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Die Geister der Erhängten

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Die Geister der Erhängten
Untertitel:
aus: Chinesische Volksmärchen, S. 197–201
Herausgeber: Richard Wilhelm
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Eugen Diederichs
Drucker: Spamer, Leipzig
Erscheinungsort: Jena
Übersetzer: Richard Wilhelm
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
E-Text nach Digitale Bibliothek Band 157: Märchen der Welt
Eintrag in der GND: [1]
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[197]
66. Die Geister der Erhängten

Der große Dichter Su Dung Po liebte es, von Geistern zu erzählen; doch hatte er selber keinen je gesehen. Ein anderer namens Yüan Dschan hat eine Abhandlung geschrieben, daß es keine Geister gebe. Da kam eines Tages ein Gelehrter und begehrte ihn zu sehen.

„Seit alten Zeiten“, fing er an, „gibt es wahre Geschichten von Göttern und Geistern. Wie kommt Ihr nur dazu, daß Ihr sie leugnet?“

Da setzte ihm Yüan Dschan vernunftgemäß die Gründe auseinander, so daß ein weiterer Widerspruch nicht möglich war.

Da wurde der Gelehrte böse.

„Ich bin doch selbst ein Geist“, sprach er.

Und ehe er ausgeredet, verwandelte er sich in einen Teufel mit grünem Angesicht und rotem Haar, erschrecklich anzusehen und fürchterlich. So sank er in die Erde und verschwand.

Nicht lange drauf, da starb Yüan Dschan.

Von Geistern gibt’s gar viele Arten. Doch die Geister der Gehängten sind die schlimmsten. Diese Geister sind meistens Frauen und stammen gewöhnlich aus armen Familien auf dem Lande. Die törichten Bauernweiber, wenn sie von ihrer Schwiegermutter schlecht behandelt werden oder Hunger leiden müssen und viele Arbeit haben, sind oft mit ihrem Schicksal unzufrieden. Oder sie kommen in Streit mit ihren Schwägerinnen, oder sie werden von ihren Männern beschimpft. Dann sehen sie nicht mehr hinaus und machen aus Verzweiflung ihrem Leben ein Ende. Oft kommt es vor, daß sie Gift nehmen oder in den Brunnen springen. Am häufigsten jedoch erhängen sie sich selbst. Die Großväter und Alten wissen zu erzählen, daß die Geister der Gehängten immer andere Frauen verlocken, sich [198] an den Dachbalken aufzuhängen und so den Tod zu finden. Dann erst wird für sie selbst der Weg zur Unterwelt frei, und sie können von neuem ins Rad der Verwandlungen eingehen. Der Geist der Neugehängten sucht dann wieder Stellvertretung. Darum kommt es so häufig vor, daß törichte Weiber sich erhängen. In Märchen und Geschichten ist viel von Geistern der Erhängten die Rede. Oft mag es Zufall sein. Doch eine Geschichte will ich jetzt erzählen, die ich von glaubhaften Leuten selbst gehört.

In Tsingtschoufu lebte ein Mann, der die militärische Vorprüfung bestanden und nach Tsinanfu mußte, um sich dort zu stellen. Es war zur Regenzeit. So traf sich’s denn, daß er, von Schlamm und Regen aufgehalten, nur langsam vorwärts kam, so daß er abends das Herbergsdorf nicht mehr erreichte. Nach Sonnenuntergang kam er an einen kleinen Weiler und bat um Unterkunft. Aber im ganzen Dorf gab es nur ärmliche Familien, die keinen freien Platz in ihren Häusern hatten. So wiesen sie ihn denn nach einem alten Tempel vor dem Dorfe, daß er dort übernachte.

Die Götterbilder in dem Tempel waren ganz verfallen, daß man sie nicht mehr unterscheiden konnte. Dichte Spinnengewebe überzogen die Tür, und zollhoch lag der Staub. So ging er denn hinaus ins Freie. Da fand er eine alte Treppenstufe. Er breitete die Reisetasche auf dem Stein aus, band sein Pferd an einen alten Lebensbaum, holte die Feldflasche aus der Tasche, machte sich’s bequem und trank. Der Tag war heiß gewesen. Nach heftigem Regen klärte es sich eben wieder auf. Der neue Mond neigte sich zum Untergang. Er war vom Trinken angenehm benebelt, schloß die Augen und wollte schlafen.

Plötzlich hörte er im Tempel ein raschelndes Geräusch. Ein kühler Wind strich ihm über das Gesicht, daß er zusammenschauerte. Da sah er eine Frau aus dem Tempel herauskommen in alten, schmutzigen, roten Kleidern, das Gesicht kreideweiß wie eine getünchte Wand. Vorsichtig schlich sie vorüber, als fürchtete sie, einem Menschen zu [199] begegnen. Dem Soldaten fehlte es nicht an Mut. So stellte er sich schlafend und regte sich nicht. Mit halb geschlossenen Augen blinzelte er nach ihr. Da sah er, wie sie aus dem Ärmel einen Strick hervornahm und verschwand. Er merkte nun, daß er’s mit einem erhängten Gespenst zu tun hatte. Leise erhob er sich und ging ihr auf dem Fuße nach. Richtig ging sie ins Dorf.

Als sie an ein Haus kam, da schlüpfte sie durch eine Türspalte in den Hof. Der Soldat sprang über die Mauer ihr nach. Es war ein Haus mit drei Zimmern. Im hintersten brannte eine Lampe mit trübem Glimmerschein. Er blickte durch die Fensterritze in das Zimmer. Da sah er eine Frau von etwa zwanzig Jahren, die saß auf ihrem Bett und seufzte tief, und von ihren Tränen war ihr Tuch ganz naß geworden. Neben ihr lag ein kleines Kind, das schlief. Die Frau blickte nach dem Dachbalken hinauf. Bald weinte sie, bald streichelte sie das Kind. Als der Soldat näher hinsah, da war der Geist der Erhängten auf dem Balken. Den Strick hatte sie sich um den Hals gelegt und machte die Bewegung des Erhängens. Sooft sie mit der Hand winkte, sah die Frau zu ihr hinauf. So dauerte es eine lange Zeit.

Endlich sprach die Frau: „Du sagst, es sei am besten zu sterben. Gut, ich will sterben; aber ich kann mich von dem Kind nicht trennen.“

Dann brach sie wieder in Tränen aus. Das Gespenst lachte und lockte sie aufs neue.

Da sprach die Frau entschlossen: „Es ist aus. Ich will sterben.“

Mit diesen Worten öffnete sie ihre Kleiderkiste, zog neue Kleider an und schminkte sich vor dem Spiegel. Dann zog sie eine Bank heran und stieg hinauf. Sie band ihren Gürtel ab und knüpfte ihn an den Balken. Schon hatte sie den Hals ausgestreckt und wollte hinunterspringen, da wachte das Kind plötzlich auf und fing an zu weinen. Die Frau stieg wieder hinunter und säugte ihr Kind und tätschelte es auf den Rücken. Und wie sie tätschelte, da weinte sie, [200] also daß die Tränen wie eine Perlenschnur ihr aus den Augen fielen. Das Gespenst runzelte die Stirn und zischte, als fürchte es, seine Beute zu verlieren. Nach einer kleinen Weile war das Kind fest eingeschlafen, und die Frau begann wieder, nach oben zu blicken. Dann erhob sie sich, stieg auf die Bank und war eben im Begriff, mit der Hand die Schlinge um den Hals zu legen, als der Soldat laut zu schreien und gegen das Fenster zu trommeln begann. Er schlug es entzwei und stieg ins Zimmer hinein. Die Frau fiel zu Boden und das Gespenst verschwand. Der Soldat brachte die Frau wieder zum Bewußtsein. Er sah von dem Balken einen Strick herunterhängen, wie eine Schleife ohne Ende. Weil er wußte, daß er dem Gespenst der Gehängten gehörte, nahm er ihn an sich.

Dann sprach er zu der Frau: „Gib gut acht auf dein Kind! Man hat nur ein Leben zu verlieren.“

Damit ging er hinaus.

Es fiel ihm ein, daß sein Gepäck und sein Esel noch im Tempel waren. So ging er hin, es zu holen. Als er vors Dorf hinauskam, da stand auch schon das Gespenst auf dem Weg und wartete auf ihn.

Sie verneigte sich und sprach: „Seit vielen Jahren such ich schon nach einer Stellvertretung, und heute, da es so weit war, habt Ihr mir das Geschäft verdorben. Da ist nichts mehr zu machen. Doch ich habe ein Ding, das ich in der Eile zurückgelassen habe. Sicher habt Ihr’s gefunden. Darf ich bitten, mir’s zurückzugeben! Wenn ich nur dieses Ding habe, so macht mir’s nichts, daß ich keine Stellvertretung finde.“

Da zeigte ihr der Soldat den Strick und sagte lachend: „Das ist wohl jenes Ding? Aber wenn ich dir’s zurückgebe, so wird sich sicher jemand erhängen. Das kann ich nicht dulden.“

Mit diesen Worten wickelte er den Strick sich um den Arm, trieb sie weg und sprach: „Geh! Geh“!

Nun wurde die Frau zornig. Ihr Gesicht wurde grün-schwarz, [201] ihr Haar hing wild zerzaust den Nacken herab, blutunterlaufen starrten ihre Augen, die Zunge hing weit aus dem Munde hervor. Sie streckte ihre beiden Hände aus und wollte ihn fassen. Der Soldat schlug mit geballter Faust nach ihr. Aus Versehen schlug er sich dabei selbst an die Nase, so daß das Blut heruntertropfte. Er spritzte einige Tropfen Blut nach ihr, und weil die Geister Menschenblut nicht leiden mögen, so ließ sie ab von ihm, stellte sich einige Schritte von ihm auf und begann zu fluchen. So dauerte es eine gute Weile, bis der Hahn im Dorfe krähte. Da verschwand das Gespenst.

Inzwischen hatten auch die Bauern vom Dorf ihn gesucht, um ihm zu danken. Nachdem er nämlich die gerettete Frau verlassen hatte, war deren Mann nach Hause gekommen und fragte seine Frau über das Geschehene aus. Da erst erfuhr er, was sich zugetragen hatte. Die Nachbarn, die die Frau weinen hörten, versammelten sich vor ihrem Hause. So machten sie sich miteinander auf den Weg, um den Soldaten vor dem Dorfe zu suchen. Sie fanden ihn, wie er noch immer mit den Fäusten in der Luft herumfuchtelte und heftig redete. Da riefen sie ihn an, und er erzählte, was ihm begegnet. An seinem nackten Arme sah man noch den Strick; doch war er an dem Arme angewachsen und umgab ihn als ein roter Ring von Fleisch.

Eben dämmerte der Morgen. Er schwang sich auf sein Pferd und trabte davon.

Anmerkungen des Übersetzers

[400] 66. Die Geister der Erhängten. Quelle: mündl. Überlieferung.