Bilde festzuhalten versuchte. Man konnte nichts Süßeres hören, als den Ton ihrer Stimme, er drang mit unwiderstehlicher Gewalt zum Herzen. Sie erstickte eine Natter, von der sie glaubte, daß ihr Gift Tausenden den Tod gebracht.‘
‚Was haßtet Ihr an Marat?‘ hatte Johann Jacob Hauer sie gefragt.
‚Seine Verbrechen,‘ lautete ihre feste Antwort.
‚Was versteht Ihr unter seinen Verbrechen?‘
‚Die Verheerungen Frankreichs, die ich allein als sein Werk betrachte.‘
Als sie die Portraitskizze Hauer’s zuerst sah, bat sie: ‚Malt mich nicht so traurig, ich freue mich ja zu sterben!‘
‚Aber da steht eine unverwischbare düstere Falte auf Euerer Stirn, zwischen den Brauen, und ein unendlich trauriger Zug um den Mund; ich kann keins von beiden verwischen, sonst ist das Bild nicht Charlotte Corday.‘
‚So laßt sie stehen, es ist der Ausdruck des Schmerzes, daß ich nicht Allen helfen konnte, die der Todte und seine Anhänger hingeschlachtet. Es ist vielleicht besser, daß mein Bild so auf die Nachwelt komme, als mit dem Lächeln einer Siegerin. Man wird dann barmherziger über mich urtheilen.‘
Ihre Hände waren von überraschender Schönheit, die Finger lang und schlank, von großer Zartheit und den regelmäßigsten Formen. Niemand konnte bei ihrem Anschauen begreifen, daß sie sich so energisch um den Griff jenes Dolches geschlossen, der die Brust eines Mannes tödtlich durchbohrte. Die Farbe und Fülle ihres Haares war es besonders, was den deutschen Maler entzückte. Nie hatte er ein schöneres Aschblond gesehen. Als das Bild fast vollendet war, bat Charlotte Corday ihren neuen Freund, später eine kleine Copie desselben anzufertigen und ihrer Familie nach Caen zuzuschicken. Mit Thränen versprach der Maler die Erfüllung ihres letzten Wunsches.
‚Ich kann Euch nicht dafür belohnen; auch nicht, daß Ihr Charlotte Corday so menschlich einer richtenden Nachwelt überliefert,‘ sagte sie, ‚man hat mir Nichts gelassen. Mein großmüthiger Vertheidiger, Chaveau Lagarde, hat sogar übernehmen müssen, die Schulden zu bezahlen, die ich im Gefängniß gemacht. Und doch schenkte ich Keinem lieber ein Angedenken, als Euch. Was könnte ich Euch geben?!‘
‚Eine Locke von Euerem Haar!‘ rief Jacob Hauer feurig.
‚Habt Ihr ein Messer bei Euch? Man hat mir keine Waffen gelassen!‘ fragte sie.
Der Maler reichte ihr eine kleine Scheere, und sie schnitt eine lange Locke ab und gab sie ihm hin. – Kaum eine Stunde später nahm er von ihr Abschied.
Das Gerücht dieser Gabe verbreitete sich in ganz Paris, und am Tage nach ihrer Hinrichtung trat jener junge, feurige Deputirte aus Mainz, Adam Lux, in die Malerstube Jacob Hauer’s, um ihn zu bitten, das Haar der Märtyrerin an seine Lippen drücken zu dürfen. Er war es, von welchem der deutsche Maler die Schilderung jenes Zuges Charlottens zur Hinrichtung empfing. Adam Lux hatte den Karren an sich vorbeifahren sehen in der Straße St. Honoré und zugleich zum ersten Mal in jenes Antlitz geschaut, das für ihn fortan der Inbegriff alles Adels und aller Schönheit blieb. Trotz des Gewittersturmes, trotz Blitz und Donners, trotz des wüthenden Geheuls der tobenden Menge, der Schmähungen der entmenschten Weiber, trugen ihre Züge denselben Ausdruck der Sanftmuth, den das Bild Hauer’s wiedergab. Der Ausdruck edelster Festigkeit lag auf der Stirn, ruhige, heldenhafte Entschlossenheit. Die wunderbaren Augen, mit den langen Wimpern, blitzten feucht oder schauten in unbekannte Fernen hinaus, und von ihren Wangen war jener zarte, rosige Hauch nicht gewichen, der sie schmückte. Die nahende Hinrichtung, die Schrecken des Schaffots hatten ihren Muth nicht gebrochen. Adam Lux las seinen begeisterten Nachruf, jene Worte, die ihn kaum vier Monate später der Guillotine überlieferten, zuerst in der stillen Werkstatt des deutschen Malers vor.
Alle diese Dinge pflegte Jacob Hauer wiederholt zu erzählen und bei dieser Gelegenheit enthüllte er das wunderbare Bild auf der Staffelei, von dem er dem Convent eine Copie geliefert. Eine schwarze Schleife war daran befestigt und ein mit festen großen Zügen eigenhändig niedergeschriebener Vers Charlottens:
Nicht Nachruhm ist es, den mein Geist verlangt,
Nicht Lob ihn freut, vor Tadel ihm nicht bangt.
Stets unabhängig und stets Bürgerin,
Hab’ nur die Pflicht, nichts Anders ich im Sinn.
Auf, denkt auch Ihr blos, wie Ihr frei Euch kämpft.
Die Locke aber lag in einem Ebenholzkästchen auf schwarzem [644] Sammet und nur an besonderen Festtagen pflegte der Maler dasselbe zu öffnen und den Seinigen diese letzte Gabe der Todten zu zeigen. Er bewahrte es in einem der geheimsten Fächer seines Schreibtisches auf, dessen Schlüssel er immer bei sich trug.
Ich komme jetzt zu dem Theil meiner Geschichte, der mich selber nahe berührt. Jacob Hauer, der ruhige Deutsche, hatte, wie ich erzählte, eine schwärmerische Neigung für Charlotte Corday gefaßt, die er unverhohlen zur Schau trug und die ihn dazu brachte einen wahren Cultus zu treiben mit all jenen sichtbaren Andenken an diese wunderbare Frau. Er malte auch fortan kein Frauenportrait mehr, und das Bild der blonden Laura, das er kurz vor seinem Gange in die Conciergerie begonnen, wurde von ihm nach Charlottens Hinrichtung vernichtet. Das war ein furchtbarer Schmerz für jenes seltsame und leidenschaftliche Geschöpf, welches man die blonde Spanierin nannte. Nicht die Zerstörung ihres Portraits war es, die dies glühende Herz so tödtlich verwundete, nur daß eben seine Hand dieselbe vollbrachte. Hier trat nämlich wiederum eines jener zahllosen unlösbaren Räthsel des Frauenherzens zu Tage, an denen alle Weisheit zu Schanden wird. Dies wunderschöne, unter den Kunstgenossen des deutschen Malers hochgefeierte Mädchen, deren Erscheinung, wo sie sich zeigte, die lebhafteste Bewunderung hervorrief, war von einer maßlosen Leidenschaft ergriffen für den ruhigen ernsten Mann mit den blauen Augen, und hätte jeden Moment, wenn er es begehrt, Leben und Sein ihm zu Füßen geworfen. Tag für Tag brachen sich die Wogen dieses erregten Gefühls an dem Felsen seiner Ruhe. Jacob Hauer ahnte nichts von den Empfindungen dieses Herzens, von der verzehrenden Eifersucht, mit der dies bezaubernde Wesen jeden seiner Schritte bewachte. Gütig, von einer fast väterlichen Zärtlichkeit gegen sie, schürte er durch die unbefangenen Aeußerungen seiner Zuneigung die unheilvolle Flamme nur immer höher. Wäre er weniger träumerisch gewesen, er hätte ihr Lodern und Aufflackern erkennen müssen, so aber lebte er nur seiner Kunst und der schwermüthigen Sorge für seine kranke Frau, die sich noch immer nicht zu erholen vermochte. Auf diese Frau war Laura seltsamer Weise nie eifersüchtig gewesen; so lieblich und anmuthsvoll die Leidende auch erschien, so reizend sie in ihren gesunden Tagen gewesen, ihr fehlte jener dämonische Zug, welcher die Männer so unwiderstehlich hinreißt und festhält, und das mochte vielleicht Laura halb unbewußt empfunden haben. Maria war ihr keine Nebenbuhlerin, sie sah in ihr nur die Freundin, nicht das Weib des Geliebten. Sie pflegte die Kranke und ihr Töchterchen mit Aufopferung und hing an Beiden mit der zärtlichsten Zuneigung. Wie glücklich war das Mädchen, als der Maler sie eines Tages bat, ihm zu einem Bilde zu sitzen! So ungestört bei ihm sein in der kühlen stillen Malerstube, ihn anschauen zu dürfen, hin und wieder leise zu fragen und leise Antworten zu hören, immer und immer dem tiefen Blick seiner Augen zu begegnen, war entzückend. Eine sanfte Ruhe schien sich herabzusenken auf das stürmische Meer ihrer Empfindungen, süße Träume kamen über ihr Herz und wiegten es ein. Sie hatte keinen Wunsch mehr, als das Gebet: ‚Laß mich nur bei ihm, bis ich sterbe!‘ Da erschien, mitten in diesem Glück, die dämonische Gestalt des Mädchens von Caen auf dem Schauplatz mit ihrem unabsehbaren Gefolge von tausend Erregungen, Gedanken und Erinnerungen; da brachte Jacob Hauer das Portrait der Hingerichteten in’s Haus und ihre schöne blonde Locke, und die Qualen wahnsinnigster Eifersucht ergriffen diese leidenschaftlichste aller Frauenseelen. Sie verlor jedwede Besinnung. Der Haß gegen jene Frau, die das bis zur Stunde so unberührte Herz des geliebten Mannes so plötzlich gefangen genommen hatte, tobte wie ein Fieber durch ihre Adern. Zuerst wollte sie das Haus des Malers verlassen; sie ging auch wirklich zu Freunden aufs Land, in der Nähe von Versailles, von heimlicher Verzweiflung fortgetrieben, aber zwei Tage darauf, spät am Abend, unter strömendem Regen, klopfte sie wieder an seine Hausthür; sie konnte eben den Anblick seines Gesichts – den Ton seiner Stimme nicht entbehren. ‚Ich dachte, Marie und Dein Kind könnten mich brauchen – und da bin ich wieder,‘ sagte sie, und blieb fortan. Da saß sie nach wie vor und unterzog sich den Diensten einer barmherzigen Schwester, liebkoste das Kind, hörte in dumpfer Verzweiflung zu, wenn der geliebte Mann von Charlotte Corday erzählte, und richtete ihre Augen, jene schwarzen Augen, wie Murillo sie seiner Madonna gegeben, auf das Portrait des Mädchens von Caen und auf jene duftende blonde Locke. Wilde Gedanken und Wünsche zuckten dabei durch Kopf und Herz. Sie wollte das Bild den Flammen überliefern und jene Locke zerreißen und in alle Winde zerstreuen. Sie haßte sie ja noch mehr, als das Bild, denn sie war ja etwas Greifbares, ein wirklicher Theil von dem Körper ihrer Feindin. Das Bild hätte sie trotz alledem nimmer zu zerstören vermocht, seine Hand hatte es ja geschaffen, lieber würde sie sich selber getödtet haben.“
[657] „Und mit diesem bewegten Herzen, in diesem Auf- und Abschwanken der verschiedenartigsten Gefühle folgte die blonde Spanierin ihrem Beschützer nach Deutschland, mit diesen wild wogenden Empfindungen lebte sie fort und fort in seiner Nähe. Da geschah eines Tages etwas Seltsames. Ein Brief aus Frankreich kam in das entlegene Landstädtchen an den Maler Jacob Hauer. Es war ein Schreiben jenes vor Jahren spurlos verschwundenen französischen Malers Armand Rouer, der das Bild der Corday unvollendet gelassen und nun als sein Eigenthum die Locke Charlottens beanspruchte. Nur ihm, ihm allein dürfe diese Locke angehören, sie habe sie dem Maler ihres ersten Bildes zugedacht und gelobt, und dieser Maler sei er. Jacob Hauer habe sie ihm nur durch List und Trug geraubt mit jenen Schändlichen, die ihn selber damals der Geliebten entrissen und eingekerkert. Der schreibende nannte sich krank und gebrochen, unfähig, sich selbst sein gutes Recht zu verschaffen, aber er forderte dies vermeintliche Recht in den leidenschaftlichsten Ausdrücken und verlangte das goldene Haar der wunderbaren Frau, damit er ruhig sterben könne. Es war ein wilder und seltsamer Brief, der in dem stillen Malerhause große Erregung hervorrief, die größte aber doch in dem Herzen der blonden Spanierin. Eine entzückende Hoffnung gewann einen Augenblick in ihrer Seele Raum: Jacob Hauer werde sich von diesem Gegenstande ihrer maßlosen Eifersucht trennen. O, diese Locke nicht mehr in seinem Besitz zu wissen, nicht mehr denken zu müssen, daß er sie um seine Finger wand, daß seine Augen auf ihr ruhten, daß vielleicht seine Lippen sie berührten, welche Erlösung! Alle Schätze der Welt hätte sie hingeworfen dafür. Ach, ihre Träume wurden zerstört! Der deutsche Maler erklärte seinem Kunstgenossen, daß er sich nie im Leben von diesem seinem kostbarsten Besitzthum trennen werde. Von da an verlor sich Laura selbst, es ist eine traurige, wunderbare Geschichte. Ich werde sie kurz andeuten. Viele Monate später ließ sich ein junger französischer Sprachlehrer in dem kleinen deutschen Städtchen, dem Wohnsitz Hauer’s, nieder. Sein Name war Philipp Valeur.“
Hier zuckte Melanie plötzlich auf. „Um Gotteswillen, so hieß der Großoheim meines Verlobten!“ stammelte sie mit bleichen Lippen, die Augen starr auf den Erzähler gerichtet.
Gaston sprang entsetzt auf: „Es ist nicht möglich, nein, nein, nein, Melanie, es ist ein Irrthum!“ rief er außer sich.
„Erzählen Sie weiter, ich beschwöre Sie, es ist vielleicht unser Aller Glück. Ruhig, ruhig, theurer Freund!“ bat sie voll Angst, als sie seine Erregung sah, und umschloß mit ihren beiden Händen seine zuckenden Finger.
Wie ein Zauber wirkte diese Berührung. Der junge Maler nahm wieder zu den Füßen des Mädchens Platz, aber seine Stimme klang verändert und die Worte flogen hastig, als eile er zum Schlusse, über die Lippen, indem er weiter redete: „Der Franzose machte Aufsehen, er war gewandt und hübsch und die haute volée des Städtchens zog ihn in ihre Kreise. Man fand ihn angenehmer und von feineren Manieren, als alle andern jungen Männer, und jener alte, böse Zauber, den nun einmal das fremde auf den Deutschen übt, gab sich auch hier kund. Alles bemühte sich, Französisch zu lernen, um des Vergnügens und der Gunst theilhaftig zu werden, mit dem jungen Ausländer verkehren zu können. Er hatte auch Zutritt in der Familie Hauer gefunden, und bald schienen sich zwischen ihm und der schönen Laura innigere Beziehungen zu entwickeln. Monsieur Valeur zeigte sich hingerissen von der Schönheit des Mädchens, und sie, die bis dahin alle Männer durch ihre abweisende Kälte zur Verzweiflung gebracht, war ihm gegenüber seltsam verwandelt. Wie hätte Jemand ahnen können, welcher Aeußerung des Fremden dieses vertrauliche Verhältniß seinen Ursprung verdankte? Monsieur Valeur befand sich bei seinem dritten Besuche in dem Hause des Malers zufällig mit dem jungen Mädchen eine kurze Zeit allein im Zimmer. Man plauderte über das oft und gern besprochene Thema von der Liebe und dem Haß in halb scherzender Weise, als Philipp Valeur plötzlich zwischen den Zähnen hervorstieß: ,Aber ich hasse ein Weib, glühender ward nie eine Frau auf Erden gehaßt, und nur Sie sollen ihren Namen kennen! Sie heißt Charlotte Corday.’ ,Ihr könnt sie nicht wahnsinniger hassen, als ich,’ hatte da das Mädchen geantwortet, und die Hände Beider sanken plötzlich ineinander. Nicht die Liebe allein, auch der Haß vereint, und oft sind seine Bande fester und unlösbarer, als jene.
Ich weiß nicht, wie es dem gewandten Heuchler allmählich gelang, das leidenschaftliche Geschöpf so zu wandeln, daß ihr der Gedanke ein süßer Trost wurde, jenem Manne, den sie bis zur Stunde ausschließlich geliebt, ein Leid zuzufügen, indem sie sich rasch und für ewig von ihm löste; was Valeur gesagt und vorgespiegelt, zu welcher Höhe er ihr erregbares Gemüth exaltirt, weiß ich nicht, genug, sie verlobte sich plötzlich mit dem Fremden und erklärte, mit ihm nach Paris zurückkehren zu wollen. Die Liebe hat ja ihre Stadien, in denen sie dem Hasse so ähnlich sieht, wie eine Zwillingsschwester der andern. Ob Laura vielleicht glaubte, durch solche Trennung würde das Herz des Geliebten ihr zugewendet werden, er würde plötzlich erwachen und die Arme nach ihr ausstrecken, [658] wer kann es sagen?! Es liegt ja in der menschlichen Natur, das erst begehrenswerth zu finden, was uns entrissen oder unerreichbar geworden ist. Nur oberflächlichen Beobachtern erschien sie als eine glückliche Braut, die Augen des Malers hingen oft mit dem Ausdruck banger Sorge an dem wunderschönen Antlitz, auf dessen Stirn ein fremder, seltsamer Zug stand und dessen Lippen oft wie im Weinen zuckten, wenn der Mund übermüthige Worte sprach und die Augen dazu glühten und funkelten. Aber er redete nie mit ihr über ihren Verlobten und über ihre Zukunft, Laura hatte das Alles gleich im Anfang hart und stolz abgewiesen, und so schwieg er und ließ sie ihren selbstgewählten Weg gehen. Sein persönlicher, ihm selbst unerklärbarer Widerwille gegen den Franzosen mußte bekämpft werden, und er that mit männlichem Ernst sein Bestes, eine Abneigung zu überwinden, die ihn schon beim ersten Blick wie ein Schauer erfaßt hatte. Die Papiere des jungen Mannes wiesen eine gesicherte Existenz nach; es blieb Jacob Hauer im Grunde nichts mehr übrig, als in seinem Hause die Hochzeit auszurichten, die auf den besonderen Wunsch der Braut ganz still gefeiert wurde.
Zum ersten Mal fühlte sich nicht nur der Künstler, auch der Mann lebhaft berührt von dem fremden, hinreißenden Ausdruck ihrer Schönheit, als sie in dem Kranz von Orangenblüthen und dem schlichten, weißen Kleide nach dem Act der Trauung auf ihn zuging. Unwillkürlich trat er zurück, um ihr einen Blick der Bewunderung zuzuwerfen, wie ihn die Augen des Bräutigams noch nicht für sie gehabt. Sie aber reichte ihm nur zitternd die Hand und senkte den Kopf, und da drückte er leise seine Lippen auf ihre Stirn. Er sah, wie sie zusammenzuckte, in demselben Augenblick aber legte ihr Gatte ihren Arm in den seinen und führte sie hinweg.
Laura schickte sich zur Reise an; von allen Räumen des kleinen Hauses nahm sie Abschied. Sie bat, man möge sie allein lassen auf dieser melancholischen Wanderung. Der Reisewagen fuhr vor, noch war sie nicht zurückgekehrt, und die kleine Margaretha lief, sie zu suchen. An der Hand des Kindes trat sie wenige Minuten darauf im einfachen Reiseanzug herein. Aber der Schleier war schon herabgelassen von ihrem Hute und sie stürzte nur noch einmal in wilder Aufregung der Kranken zu Füßen, preßte das Kind an sich und wurde fast bewußtlos in den Wagen getragen. Den Mann, den sie liebte, berührte sie nicht mehr mit der Spitze ihres Fingers. Als der Wagen davonrollte, durchschnitt ein herzzerreißender Weheruf die Luft. Das war der letzte Laut, den Jacob Hauer von den Lippen der blonden Spanierin gehört.
Laura war fort und mit ihr die blonde Locke der Charlotte Corday. Viel, viel später erst, als an jenem Hochzeitstage, entdeckte der deutsche Maler den Raub, den man an ihm begangen, und ahnte den Zusammenhang aus jenen verworrenen Briefen, welche Laura nach ihrer Flucht schrieb und die bald genug ganz aufhörten.
Die Spur der unglücklichen Frau ging verloren. Die gänzliche Aufklärung der seltsamen That kam erst viel später. Philipp Valeur war ein naher Verwandter Rouer’s und hatte unter dem Versprechen der bedeutenden Erbschaft der kranken Unglücklichen es übernommen, um jeden Preis die Locke der Charlotte Corday an sich zu bringen, von der ihm das Gerücht erzählt, daß sie sich in dem Besitz jenes deutschen Malers befinde, der damals sein Nachfolger geworden. Der junge Mann fand die blonde Spanierin reizend genug, eine Zeit lang mit ihr zu spielen, entdeckte bald das wunderliche Geheimniß ihres Herzens und gewann eine willigere Helfershelferin für seinen Zweck, als er anfangs vermuthete. Die ,Komödie’ einer Trauung machte ihm nicht viel Sorge; nach kaum einem Jahr qualvoller Ehe trennte er sich von seiner Frau. Sie verließ Paris und wendete sich nach dem südlichen Frankreich. Ein alter Geistlicher nahm sich ihrer an und verschaffte ihr die Arbeit einer Näherin. So ernährte sie sich und ihr zwei Monate altes Töchterchen. Die Reue über ihre That zehrte an ihrem Leben. Sie schrieb viele Briefe nach Deutschland, keiner erreichte den Ort seiner Bestimmung, wenigstens erhielt sie nie Antwort.
Im Jahre 1822 starb Jacob Hauer, nachdem ihm sein Weib lange vorher im Tode vorangegangen. Ein Zeichen der Versöhnung ließ er noch zu der Unglücklichen gelangen – allein es hatte einen langen Weg nehmen müssen, ehe es in die abgelegene Provinz und wirklich in die Hände der einst so schönen Laura gelangte, es war das Bild der Charlotte Corday. Die blonde Spanierin sah jedoch diese Gabe nur als eine Strafe an, und die Erschütterung ihres Herzens bei dem Anblick ihrer Feindin war so groß, daß sie wenige Wochen später starb. Vorher hatte sie noch die Freude, ihr Kind, die schöne Jacobine, an einen jungen talentvollen Maler verheirathet zu sehen. Das Bild des Mädchens von Caen ging in seinen Besitz über. Ihrer Tochter aber nahm sie, indem sie ihr die Geschichte ihres Lebens erzählte, das Versprechen ab, um ihrer Seelenruhe willen nicht eher zu rasten, als bis sie die Locke der Corday den Hinterbliebenen Jacob Hauers wieder zugestellt. Ihr Schwiegersohn entwarf in jenen Tagen ein Portrait von ihr, sie starb vor der Vollendung und zwei Monate später verbrannte dies Bild in der Malerstube auf eine räthselhafte Weise. Später malte der junge Künstler seine Frau – an demselben Tage starb ihm plötzlich sein ältester Knabe. Viele, viele Jahre später malte der Sohn dieses Mannes die geliebte Mutter – drei Tage darauf starb der Vater und ein jüngstgeborenes Töchterchen. Seitdem wurde nie mehr ein Frauenportrait gemalt von der Hand Gaston Dumont’s, denn ich bin der Enkel jener Unglücklichen, die man die blonde Spanierin nannte, und meine arme Mutter findet weder Ruhe noch Rast auf Erden, bis sie die Schuld der Todten gesühnt und die Locke der Familie jenes deutschen Malers zurückgegeben hat.“
„Ich weiß, wo die Locke ist,“ stammelte jetzt Melanie, „und durch meine Hand werden Sie Ihrer Mutter den Frieden bringen. Alphons ist in dem Besitz der Locke, er trägt sie in einem schwarzen verschlossenen Portefeuille bei sich. Er wird sie mir geben, o, wie glücklich bin ich!“
Ach, es kam Alles ganz, ganz anders, als das junge Mädchen dachte, wie eben so oft die Bilder unserer Gedanken und Hoffnungen, die wir auf die Staffelei des Lebens stellen, unter dem derben corrigirenden Pinsel des Schicksals zu grauen trübseligen Landschaften werden. Gaston Dumont weigerte sich, auf Umwegen und durch die Vermittlung des geliebten Mädchens die verhängnißvolle Locke der Charlotte Corday wieder zu erlangen; er selbst wollte in männlicher Offenheit dem Großneffen Valeur’s entgegen treten und sein Recht fordern. Die Aussicht auf die Möglichkeit, das geraubte Kleinod wiederzuerlangen, stärkte wunderbar die Kräfte von Gaston’s Mutter, sie entschloß sich zur beschleunigten Reise; schon am andern Tage nach seiner Erzählung nahm er Abschied von der Geliebten. Es war ein seltsames Scheiden, voll wunderlicher phantastischer Hoffnungen, unklarer, gefährlicher Träume. Obgleich nie das verhängnißvolle Wort zwischen Beiden ausgesprochen worden, schwebte es doch in der Luft, in jedem Hauche der Lippen, in jedem Blick der Augen. Fest lagen die Hände noch einmal ineinander; sagte der kurze heiße Druck nicht: „Auf Wiedersehen?“
„Und wenn Alphons sich weigern sollte?“ fragte das Mädchen noch einmal leise.
Ein düsterer Schatten flog über Gaston’s Gesicht, er antwortete nicht.
„Dann denken Sie meiner, Gaston, und daß ich es mir und Gott gelobt, das Kleinod in die Hände Ihrer Mutter zurück zu bringen.“ Dann schieden sie.
Der alte Herr begleitete seinen Liebling noch bis D. und verabredete mit ihm eine Zusammenkunft im nächsten Frühjahre im grauen Schlosse. „Dann kommt unsere kleine Frau Melanie aus Paris auch herüber,“ sagte er heiter und küßte sein Kind auf die blasse Wange, „und Ihre Mama muß bei uns wohnen und nicht in D. Hier wird sie gewiß gesund! Und wir lernen endlich das verteufelte Fleisch malen. Ich werde den ganzen Winter lauter Evas auf die Leinewand zaubern, zum Entsetzen der guten Köhler. Herausbekommen muß ich Euer Kunststück!“
Während der Wagen davonrollte, lag Melanie, das junge Herz bedrückt von tausend widerstreitenden Empfindungen und einer Angst, die ihr fast die Besinnung raubte, auf den Knieen vor ihrem Bette und erstickte ihr Schluchzen in den Kissen. O wie leer war es überall geworden, leer in der Luft, im Garten, im Zimmer, jeder Platz leer und öde! Und wie viel Zeit lag vor ihr, so entsetzlich viel Zeit und sie besann sich auf keinerlei Thätigkeit. Was nun anfangen, wer sollte ihr helfen?! Alphons?! Schaudernd verhüllte sie ihr Gesicht. Ach, das war jene Liebe, von der ihre Erzieherin ihr geredet am Abend ihres Verlobungstages, und die Prüfung und die bittere Noth waren auch da, Fräulein Köhler aber beendete eben die große Entsagungsscene im [659] fünften Capitel ihres zweiten Bandes und dachte: „Es ist doch seltsam, daß man so wenige Tragödien und herzbrechende Geschichten in nächster Nähe erlebt. Wie geht Alles so alltäglich her, heut’ zu Tage! Konnte nun zum Beispiel meine Schülerin sich nicht ein klein Wenig – in allen Ehren natürlich – aber doch mit einigen Kämpfen und Thränen, für den jungen Maler interessirt haben? Welch’ pikante Würze des ewigen Einerlei hätte solche Episode gegeben und welch’ Studium für mich! Die Romantik ist ausgestorben, das ist mein nie verhallender Seufzer. Aber freilich, ein Maler, der aussieht wie ein Assessor, ein Maler ohne lange Locken und mittelalterliches Barett?! Melanie hatte Recht!“
Nach einiger Zeit lief ein langer Brief von Alphons ein, an seinen Schwiegervater, für Melanie lag kein Blättchen bei. Der alte Herr gerieth nach Lesung des Schreibens in die lebhafteste Unruhe, die er auf das Aengstlichste zu verbergen sich mühte. Er ließ sofort die Erzieherin seiner Tochter zu sich bitten und berieth mit ihr, wie der Inhalt des Briefes auf die schonendste Weise dem jungen Mädchen beizubringen sei. Es handelte sich nämlich um nichts Geringeres, als um eine Forderung von Alphons Dacier für Gaston Dumont, und der Maler hatte das Duell zurückgewiesen bis – nach dem Tode seiner Mutter, die schwer erkrankt daniederlag. Alphons nannte ihn nun höhnend einen Feigling und verlangte von seinem Schwiegervater, daß für alle Zeiten der Name Gaston Dumont in seinem Hause ein vergessener sei und bleibe.
„Weshalb die Beiden so hart aneinander gerathen, sei ein Familiengeheimniß, schreibt Alphons, er spricht sich darüber etwas mystisch aus,“ fügte der alte Herr hinzu. „In jedem Falle bleibt das Zurückziehen Gaston’s eine unedle That. Ich hätte dergleichen nimmer von ihm erwartet.“
„Aber seine Mutter hat doch Nichts, als eben ihn,“ wandte die Köhler ein, „es hieße ja die Mutter tödten, wenn er das Duell annähme!“
„Ach was, das sind Weiberbegriffe! Es giebt gewisse Gesetze der Ehre, die der Mann in keinem Falle umgehen darf. Und man stirbt ja nicht gleich in jedem Duell. Weshalb sollten auch die Beiden so blutdürstig auf einander sein, dazu ist gar kein Grund denkbar. Sie konnten sich von jeher nicht leiden – das war Alles. Mit ein paar tüchtigen Schrammen wäre Alles abgethan gewesen! Bringen Sie nun die Sache dem Kinde bei, so daß Melanie sich um Keinen der Beiden zu sehr betrübt; ich kann nun einmal durchaus keine traurigen Geschichten mit ihr besprechen!“
Die Köhler war in der größten Erregung. Mit zitternden Knieen eilte sie zu ihrer Schülerin in den Garten hinab. Endlich, endlich ein wirkliches Ereigniß, ein erfrischender Hauch von Romantik in der Wüste des Alltagslebens, eine wirkliche Duellabsicht! Schade nur, daß die beiden Männer nicht hier, auf bekanntem Terrain aneinander geriethen, daß man hätte vermitteln, trösten, beruhigen und vielleicht gar verbinden können! Es war hier noch nie das kleinste Unglück geschehen, kaum einmal ein Schnitt in den Finger! Schade freilich noch mehr, daß in der Duellgeschichte Alles aus war, ehe sie noch begonnen! Das Fräulein sah deshalb auch gar keinen Grund ein, mit dem jungen Mädchen so besonders vorsichtig umzugehen. Es schadete diesem allerliebsten, gesunden, prosaischen Geschöpfchen durchaus nichts, einmal der Möglichkeit eines romantischen Unglücks in die Augen zu schauen. Ohne Einleitung wollte sie mit ihr reden, Melanie war nie schreckhaft gewesen. Sie trat in die Veranda, wo sie ihre Schülerin am andern Ende vor ihrem kleinen Zeichentische bemerkte. Das Mädchen saß in einem leichten blaßrothen Kleide, dessen Falten die reizende Gestalt lose umflossen, gedankenvoll da, spielte mit dem Stift und schaute in die grüne Nacht des Parks hinein. Die Profillinie ihres Gesichts war der Beschauerin zugekehrt. Es lag eine solche Anmuth und Frische auf diesem lebenden Bilde, daß das Fräulein einen Augenblick in Bewunderung versank. Das schöne Haar war herabgeglitten, eine der schweren Flechten berührte die Schultern.
„Sie ist ganz wie gemacht, Etwas zu erleben,“ murmelte die Erzieherin, „und heirathet ohne Widerstand und ohne Liebe eine Art von Vetter mit so und so viel tausend Franken Einkünften! Kann man sich etwas Prosaischeres erdenken?“
Nach dieser kleinen Betrachtung trat sie näher, legte ihre Hand Melanie auf die Schulter und sagte in aufgeregtem Ton: „Eine wunderbare Nachricht aus Paris, Melanie – ein Duell – Alphons –“
Sie wurde unterbrochen durch einen Aufschrei des Mädchens. Mit starren Augen schaute Melanie einen Moment in das Gesicht der erschreckten Gouvernante; dann überzog eine Todtenblässe ihr Gesicht und sie sank, zum ersten Mal in ihrem Leben, ohnmächtig zusammen.
„Großer Gott, wie Du mich entsetzt hast, Kind!“ sagte die Köhler eine Stunde später, als sie neben ihrer mattlächelnden Schülerin im Sopha des Gartensalons saß. „Konntest Du nicht warten, bis ich Dir Alles erzählt? Würde ich so zu Dir gesprochen haben, wenn Alphons verwundet gewesen wäre? kleine Voreilige! Nun weißt Du Alles und siehst, daß Alphons gesund und munter, und von Gaston sprechen wir nicht mehr! Laß nur dem Vater nichts von Deiner Ohnmacht merken. Im Grunde bin ich doch stolz, daß meine Schülerin – eine wirkliche, ordentliche Ohnmacht gehabt hat. Es ist dies ein Zeichen, daß –“
„Liebe Köhler, ich möchte gern eine Stunde allein in meinem Zimmer ausruhen,“ bat Melanie, „aber ich fürchte, daß ich noch nicht ohne Unterstützung dorthin gehen kann!“
„Komm, ich führe Dich, mein theures Kind. Sei nur ruhig, in wenigen Wochen ist Alphons bei Dir, um sich nie wieder von Dir zu trennen.“ –
Melanie blieb allein, allein mit ihren marternden Gedanken, mit tausend Fragen und der brennenden Sehnsucht nach jenem Einen, dessen sie nicht mehr gedenken sollte, denn Alphons hatte ihn einen Feigling genannt.
Als Melanie einige Stunden später den Brief von Alphons gelesen, schloß sie sich ein und schrieb an ihren Verlobten. Was sie ihm sagte, erfuhren weder Vater noch Erzieherin, aber es mochten wohl aufregende Dinge gewesen sein, von denen sie zu ihm geredet, denn die Wangen des Mädchens glühten wie im Fieber und die Augen zeigten Spuren von Thränen.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und nun entspann sich ein so lebhafter Briefwechsel zwischen beiden Verlobten, daß selbst der alte Herr bedenklich den Kopf dazu schüttelte und eines Tages bemerkte: „Kind, Du treibst es zu arg, Du hältst den Jungen von seinen Geschäften ab; er hat vor der Hochzeit und Eurer Brautreise noch Manches abzuwickeln, das vergiß nicht. Frauen kennen nun einmal keine Rücksicht für die nothwendige geschäftliche Thätigkeit der Männer! In drei Wochen siehst Du ihn ja!“
„Es wird von seinem nächsten Briefe abhängen, ob ich ihn sehe, um ihn zu heirathen, oder ob ich ihn nie wieder sehe, Vater,“ sagte das junge Mädchen fest.
Der alte Herr ließ vor Schreck seinen Pinsel fallen. „Du träumst wohl, Melanie, oder Du hast Fieber; um Gotteswillen, Kind, was fällt Dir denn ein?“
„Laß das jetzt, lieber Papa, ich gebe Dir mein Wort, Du sollst Alles später erfahren, und ich bin auch nicht unvernünftig oder schlecht, sei nur noch eine kleine Weile geduldig!“
Ihre thränenvollen Augen, die sich jetzt zu dem Vater erhoben, verfehlten ihre Wirkung nicht.
„Sei nur um Gotteswillen nicht traurig, mein Herzenskind, Du weißt, das ist mir unerträglich! Folge Deinem Herzen, ich werde Dich nie zwingen, unglücklich zu werden; aber denke nicht an Dich allein, denke auch an das Versprechen, das Du Deiner todten Mutter gegeben. Das sind gar ernste Dinge, mein Kind, woran ein Begrabener mahnt!“
Es kam kein Brief von Alphons, wohl aber kam er selber. Stand doch eine reiche, reizende Braut einer „albernen Kinderei“ wegen auf dem Spiele. Wer hätte aber gedacht, daß in diesem Kinderkopf so viel Festigkeit stecken würde! Die Auslieferung der Locke in ihre kleine Hand – oder die Verweigerung dieser Hand, das war es, worunter Alphons wählen sollte. Nach allerlei verschiedenen Ausflüchten, Winkelzügen, nach Ausbrüchen von Zorn und Unmuth, nach den heftigsten Schmähungen gegen den feigen und zugleich dreisten Menschen, der sich in das Haus und vielleicht auch Herz der Braut geschlichen, gab er endlich nach. Er erschien selber und gelobte, die Locke auszuliefern unter der Bedingung, daß der Hochzeitstag in einem Monat und mit allem Glanz gefeiert werde. Melanie, bleich, sagte es wie im Traume zu und empfing jenes kleine schwarze Portefeuille, das einst ihre [660] eifersüchtige Neugier erregt. Der silberne Schlüssel war daran befestigt. Sie schloß es auf. Da lag der unheilvolle Gegenstand so vieler Kümmernisse, das schone blonde Haar des Mädchens von Caen. Lange, lange schaute Melanie darauf hin, die Gestalt der wunderbaren Frau selber, wie sie Gaston beschrieben, schwebte schattenhaft vorüber. Der Kopf des blonden Malers tauchte auf, neben ihm ein finsteres, wildes Antlitz; es war Armand Rouer, wie sie ihn sich dachte; der schlangengewandte Philipp Valeur, mit den blitzenden Augen und dem Spottlächeln auf den Lippen, wie sie es in dem Zimmer von Alphons in Paris gesehen, erschien; neben ihm das reizendste Frauenbild, die blonde Spanierin, mit den Augen einer Murillo’schen Madonna, und endlich jene bleiche, wunderschöne Frau mit dem tiefen Gram in allen Zügen und dem Licht unendlicher Liebe in den Augen, wenn sie auf den Sohn blickte, und dieser Sohn selber, Gaston, den sie jetzt einen Feigling nannten, weil er das Leben seiner Mutter höher hielt, als seine Ehre bei den Menschen.
Zuletzt löste sich Alles, verschwamm Alles in einem Strom von heißen Thränen. Sie tropften nieder auf die blonde Locke der Charlotte Corday. An demselben Abend ging in kleines Paket nach Paris, von folgenden Zeilen begleitet:
„Die Kraft einer schwachen Frauenhand sollte doch weiter reichen, als der trotzige Wille eines Mannes; hier ist die unselige Locke. Möge sie nun Frieden bringen und selbst still und friedlich ruhen in der Nähe dessen, dem man sie einst raubte! O Gaston, warum hat Alles so kommen müssen! Wir werden uns nie wieder sehen! Nie! Ich habe das Alphons versprochen. Er hat jetzt einen Grund, uns zu trennen: Sie haben sich ja geweigert, sich mit ihm zu schlagen, nachdem er Sie mit Worten beschimpft und Sie ihn durch Ihre Erwiderung tödtlich beleidigt. Mein armer Kopf ist mir so verwirrt, ich kann alle diese wunderlichen Gesetze, alle diese trostlosen Conflicte mit meinem Mädchenverstande mir nicht zurechtlegen. Ich bin so fern von allem Verwirrten und Traurigen aufgewachsen. Man hat mich allezeit behütet und geschützt, Alles war so friedensvoll und die Geschichten, die mir die gute Köhler erzählte, und die Bücher, die wir zusammen lasen, waren nur dann und wann traurig, aber am Schlusse kam immer wieder Sonnenschein. Jetzt ist mir, als sei Alles dunkel, als könne es nie wieder hell und blau werden über mir. Wunderliche Pläne sind durch meinen Kopf gegangen in diesen letzten Wochen, ich stand oft vor dem Atelier meines guten Vaters, die Hand auf der Thürklinke, und wollte zu ihm hineingehen, um ihn zu bitten – doch wozu Ihnen sagen, was ich bitten wollte? Ich ging wieder zurück; war’s aus Feigheit, oder weil ich hoffte, es solle für uns Alle ein bequemes Wunder geschehen ? Ach, es war ja so recht die Zeit dazu! Aber es geschah nichts! Die Todte kam nicht wieder und löste meine Hand aus der meines Verlobten. Ich darf Ihnen nicht, wie ich wollte, jene Last tragen helfen, die ich jetzt auf Ihren Schultern sehe, jene Last, die Sie um einer Mutter willen auf sich genommen. O Gaston, ich weiß, daß diese Last Sie schwer drückt, und ich werde, mag kommen was da wolle, die Hände dankend falten an jenem Tage, wo Sie die Bürde von sich werfen dürfen. Jeden Vorwurf kann ein Mann vom andern tragen, nur den einen nicht, welchen Alphons jetzt mit Ihrem Namen verbindet. Bis zu Ihrem Erlösungstage werde ich bei Ihnen sein mit meinem Gebet und meinen Thränen und mit tausend Gedanken.
In wenigen Wochen bin ich die Frau eines Andern, aber die gestorbene Mutter will es so, und nur durch das Opfer meines ganzen Selbst habe ich die Locke der Charlotte Corday erkauft. Sorgen Sie sich nicht um mich, ich werde ihm und mir kein Leides thun; der gute Vater und meine treue Pflegerin sollen nicht über mich erschrecken. Ich werde nicht den Verstand verlieren und von Alphons weggehen, ich will Alles thun, was er von mir verlangt, und ihn nicht elend machen, aber ich werde leben, wie jene armen Vögel leben, denen man in ihrem Käfig die Augen ausgestochen. Ich sehe kein Blau mehr und kein Gold und keine Farben, ich hatte sie früher nur unbewußt gesehen, bis mich Einer wirklich und wahrhaftig sehen lehrte. Jetzt ist Alles vorüber! Gottes Segen über Sie und Ihre Mutter! Vergessen Sie mich nicht! Nie habe ich begriffen, wie man sagen konnte: ,Vergiß mich!’ Das ist ja wie Selbstmord. Also vergiß mich nicht, wie ich Deiner nicht vergessen werde, so lange ich athme. Melanie.“
Seit einer Stunde war Melanie M. die Frau des Alphons Dacier. Man saß beim Hochzeitsmahle. In der Nacht noch wollte das junge Paar nach Italien abreisen. Eine glänzende Gesellschaft war versammelt. Der Tag war trübe, in der Nacht vorber hatte ein unbarmherziger Wind die letzten bunten Blätter von den Bäumen gerissen, der Park sah kahl und melancholisch aus. Dagegen prangten die Zimmer des grauen Herrenhauses in der üppigsten Blumenfülle, und die Riesenbouquets auf den Tafeln, die man aus Paris hatte kommen lassen, entzückten jedes Auge. Das Diner war fein und luxuriös, Tafelservice und Arrangement glänzend, die Bedienung vortrefflich, die Weine vorzüglich, nur die Stimmung war eine seltsam gedrückte. Herr M. kämpfte sichtlich mit seiner Rührung, der Abschied von seinem einzigen Kinde ging ihm an’s Herz; er hatte sogar seit zwei Tagen sein Atelier nicht betreten; die Köhler erschien unruhig und aufgeregt; die übrigen Gäste hatten jene Hochzeitsstimmung, welche wie eine schwere Garnitur an den hochzeitlichen Gewändern hängt, noch nicht abzustreifen vermocht. Die jungen Mädchen flüsterten mit einander und warfen verwunderte Blicke auf die todesblasse Braut. Melanie’s Toilette war tadellos und erregte den heimlichen Neid aller Frauen; man sah selten ein Kleid von so schönen points d'Alençon über einer Robe von weißem Taffet, und einen so geschmackvoll gefaßten und reichen Smaragdschmuck, wie ihn die junge Frau trug. Die zierlichen Reisekoffer standen gepackt, und im Ankleidezimmer Melanie’s lagen der Reiseanzug von grauer Seide und der weite Mantel von dunkelrothem, weichem Flanell; Alles war aus Paris, vom Hütchen aus der Rue Rivoli bis zu den grauen Stiefelchen aus dem Palais royal und den Handschuhen von Jouvin.
Es dunkelte bereits, die Kronleuchter und zahllose Kerzen brannten, als die Köhler hinaufschlüpfte, um ihrer Schülerin beim Umkleiden zum letzten Mal behülflich zu sein. Das Fräulein war tief ergriffen. Sie hing wirklich mit ganzer Seele an dem schönen Geschöpf, das sie seit fünfzehn Jahren bemuttert hatte. Ehe Melanie heraufkam, schrieb die Dichterin unter strömenden Thränen noch folgende Verse nieder:
„Kirchenglocken, Kirchenglocken,
Myrthenzweige in den Locken,
Abschiedsthränen, leises Zagen,
Liebessehnen, Reisewagen,
Kofferträger, Schienengleise,
Nach Italien geht die Reise.
Land, wo die Citronen blüh’n!“
In diesem Augenblick trat die junge Frau in’s Zimmer. „Wissen Sie nicht, Liebste, wer vor einer Viertelstunde Alphons abrufen ließ?“ fragte sie aufgeregt.
„Nein!“ lautete die in erstauntem Tone gegebene Antwort. „Ich sah ihn gar nicht fortgehen und war wohl schon hier oben.“
„Wir wollen Jacques, seinen Diener, rufen lassen; er weiß sicher, wo sein Herr geblieben.“
„Aengstige Dich nur nicht gleich, Kind, Du siehst ohnehin so blaß und traurig aus. Es würde Alphons gewiß viel Freude gemacht haben, wenn Du Dich etwas zusammengenommen hättest. Du siehst uns ja schon im Winter wieder. Dein Herr und Gebieter war wirklich in etwas gereizter Stimmung. Ein einziges Lächeln –“
Ein Mädchen war auf das Klingeln der Gouvernante eingetreten. Man schickte sie hinunter, um den französischen Diener des Neuvermählten herbeizurufen.
[686] Unruhig schritt die junge Frau auf und ab, dann blieb sie stehen und preßte ihre Stirn an die Scheiben. Unten im Park war schon Alles in tiefe Finsterniß gehüllt.
„Nicht wahr, Du liebst ihn, Kind?“ rief das Fräulein voll heller Freude. „In solche Unruhe geräth man nur um einen Mann, den man liebt. Gott sei gelobt! Dein Herz ist erwacht!“
Melanie antwortete nicht, aber sie wendete sich langsam zu der treuen Pflegerin ihrer Kindheit um, schlang die Arme um ihren Nacken und brach in ein heftiges Weinen aus. „O, wie das Herz mir schwer ist, so schwer, als ob ich ein Verbrechen verübt!“ rief sie.
Mit sanften Worten redete ihr Ludmilla Köhler zu. Sie küßte die Thränen von den schönen Wangen und bat Melanie wiederholt, an Paris und ihr lustiges Leben dort zu denken und an tausend Dinge, die der Seele der jungen Frau jetzt so fern lagen, wie man ein Kind tröstet, das um ein zerbrochenes Spielzeug schluchzt. Aber es wollte eben nichts helfen, und erst als der Schritt des Dieners hörbar wurde, richtete sich die junge Frau hastig auf und trocknete ihre Thränen. Es war Jacques, der ein wenig verstört eintrat und berichtete, wie sein Herr in der Begleitung eines Fremden in sein Zimmer gegangen; dort habe er ihn laut und heftig reden hören, und dann seien Beide in den Park hinabgegangen, wohin sein Herr ihm aber zu folgen verboten.
[687] „Mein Gott, wie romantisch!“ sagte die Köhler. „Was ist daraus zu machen?“
„Ich will ihn suchen!“ sagte die junge Frau plötzlich fest, „Jacques mag mitgehen!“
„Gütiger Himmel, Kind, Du träumst! Es regnet und Du bist im Brautanzuge. Laß Jacques allein gehen oder kleide Dich wenigstens erst um. Es wird ein Scherz sein, eine Verkleidung, eine verzweifelnde Geliebte, die in Männerkleidung zu ihm kommt,“ flüsterte sie; „man kennt das Leben der jungen Elegants in Paris.“
„Warten Sie hier auf mich, ich bin gleich wieder da, liebe Köhler,“ bat Melanie, indem sie einen Regenmantel überwarf, der ihre ganze Gestalt umhüllte. Die Capuze zog sie über den Kopf.
„Komm, Jacques,“ sagte sie dann fast gebieterisch und wandte sich rasch der Treppe zu.
„Aber Melanie, ohne Ueberschuhe!“ rief das Fräulein verzweifelnd.
Keine Antwort. Unaufhaltsam eilten die kleinen Füße die Treppenstufen hinab über den Gang durch eine Seitenthür in den Park. Hier traten die Atlasschuhe auf feuchtes Laub, ein feiner Regen rieselte nieder, die junge Frau schauerte fröstelnd zusammen.
Weiter und weiter flog sie an all’ jenen Plätzen vorüber, wo sie so fröhlich gewesen, wo sie, in träumerisches Glücksgefühl versenkt, auf- und niedergegangen. Dort war die große Buche, unter deren Schatten so oft der Zeichentisch stand – da der heitere Rasenplatz, wo sie Reifen gespielt – wie ungeschickt jener Eine oft gewesen war! – hier tauchte die kleine Gruppe Trauerweiden auf, wo sie so manche Stunde verplaudert – wie Alles verwandelt aussah, so fremd und schauerlich! Immer näher kam der melancholische Tannenwald mit dem kleinen Teich und dem großen, freien Platz, in dessen Mitte die kleine Einsiedelei stand. Jacques vermochte ihr kaum zu folgen. Aber wie still war Alles, keine Antwort kam auf ihre rufende Stimme, nur das Rieseln und Tropfen des Regens schlug an ihr lauschendes Ohr. Vorwärts, weiter! Endlich bog sie um die Ecke. Still! Seufzte da nicht ein Mensch so recht aus der tiefsten Tiefe der Brust? Sie blieb stehen. Alles Blut erstarrte in ihren Adern, das Herz stand still vor Schrecken. Und jetzt noch einmal! Wieder ein unbeschreiblicher Seufzer.
„Wir hätten die Laterne mitnehmen sollen,“ stammelte Jacques furchtsam.
Sie antwortete nicht, sondern schritt zögernd weiter. Plötzlich stieß sie einen hellen Schrei aus; vor ihr am Boden, bei einer Biegung des Weges, am Eingang zum Platze der Einsiedelei, lag ein menschlicher Körper, der Körper eines Mannes, so dicht, daß ihr Fuß ihn berührte.
Die junge Frau sank neben ihm in die Kniee. Zitternd tastete sie nach dem Kopfe. Er war verhüllt in den Falten eines schwarzen Mantels. Ihre bebenden Hände rissen ihn weg, ihre Augen bohrten sich in die bleichen Züge, die ihr jetzt entgegenstarrten. Sie erkannte das Gesicht trotz der Dunkelheit, als sie mit den Fingern darüber hinglitt. „Licht, Hülfe!“ schrie sie auf.
Dann bettete sie das gesunkene Haupt an ihre Brust. Sie riß ihren Mantel ab, um ihn bequemer zu unterstützen. Ein tiefer, klagender Seufzer zog in demselben Augenblick wieder über die Lippen des Bewußtlosen. Melanie neigte ihr Gesicht zu ihm herab, dicht auf seine Stirn; sie redete zu ihm fliegende Worte voll wahnsinniger Zärtlichkeit, voll glühender Leidenschaft. Der Regen hatte aufgehört, die Wolken zerrissen, wie von einer mächtigen Hand bei Seite geschoben, ein kalter Mondschimmer flog daher und beleuchtete die todestraurige Gruppe: eine Frau von wenig Stunden, in Spitzen und Schleier neben einem Sterbenden knieend, seinen kaum hörbaren Lauten lauschend und ihre Lippen auf die seinen pressend, Stirn an Stirn, Hand in Hand mit ihm. So fanden sie die Diener, so das jammernde Fräulein, so der alte Herr und ein Theil der entsetzten Hochzeitsgäste. Die Kunde, der Bräutigam, der heitere, liebenswürdige Alphons, der unvergleichliche Gesellschafter, sei ermordet, hatte sich mit Blitzesschnelle verbreitet. Man wurde plötzlich rein menschllch und stürzte in einer Aufwallung von wirklichem, thatendurstigem Mitleid in den Garten. Licht, volles Licht fiel auf eine ohnmächtige Frau und einen Todten, den sie fest in ihren Armen hielt. Ihr Brautschleier und die Fluth ihres gelösten Haares floß über ihn hin. Aus einer Wunde in der Brust war das Lebensblut dahingeströmt. Das Spitzenkleid war in Blut getaucht, der blutgetränkte Myrthenkranz lag auf dem Saume des Mantels. Mit einem Weheschrei stürzte der Vater auf sein Kind zu, und während er sanft die Tochter aufzuheben, loszulösen versuchte, richtete eine andere Hand das todte Antlitz des Mannes empor. Ein Gemurmel des Entsetzens wurde laut, alle Augen hatten das schöne, traurige Gesicht des fremden Malers erkannt, der vor wenigen Monaten der Gast des Schlosses gewesen, der Ermordete war – Gaston Dumont.
Alphons Dacier war zu derselben Stunde entflohen. Ein an seinen Schwiegervater am andern Tage eintreffender Brief zeigte diesem seine Reise nach Amerika an und verhieß in Kurzem nähere Aufklärung über das beklagenswerthe Ereigniß. Mittlerweile lag die junge Frau bewußtlos darnieder und die Leiche Gaston’s wurde in die M.’sche Familiengruft auf dem stillen Dorfkirchhof zur Ruhe gebracht. Als das Gitterthor des Parkes sich öffnete, um den Trauerzug hinauszulassen, saß Ludmilla Köhler am Bette ihres todtkranken Pfleglings und las in ihrer Angst und Trauer das Lied von den Schlafenden:
Aber das schöne Wesen mit den fieberglühenden Wangen und irren Augen hörte nicht auf die frommen Trostworte. In ihren Phantasien erschien im hellen Sonnenlicht „der heitre Garten“, wo sie seiner zu warten pflegte. Sie redete laut mit dem Geliebten, sie lächelte ihm zu, sie schalt ihn zärtlich, daß er immer den schwarzen Mantel trage.
Und das Fräulein schlug das Buch leise zu und faltete ihre Hände: da war die Tragödie, die Ludmilla Köhler zu erleben sich so frevelhaft ersehnt!
Die versprochene Aufklärung des düstern Vorfalls, der die ganze Gegend aufregte, ließ nicht lange auf sich warten. Alphons schrieb von Hamburg aus, am Bord der Helena, daß er an jenem Hochzeitstage auf die Meldung, daß ein Fremder ihn eilig zu sprechen wünsche, Gaston in seinem Zimmer gefunden habe. Seine tiefe Trauerkleidung und sein seltsam feierliches Wesen haben ihm sofort den Zweck seines Kommens erklärt. „Ich bin frei und werfe Ihnen den Feigling in’s Gesicht zurück!“ habe er ihn angeredet, „vor acht Tagen begrub ich meine Mutter. Sie starb in Frieden. Heut komme ich nur, um Sie zu fragen, wann Sie bereit sind sich mit mir zu schlagen!“
Alphons fühlte eine wilde Gereiztheit in sich aufwallen.
„Zur Stelle!“ hatte er übermüthig geantwortet.
„An Ihrem Hochzeitstage?
„Ja, ich brenne vor Verlangen, Ihren Muth zu erproben. Wer weiß, Sie kamen wohl nur in der Voraussetzung, daß ich mich nicht schlagen werde an dem heutigen Tage, und hätten nachher geprahlt in heimlichen Briefen an mein Weib!“
Ein Schlag in’s Gesicht war die Antwort.
Eine halbe Stunde später stand man mit den Waffen in der Hand auf dem Platze vor der Einsiedelei einander gegenüber.
Die entschiedene Absicht, ihn zu schonen, die aus allen Ausfällen Gaston’s hervortrat, erbitterte seinen Gegner nur noch mehr. Er haßte ihn, er wollte ihn für immer aus der Nähe Melanie’s entfernen, er ahnte, wie gefährlich er dem Herzen seiner Braut geworden war, und wenn ihn auch nicht gekränkte Liebe zu dieser Wuth stachelte, denn seine Neigung zu dem jungen Mädchen war kaum mehr als ein ziemlich lebhaftes Wohlgefallen, so trieb ihn gekränkte Eitelkeit, diesem Mann irgend einen empfindlichen Streich zu spielen. Ihn zu tödten, daran hatte er nicht gedacht; der unglückliche Streich, der Gaston niederwarf, entsetzte ihn über alle Maßen. Er schilderte den Zustand seiner Seele als einen verzweifelten und bat seine junge Frau flehentlich, ihm zu verzeihen und seinem Herzen die Hoffnung zu lassen, sie einst wiederzusehen. In Baltimore wartete er auf die Nachrichten aus dem grauen Schlosse.
Lange Zeit blieb der Zustand der jungen Frau zweifelhaft, man fürchtete abwechselnd für ihr Leben und ihren Verstand. Aber sie genas allmählich vollständig und lieferte ihrer alten Erzieherin den Beweis, daß die Menschen in der Wirklichkeit viel seltener an Herzeleid sterben, als in den Romanen, und daß der Tod nie kommt, wenn man ihn ruft. Melanie’s Ehe wurde auf ihren festen und bestimmten Wunsch, der gar keinen Widerspruch zuließ, getrennt. Sie lebte fort und fort bei ihrem Vater, der in rührender Weise bemüht war, ihren blassen Lippen [688] ein Lächeln zu entlocken. Es währte aber doch lange, ehe er es wagte, eine Kiste in ihr Zimmer tragen zu lassen, die unter dem Poststempel Paris, mit einem Begleitschreiben von unbekannter Hand, im Auftrage des Malers Gaston Dumont, eine Woche nach dem Tode desselben angekommen war. Fast bereuete er es jetzt noch, denn die tiefe Erschütterung seines Kindes ängstigte ihn namenlos. Aber Melanie faßte sich wieder und bat, das Vermächtniß des Todten ihr nicht länger vorzuenthalten.
Man öffnete die Kiste. Sie enthielt das von Jacob Hauer’s Hand gemalte Portrait der Charlotte Corday, dessen Anblick der unglücklichen Laura so oft das Herz zerrissen. Aber auch ein Profilkopf Gaston’s, eine wunderbar schöne Zeichnung, war beigefügt. Ein kleiner Zettel, der daran befestigt war, enthielt nur die Worte, die Melanie einst selbst für den Geliebten niedergeschrieben: „Vergiß mich nicht, wie ich Dich nicht vergessen werde, so lange ich athme.“ Diese letzten Worte waren verwandelt: „in alle Ewigkeit!“ hatte Gaston geschrieben.
Seine Malergeräthschaften hatte er ebenfalls beigepackt und im Fall seines Todes seinem gütigen Freunde Herrn M. vermacht. Und ganz unten auf dem Boden der Kiste, in einem besonderen Kästchen, fand man den Portraitkopf Melanie’s, mit einem Glanz und einer Grazie, mit einer Wärme und Schönheit gemalt, die wahrhaft hinreißend wirkten. Es war ein Tizian’sches Colorit, Tizianische Goldlichter und Schatten. Daneben stand: „in doloribus pinxit“ (er hat es in Schmerzen gemalt).
Mit all’ diesen Schätzen hat sich Melanie später jenes Erkerstübchen des linken Flügels ausgestattet, das sie vorzugsweise liebte und ausschließlich bewohnte. Die Fenster dieses Gemachs gingen auf die Terrasse und auf den Park. Dort war ihr liebster Aufenthalt, dort zog sie ihre Blumen, dort träumte, las und zeichnete und – weinte sie, und keine fremde Hand durfte hier schalten und walten. Unter diesen Reliquien wartete sie geduldig auf ihre Vereinigung mit dem Geliebten. Sie führte kein thatenloses Leben der Trauer, sie blieb ihrem Vater eine zärtliche, sorgende Tochter, war geduldig und freundlich den immer deutlicher hervortretenden romantischen Neigungen ihrer alten Pflegerin gegenüber und wurde von allen Armen der Gegend gekannt und geliebt, so daß man sie später die heilige Elisabeth nannte.
„Laß mich nicht allein, das ist Alles was ich von Dir erflehe!“ hatte ihr der Vater in jener ersten Trauerzeit immer und immer wieder gesagt, und sie hatte ihre feinen Finger in seine Hand gelegt und lieblich gelobt: „Ich gehe nicht vor Dir zu ihm!“
Und sie hielt Wort. Der alte Herr lebte noch manches Jahr in rüstiger Gesundheit und unermüdlicher Thätigkeit in seinem Atelier. Seit er mit der Palette Gaston’s malte, behauptete er den Fleischton der großen Meister gefunden zu haben; zum Schrecken der Köhler malte er nur noch unbekleidete Figuren. Er schonte aber ihr jungfräuliches Gefühl, indem er sie nie einlud, seine Schöpfungen zu bewundern, noch weniger sie bat, ihm ihre Arme, ihren Nacken oder ihre Schultern als Modell zu leihen, was sie heimlich immer fürchtete.
Seit jenem ersten Roman sind noch zehn andere geboren worden, abgesehen von leichtfüßigen Novellen und flatternden Gedichtschmetterlingen, in denen es mehr oder weniger grausam hergeht. Sie hatte sich aber entschlossen, ihre Gesammtwerke erst zwölf Jahre nach ihrem Tode herauszugeben und einem namhaften Buchhändler Leipzigs zu vermachen, mit der Bestimmung, den Ertrag zur Erbauung eines stattlichen Hauses für unbemittelte Schriftstellerinnen zu verwenden, die von den Sorgen des Lebens unberührt zu arbeiten wünschten.
Ob jener Buchhändler, für den die sechs Kisten noch im alten grauen Schlosse stehen, sich freuen wird über dies Vermächtniß? Ich kenne seine Adresse.
Leider sind erst zehn Jahre seit dem Tode der Ludmilla Köhler verflossen, sie überlebte alle Bewohner im grauen Schlosse. Den alten Herrn fand man eines Mittags todt vor seiner Staffelei, und ein Jahr später schlief, in ihrem geliebten Erkerstübchen, die noch immer schöne Melanie für immer ein. Ihr von Gaston gemaltes Portrait hängt in demselben Zimmer mit dem Bilde der Charlotte Corday, es ist ein so frischer bedeutungsvoller Mädchenkopf, daß man die Augen nicht von ihm abwenden kann. Das Fräulein hatte doch Recht: sie sieht aus, als müsse sie Etwas erleben. – Hat sie nicht genug erlebt?