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Die Heidenkapelle bei Belsen

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Textdaten
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Autor: Gustav Schwab
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Titel: Die Heidenkapelle bei Belsen
Untertitel:
aus: Gedichte. 1. Band, S. 313–315
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Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1828
Verlag: Cotta
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Erscheinungsort: Stuttgart und Tübingen
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Quelle: Google und Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
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[313]

Die Heidenkapelle bei Belsen.

Es braust der Sturm, es flammt der Blitz,
Der Mutter fehlt ihr Kind,
Da geht sie aus in finst’rer Nacht,
Im Regen und im Wind.

5
Sie pocht umsonst bei’m Nachbar an,

Sie geht von Haus zu Haus:
„Dein Kindlein ging im Sonnenschein
In’s grüne Thal hinaus!“

Sie fragt den Hirten auf dem Feld,

10
Ob er sich nicht besinnt?

„Ja nach dem Berge wandelt’ es,
Nicht kam zurück dein Kind!“

Sie geht hinaus in’s dunkle Feld,
Der Donner schreckt sie nicht,

15
Sie freut sich auf der Blitze Strahl,

Sie hat kein and’res Licht.

„O zeiget mir den finstern Berg,
Lenkt mich in meiner Noth,
Und scheinet mir mein Kindlein an,

20
Lebendig oder todt!“


Der Berg steht in dem Blitzesschein
Starr, daß es ist ein Graus;
Ein Vater, der sein Kind verlor,
Sieht nicht betrübter aus.

[314]
25
Und wieder hüllt ihn Dunkel ein,

Und wieder wird es hell;
Zu seinen Füßen ruhet grau
Die heidnische Kapell.

Sie stehet fest und hebt ihr Haupt

30
Als wie gebaut erst heut,

Ihr mißgestaltes Götzenbild,
Es grinzet ungescheut.

„O weh, mein Kind, mein armes Kind,
Wenn du dich bärgest dort!

35
Wenn dich gepeitscht die Schreckennacht

In den verfluchten Ort!

Mein Kind muß opfern am Altar,
Es dient dem bösen Geist!
Fall’ über mich, du bleicher Berg,

40
Der Erde Fugen, reißt!“


Die Mutter kommt zur runden Thür,
Die stehet offen stets,
Doch tritt zu ihr kein Wand’rer ein,
Und pfleget des Gebets.

45
Die Wolken sind geflohen fort,

Die Donner hallen aus,
Der Sternen und des Mondes Schein,
Der wandelt keck voraus.

[315]
Da faßt die Mutter sich ein Herz,
50
Sie geht zum Tempel ein,

Ihr süßes Kind ruht am Altar
Getrost im Mondenschein.

Es lächelt mit den Lippen bleich,
Wie man im Traume thut,

55
Und blinkend in halboff’ner Hand

Ein silbern Gröschlein ruht.

Kennt ihr der Engel Groschen nicht?
Sie geben ihn zu Pfand,
Wenn führen wollen sie ein Kind

60
Mit sich in’s Vaterland.


Und mit dem Silber spielt das Kind
Bis Schlaf sein Auge deckt,
Und bis der Sterne Silberstrom
Das zugeschloss’ne weckt.

65
Die Mutter wirft sich auf die Knie,

Sie weinet still und lauscht,
Wie durch das alte Heidenhaus
Des Engels Flügel rauscht.

Sie küßt ihr Kind, es athmet nicht,

70
Es schläft ja schon so tief,

Bei seinem Hirten ist’s zu Haus
Das Lamm, das irre lief.