Die Kapelle an der Gotthard-Straße
[195] Die Kapelle an der Gotthard-Straße. (Zu dem untenstehenden Bilde.) Bevor die Masse des St. Gotthardgebirgs durch die Gewalt neuzeitlicher Technik durchbohrt wurde, um den Süden mit dem Norden durch den Schienenstrang zu verbinden, war der Uebergang über den Berg oft mit den größten Mühseligkeiten, ja mit Lebensgefahr verknüpft. Der Winter mit seinen Schneemassen und Stürmen forderte jedes Jahr seine Opfer, die Lawinen begruben oft ganze Karawanen von Menschen und Thieren in Schnee und Schutt. Es gab eine Zeit, da allein der alte rohe Saumweg hinüberführte, Schutzhäuser und Galerien noch nicht vorhanden, die Wanderer auf sich selbst und ihr Glück angewiesen und dem Unwetter auf diesen unwirthlichen Höhen hilflos preisgegeben waren. Erst später, im Jahre 1431, wurde zum Schutze der auf das Concil nach Basel ziehenden Bischöfe und Prälaten auf der Paßhöhe eine Herberge errichtet. Im Jahre 1799 aber, als Suworow seinen berühmten Uebergang über den Gotthard gegen die Franzosen erkämpfte, da wurde das alte Hospiz zerstört und das Holz zur Feuerung verwendet.
Zu Anfang dieses Jahrhunderts wurde die neue Kunststraße von den schweizerischen Kantonen Uri und Tessin hergestellt; wohl blieb auch jetzt noch im Winter und Frühling die Reise nicht ungefährlich, aber der Verkehr steigerte sich doch ganz gewaltig, so daß die Gotthardstraße der begangenste aller Alpenübergänge wurde. Die Postwagen und andere Fuhrwerke beförderten eine Menge Reisende und Waren, zahlreiche Fußwanderer zogen herüber und hinüber, viele Hunderte von unbemittelten Reisenden wurden in dem Hospiz auf der Paßhöhe kostenfrei verpflegt und mit Kleidungsstücken versehen. Die größte Anhäufung im Fremdenspital fiel unstreitig in die Zeit des Tunnelbaues 1872 bis 1880; jährlich wurden 16- bis 18 000 arme Durchreisende genährt und gepflegt und zwar meistens aus dem Ertrag von milden Beisteuern. Trotzdem konnten selbstverständlich Todesfälle durch Erfrieren, Ermattung etc. nicht verhindert werden. Die aufgefundenen Todten wurden bis zur Feststellung der Persönlichkeit und bis zur Beerdigung, die sich oft lang verzögerte, in der kleinen Kapelle niedergelegt, welche unsere Abbildung zeigt. Die dünne kalte Luft in dieser Höhe (2100 m) leistet der Verwesung Widerstand. Nicht weit vom Hospiz, auf einem großen Granitfelsen, steht noch diese Todtenkapelle; wohl wird sie heute nicht mehr benutzt, aber sie bleibt doch ein warnendes Zeichen für den Wanderer, sich selbst nicht zu viel zuzutrauen.