Die Gemälde-Galerie des Grafen Schack − Kapitel 13
Seit lange trug ich mich mit dem Gedanken, den hohen Meister Michel Angelo mit einigen seiner Hauptschöpfungen zu den anderen Malern zu gesellen, die ich schon in meiner Galerie versammelt hatte. Dass hier vornehmlich einige der Deckenbilder, sowie der Propheten und Sibyllen in der sistinischen Kapelle in Betracht kommen müssten, stand für mich fest. Wie ich während der letzten zwanzig Jahre fast ebenso viele Male dies Heiligtum der Kunst besuchte, wuchs in mir der Wunsch, Nachbildungen derjenigen Fresken zu erlangen, in denen der Genius des grossen Florentiners sich am glorreichsten verkündet. Aber der Ausführung stellten sich die allergrössten Schwierigkeiten entgegen. Die Kapelle ist äusserst schlecht erleuchtet, und die Fresken sind so hoch angebracht, dass es selbst dem bewaffnetem Auge schwer wird, sie völlig deutlich zu erkennen. Um sie nicht nur in ihren grossen Umrissen, sondern auch in allen Details wiederzugeben, muss der Künstler einen Adlerblick besitzen, und dabei eine körperliche Rüstigkeit und Nervenkraft, wie sie Wenigen verliehen ist. Denn es wird ein beständiges Starren und Spähen, ein steter Gebrauch der schärfsten optischen Gläser erfordert, es sind mechanische Vorrichtungen nötig, durch die man den Gemälden näher gebracht wird, weil manche Einzelheiten sich sonst absolut nicht unterscheiden lassen; wer dem Schwindel unterworfen ist, kann sich durchaus nicht an die Arbeit wagen, denn sie will auf einem hohen Gerüste unternommen sein. Zeitweise ist es aber auch nothwendig, zum Zwecke der besseren Besichtigung, eine der beiden Seitengalerien zu betreten, die nur schmal und ohne Ballustrade sind, so dass der kleinste Fehltritt lebensgefährlich sein würde. Endlich, wenn alle diese mechanischen Hemmnisse auch besiegt wären, würde derjenige Künstler doch seiner hohen Aufgabe schmählich erliegen, dem nicht die geistige Kraft zu Gebote steht, sich in sein gewaltiges Urbild zu vertiefen, der nicht in jahrelangem Studium nach dem Verständnisse Michel Angelos gerungen, bis sich dessen Genius ihm in seiner Fülle und Erhabenheit offenbart hat.
Je häufiger ich alle diese Schwierigkeiten erwog und bei meinen wiederholten Besuchen der Kapelle mich von den, sich schon äusserlich entgegenstellenden Hindernissen überzeugte, desto klarer ward es mir, dass völlig befriedigende Kopien dieser Fresken überhaupt nicht herzustellen seien. Eine dem Originale durchaus adäquate Wiedergabe ist natürlich nur möglich, wenn der Nachbildner das erstere in allen seinen Teilen auf das genaueste sehen kann, und diese Vorbedingung fehlt hier durchaus. Ich erkannte daher, ich müsse meine Erwartungen herabstimmen und mich mit dem begnügen, was sich unter solchen Umständen erreichen liesse. Mir schien, dass schon ein Künstler, der dies Erreichbare leistete, sich ein hohes Verdienst erwerben würde. Denn die Fresken der Sistina gehen eilends dem Untergange entgegen: der Kalk, worauf sie gemalt sind, ist nach allen Seiten mit zahlreichen Rissen durchzogen, und irgend eine Erschütterung kann ihn und mit ihm die Herrlichkeiten, die er trägt, in der nächsten Stunde in die Tiefe stürzen; so wird die Zukunft begierig nach Allem forschen, was ihr einen genaueren Begriff von den hohen Bildwerken zu geben vermag, als es farblose Umrisse können. Es wäre trostlos, wenn das Höchste, was die Kunst überhaupt geleistet, zu Grunde ginge, bevor noch durch Nachbildungen, wenn auch von unvollkommener Art, so viel wie möglich von ihm gerettet worden.
Nachdem ich geraume Zeit über mein Vorhaben gebrütet hatte, und dessen Ausführung durch die verschiedensten Hemmnisse immer vereitelt worden war, sah ich die Photographien, welche Braun in Dornach mit seltener Geschicklichkeit bei elektrischem Lichte von Michel Angelos Fresken aufgenommen hatte. Sogleich kam mir Gedanke, dass diese für den Maler, der die Kopie derselben unternähme, ein grosses Hilfsmittel sein würden. Fast gleichzeitig lernte ich auch einen jungen Künstler kennen, der mir das Vertrauen einflösste, er besitze nicht nur die begeisterte Hingebung, sondern auch die Kräfte, um sich der kolossalen Aufgabe mit Erfolg zu widmen. Dies war der seit lange in Rom lebende Karl Schwarzer. Ich liess ihn zunächst, ohne ihm noch von meinem hochfliegenden Plane zu reden, prüfungsweise ein Bild kopiren, bei dem er darthun konnte, dass er jenen Nachdruck und jene eiserne Energie besitze, die mir ein Haupterfordernis zu sein schien, um dem mächtigen Florentiner nicht ganz zu unterliegen. Das von mir gewählte Gemälde war das im Palaste Doria zu Rom befindliche Porträt der beiden Gelehrten und Staatsmänner Navagiero und Beazzano von Rafael, das besonders zur Wiedergabe der Physiognomie des Navagiero jene Eigenschaften in hohem Grade verlangt. Schwarzer entledigte sich dieses Auftrages in sehr befriedigender Weise, und nun machte ich ihn mit meinem Vorhaben bekannt. Er verhehlte sich die ausserordentliche Schwierigkeit der Aufgabe nicht, zog dieselbe nach allen Seiten hin in Erwägung und machte mich auf Einiges aufmerksam, was diese Schwierigkeit noch grösser erscheinen liess, als sie sich vorher mir dargestellt hatte. Die Fresken der Sistina, ursprünglich mit kräftigen, auf weite Ferne hin stark hervortretenden Farben gemalt, sind gegenwärtig, infolge des Kerzendampfes und des Staubes, der sich an ihnen festgesetzt hat, von einer grauen Decke überlagert, die sich wohl nicht mehr ohne Gefahr für die Bilder selbst entfernen lässt. Bei einer Kopie nun es auf eine Wiederherstellung des ursprünglichen Kolorits abzusehen, würde ein höchst vermessener Versuch sein; trotzdem konnte man einen Augenblick schwanken, ob er nicht gewagt werden sollte, und es war als gewiss vorauszusehen, dass bei Beibehaltung der jetzigen Färbung der Originale vielfach Klage über die Mattheit des Farbenauftrages erhoben werden würde. Dennoch erkannte ich das letztere Verfahren bald für das einzig richtige, und ich habe seitdem in der damals gewonnenen Ueberzeugung nicht gewankt, dass bei allen Kopien nichts anderes übrig bleibe, als sich an die Originale in ihrem jetzigen Zustande zu halten. Ich gehe hierin so weit, dass es mir am zweckmässigsten scheint, auch die Restaurationen und Retouchen, die sie erlitten, mit nachzubilden, da selbst der beste Künstler sich nicht die Divinationsgabe zuschreiben wird, ihren früheren Zustand mit völliger Sicherheit zu erraten. Nachdem Alles gehörig erwogen war, ging Schwarzer, im vollen
[61] Bewusstsein der Grösse des ihm anvertrauten Werkes, mit rüstiger Kraft an die Ausführung. Wo Alles bewundernswert ist, fällt es schwer, eine Auswahl zu treffen. Nach einigem Hin- und Herschwanken entschied ich mich jedoch für sieben der Fresken, als für die herrlichsten. Im Zeitraume von etwa drei Jahren vollendete Schwarzer seine Arbeit mit einer Sorgfalt, Liebe und Ausdauer, die nicht genug gepriesen werden können. Man denke sich, wie er auf einem hohen Gerüste, in Lüften schwebend, mit Anstrengung seiner ganzen Sehkraft, vom Morgen bis zum Abend nach oben spähen musste, wie bald die Winterkälte der unheizbaren Kapelle seine Hände erstarren machte, und er dann wieder mit der glühenden, in jener Höhe doppelt empfindlichen Hitze des August zu kämpfen hatte, die seine Kräfte ermatten liess, wie er, um diese oder jene Stelle der Fresken deutlicher zu erkennen, die schmale und gefährliche Seitengalerie betreten und dort unter Lebensgefahr zeichnen musste. Seine Kopien haben bei allen Billigen die entschiedenste Anerkennung gefunden; wer an ihnen mäkeln will, der zeige zuerst, dass diese Aufgabe, vielleicht die schwierigste, die überhaupt einem Künstler gestellt werden kann, sich besser lösen lässt, als es hier geschehen ist. Es kann keine grössere Thorheit geben, als wegen des unerreichbaren Besten das erreichbare Gute zu verschmähen. Schon jetzt sind Schwarzers Arbeiten von unschätzbarem Werte; denn Derjenige, der nicht in Rom lebt, kann durch sie eine viel genauere Vorstellung von Michel Angelos Bildern gewinnen, als durch irgend andere Hilfsmittel, und selbst für den, der die Sistina oft besucht hat, ergänzen sie die Anschauung der Originale, die man nur bei günstigem Lichte, auf dem Rücken liegend, und mit starker Anstrengung der Augen sehen kann. Wenn aber die Urbilder, was sicher bevorsteht, zu Grunde gegangen sein werden, wird man sie wahrhaft heilig halten müssen, da man nirgends sonst den grossen Florentiner so wird kennen lernen können, wie durch sie. Wäre es durch irgend welche Umstände unmöglich gemacht worden, eine Uebersetzung der Ilias zu liefern, wie die von Voss, eine des Shakespeare, wie die von Schlegel, man würde immer noch hohen Genuss aus Stolberg und aus Eschenburg schöpfen können; und dasselbe ist mit Schwarzers Kopien der Fall, wenn sie aus den angedeuteten Gründen auch nicht die höchste Stufe der Trefflichkeit, wo Original und Kopie zusammenfallen, erreichen konnten.Zwei der Deckengemälde habe ich an einem Plafond anbringen lassen, gewiss der vorteilhaftesten Stelle, die irgend aufzufinden war. Für das dritte war ein gleicher Platz nicht vorhanden; und für die vier Propheten und Sibyllen liess sich in meinen Räumlichkeiten noch weniger die Stelle ermitteln, die eigentlich erfordert ward. Sie müssten, ebenso wie in der vatikanischen Kapelle, in sehr beträchtlicher Höhe gesehen werden; dann aber dürfte auch der Blick nicht durch andere Bilder von ihnen abgezogen werden, am wenigsten durch solche, die durch glänzendes Kolorit bestechen. Da sich dies bei mir nicht einrichten liess, üben sie nicht die Wirkung, die ihnen unter günstigeren Umständen nicht entgehen würde, oder sie werden doch nur von Solchen völlig gewürdigt, die ihr Auge, es gegen die umgebenden Bilder abschliessend, ganz auf sie konzentriren. Wer sich so einmal ihnen genähert hat, wird gewiss wiederholt zu ihnen zurückkehren, und sich mit immer wachsender Bewunderung in sie vertiefen. Es ist zuerst eine Empfindung des Schreckens, die uns vor dem mächtigen Geiste Michel Angelos befällt, als ständen wir vor einem höheren Wesen. Wir wissen, dass er unser tiefstes Herz durchschaut, dass wir ihm vergebens etwas zu verbergen suchen; denn er kennt alle Geheimnisse des Lebens und des Todes. Es ist keine Höhe, die er nicht erflogen hat, kein Abgrund, in den er nicht hinabgestiegen. Seine Riesenschöpfungen scheinen nicht von dieser Welt zu sein: sie blicken wie aus der Ewigkeit auf uns herab, und erst nach und nach gewinnen wir Mut und Vertrauen, uns der grossen Seele des Künstlers hinzugeben, die bald mit erhabener Trauer, bald mit der Begeisterung des gottbegnadeten Sehers in ihnen waltet. Ueberwältigender Schmerz spricht sich im Jeremias aus: es ist, als laste das ganze Weltall auf dem zusammengebrochenen Greise, und als könne er sich nie mehr unter der Wucht des auf ihm ruhenden Wehs emporrichten. Man glaubt, sein Jammerruf werde bis ans Ende der Zeiten nicht verstummen. – Auch Jesaias, eine stolze, jugendliche Gestalt, hat allen Gram der Menschheit empfunden und in finsteren Nächten mit der Verzweiflung gerungen; aber kühn rafft er sich empor aus dem Leid, das ihn zu Boden ziehen will. Prophetisch glüht sein dunkles Auge, und er verkündet, wie das Reich des Bösen enden, wie Gerechtigkeit auf Erden herrschen und das Lamm friedlich bei dem Löwen liegen werde. Die beiden Sibyllen, die delphische und lybische, sind die hehrsten Frauengestalten, welche die bildende Kunst je geschaffen; Töchter der Urzeit, die schon waren, bevor noch das alte Chaos sich geteilt, ragen sie hinüber in das heutige Geschlecht. Von ihren hohen Wolkensitzen fliegt ihr Blick über Raum und Zeit hinweg, und vor den vom Sturm durchwühlten Blättern ihrer geheimnisvollen Bücher weissagen sie die künftigen Weltgeschicke. – Unter den Mittelbildern ist die Erschaffung des Adam von solcher Erhabenheit, dass sie Alles, was andere Künstler hervorgebracht haben, erdrückt, wie die Poesie des Alten Testaments mit ihrem Posaunenschall alle anderen Klänge der Dichtung übertönt. Gott der Vater, wie er in Schöpfungskraft durch den Himmel daherbraust und das erste Leben von sich in den erwachenden Adam hinüberströmt, konnte nur von dem höchsten schöpferischen Genius so dargestellt werden, und nie wieder hat seitdem die Kunst etwas von ähnlicher Grösse hervorzubringen vermocht. – In der Erschaffung der Eva zeigt uns das erste Weib, wie es im Dankgefühl für das eben verliehene Leben vor dem ewigen Vater niederkniet, ein Urbild der Frau, in welchem sich Hoheit und Lieblichkeit in nicht wieder dagewesener Weise vermählen; der Schlaf ist in dem zurückgesunkenen Adam unübertrefflich ausgedrückt; man wagt kaum zu atmen, um ihn nicht zu stören. Auf dem dritten Bilde sind zwei Handlungen, der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradiese, kühn zusammengedrängt; [62] ihm Mangel an Einheit vorzuwerfen, wäre kindisch; gerade darin, dass hier Schuld und Strafe unmittelbar wie ein Faktum neben einander stehen, beruht die ungeheure Gesamtwirkung, und wir müssen Michel Angelo rühmen, dass er als echter Künstler sich über konventionelle Regeln hinweggesetzt hat. In Adam erblicken wir den Typus des ersten Mannes in der ganzen strotzenden Fülle seiner Kraft, in Eva allen verführerischen Liebreiz des Weibes, das eben selbst im Begriffe ist, dämonischer Verführung zu erliegen; auf der anderen Seite des Bildes hat sich schon der düstere Schatten der Sünde auf das erste Menschenpaar hinabgelegt; die Pforten des Paradieses sind hinter ihm verschlossen; Schuldbewusstsein und unaussprechlicher Schmerz über das verlorene Glück spricht sich ergreifend in den Zügen der Beiden aus. Diese Darstellung, wie der Engel mit gezücktem Flammenschwerte die Fliehenden vor sich hertreibt, ist für alle folgenden Maler massgebend geworden, und man kann sich eine Vertreibung aus dem Paradiese kaum noch anders denken, als in der Auffassung Michel Angelos.
Es erscheint mir als ein Glück, für das ich die Sterne nicht genug preisen kann, dass es mir vergönnt gewesen ist, einige der hehren Gebilde des grossen Florentiners zu steter Betrachtung in meine Nähe zu ziehen. Dass der Geist ihres Schöpfers auch in diesen Schattenrissen noch auf ihnen ruht, habe ich empfunden, indem sie mich in ihrer Gemeinschaft ein höheres, weltentrücktes Dasein fühlen liessen und mir die Geheimnisse von Zeit und Ewigkeit enthüllten. Wenn ich dann aus ihrem Kreise wieder in die Welt der Wirklichkeit trat, erschien mir das Treiben der Menschen fremd, ich konnte ihr Mühen und Ringen um Nichtiges kaum fassen und kehrte verwirrt und betäubt aus dem wilden Gewühl wieder zurück zu den hohen Gestalten, dass sie mich mit ihrem Lebensodem nährten und mir Kraft verliehen zum Kampf wider das Niedrige und Gemeine.