Die Gartenlaube (1897)/Heft 46
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Nr. 46. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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(15. Fortsetzung.)
„Hast du Nachricht aus Breslau?“ fragte Hanna ihren Mann, als sie nach dem Heimweg vom Tiergarten ins Haus eintraten. Sie wußte aus Erfahrung, daß nicht Weiterschweigen, sondern Weitersprechen, aber von ganz anderen Dingen ihre nächstliegende Aufgabe war.
„Ob ich was?“ Er mußte sich einen Augenblick besinnen; so war er von seinen brütenden Gedanken benommen.
„Hat deine Schwester geschrieben?“
„Ja. Jawohl. Also erst Sonnabend. Sie wollen alle zusammen reisen und Linchen ist noch nicht soweit. Daß nur ja nichts vergessen wird in den Zimmern!“
„Sie sind schon bereit.“
„Teppiche gelegt? Betten bezogen?“
„Gewiß. Alles. Es fehlt nur noch das frische Wasser.“
„Na, ich werde mich jedenfalls erst noch selbst überzeugen.“
„Bitte,“ sagte Hanna gleichgültig. Sie hatte das vorhergewußt.
„Bestelle übrigens Blumen. Nein, laß nur, ich werde es lieber selbst thun. Meinem Geschmack trau’ ich denn doch mehr.“
„Wie du willst.“
„Wie du willst,“ ahmte er übertrieben gedehnt ihre leise Stimme nach. „Das klingt wie ein Täubchen von Sanftmut. Und dabei ärgerst du dich schmählich im stillen, daß ich mich in solchen Dingen nicht auch noch von dir bevormunden lassen will.“
Hanna lächelte schwach. Vor drei, vier Jahren hätte sie sich eifrig und wahrscheinlich gereizt verteidigt.
„Es ist mir sehr angenehm,“ sagte sie nun ruhig, daß du mir die Blumenbesorgung abnimmst. Du hast das immer viel besser verstanden als ich.“
Zu ihrem Erstaunen antwortete er nicht; sie hatte noch eine kleine Bosheit als Punkt und Absatz erwartet.
Mitten auf der Treppe zum oberen Stock hielt er an, mit einer seltsam flackernden Röte im Gesicht und legte sich die Faust auf die Brust. „Was soll denn das heißen?“ sagte er verwirrt. „Das ist nun schon das zweite Mal.“
„Was denn?“ fragte Hanna betroffen.
„Herzklopfen. Gestern auch. Beim Treppen steigen.“
„Es wird nichts sein,“ begütigte Hanna. „Ein Zufall. Es giebt sich auch wohl schon?“ schloß sie, da seine natürliche Farbe zurückkehrte und er die Hand sinken ließ.
„Scheint. – Ja,“ sagte er nach einer Pause aufmerksamer Selbstbeobachtung, er stieg dann langsam und bedächtig weiter hinauf. Oben angekommen, atmete er tief.
„Schon wieder“, murmelte er.
„Aber nicht arg?“
[758] „Nein nicht arg,“ antwortete er gereizt. „Einen Herzkrampf hab' ich noch nicht, wie du siehst. Mach’ doch nur nicht so fromme Augen. Brauchst keine Teilnahme zu heucheln.“
„Das brauch' ich wirklich nicht, denn ich habe sie.“
„Ei was. Und eben sagtest du noch, es wird nichts sein, ein Zufall. Also wozu stellst du dich denn jetzt besorgt?“
„Soll ich an Meinhardt telefonieren?“
„Lächerlich. Meinhardt! Weiter hätte mir gar nichts gefehlt. Der olle Schlummerkopp ist ja zu nichts Ernsthaftem mehr zu gebrauchen. Laß mich jetzt mit deinem Kamillentheegesicht in Frieden. Morgen – wenn sich das noch einmal wiederholt – konsultier' ich eine Autorität.“
Nach einer Stunde kam er zu ihr ins Zimmer, wo sie mit einer Näherei beschäftigt am Fenster saß. Er warf ihr einen Brief in den Schoß, einen schon geöffneten Brief. Sie bemerkte das nicht gleich und nahm die Schere, um ihn aufzuschneiden Mit seinen wachsamen Augen sah er ihr Stirnrunzeln und daß sie die Zähne auf die Unterlippe drückte. „Ich hab' ihn aus Versehen mit aufgerissen,“ warf er leicht hin. „Er kam zusammen mit mehreren anderen für mich, so achtete ich nicht drauf.“
„Ich weiß“, sagte sie kalt, ohne ihn anzusehen, nahm den Brief aus dem Umschlag und las. Diese „Versehen“ hatten sich schon oft wiederholt und den Reiz der Neuheit verloren.
„Was will denn die Imhoff?“ fragte Ludwig, auf den Brief deutend.
Hanna erhob jetzt die Augen zu ihm. „Du hast ihn ja gelesen“ erwiderte sie ruhig, ohne Schärfe, überhaupt ohne Ausdruck in der Stimme. „Also weißt du was darin steht.“
„Nur flüchtig, natürlich. Ich sah ja – übrigens wirst du dir ja solche Briefe, die ich nicht sehen soll, nicht ins Haus schicken lassen.“
„Ich weiß wirklich noch nicht, was ich thun würde, wenn ich solche Briefe bekäme“, antwortete sie unbewegt. „Bis es so weit kommt, wollen wir uns den Kopf nicht darüber zerbrechen.“
„Ja ja, ich weiß schon, du bist die harmloseste Frau von Berlin. – Für welchen von deinen appetitlichen Schützlinge wird denn das?“ fragte er nach einer Pause, da sie, ohne nochmals zu antworten, ihre Arbeit an dem rotwollenen Kinderkleidchen wieder aufgenommen.
„Für die kleine Anna von Baumanns. Unser Klempner.
„Donnerwetter, elegant! Mit schwarzen Borten!“
„Es soll auch ein Geburtstagskleid werden.
„Und das hier? Er erwischte von dem aufgeschichteten Stapel ein ganz kleines Kinderhemdchen am Aermel. Sie nahm es ihm sacht aus der Hand und legte es wieder glatt zusammen.
„Da ist diese arme Obstfrau“, sagte sie mit leichtem Erröten „da am Kanal, von der ich manchmal kaufe. In ein paar Wochen erwartet sie ihr Fünftes. Sie weiß sich nicht zu lassen vor Sorgen, der Mann trinkt. Ich hab' ihr versprochen: ich geb' ihr die kleine Aussteuer. Etwas Rechtes hat sie nie gehabt. Du solltest nur sehen, wie sie sich freut.“
„Kunststück! Wird dich auch wieder gehörig ausnutzen.“
„Darauf laß ich es ankommen. Wenn man den Gedanken an die Spitze stellen wollte, verginge einem die Freude am Schenken im ersten Atemzug.“
„Aber wozu diese Kellerassel mit aller Gewalt Spitzen an den Hemden haben muß, das seh' ich denn doch nicht ein.“
„Es sind ganz schmale – sieh' – Leinen, sehr haltbar, und machen in der Wäsche nicht die geringsten Umstände. Ich weiß nicht, warum die Sachen, die man den armen Menschen giebt, nicht auch ein bißchen hübsch sein sollen, außer daß sie nützlich sind.
„Das ist wieder eine von deinen sentimentalen Schrullen. Du bist überhaupt verrückt. Als ob dem Bettelpack auch nur soviel an der Schönheit gelegen wäre. Was versteht der Bauer von Gurkensalat?“
„Vielleicht doch mehr, als du denkst.“
„Sei so gut, mein Kind, und überhebe dich nicht. Ich kenne die Welt besser als du. Mir ist in meinem Leben genug Gesindel über den Weg gelaufen. Nur nicht unpraktisch werden vor lauter Idealität. Warum willst du einem verhungerten Straßenkehrer den leeren Magen mit Gänseleberpastete anfüllen, wenn eine Knackwurscht dieselben Dienste thut?“
„Da hast du gewiß recht.“
„Hab' ich überhaupt immer!“
„Ich wollte damit nur sagen so weit geht meine Verrücktheit nicht. Aehnliche Dinge, wie dein Beispiel, hab' ich nie gemacht. Ich finde aber … wenn ich durch eine kleine, noch obendrein wohlfeile Verzierung ein Geschenk hübscher machen kann, das ich zum Beispiel einer armen Mutter bringe, so muß ich das thun, so gehört das mit dazu.“
„Meinetwegen. Wenn der Geist dich treibt! Wundere dich aber dann auch nicht, wenn sie dein hübsches Geschenk' aufs Leihamt tragen, sowie du den Rücken gewendet hast.“
„Bis jetzt ist das noch nicht geschehen; ich habe mich noch immer davon überzeugen können.“
„Wie gesagt meinetwegen. Bloß – warum kaufst du das Zeugs nicht fertig? Eine Zeit verthust du mit der Stichelei an den Sachen –“
„Ich hab' ja so viel Zeit. Und es macht mir Freude, selber die Finger dafür zu rühren, viel mehr, als wenn ich etwas fertig im Laden kaufe. Ich thue das ja auch. Wie oft braucht man etwas rasch. Und Lebensmittel zumal lassen sich nicht nähen, noch sticken, auch Holz und Kohlen nicht.“
„Und wozu du immer alles selbst besorgen und hinschleppen mußt. Aufspielerei –“
„Immer thu' ich es gar nicht. Lange nicht immer. Aber ich thu es gern. Ich will die Menschen auch kennen, denen ich helfe oder Freude mache. Verstehst du das nicht?“
„Nee,“ sagte er mit einem kleinen Schauder. „Sonderbare Schwärmerei, in den muffigen Spelunken herumzukriechen.“
„Aber du hast es mir damals erlaubt, erinnere dich.“
„Ja doch. Poche nur nicht gleich so auf dem Wort herum. Und erinnere du dich gefälligst auch, daß du mir versprochen hast, niemals in ein Haus zu gehen, in dem eine ansteckende Krankheit herrscht. Daß du dich immer sorgfältig erkundigst!“
„Aber selbstverständlich.“
Er wandte sich zur Thür, auf der Schwelle blieb er stehen.
„Uebrigens fragst du mit keinem Wort, wie mir's geht. Recht teilnahmvoll, muß ich sagen.“
„Du hattest mich vorhin ersucht, dich vorläufig in Frieden zu lassen. Aber es scheint, dir ist wieder ganz wohl?“
„Unwohl war mir überhaupt nicht, bloß ängstlich. Du sahest mich wohl schon auf dem Siechbett, ja? Machte dir wohl Spaß, wenn ich auch mal krumm liegen müßte?“
„Was soll man darauf antworten?“
„Nichts, natürlich, wenn dir keine freundliche Silbe einfällt. An eine pantomimische Andeutung deines Wohlwollens bin ich ja sowieso nicht gewöhnt.“ Und als sie sich mit unbeweglichem Gesicht tiefer auf ihre Arbeit neigte, „Du wirst's noch einmal bereuen wenn ich erst in der Grube liege.“
Hanna lächelte bitter. „Das mit dem in der Grube liegen wird sich wohl in umgekehrter Reihenfolge abspielen. Du brauchst nicht zu fürchten, daß ich dich überleben werde.“
„Aber passen würde es dir, was? wenn ich gnädigst abschnurrte und dich als reiche, junge Witwe übrig ließe, und du dann das vergoldete Pfötchen wieder frei hättest?“
Er kam von der Thür zurück, die Hände in den Hosentaschen, stellte er sich breitbeinig vor sie hin. „Würdest du wohl das Trauerjahr aushalten, wenn du mich glücklich los wärest?“
Sie lehnte sich zurück und sah ihm voll in die feindselig glitzernden Augen. „Wer dich zum Mann gehabt hat, Ludwig, der sehnt sich nach keiner zweiten Ehe mehr.“
Er lachte laut auf, so schallend und häßlich, daß Hanna nervös gequält die Schultern zusammenzog. „Ausgezeichnet! rief er und drehte sich, wie in hellem Vergnügen, auf dem Absatz hin und her. „So viel Esprit hätt' ich dir gar nicht zugetraut. Das Orakel zu Delphi ist ja der reine Waisenknabe gegen dich. – Na, beruhige dich,“ fuhr er fort, und seine Stimme bekam plötzlich einen heisern, dumpfen Klang. „Sollte ich wirklich das Pech haben, vor dir ins Gras beißen zu müssen, so wird deine Trauer um meinen Verlust aufrichtig sein. Verlaß' dich drauf! Dafür hab' ich gesorgt!“
Es kann doch nicht im Ernst Dein Wille sein, daß wir uns auseinanderleben sollen. Weißt Du, wann wir uns zum letzten mal gesehen haben? Vor dreiviertel Jahren. Denn die fünf [759] Minuten, die Du an meinem Bett gesessen hast, nachdem der Kleine geboren war, kann ich unmöglich mitrechnen. Jetzt ist Düttila acht Monate alt und Du weißt noch nicht, wie er aussieht. Das kleine, verquatschte Ding von damals, acht Tage lang, schlafend, immer schlafend, bis an die Nasenspitze zugedeckt, das gilt schon lange nicht mehr. Ich weiß ja, daß man mit Dir nicht so streng rechnen darf. Aber es thut mir doch beinahe ein bißchen weh, daß Du es übers Herz bringst, Dich so lange nicht um uns zu kümmern. Von einem Bekannten, der Deinen Mann gesprochen hat, hörte ich, daß Du schon seit drei Wochen von der Reise zurück bist. Solltest Du wirklich noch kein halbes Stündchen für uns übrig gehabt haben? Ich könnte ja mit Dir schmollen und sagen: laß sie laufen. Aber das will ich eben nicht. So schelte ich Dich lieber aus. Du weißt ja, wie es gemeint ist. Ich kenne Dich doch nun schon so viele Jahre, und wenn auch immer Lücken dazwischen gewesen sind, und wenn ich auch in letzter Zeit wenig Herzensfreude. an Dir gehabt habe – wofür Du ja nichts kannst – Treulosigkeit wäre das allerletzte, was ich Dir zutraute! Fühlst Du Dich zu wenig wohl, um zu mir zu kommen, so will ich Dich gern besuchen; obwohl Du weißt, daß ich es immer viel gemütlicher finde, wenn Du bei mir bist. Hier haben wir ja doch vor allen Dingen die Kinder! Von Düttila sage ich Dir absichtlich nichts. Du sollst ihn selber sehen. Heidi hat Dich noch nicht vergessen, wenigstens kennt er recht gut Dein Bild im Album. Ist das nicht lieb von dem kleinen Kerl? Schade, daß Du sein Entzücken über die drei Lichtchen auf seiner kleinen Geburtstagstorte neulich nicht hast sehen können. Aber Du warst noch verreist, sonst hätte ich Dich feierlich eingeladen. Er sagt übrigens jetzt schon lange nicht mehr ‚Tananna‘, sondern ganz ordentlich ‚Tante Hanna‘. Du wirst Dich überhaupt wundern, wie er sich entwickelt hat. Otto läßt Dich herzlich grüßen. Er hat sehr viel zu thun, worüber er seelenvergnügt ist. Heidi will auch immer ‚Maschinen malen‘ wie Papa, aber seine Räder werden Eier und seine Schornsteine fallen um.
Nun höre ich auf. Ich wollte Dir fünf Scheltworte schreiben, und nun ist ein fünf Seiten langer Schwatzbrief daraus geworden. Otto würde sagen: Dafür bist du eben ein Frauenzimmerchen. Also nun sei nett und lieb und komm' und zwar bald! Wir sehnen uns alle nach Dir.“
„Gutes, kleines Ding,“ sagte Hanna leise vor sich hin und schob den Brief, den sie noch einmal – jetzt erst in Ruhe – gelesen hatte, in den Umschlag zurück. Müde stützte sie den Arm auf den Schreibtisch, an dem sie saß, und legte die Stirn in die Hand.
Ob es mein Wille ist, daß wir uns auseinanderleben sollen? Freilich ist es mein Wille, schon lange. Nur, daß ich ihn nicht durchsetze bei dir, daß ich gegen deine sanfte, zähe Treue nicht aufkomme. Ich kann dir ja auch den Grund nicht sagen. Ich muß auf meiner Schattenseite bleiben, wenn ich mir die nötige Ruhe bewahren will. In deinem warmen Sonnenschein wird mir sonst unsinnig zu Mute. Er tröstet nicht, er thut weh. Er wärmt nicht, er zündet Fieber in mir an, er macht mich krank. Ich darf auch deine Kinder nicht sehen. Von Heidis süßem Stimmchen zittert mir das Herz. Tagelang, wochenlang werd' ich seine schimmernden Augen nicht los. Das geht ja nicht, das geht ja nicht. Und nun ist da noch eines, das auf dem Kissen liegt und strampelt mit seinen runden Beinchen, und so weiche Haut hat wie ein Blumenblatt, und das jubelt und kräht, und mich mit seinen Händchen ins Gesicht patscht, wenn ich mich darüber beuge – –
Sie legte den Kopf auf die verschlungenen Arme und weinte bitterlich. Aber nicht lange. Sie war es schon sehr gewohnt, sich zu beherrschen. Also dann morgen, schloß sie, traurig ergeben. Auf diesen Brief kann ich nichts anderes thun.
Sie zog nun mit einiger Hast das Wirtschaftsbuch heran, das ihr Pauline bereit gelegt hatte, und vertiefte sich, vor sich selber flüchtend, in den Kostenüberschlag der letzten Woche. Damit fertig, begann sie mit der Durchsicht eines Stapels kleiner blauer Hefte, die sie einzeln aus dem geöffneten Seitenfach des Schreibtisches nahm. Sie enthielten die sorgsam verzeichneten Personalien ihrer sämtlichen Schützlinge. Im Lauf der Jahre hatte sie ihre Armenpflege, die damals gelegentlich des gebrochenen Knöchels von Gärtnerfritzchen ihren harmlosen Anfang nahm, planmäßig geordnet. In einem Adreßbüchelchen, das stets zu oberst liegen mußte, befand sich das Wohnungsregister. Jeder einzelne der Klienten, oder er mit seiner Familie, war in einem besondern Heft mit ausführlichem Nationale eingetragen. Der Name auf dem Deckel verhalf zur alphabetischen Ordnung, Geburts-, Krankheits-, Sterbefälle wurden treulich vermerkt ebenso das Datum und die Art der jeweilig empfangenen Unterstützung, die häufiger in sorgsam ausgewählten Gebrauchsgegenständen und Lebensmitteln als in barem Gelde bestand. Ein anderes Fach des Schreibtisches enthielt den nun schon recht ansehnlichen Packen von Sparkassenbüchern, deren jedes Kind ihrer „Bettelfreundschaft“, wie Ludwig sie liebevoll bezeichnete, eines besaß und die zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zum Geburtstag des kleinen Eigentümers, ihre bestimmte neue Zuzahlung bekamen. Dadurch daß Hanna die Bücher selbst in Verwahrung behielt, schützte sie die Leute vor der Versuchung, zur unrechten Zeit Gebrauch von dem Gelde zu machen, das bestimmt war, bis zur Konfirmation anzuwachsen um dann beim Eintritt in Lehre oder Dienst die nötigen Anschaffungen zu erleichtern.
In dieser planmäßigen, ausführlichen und intimen Art der Armenpflege strebte Hannas empfindliches und stets gequältes Gewissen sich zu entlasten. Durch die persönliche Bekanntschaft mit den einzelnen Verstoßenen des Geschicks, durch die unmittelbare Teilnahme an ihren Kümmernissen suchte sie dem Schuldbewußtsein das sie mit ihrer Geldheirat auf sich genommen hatte, ein Gegengewicht zu bieten. Mit der Zeichnung großer Summen in öffentlichen Sammellisten fühlte sie sich persönlich nicht losgekauft von der Verpflichtung, die der Beste dem Reichen auferlegt. Nach dieser Richtung that ja auch Ludwig, „ihr Geldsachen immer nobel, in großem Umfange das Seinige. Ueber ihre „verrückte und sentimentale Art“, die Sache anzufassen, spottete er zwar unausgesetzt, ließ sie aber gewähren, da sie keine ihrer sonstigen Verpflichtungen darüber versäumte. Daß sie sich, in ihrer unbesiegbaren Scheu vor fremden Menschen, standhaft weigerte, irgend einer gemeinnützigen Vereinigung beizutreten, fand natürlich seine Billigung, er hätte ihr andernfalls nichts dergleichen erlaubt. Wofür sie den Ueberschuß ihres reichen Taschengeldes verwendete, interessierte ihn nicht, so lange er an ihrer persönlichen Eleganz nichts auszusetzen fand. Von irgend einer Teilnahme an dem, was sie that, war freilich nicht die Rede, aber sie erfuhr hierin wenigstens keinen Eingriff. Die wehmütige Freude an der Linderung fremder Not war die einzige, die er ihr noch nicht verdorben hatte.
Hanna war mit der Durchsicht fertig. Mehreres hatte sie noch einzutragen gehabt nach der Reise. In ihrem kleinen Notizbuch standen die Anschaffungen und Bestellungen vermerkt, die nötig geworden waren und die in den nächsten Tagen, noch vor dem Breslauer Besuch, erledigt werden mußten.
Zögernd blätterte sie zurück bis zu der Seite, auf der Günther heute den Buchtitel aufgeschrieben hatte. Sie betrachtete den Namen, den sie nun seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, sie sprach ihn laut vor sich hin, Arnold Rettenbacher. – Es erging ihr seltsam. Von dem wehen, heißen Zucken, das früher durch sie hingegangen war, wenn sie an den verlorenen Freund gedacht hatte, verspürte sie heute nichts mehr. Nur wie ein „Traum geliebter Schmerzen“ klang leise ein Ton in der Tiefe ihrer Seele auf, ein Ruf, ein fragender. Sie horchte auf ihn mit dem bittern Lächeln leidvoller Verwunderung. So fern war das schon? So ganz dahinten im Dämmer? So tief verschüttet? Wer hatte das gethan? Die Zeit! Das Leben! Die Zeit mit ihrem stäubenden Flugsand, der sacht in alle Fugen dringt, allmählich Schicht auf Schichten häufend, Grabhügel wölbend. Das Leben, das nicht fragt: Bist du müde? thut's noch weh von gestern? das frische Wunden unweit brennender Narbe reißt, das immer neue Lasten häuft auf mattgebeugte Schultern, das tröstend sagt: Sieh doch, wie stark du bist, das alles trägst du, auch dies, und dies noch. Und sinkst noch nicht zusammen. Noch lange nicht. Und über das von damals – weißt du noch? – hast du so bitterlich geweint. Das thätest du heute nicht mehr. – –
Nein, über das von damals heute nicht mehr.
So alt also war sie in diesen fünf Jahren schon geworden. Was sie heute gepackt und geschüttelt hatte, als sie mit Günther sprach, war nicht das Zittern schwer bekämpfter Schmerzen gewesen, sie wußte es wohl. Nur wie durch ein aufgesprungenes Thor [760] war die Flut der Erinnerungen über sie hingestürzt, von brausenden Orgeltönen getragen, von singenden klingenden Menschenstimmen begleitet. Und nur die Angst, es möchte wieder über sie kommen wie einstmals, hatte sie zittern gemacht. Es war nicht über sie gekommen, und sie hatte zu zittern aufgehört. Sie war ruhig geworden. Sie war es auch jetzt. Die vielgeliebte Stimme aus der Tiefe, aus dem fremdgewordenen Damals that ihr heute kein Leid mehr an – Sie schloß das Notizbuch und legte es weg.
Zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen saß sie eine Zeit lang still, die Hände im Schoß gefaltet. Vor ihr, auf der geöffneten Schreibmappe, lag ein frisches Briefblatt. An den Pastor Erdmann wollte sie schreiben, ihm sagen, daß sie dann und wann zu ihm käme, endlich wieder einmal. Wollte sie? Mit gerunzelter Stirn schüttelte sie den Kopf und drückte die verschlungenen Finger fester zusammen, ohne sich von der Lehne wegzurühren. Spiegelfechtereien. Warum log sie sich das selber vor? Sie wußte ja, daß sie nicht schreiben würde, daß sie nicht zu ihm gehen würde, gar nicht mehr, überhaupt nicht mehr. Wann hatte sie ihn zuletzt gesehen? Wohl vor zwei Jahren? Vor länger als zwei Jahren. Noch ehe jener Schrecken über sie gekommen war. Der kalte, schmerzhafte Schrecken, daß dieser Bund, diese Ehe gesegnet sein sollte, daß ein lebendiges Zeugnis ihrer Erniedrigung aufwachsen sie mit Augen ansehen, mit vernehmlicher Stimme zu ihr sprechen sollte. Mit seinen Augen vielleicht, mit seiner Stimme, ein Abbild von ihm, eine Wiederholung von ihm. O Jammer, o Schmach und Scham! Aus dieser Ehe ein Kind! – – Wie lange währte wohl das Grauen damals, das sie ruhelos umtrieb? das ihr den Atem hemmte, den Mund austrocknete? – – Nicht gar lange, dünkte ihr jetzt. Nur, bis mit der Gewißheit ein Sturm, wie Frühlingswehen über ihre eingefrorene arme Seele kam. Ein Kind! Kein Zeuge meines Elends, ein Trost in meinem Elend! Nicht Schmach mehr, sondern Sühnung! Nicht Scham und Jammer, sondern Heilung, Glück! Ein Kind! Mein Kind! –
Hanna, in ihrem Sessel lehnend, zitterte am ganzen Leib; aus den geschlossenen Augen rannen Thränen über das blasse, schmale Gesicht. Wußte sie noch so gut die heilig süße Wonne jener Tage? – Ach, allzugut! Zum Nievergessen! Tief in ihrem Herzen, ungesehen, unlöschbar, brannte die kleine zehrende Flamme der Sehnsucht nach diesem kurzen Traum von Glück. – Und er? – Das war doch wohl Vaterfreude, die ihm aus den Augen sah, damals? die ihn sanfter machte? Es sollte also doch wohl noch gut werden mit ihnen beiden? Ein kleiner Cherub – man mußte ihm nur Zeit lassen – spann feine, lichte Fäden zwischen ihnen. Er küßte auch heimlich die Splitter des zerbrochenen Talismans, und siehe. – sie fügten sich zusammen, goldig im Frührot glänzend, von Tauperlen überschimmert, begann der neue Tag. – Er erlebte seinen Mittag nicht; überlebte kaum seine erste Stunde. Nebel krochen daher, kämpften mit dem hellen Freudenschein, drückten ihn nieder, fraßen ihn auf. Leiden, Leiden, Schmerzen, lange Finsternisse. Frost im Blütenbaum, Tod im Hoffnungsfrühlingl In grauer, kühler Dämmerung that der andere neue, der altgewohnte Tag die Augen auf.
Die wache Träumerin im Schreibtischsessel öffnete die brennenden Augen und starrte ins Leere. Der Doktor hatte gut reden gehabt mit seinen Tröstungen. Auf die gab sie nichts mehr, die kannte sie, diese barmherzigen ärztlichen Lügen. – Ob sie ihm etwas gegolten hatten, dem Mann, der mit düster funkelnden Augen damals am Fußende ihres Bettes stand und dem noch kein gutes, warmes Wort über die Lippen gegangen war, seit der Jammer sie gepackt und niedergeworfen hatte? Er grollte heftig mit ihr, die ihn um die schöne Hoffnung betrogen hatte.
Hanna war nun wieder ganz wach und richtete sich auf. Vor diesem Kapitel ihrer Erinnerungen schlug sie das Buch zu. In einem fröstelnden Schauer, der ihr über den Nacken hinunterlief, sah sie sich in ihrem Zimmer um, dessen bunte Stoffe und glänzende Goldverzierungen im Abenddämmer zu verschwimmen begannen. Noch lag das weiße Briefblatt auf der offenen Schreibmappe. Sie schob es weg. Nein. Nicht mehr schreiben. Nicht mehr hingehen. Sie hatte schon lange nichts mehr zu erzählen. Ein Tag glich dem andern, ein Monat, ein Jahr dem andern. Nur daß Schnee und Frühlingsblumen, Sonnenglut und Herbstnebel in ihnen wechselten – Um ihre schönen Reisen wurde sie viel beneidet. Sie hätte sie mit Freuden hingegeben für die sichere Gewähr eines stillen Plätzchens, wo sie allein gewesen wäre. Auf der ganzen weiten Welt wünschte sie sich nichts mehr als dieses stille, einsame Plätzchen. – Ja doch, es war schöner draußen, unterwegs. Die Sonne ging herrlicher auf im Hochgebirge als in Berlin. Ihr Scheiden am Abend, wenn der glühende Ball weit drüben, am Rande der Welt, im Meer versank, löste mit seinem über die Kräuselwellen hinschimmernden Gruß ihr gefesseltes Herz zu raschern Schlägen als daheim. – – Ihr Tagewerk blieb allerorten und vom Morgen bis zum Abend das gleiche: Verlernen, sie selbst zu sein. Sie hatte es in dieser Wissenschaft schon weiter gebracht, als es ihr anfangs möglich erschienen war. Ein frisches Zweiglein nach dem andern hatte die gefräßige Heckenschere abgestutzt. Mit der Zeit mochte aus dem lebenskräftigen, sonnenfrohen Baum noch die anständigste, glatteste, undurchsichtigste Pyramide werden, bei der kein Blättchen weiter hervorstand, als es der Gärtner erlaubte.
Ein solcher Baum erzählt nichts mehr, er verstummt. Seine starrgewordenen Zweige rauschen nicht mehr, seine Blätter, die ängstlich, dichtgedrängt beieinandersitzen – viele, viele mitten durchgeschnitten – verlernen selbst das Flüstern. Für den achtlos Vorübergehenden sieht so ein kunstgerecht verstümmeltes, unpersönliches Gewächs langweilig aus, für den Wachsamen, der davor stehen bleibt und mit warmen Augen in das reglose Blätterdickicht hineinschaut – unaussprechlich traurig.
Hanna Wasenius hatte schon recht gut gelernt zu schweigen. In ihrem stillgewordenen Gesicht stand nicht viel mehr zu lesen als die höfliche Antwort auf die Fragen des täglichen Lebens, als die Aufmerksamkeit auf das, was von ihr verlangt wurde, um das Wohlergehen und die gute Laune ihres Gebieters möglichst ungetrübt zu erhalten. Um ihr Pflichtversäumnisse vorzuwerfen, bedurfte es schon eines erklecklichen Aufwandes von galliger Stimmung, der dann freilich jedes Mittel recht war. Der große, anspruchsvolle Haushalt, in dem die Partei der Dienenden der der Herrschenden um mehr als das dreifache überlegen war, ging bis auf das kleinste Rädchen seines vielfältigen Getriebes in ungestörter Ordnung, eine Annehmlichkeit, die erst mit der Regentschaft der jungen Herrin begonnen hatte. Wirtschafterinnen sowohl wie andre Untergebene hatten bis dahin fleißig gewechselt, und länger als ein halbes Jahr hatte auch der hohe Lohn keinen Dienstboten unter Ludwigs launischem Scepter gehalten. „Die anständige Art, wie sie mit einem umgeht, und daß sie nie grob und nie ungerecht ist,“ erreichte jetzt, was dem Geld allein nicht hatte gelingen wollen. Sogar Henriette mit der feinen Herkunft hatte sich an ihre „unschicke“ Herrin gewöhnt, Pauline würde ihr das Gegenteil auch arg eingetränkt haben. Ihr aus Küchenfeuer gewobener Glorienschein halte sich zu einem wehmütigen Strahlenkranz ausgewachsen, aber mit anerkennenswerter Dankbarkeit teilte sie nach wie vor den Ruhm, den die auserlesenen und stets mit Ueberraschungen verbrämten Gastmähler des Hauses Thomas genossen, zwischen sich und ihrer lieben Gnädigen.
Ring auf Ring schloß das Werden und Vergehen der Jahre.
Das wehende Laub der kleinen Traueresche streichelte sacht das Grab der stillen Frau, deren blasser Schatten bis auf den Hauch der Erinnerung versunken schien. Der verschwiegene Winkel, in den er sich geflüchtet hatte, um von dort, durch den Klageruf unverlöschbarer Sehnsucht wachgehalten, aus großen schlaflosen Augen in das blühende Leben herüberzuschauen, war eng umhegt und so dicht übersponnen von dem zarten, aber unzerreißbaren Rankengeflecht des Stolzes und des festen Willens, daß keines Menschen Fuß mehr den Pfad dorthin gefunden hätte. Es suchte ihn freilich auch keiner. Außer ihrem Kind war niemand da, dem sie gefehlt hätte. Längst schon war jede Spur ihrer Anwesenheit im Hause verwischt,.Während der ersten Reise, die Thomas mit seiner Frau unternommen hatte, waren die Aufräumungsarbeiten besorgt worden. Ehe die Herrschaften zurückkehrten, müßte alles wieder in der früheren Ordnung sein, hatte Ludwigs Befehl gelautet. Hanna war ohne Ahnung, daß, während sie sich in Italien auf allerhöchsten Befehl erholte und sich genau nach Vorschrift „amüsierte“, in den Zimmern der Mutter die Scheuerfrauen wüteten und mit Besen und Putzlappen den letzten Hauch der armen Seele zum Fenster hinausjagten. August hatte mit äußerster Strenge die sorgfältige
[761][762] Verpackung und Verwahrung der Möbel, die in diese Räume gehört hatten, überwacht. Die Wiedereinrichtung des Billardzimmers und des japanischen Salons aber hatte er völlig dem dazu bestellten Dekorateur überlassen, um damit zu bezeigen, daß er mit dieser Sache weiter nichts zu schaffen haben wollte. Mehr zu thun, um seine Teilnahme für die gnädige Frau zu beweisen war ihm nicht Gelegenheit geworden.
Hanna war zu gerecht, um sich nicht zu sagen, daß eine Aenderung in diesem Sinn unumgänglich gewesen sei. Nur hatte sie erwartet, sie selbst und unbeeinflußt bewerkstelligen zu können und zu diesem Behuf den immer noch verweigerten Schlüssel zum Sterbezimmer ausgeliefert zu bekommen. Ihren heißen, tiefen Schrecken bei der Heimkunft hatte sie so gut zu verbergen gewußt, daß sich Ludwig seine wohlvorbereitete Standrede über krankhaftes Sichgehenlassen füglich hätte sparen können. Daß er sie doch hielt, geschah nur, um seiner Frau zu zeigen, wie gut er darauf vorbereitet gewesen sei, sie renitent und albern zu finden, und daß sie nur ja nicht glauben solle, er durchschaue sie nicht.
Seitdem hatten Schwärme von lustigen Leuten diese und die andern Gesellschaftszimmer mit Lachen und Schwatzen erfüllt. Hanna vermied es ängstlich, bei solchen Gelegenheiten die verwandelten Räume zu betreten. Nur manchmal, zu stillen Stunden, wenn ihr Mann nicht daheim war, dann ging sie leise, leise dort hinein, setzte sich an der Stelle, wo das Bett der Mutter gestanden hatte, auf den langen Lederdiwan – und schloß die Augen.
Ein Beitrag zur Frauenfrage, mitgeteilt von Paul Heyse.
(1. Fortsetzung.)
Mein Mann ist in seinen ärztlichen Verein gegangen, der einzige Abend der Woche, an dem er mir untreu wird. So will ich die einsame Stunde benutzen, liebste Mary, in meiner Generalbeichte fortzufahren, wenn sie auch leider ganz arm ist an lustigen oder leidenschaftlichen Abenteuern, aus denen sich ein „Roman meines Lebens“ für irgend eine Wochenschrift zusammenschreiben ließe. Sogar von so unschuldigen Eintagsverliebungen, wie ich sie Dir in meiner Backfischzeit anvertraute, kommt nichts darin vor. Und daß ich, wie es zwischen Siebzehn und Zwanzig bei so vielen unseres Geschlechts üblich ist, auf den Männerfang ausgegangen wäre, traust Du Deiner Martha gewiß nicht zu.
Ich hätte auch weder Zeit noch Gelegenheit dazu gehabt. Denn obwohl mich die Mutter in ihrer häuslichen Vielgeschäftigkeit nur als zuschauende Volontärin duldete, die Hände durfte ich darum nicht in den Schoß legen.
Es war ja noch einer ihrer Glaubenssätze, ein Mädchen müsse jedes Stück seiner Aussteuer selbst anfertigen. Gewiß beklagte sie es im stillen als einen Verfall weiblicher Sitte, daß die Zeit vorüber war, wo man auch die Leinwand dazu im Hause spinnen und weben mußte. um sich der Ehre, in den heiligen Ehestand zu treten, durchaus würdig zu machen. Wie manches sitzengebliebene arme Ding mag damals einen wahren Haß und Abscheu gegen den wohlgefüllten Leinenschrank gefühlt haben, der sie an so viel verlorene Liebesmüh’ erinnerte! Und heute, in der Zeit der Nähmaschinen, da sich die anspruchsvollste Braut ihren Trousseau in einigen Tagen zusammenkaufen kann – – wie viel stille Thränen sind mir in die schöne Leib- und Tisch- und Bettwäsche geträufelt, die ich einer altmodischen Grille zuliebe eigenhändig zuschneiden, säumen und fertig nähen mußte!
Handarbeit – das Los des Weibes in der guten alten Zeit! Aber wir waren doch auch mit der neuen Zeit fortgeschritten, auch die schönen Künste wurden gepflegt, jeden Tag zwei Stunden Klavier gespielt, dazwischen Blumen auf Kästchen und Porzellan gemalt, zu billigen und doch besonders wertgeachteten Geschenken. Leider nur beides ohne eigentliches Talent. Die Frau aber soll „das Leben schmücken lernen“, um selbst ein Schmuck des Lebens zu sein!
Durch nichts wird grausamer an uns Armen gesündigt, als durch schönklingende Maximen, mit denen man uns schmeicheln will!
Wenn ich damals meinem guten Papa geklagt hätte, daß ich unter der gräßlichsten Langweile litt, hätte er mich groß angeschaut. Wär ich nicht von morgens bis abends „beschäftigt“? Lobte mich nicht die Mutter über meinen Fleiß? Und wurde mir nicht zur Belohnung für diesen Fleiß erlaubt, während des Winters manchmal ins Theater oder in ein Konzert und oft auf einen Ball zu gehen, und im Sommer dann und wann eine Landpartie mitzumachen, wo auch Gelegenheit war, mit jungen Männern Bekanntschaft anzuknüpfen? Und dennoch Langweile?
Daß sie je nach den Naturen etwas Verschiedenes ist, bei dem einen das ungestillte Bedürfnis nach Zerstreuung, bei anderen das brennende Bedürfnis nach fruchtbarer innerer Sammlung, eine Art geistiger Hunger, das hätte ich meinen Eltern nicht klar machen können. Sie hatten mir ja auch nicht das Lesen verboten. Aber sie überwachten meine Lektüre, und wenn ich nach einem Buche verlangte, das mehr bot als Anregung der Phantasie, wurde mir entgegnet, das sei „zu schwer für mich“. Ich wolle ja keine Gelehrte werden, eine Spielart des weiblichen Blumenflors, gegen die mein guter Vater eine heftige Aversion hatte und die meine Mutter nicht minder verabscheute, da die heiratsfähigen jungen Männer sich vor einem Mädchen, das etwas von Darwin oder Ranke oder gar von Helmholtz wisse, mit heiligem Schauder zu bekreuzigen pflegten.
Nun, ich wußte von diesen drei großen Männern und anderen Führern der Menschheit nicht viel mehr als die Namen, und doch hatte ich wenig Glück gerade bei den Epouseurs, an denen der Mama am meisten gelegen war. Ich tanzte gut und sah, ohne Ruhm zu melden, nicht übel aus, so daß ich von meinen Bällen stets eine reichliche Ernte von Cotillonsträußchen mit heimbrachte. Dennoch verging mein dritter Ballwinter wie mein erster, ohne daß es zu einer Verlobung kam. Je mehr der Berg meiner Aussteuer in die Höhe wuchs, je tiefer sanken die Zukunftshoffnungen meiner guten Mama.
Ich stand ohne Zweifel in dem schwarzen Buche, in welchem die Namen aller Töchter aus guten Familien verzeichnet sind, die außer dem bewußten Schrank voll Leib-, Tisch- und Bettwäsche ihren Freiern nichts Erhebliches mitzubringen haben.
Dies machte mir freilich nicht den geringsten Kummer. Denn unter all den jungen Männern, mit denen ich getanzt, soupiert, ja, gesteh’ ich’s – auch ein wenig kokettiert hatte, war keiner gewesen, der mich länger als einen Ballabend interessiert hätte. Du entsinnst Dich wohl meines Bruders, Liebste? Er ist als wohlbestellter Referendar noch ein ganz so guter Junge geblieben, wie er damals war, als er Dir auf dem Eise im Tiergarten die Schlittschuhe anschnallte und Dich dabei als ein überirdisches Wesen verehrte. Im übrigen aber muß seine eigene Schwester ihm das Zeugnis geben, daß er sich über den Durchschnitt der heutigen jungen Männerwelt nicht um einen Zoll breit erhebe. In der Welt kommt es darauf an, seine Ellbogen zu rühren, um Carriere zu machen, nie mehr zu arbeiten als nötig, nicht mehr zu genießen, als der Gesundheit zuträglich ist, und sich mit überflüssigem Nachdenken über die sogenannten höheren Menschheitsfragen den Kopf nicht warm zu machen, sondern diese brotlosen Künste den Specialisten zu überlassen. So sei auch die Frau für ihren Mann eine um so erfreulichere Lebensgefährtin, je weniger geistige Bedürfnisse sie habe, die sie nur dazu verführen könnten, sich über ihren Gatten zu erheben, unbequeme Fragen zu stellen oder gar durch eigenes geistiges Schaffen ihm Konkurrenz zu machen. In ihrem eigenen Interesse müsse sie sich vorm Denken hüten, das nun einmal den Männern vorbehalten sei und die Weiber um ihre natürliche Anmut, den Reiz und Zauber echter Weiblichkeit bringe.
Unglaublich, wie diese „denkenden Herren“ der Schöpfung so gedankenlos die uralten tausendfach widerlegten Albernheiten immer wieder nachbeten können!
Daß ich also bei meinem leiblichen Bruder keine Unterstützung fand, als ich meinen Eltern erklärte, einen vierten Winter würde ich um keinen Preis mich von schönbefrackten Herren zu den Klängen der „Schönen blauen Donau“ herumschwenken lassen [763] brauche ich nicht zu versichern. Auch begriff er nicht, daß ich den brennenden Wunsch hegen könne, noch „etwas Ordentliches“ zu lernen. Ich sei ja schon gescheiter als nötig wäre, spräche drei fremde Sprachen – du lieber Gott! das Französisch und Englisch, das man uns auf der Schule beigebracht, kaum ausreichend, um einen Roman notdürftig lesen zu können, aber sprechen! Du entsinnst Dich, wie wir heimlich lachten, wenn in der oberen Klasse unser Direktor aus Racines „Athalie“ vorlas, den Accent immer auf der ersten Silbe, und die ongs und angs – und dann das bißchen Italienisch, das ich mir selbst mühsam aus den „Promessi sposi“ angeeignet hatte! Ob ich gar noch mein Lehrerinnenexamen machen oder der überspannten Freundin Maria nach England folgen wolle, obwohl die da drüben verdorben und gestorben zu sein scheine, da sie nichts wieder habe von sich hören lassen? (So weit entblödete sich Dein früherer Anbeter nicht, Dich zu verunglimpfen, da er um ein abschreckendes Beispiel für mich verlegen war!)
Ich erwiderte ganz ruhig, ich hielte es nicht aus, so beruflos herumzugehen und mir selbst zur Last zu fallen. Auch ich erkennte es als die natürlichste und beglückendste Aufgabe des Weibes an, am eigenen Herde für Mann und Kinder zu sorgen. Wenn ich nun aber zufällig zu den Millionen unverheirateter Mädchen gehören sollte, die nach den statistischen Ermittelungen das Deutsche Reich bewohnen, so könne man mir’s nicht verdenken, daß ich mich dazu vorbereiten möchte, für den geistigen Hunger, den ich fühlte, mir die zusagende Nahrung zu schaffen.
Dazu würden mir auch die schönen Vorträge im Lyceum, die ich einen Winter lang hatte besuchen dürfen, nicht verhelfen. Da werde eben geistiges Konfekt geboten, sehr appetitlich zum Naschen für die Töchter der oberen Zehntausend. Ich aber hungerte nach Brot, nach nahrhaftem, selbst verdientem und erarbeitetem Brot, nicht nach Kuchen, wie sie zum Dessert für einen verwöhnten Gaumen geeignet sein möchten! Hartes Holz wollte ich bohren, von der Pike auf dienen und mich gar nicht schämen, mich auf meine alten Tage – ich war ja schon einundzwanzig alt! auf die unterste Bank eines Mädchengymnasiums zu setzen, um mit mensa mensae meine Lehrjahre zu beginnen. Otto lachte dazu. So alte Schülerinnen würden ja an den paar weiblichen Gymnasien gar nicht aufgenommen. Wenn ich einen so unbezwinglichen Heißhunger nach Latein und Griechisch hätte, die er nur immer mit Widerstreben habe hinunterwürgen können, so wolle er mir seine alten Grammatiken schenken – „nein“, setzte er hastig hinzu und errötete (in dem Bewußtsein, sie längst „verklopft“ zu haben), du für dich allein kannst ja nicht weit kommen, du müßtest Privatstunden nehmen. Und auch in den anderen Gymnasialfächern, wenn du das Abiturientenexamen machen willst, um zu studieren. Das kostet ein Heidengeld. „Und was möchtest du denn studieren?“
Das hatte ich noch nicht genauer überlegt. Er wisse wohl, sagt’ ich, daß ich früher leidenschaftlich gewünscht hätte, Medizin zu studieren. Eine ältere Schwester unsrer Mutter, Tante Lisbeth, hatte zehn Jahre lang mit uns gelebt, in einem kläglichen Zustande. Sie hatte sich als junges Mädchen, da sie von einer schweren Unterleibskrankheit befallen wurde, nicht entschließen können, sich der Untersuchung durch einen Arzt zu unterziehen, und Aerztinnen gab es damals noch nicht in Berlin. So war das Uebel mit der Zeit unheilbar geworden, hatte ihre Jugend zerstört, ihre späteren Jahre verdüstert so daß sie in einer Schwermut dahinlebte, die an Irrsinn grenzte.
Sobald ich dies alles eingesehen, war in meiner jungen Seele das brennendste Mitleid erwacht mit dieser armen Dulderin und den Unzähligen, die gleich ihr an ihrem weiblichen Zartgefühl zu Grunde gehen. Aber die Eltern wollten davon nichts wissen, daß ich in die Schweiz ginge, um zu studieren, und als die arme Tante endlich von ihrem Leiden erlöst war, trat auch mir der Gedanke wieder fern, zumal ich ein geheimes Grauen vor der Anatomie und allem sonstigen schwer zu Ueberwindenden hatte, was mit dem ärztlichen Beruf zusammenhängt. Dich, meine Maria, bewunderte ich um so mehr, daß keine Blutscheu, kein Schauder und Ekel vor dem Handwerk der Kunst, der Du Dich widmen wolltest, Dich von Deinem Vorsatz zurückschrecken konnte. Und daß das weibliche Schamgefühl verletzt werden müsse durch das ärztliche Studium – wie die Professoren behaupten, die unser Geschlecht aus ihren Hörsälen fernhalten wollen –, ist doch nur ein leeres Gerede, ebenso wie die Behauptung, wir seien für diesen anstrengenden Beruf körperlich nicht kräftig genug. Als ob der Pflegedienst von Diakonissen und barmherzigen Schwestern nicht oft eine härtere Arbeit wäre und das weibliche Zartgefühl dabei nicht auf ebenso schwere Proben gestellt würde, ohne daß die Männer, die immer mit doppeltem Maße messen, Einspruch dagegen thaten! Haben sie sich nicht auch von jeher darein ergeben, einen Teil ihrer Pflichten an die „weisen Frauen“ abzutreten? Und gestehen die Ehrlichsten unter ihnen nicht ein, daß es nur die Furcht vor der vermehrten Konkurrenz ist, was ihnen das Eindringen unseres Geschlechts in den medizinischen Beruf bedenklich erscheinen läßt? Aber wenn ich für meinen Teil zur Aerztin verdorben war, gab es nicht andere Wissenschaften, die das Ungenügen einer nachdenklichen Mädchenseele stillen konnten? Freilich nur, wenn ihr erlaubt würde, von dieser Speise zu essen, nicht bloß zu naschen. Wäre wirklich ein weibliches Gehirn nicht groß genug, Geschichte, Litteratur- oder Kunstgeschichte aus dem Grunde zu studieren, eine der Naturwissenschaften sich anzueignen und daraus einen Lebensberuf zu machen? Hat es nicht Frauen gegeben, die sogar in Mathematik und Astronomie die Bewunderung ihrer Fachgenossen gewonnen haben? Ausnahmen! warf mein Bruder mir ein. Ja freilich, da heute noch ein ausnahmsweises Maß auch von Willenskraft und Mut dazu gehört, die angeborene Begabung zu so strengen Disziplinen auszubilden, und überdies eine besondere Gunst der äußeren Umstände! Mädchen, die acht Jahre lang keinen anderen Unterricht genießen durften als den unserer „höheren Töchterschulen“, von den „Instituten“ ganz zu schweigen, deren Kopf nur angefüllt wurde mit einem Haufen zusammenhangloser bunter Namen und Daten, deren Denkkraft nicht einmal an dem logischen Bau einer der alten Sprachen sich üben durfte, da alles Gewicht auf das Nachplappern von Vokabeln und Sätzen der ausgeschliffenen modernen gelegt wurde – wie kann es solchen Mädchen ohne eine übermäßige Anstrengung gelingen, nachdem sie die schönste Zeit, wo das Gedächtnis noch frisch ist, verloren haben, noch einmal von unten anzufangen und das, was die Knaben in acht methodisch eingeteilten Schuljahren lernen, auf ihre eigene Hand nachzuholen und, immer nur mangelhaft und auf Kosten ihrer leiblichen Gesundheit, in sogenannten „Humanistischen Kursen“ sich anzueignen?
Aber selbst auf die Gefahr hin, bleichsüchtig zu werden und bis zu meinem fünfundzwanzigsten Jahr den ganzen Wissensstoff halbverdaut zu verschlingen, der zum Zeugnis der Reife erforderlich ist, – ich hätte mit Freuden alles daran gesetzt, um nur das Gefühl geistiger Ohnmacht und Unzulänglichkeit los zu werden. Was ich dann für ein Studium wählen würde, wär mir einstweilen noch dunkel, aber auch sehr gleichgültig. Alles prüfen und das Beste, mir Gemäßeste behalten! Wissen denn die Knaben in der Prima alle schon genau, für welche Wissenschaft sie sich eignen würden? Höchstens, was sie werden wollen, und auch das meistens nur, weil ihre Väter es ihnen vorschreiben! Ich aber wollte zunächst nichts werden, nur etwas sein, etwas, was mich innerlich befriedigt, daß ich vor mir selbst Respekt haben könnte. Irgend einen Kreis von Erkenntnissen vollständig beherrschen, so daß ich mich darin zu Hause fühlte. In Liebe, das ist das Wort. Mit unserer oberflächlichen Schulbildung waren wir nicht weiter gekommen als ein Mensch auf Reisen, der an jedem Ort nur ein paar Wochen bleibt, dann wieder in einem anderen Gasthofsbette schläft und von den Städten, die er durchfliegt, nur die Kirchtürme und ein paar Straßen kennenlernt. Ich wollte mein eigenes Bett haben, das unter meinem eigenen Dache stände, und rings umher Bescheid wissen um Menschen und Dinge, und wenn es nur auf ein paar Meilen im Umkreis sein sollte.
Das alles sprudelte ich in wachsender Aufregung heraus, während mein Bruder mich mit verständnislos ironischem Lächeln wie eine halb Verrückte anstarrte. In der Verlegenheit, mir die Berechtigung zu dieser meiner Forderung mit Gründen zu bestreiten, kramte er die tausendmal widerlegten frivolen Einwände gegen Frauenstudium und das Streben des weiblichen Geschlechts nach männlichen Berufsarten hervor, immer mit der beleidigenden Kühle wie einer Unmündigen gegenüber, da doch seine eigenen Reden bewiesen, wie unreif sein Denken, wie flach seine Begriffe waren, daß ich endlich meine Besonnenheit verlor und mich zu [764] bitteren und höhnischen Repliken fortreißen ließ. So gab es ein häßliches Rededuell, das endlich durch den Eintritt meines guten Papas zum Stillstand kam.
Ich schwieg, denn der Bundesgenosse, den ich in meinem Bruder zu finden gehofft hatte, um meine Sache beim Vater durchzufechten, hatte sich als gehässiger Gegner erwiesen. Ich war ratloser als zuvor. Wie sehnsüchtig dachte ich an meine Maria, die mir mit ihrer ruhigen Klugheit in meinen kleinen Backfischnöten zur Seite gestanden hatte und auch jetzt mir gesagt haben würde, was mein Recht und meine Pflicht gewesen wäre.
Aber es kam ja auch nicht dazu, daß ich diesen Konflikt mit eigener geistiger Schärfe lösen sollte. Das Schicksal löste ihn und verwies mich einzig auf die nächste, sehr sehr traurige Pflicht.
Mein lieber Vater, der sich in seinem Amt übermäßig angestrengt hatte – preußische Beamte werden nicht geschont – verfiel in eine schwere Krankheit – die seine letzte sein sollte. Als er nach einem monatelangen Hinsiechen die Augen schloß, waren alle Gedanken an mein eigenes Lebensrecht in mir verstummt. Ich hatte keine andere Aufgabe vor mir, als meiner kraftlosen Mutter eine Stütze zu sein und ihr wenigstens die peinlichsten Lebenssorgen abzuwehren.
Denn wir fanden uns plötzlich nach einem leidlichen Wohlstand in sehr engen Verhältnissen. Die Witwenpension reichte nicht entfernt dazu hin, das Haus auf dem alten Fuße fortzuführen, zumal mein Bruder mit zu erhalten und verschiedene Gläubiger zu befriedigen waren. Nun erst erhielt ich auch einen Einblick in die üble ökonomische Wirtschaft, zu der gewisse Vorurteile veralteter Solidität und häuslicher Tüchtigkeit meine gute Mutter geführt hatten. Ich will dich mit den Details verschonen! Sie hatte es immer gut gemeint, aber nie gelernt, das Hauswesen im ganzen zu übersehen und nach einem vernünftigen Plane zu leiten. So Vieles, was mit einem unverhältnismäßigen Aufwand von Müh’ und Zeit zu Hause gemacht werden mußte, wäre so viel wohlfeiler im Laden gekauft worden. Als ob Zeit nicht auch Geld, und Mühe nicht auf edlere Dinge zu verwenden gewesen wäre! Schon früher hatte ich mir bei dieser oder jener Anschaffung oder einer Maßregel, die mir ebenso kostspielig als unzweckmäßig schien, eine bescheidene Einwendung erlaubt und war immer damit abgewiesen worden, auch bei ihrer Mutter sei es so gehalten worden. Vierzig Jahre früher, als Berlin noch nicht Weltstadt war! Jetzt ließ die schwergebeugte arme geliebte Seele die Zügel des Hausregiments ohne Widerstand aus den Händen gleiten. Sie hatte mit dem geliebten Manne allen Halt, allen Lebensmut verloren. Noch kein Jahr war vergangen, so geleiteten wir auch sie zur letzten Ruhe.
An ihrem Sarge hat mir mein Bruder nach jenem heftigen Streit zum erstenmal wieder die Hand gereicht. Er schien nun doch zu ahnen, daß er im Unrecht gewesen war. Denn er sah seine Schwester vor die Aufgabe gestellt, sich mit eigner Kraft durchs Leben zu helfen. Und hatte die Erziehung, die sie erhalten, ihr die Mittel dazu gegeben?
Laß mich mit dieser ungelösten Zukunftsfrage für heute schließen liebstes Herz. Mein Mann kommt eben aus seiner Gesellschaft zurück, ich sehe mit Schrecken, daß es halb Mitternacht ist. Dich um Entschuldigung zu bitten, daß ich diese Bekenntnisse einer armen Seele so weitläufig vor Dir ausbreite, enthalte ich mich, da ich Dein Herz kenne und aus jedem Deiner lieben Worte die Gewißheit schöpfe, daß Du mein Bedürfnis begreifst, über die bunte Kluft der acht Jahre die zwischen uns liegt, eine Brücke zu schlagen.
Gute Nacht, Mary! Küsse Deine lieben Buben von Deinem alten „Darlingchen.“
Was Rothenburg und Nürnberg für Bayern sind, das sind, wenn auch in bescheidenerer Weise, Stargard und Stralsund für Pommern, die Heimstätten mittelalterlicher Kunst und Größe. Nürnberg und Stralsund sehen alljährlich tausend und aber tausend Fremde in ihren Mauern. Die Besucher kommen, nicht weil diese Städte das direkte Ziel ihrer Reise sind, nein, mehr zufällig finden sie sich dort ein. Wer vom Norden nach den Alpen oder nach Italien fährt, nimmt auch Nürnberg mit, das so bequem am Wege liegt, und wer in ein Ostseebad geht, stattet nebenher auch Stralsund einen Besuch ab. Dort ist es die Lage an der großen Verkehrsstraße, hier die Lage am schönen Ostseegestade, welche die Fremden herbeiführt.
Aber wie wenige von denenen, welche auf ihrer Südlandsreise in Nürnberg vorsprechen, machen bei derselben Gelegenheit auch einen Abstecher nach Rothenburg? Das Städtchen liegt zu weit ab und man müßte, um es aufzusuchen, zwei Tage opfern. Ein ähnliches Geschick widerfährt Stargard. Abseits von der großen Heerstraße, die nach der Ostsee führt, bleibt es den meisten Sommergästen, welche zum Meere kommen, unbekannt. Vielleicht, so denken gewiß viele, verlohnt sich ein Abstecher nach Stargard auch kaum der Mühe. Im Gegenteil, Stargard ist eines Besuches wert. Hält die Stadt auch keinen Vergleich aus mit ihren eben genannten süddeutschen Schwesterstädten, so ist sie doch für den, der ein Interesse nimmt an den Kunstleistungen unserer Altvordern, nach Stralsund die sehenswürdigste Stadt Pommerns.
Stargard hat gegenwärtig rund 25 000 Einwohner, eine weit höhere Bevölkerungsziffer, als sie die Stadt in den Tagen ihrer ersten Blüte gehabt haben kann. Der rasch gestiegenen Einwohnerzahl entsprechend, ist sie über ihren früheren Umfang weit hinausgegangen und zeigt, wie viele zu neuem Aufschwunge gelangte alte Städte eine doppelte Physiognomie, eine regelmäßig angelegte vornehmlich nach der Bahnhofsseite sich ausbreitende Neustadt und das unregelmäßige Häusergewirr der sich um die Hauptkirche drängenden Altstadt. Die industriellen Anlagen, welche Stargard zu neuer Blüte geführt haben, hauptsächlich Eisengießereien und Maschinenbauanstalten, haben wie anderwärts so auch hier in den neuen Vierteln ihren Platz gefunden. Die Altstadt muß sich sehr bescheiden, doch wenn die jährlichen großen Woll- und Viehmärkte nahen, dann gewahrt man, daß sie trotz der sehr veränderten Verhältnisse dennoch das Herz der Stadt geblieben ist, wo Handel und Wandel heute noch ihren Brennpunkt haben.
Stargard ist eine der ältesten Siedelungen der Provinz. Eine Bulle Innocenz’ II. thut bereits 1140 des Ortes Erwähnung, der im Jahre 1253 durch den Pommernherzog Barnim I. zur deutschen Stadt erhoben wurde. Anfangs ein Zankapfel zwischen den Markgrafen von Brandenburg und den Pommernherzögen, wurde sie hernach einer der zuverlässigsten Stützpunkte der herzoglichen Hausgewalt in Pommern. Der etwa 1368 erfolgte Anschluß an den Hansabund und die von den Herzögen Privilegien, vorab die freie Schiffahrt auf der Ihna, brachte Stargard zur hohen Blüte, so daß die Stadt im 14. Jahrhundert als die erfolgreiche Rivalin Stettins und als ein sehr gewichtiges Glied der Hansa angesehen ward. Sie war an Mauern und Mannen die stärkste in Hinterpommern und ihre Bundesgenossenschaft den pommerschen Herzögen bei ihren Kämpfen gegen den rebellischen Adel ebenso willkommen wie der Hansa bei ihren Seezügen gegen die Vitalienbrüder unentbehrlich. Das furchtbare Kriegselend, das von 1627 bis 1643 in immer neuen Schauern über das Land hinwegfegte, hat auf Jahrhunderte Stargards Kraft gebrochen. Aber so sehr auch die Stadt unter dem Dreißigjährigen Kriege gelitten, so unersetzlichen Schaden vor allem die furchtbare Feuersbrunst von 1635 ihr zugefügt hat, es ist doch noch gar manches erhalten
[765]geblieben, was ihre einstige Schönheit und Großartigkeit der Gegenwart bezeugt. Gleich Rothenburg o. d. T. hat auch Stargard sich den alten Mauerkranz nicht nehmen lassen. Zwar sind die neuen Stadtteile an mancher Stelle über das beengende Steinkleid hinausgewachsen, aber nirgend sind die Mauern niedergelegt, sondern ziehen sich ununterbrochen, von Promenaden umgeben, rings um die Altstadt.
Ein Gang auf dem Glacis der alten Wallgräben bietet auf Schritt und Tritt interessante Bilder. Kleine Gärten und Parkanlagen füllen die Sohle des alten Wallgrabens und schmiegen sich an das altersgraue Gemäuer, das mit seinen Schießscharten, Streittürmen und Zinnenresten uns ernst und düster anschaut, wie in Trauer versunken darüber, daß nun der Holunder und Hagedorn wächst, wo einstens der trotzige Bürger stand, die gute Wehr in nerviger Faust. Eine lange Strecke bildet die Ihna den natürlichen Mauergraben und hält uns in respektvoller Entfernung von dem hohen Wehrgange, der dann bei der nächsten Biegung an das Mühlenthor herantritt.
Die Stelle vor dem Mühlenthor ist die schönste und interessanteste, die wir auf unserem Umgange passieren. Still und lauschig ist es hier unter den schattigen Bäumen, nur die Wasser zu unserer Linken plätschern und murmeln, als wollten sie uns erzählen von dem, was sich da einstens im Laufe langer Jahrhunderte abgespielt hat. Wie ein breitschulteriger Recke, dem kein Feind hat beikommen und das blanke Rüstzeug zerschlagen können, präsentiert sich das feste Mühlenthor mit seinem schönen Ornament auf der Stirnseite dem Beschauer. Es ist unstreitig der schönste Thorturm Pommerns und bis ins kleinste gut erhalten. Ueberhaupt ist es eine besondere Eigentümlichkeit der Stargards Befestigung, daß die alten Thortürme, außer dem Mühlenthor – noch das sogenannte „Rothe Meer“, der Weißkopf, der Eisturm (s.S. 766) und das Wallthor, völlig erhalten sind.
Nach beendetem Umgang treten wir durch die Turmhalle des Pyritzer Thores in das Städtchen und sind gleich mitten in der Altstadt. Welch ein Abstand zwischen diesem Stadtteile und dem Bahnhofsviertel! Dort der lebhaft pulsierende Strom des modernen Lebens, hier das stille, beschauliche Treiben eines Landstädtchens vor hundert Jahren. Auch auf dem großen, rechtwinkeligen Marktplatze ist eine Stimmung, die an die Scene vor dem Gasthof „Zum Löwen“ in Goethes „Hermann und Dorothea“ erinnert.
Etwas hinter die Häuserflucht zurückweichend, aber darum um so wirksamer, erhebt hier der mächtige Langbau des Rathauses seine hohe Giebelseite. Ueber dem Hauptportale prangt das Wappen der Stadt, ein rechtsgelehnter Schild mit einem gewellten Querbalken, daneben der springende Greif, das Wappentier der pommer'schen Herzöge, als Erinnerung an die treueste Ergebenheit der Stadt gegen ihre Herren aus dem alten Grafengeschlechte.
Wie billig überragt das Rathaus (s. S. 766) alle Gebäude am Platze. Aber es ist nicht einzig die Größe des Hauses, welche unsern Blick auf sich lenkt, es ist vor allem die seine architektonische Gliederung und das reiche Maßwerkornament der hochgiebeligen Front, die unsere Bewunderung erregen. Stargards Rathaus giebt uns mitsamt seinen beiden stattlichen Nachbarhäusern, der Ratsapotheke und dem Protzenschen Hause (s. das nebenstehende Bild), eine hohe Meinung von der Blüte, welche die ausgehende Gotik auch im Profanbau in Pommern erlangt hatte.
Zu unserer Rechten, etwas abseits vom eigentlichen Marktplatze, ragt die gewaltige Marienkirche, wie ein Bau von Riesenhänden geschaffen, zum Himmel empor. St. Marien ist Stargards Perle, ein in jeder Beziehung grandioser Bau, eine der größten und schönsten Kirchen der ganzen norddeutschen Tiefebene. Ihre Erbauer, das sieht man auf den ersten Blick, haben durch die ungeheuren Maße, die sie ihrem Werke verliehen, imponieren wollen. Und der müßte keinen Blick für die Größe menschlicher Leistungen haben, der sich durch dieses Riesengebäude nicht mit Staunen erfüllt sähe. Unsere Bewunderung wächst, wenn wir die Einzelheiten des Baues näher ins Auge fassen. Wir gewahren überall im Inneren wie im Aeußeren eine klare, übersichtliche Anordnung der Verhältnisse, eine nicht verschwenderische, aber auch nicht im entferntesten kärgliche Dekoration.
Dieselbe trägt besonders an der Turmfassade und dem Chorhause jenes zierliche, elegante Gepräge, das der älteren Gotik eigentümlich ist und sie aufs vorteilhafteste von der verschnörkelten, zopfigen Manier ihrer Ausgangsperiode unterscheidet. Von der trockenen Spießbürgerlichkeit, die den meisten großen Backsteinbauten bürgerlicher Herkunft in
[766]Norddeutschland anhaftet, ist hier keine Spur, vielmehr hat der Formsteinbrenner dem Steinmetz erfolgreich Konkurenz gemacht und in den Rundstäben, Halbsäulchen, Spitzbogen und blattwerkgeschmückten Fialen so Treffliches geleistet, daß unter seiner Hand der gebrannte Stein als ein völliger Ersatz des in der Erde gewachsenen erscheint. Das pekuniäre Vermögen ist freilich hinter dem Wollen zurückgeblieben. Man hatte sich Größeres vorgenommen, als man hernach auszuführen imstande war. Die beiden Prachttürme sind wie bei so vielen anderen Monumentalkirchen unvollendet geblieben und spätere Jahrhunderte haben ihnen einen nur notdürftigen Abschluß verliehen. Trotz dieses Mangels, dessen Beseitigung heute schon ins Auge gefaßt ist, bleibt die Marienkirche dennoch eine architektonische Sehenswürdigkeit ersten Ranges.
In mannigfachem Betracht der Marienkirche verwandt erscheint die an der äußeren Grenze der Altstadt auf einer kleinen Anhöhe gelegene, neuerdings äußerlich und innerlich trefflich restaurierte Johanniskirche (s. S. 765). Kann St. Johann mit St. Marien als Baudenkmal den Wettbewerb nicht aufnehmen, so bietet diese kleinere Kirche dafür mehr Interessantes in ihrem Inneren als die ihrer ehemaligen Einrichtung beraubte Marienkirche. Die St. Johanniskirche enthält Schnitzereien, welche zu den besten des Landes gehören, und die Statuen der Maria und des Johannes, wohl die Ueberbleibsel eines ehemalige Kalvarienberges, sind den besten Leistungen der Holzplastik, welche, wie bekannt, vorzüglich in Norddeutschland ihre Heimstätte hatte, beizuzählen. Vornehmlich die Madonna darf als ein Prachtstück gotischer Bildhauerkunst angesehen und kühnlich dem berühmten Altarschnitzwerk in der Thomaskirche zu Tribsees zur Seite gestellt werden.
Das wundersam schöne Antlitz der Gottesmutter im Herzen, verlassen wir den Raum. Draußen auf dem Kirchplatze leuchtet hell die Sonne, grünen die Linden und singen die Vögel wie ehedem, als die alten Meister die Kirche und ihre Bilder schufen. Die Natur ist sich gleich geblieben, nur die Menschen haben sich geändert in ihrem Denken und Fühlen. Kühl weht uns die Luft um die Stirn, da wir auf dem Wege zum Bahnhof die gewölbte Halle des Johannischores passieren, das ist der Odem der neuen Zeit, die kein Sinnen und Träumen kennt, die unerbittlich nur nüchternes Denken und nimmermüde Arbeit erfordert. Aber schön und lohnend ist es doch, so ungewohnt es auch den modernen Menschen erst ankommen mag, sinnend zu verweilen bei den Denkmalen längst vergangener Geschlechter, und Stargard hat Kunstmäler, die einer Stunde ernster Betrachtung wert sind.
Roman von Adolf Wilbrandt.
(6. Fortsetzung.)
Es dauerte nicht lange, so erschienen sie denn auch, Arthur und Don Pasquale, der Italiener mit seinem harmlosen, unergründlichen Spitzbubengesicht, Arthur zögernd, bleich, fast genierlich, ohne die elegante Sicherheit, mit der er sonst in Salons einzutreten pflegte. Er erstaunte sehr, als er Fritz Waldeck sah, streifte dann Gertrud nur mit einem vorüberhuschenden Blick und suchte, zu Vater Rutenberg gewendet, heiter mit den Achseln zu zucken „Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte er. „ich bin wieder da. Man kann jetzt nicht gut fahren, die Brandung ist zu stark –“
Pasquale kam ihm zu Hilfe: „Ja, die Brandung ist stark. Der Meer weiter draußen wär’ wohl still genug, aber an die Felsen hin –“
„Da schaukelt es heftig,“ ergänzte Arthur. Er fuhr sich mit seinem feinen Taschentuch über die kleine Stirn. „Und viel Bewegung im Wasser kann ich nicht vertragen.“
„Sie könnten ja weiter hinaus fahren,“ bemerkte Rutenberg, der inwendig lachte.
„Ja, das sagen Sie wohl! Mir wurde so seekrank zu Mut!“
„Seekrank!“ wiederholte jemand hinter ihm. Er wandte zögernd den Kopf, das Wort war unwillkürlich, halblaut aus Gertrud herausgefahren. Da er sie nun etwas unsicher anstarrte, wandte sie sich langsam ab.
„Und – und so kehrt’ ich um,“ setzte er mit einem möglichst freien, frischen Lächeln hinzu. „Und so bin ich nun da.“
„Na, so bleiben Sie da!“ sagte Schilcher, der sich die Hände rieb. „Erholen Sie sich hier von der bösen Seefahrt, legen Sie sich zu Bett, werden Sie wieder gesund. Sie und Herr Waldeck sind ja alte Freunde, nicht wahr –“
Arthur nickte lebhaft. Er nickte dann auch dem alten Freund gemütlich zu.
„Herr Waldeck hat zwei Betten in seinem Zimmer. Vielleicht tritt er Ihnen für diese Nacht eins ab.“
„O gewiß!“ entgegnete Fritz. „Natürlich!“
„Also gehn Sie schlafen. Pasquale, helfen Sie, bringen Sie ihn zu Bett!“
„O nein, nein!“ fuhr Arthur nun auf. „Ich danke, ich danke. Was glauben Sie … Mir ist wieder gut!“ – Seine Augen suchten jetzt Gertrud; sie war aber hinter seinem Rücken auf den großen Balkon gegangen und sah am Geländer in die Nacht hinaus. Es schien, sie war verstimmt … Er zuckte [767] wieder die Achseln. Morgen! dachte er, und zu Lande! – „Gute Nacht!“ sagte er dann laut, damit auch Gertrud ihn hörte.
Sie blieb aber abgewandt stehn und sagte nichts. Nur Schilcher erwiderte ein herzliches Gute Nacht- Um seinen Nußknackermund spielte jedoch ein verwünschtes Lächeln, das dem eingeweihten Rutenberg sagte: die ‚Brandung’ hat sich bewährt! Fritz schickte sich an, mit Arthur zu gehn. Rutenberg trat ihm in den Weg und nahm noch einmal seine beiden Händen „Waldeck Sohn!“ sagte er fast zärtlich. „Morgen mehr! Schlafen Sie gut!“
„Ich hoffe,“ erwiderte Fritz mit ernsthaftem Lächeln. Auch seine Augen suchten dann Gertruds Gesicht, sie schien aber ganz mit dem Meer beschäftigt, auf das sie hinaussah. So nahm er denn nur noch von Schilcher Abschied und ging mit Arthur und dem Barkenführer auf den Korridor hinaus. Rutenberg und Schilcher blickten ihm liebreich nach. Darauf lächelten sie einander zu wie zwei alte Schelme.
Langsam und fast unhörbar kam das Mädchen nach einer Weile vom Balkon zurück. Die Männer thaten, als bemerkten sie es nicht, um sie nicht zu stören. Sie war entfärbt und ihr Mund verzog sich; es ging ihr allerlei durch den Kopf. Und das Meer ist beinahe still, dachte sie. „Seekrank! – Wasserscheu!“
Sie warf noch einen unsichern Blick auf den Vater, ihr fiel nun ein, daß ihm doch eigentlich nichts zugestoßen war, und daß sie noch kein Wort mit ihm gesprochen hatte. Jetzt mochte sie erst recht nicht sprechen. Da die beiden so beisammen standen, ohne auf sie zu schauen, ging sie still in ihr Zimmer.
„Ich glaube, Vater Rutenberg,“ sagte Schilcher leise, als das Kind hinaus war, „heute nacht können wir ruhig schlafen.“
„Ja, bei Gott, es scheint so. – Du Intrigant.“ – Rutenberg deutete dann nach dem Korridor hinaus. „Schilcher! Der da – der wär' der andre!“
Schilcher hob die rechte Schulter, wie hoffnungslos oder ratlos: „Hätte nichts dagegen!“
Ebenso wolkenfrei und sonnig und schön wie die früheren war auch der nächste Morgen wieder heraufgestiegen, Gertrud saß allein im Garten, da, wo sie morgens am liebsten saß: vorne an der steinernen Brüstung, so daß sie am steilen Fels hinunter gerade in das flache, grünliche Wasser, auf die umspülten Steine, oder vorwärts nach den herrlich besonnten Inseln Ischia und Procida und an der ganzen Weite des Golfs entlang schauen konnte. Hier hatte sie auch vor acht Tagen gesessen, als die Sorrentiner, die zur Tarantella-Gesellschaft gehörten, von Rutenberg bestellt, aus den immergrünen Gebüschen in ihren farbenreichen Kostümen hervorgetreten waren und so unter dem blauen Himmel, im Garten, getanzt, gesungen, allerlei neckische kleine Komödien gespielt hatten. Hier ließ sich so gut von allem träumen, was das Herz bewegte, von den fernen Freundinnen, von der Schulzeit, von der himmlischen Freiheit in der himmlisch schönen Welt, von der Hochzeitsreise – wenn die einmal käme – und von Ihm, von dem Einzigen … Hier war's immer schön – nur heut’ wollte ihr nichts gefallen, sie wußte nicht recht, warum. Es gefiel ihr nur, daß der Vesuv so mächtig dampfte, wie er bisher noch nie gethan, obgleich er besonders aufgeregte Zeiten hatte; fast unheimlich schwarz und wild stieg seine Rauchsäule auf, oben wie ein Schirm sich ausbreitend, und auch weiter unten am Berg brach eine Wolke hervor, einer grauen, riesigen Katze ähnlich. Ihr war’s recht! Nur zu! Ihrer tragisch gestimmten, verstimmten, aufgeregten Seele that’s wohl, daß der alte Vesuv so aufbegehrte; brich du nur los! dachte sie. O wenn du das doch thätst, altes Ungeheuer! Wenn du mal wieder Ernst machtest, aber ordentlich! Daß so recht was los wär’ in der Welt, daß es ächzte und krachte … Dann würd’ mir am Ende besser zu Mut!
Pasquale kam vom Hause her durch den Garten; auf seinem schwarzbärtigen Gesicht leuchtete die Morgensonne und machte Bronze daraus. Mit etwas theatralischer Grazie nahm er den schwarzen Kalabreser ab und grüßte: „Guten Morgen, Fräulein – Immer die erste beim Frühstück, immer die erste im Garten!“
„Buon giorno, Pasquale,“ erwiderte das Mädchen, noch in ihren Gedanken. „Wohin?“
Er deutete mit dem Finger: „An den Meer hinab. Die Barke wartet unten. Wenn der Vapore kommt –
„Ah, der Dampfer von Neapel!“
„Zu dienen. Muß ja alle Tage mit meine Barke zur Piccola marina, ob auf dem Dampfer Fremde kommen für uns. – Nun? Was hab' ich gesagt, Signorina? Er streckte die Hand wagerecht aus: „Der Meer ist wie meine Hand!“
Gertrud fuhr leicht zusammen: alles war wieder da, was sie heut‘ verstörte. „Ja, ja,“ sagte sie, indem sie den Uebergang zu einer Frage suchte, die ihr eben einfiel. „Ja, Sie haben recht … Pasquale!“
„Signorina?“
„Als Sie gestern abend mit – mit dem jungen Herrn in der Barke saßen – da unten an den Felsen – war denn das Meer wirklich so bewegt?“
Die schwarzen Schelmenaugen Pasquales ruhten mit schlauem Forschen auf ihr. Er begann dann die Hände sehr ernsthaft hin und her zu drehn: „Die Barke machte so – so!“
„Na, um ein bißchen, so, so‘ fürchtet man sich doch nicht. Wenn‘s nicht schlimmer war –“
Pasquale lächelte zurückhaltend: „Eh! Die Fräulein ist mutig. Der junge Herr ist wohl nicht so mutig. Er versuchte Arthurs Baryton nachzuahmen: „Ans Land! – Will ans Land!“
Gertrud stand auf, ihr ward auf einmal so schlecht zu Mut. Nicht so mutig, sprach sie vor sich hin, vom nächsten Busch ein Blatt abreißend. – „Guten Morgen, Pasquale!“ Sie warf das Blatt über die Brüstung, in die „Brandung“ hinunter.
„Guten Morgen“, gab er zurück. „Buona passeggiata!“
„Grazie.“
Pasquale stieg die Felsentreppe hinab, die sich in mehreren Windungen, mit Ruhebänken, zum steinigen Ufer senkte. – Nicht so mutig! dachte Gertrud wieder. Und ich wollte – – Fliehen wollt‘ ich mit ihm. In die Welt hinaus!
Wieder kam einer vom Hause her, abermals war es nicht Arthur, sondern der andre Lange, Fritz Waldeck. Er grüßte, etwas feierlich, und wandte sich dann gleich zur Felsentreppe, als wiche er ihr aus. Oder will er mich nur nicht stören? dachte sie. Zarte Rücksicht? – Ich muß aber doch endlich was von Arthur hören …
„Guten Morgen, Herr – Waldeck!“ rief sie ihn mutig an.
Er verneigte sich und trat höflich ein paar Schritte näher.
„Sie kommen vom Frühstück?“
„Ja,“ antwortete er kurz.
Sie zögerte, überwand sich aber: „Und er?“ fragte sie. „Herr van Wyttenbach, mein‘ ich –?“
„Setzt sich eben zum Frühstück. Er stand erst auf, als ich schon hinunterging.“
„Ah!“ sagte sie. Das Herz schlug ihr unruhig, vor plötzlicher Sorge um den Geliebten. „Ist er unwohl?“ fragte sie, suchte aber recht gleichmütig dabei auszusehn. „Hat er schlecht geschlafen? Er hatte vielleicht eine schlechte Nacht –“
„Im Gegenteil,“ erwiderte Fritz Waldeck lächelnd. „Er hat vortrefflich geschlafen. Die ganze Nacht, beneidenswert gut.“
Es kam wieder Bitterkeit in Gertruds Seele; und ich, dachte sie, lag schlaflos da, fast die ganze Nacht! – Sie sah diesen langen Menschen an, der ihr das sagte und sie so kränkte; ein verhaltenes, sonderbares Lächeln, das sie nicht mochte, spielte um seinen Mund. Es rührte sich ein trotziger Zweifel in ihr. „Aber woher wissen Sie das?“ fragte sie, den Kopf auf die Seite gelegt.
„Was, mein Fräulein?“
„Daß er so fest, so gut –-“
„Weil ich – wachte. Fast die ganze Nacht.“
„Sie auch?“ fuhr aus ihr heraus. „Sie? sagte sie dann, wie sich verbessernd. „Warum denn?“
Er suchte seine Worte. „Warum? – Es war mir so merkwürdig, so – wunderbar, unter einem Dach mit Ihnen …“
Sehr erstaunt sah sie ihm in die Augen.
Er errötete, aber nur schwach, nur flüchtig, als hätte er eine Kraft oder ein Mittel, das zu unterdrücken. „Und – so das Ganze, mein Fräulein!“ setzte er wie zur Erklärung hinzu. „Alles, was ich erlebt hatte. Sie begreifen wohl.“
„O gewiß, gewiß! Diese weite Reise und 'alles'!“
„Ja, das ist es, Fräulein.“
„Ach ja! Sie haben viel erlebt! – –“ Gertrud rückte auf ihrem steinernen Sitz, sie sammelte neuen Mut. „Entschuldigen Sie,“ fing sie tapfer an, indem sie die unruhigen Füße übereinanderlegte.
[768][769] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [770] „Ich hatte mir vorgenommen, ein paar Fragen an Sie zu stellen – drei Fragen. Darf ich –?“
„Aber ich bitte, mein Fräulein.“
Sie lud ihn mit einer raschen Bewegung ein, sich neben sie auf die Bank zu setzen, er nahm schweigend Platz. „Nämlich,“ sagte sie, – „da Sie beide ja Jugendfreunde sind – – ich meine ihn, Herrn van Wyttenbach. Also erstens – –“
Es war doch sehr schwer, sie fand die rechten Worte nicht.
„Erstens?“ fragte Waldeck.
„Erstens wollt‘ ich fragen ob Herr van Wyttenbach immer – etwas wasserscheu war? – Ich meine –“
„Wasserscheu?“ – Er lächelte einen Augenblick, sah sie flüchtig von der Seite an. Mit zarter, schonender Stimme sprach er dann gegen den Erdboden hin: „Nicht sowohl wasserscheu, als – überhaupt etwas vorsichtig …“
„Wie?“ fuhr sie auf.
„Sie müssen nicht denken, daß ich sagen will, er hat keinen Mut! – O nein. Er hat vermutlich ebensoviel davon wie die andern …. Ich kann mich sogar erinnern, daß mein Vater, der mich von Berlin aus besuchte – als wir beide noch Knaben waren – da sagte er mir einmal: „Nimm dir an Arthur Wyttenbach ein Beispiel, wie man unter den Menschen auftreten muß, ohne Scheu, ohne Furcht!‘ Weil ich nämlich schüchtern war –“
Sie machte eine leise Bewegung mit der Hand, die ihn stumm machte. „Das,“ erwiderte sie dann mit schwacher Stimme, „ist eine andere Art von Mut!“ – Ihre zusammengesunkene, knospenhaft schlanke Gestalt drehte sich langsam zu ihm, es stieg ihr warm und weich in die Augen. „Ihr Vater,“ sagen Sie. „Für den Sie diese Reise, und alles – – Aber er hat es gewiß verdient. Er war gewiß gut!“
Fritz Waldeck lächelte so schmerzlich, daß es sie unbewußt ansteckte; sie lächelte ebenso. „Gute Menschen sind oft sehr unglücklich,“ antwortete er zögernd, gepreßt, „wie ich allmählich mehr und mehr begreife. Er war beides, Fräulein, Beides wohl viel zu sehr. Aber ich glaube, doch nicht mehr unglücklich als gut!“
„Ich merke, es thut Ihnen weh, wenn Sie von ihm sprechen.“ Gertrud lächelte herzlich. „Wir wollen lieber von Ihnen sprechen! Schüchtern, sagten Sie. Sie wären als Knabe schüchtern gewesen … „Aber gestern abend, gegen meinen Vater, waren Sie nicht schüchtern. Da hab' ich Sie – bewundert, muß ich Ihnen offen sagen. Da waren Sie – wie soll ich das ausdrücken – da standen Sie nicht wie ein Jüngling da, sondern wie ein Mann!“
„Das versteh' ich nicht,“ sagte Waldeck schlicht. „Wenn es sich um etwas Heiliges handelt, wie kann man da schüchtern sein? Da kennt man doch keine Scheu, keine Bangigkeit!“
„Ja Sie,“ entgegnete Gertrud leise. – „Ich war meinem Vater so dankbar,“. fuhr sie etwas kräftiger fort, „als er Sie bewunderte, als er Ihnen sagte – – na, Sie wissen es ja!“
„Was ist Ihnen?“ fragte sie, da sie ihn jetzt so sonderbar atmen hörte, als thäte ihm etwas weh.
„Nichts!“ antwortete er und schüttelte den Kopf. Er dachte nur eben, beglückt und gequält, ach, wie hold sie ist! Und er fühlte, daß er noch ebenso verliebt war wie vor einem Monat … „Sie wollten noch eine zweite Frage an mich stellen, warf er nach einem Schweigen hin,“ das ihn drückte, denn auch sie war still.
„Ich,“ sagte sie träumerisch, als käme sie wieder zu sich. „Ja. – Ich wollte Sie fragen, ob Herr van Wyttenbach – – ob er schon recht, recht früh seine besondere Begabung zeigte –“
„Seine besondere?“ – Fritz lächelte unwillkürlich. Dann sprach er wieder zart, zurückhaltend auf den Gartenkies hinunter. „Er kam immer gut mit fort! Er war ein recht beliebter Schüler, – bei den Lehrern, mein ich. Hatte gewöhnlich gute Zeugnisse, – meine waren oft schlechter. Ich ,schwänzte’ nämlich gern, wenn so verwünscht schönes Wetter war. Auch mein Betragen wurde oft getadelt, denn ich war oft abwesenden Geistes – verliebt oder philosophisch oder Gott weiß was – oder wir schrieben uns wahnsinnige, schwärmerisch aufgeregte Briefe in Chiffresprache, unter der Bank, waren eigentlich Busenfreunde und ich! – Uebrigens, ich langweile Sie …
„Wie können Sie so was sagen,“ entgegnete das Mädchen das ihn so gern von der Seite ansah, während er gegen den Erdboden sprach. „Schwärmerische Briefe’ – das war ja auch mein Verbrechen, als ich noch lernen mußte, wo die hohe Tartarei liegt! – Ach Gott, und nun weiß ich's schon nicht mehr – und bin erst siebzehn Jahre alt! – – Ich seh’ es Ihnen an, Sie haben auch im Karzer gesessen –“
Fritz Waldeck nickte, er sah jetzt furchtbar jung und drollig glücklich aus. „O ja, in unserm alten Schulgebäude, da war noch ein wirklicher kleiner Karzer, manche schöne Stunde hab’ ich da verträumt! Da bildete ich mich zum Republikaner aus. Jetzt bin ich etwas vernünftiger geworden und daher monarchisch. In den Karzerzeiten waren meine politischen Ueberzeugungen wild, feuerrot, rebellisch … Worüber lächeln Sie?“
„Nur so aus Vergnügen. Aus Begeisterung. Das gefällt mir so!“
„Ja, und da Sie von ‚schüchtern‘ sprachen – unser Sonntagsblatt ,Vorwärts! Vorwärts!‘ das wir als Untersekundaner heimlich schrieben, das war auch nicht schüchtern! Darum erlitt ich denn auch manche Verfolgung, vom Direktor, mein‘ ich. Er war mehr für ‚Rückwärts, Rückwärts‘! Wir verstanden uns nicht. Er hatte nur leider die Uebermacht. Ich hatte die Zukunft für mich, aber er den Karzer für sich. Von dem machte er mutigen Gebrauch. bis dieses lustige Elend, das sich Schulzeit nennt – –“
Er brach wieder ab. „Nun werd' ich aber entschieden langweilig!“
Gertrud schüttelte lebhaft den Kopf.
„Und Sie wollten noch eine dritte Frage an mich stellen –“
„Ich?“ sagte sie wie im Traum.
„Ja, über – ihn über Herrn van Wyttenbach.
„Ja, freilich,“ erwiderte sie langsam. „Das hatt' ich vergessen. Mir fällt auch im Augenblick nicht ein, was ich fragen wollte … Da ist er!“ murmelte sie auf einmal und fuhr in die Höhe.
Arthur kam gegangen vom Speisesaal her, sein hübsches, glattes Gesicht glänzte von Wohlbehagen, seine Lippen waren förmlich rosenrot, die kleinen Augen leuchteten heiter, nur dem Haar fehlte etwas von seiner kunstvollen Kräuselung, da die dazu nötigen Hilfsmittel draußen in Vico waren. Den Hut in der Hand, schlenderte er zwischen den Büschen und Beeten heran, winkte 'Guten Morgen'. „Ich muß sagen,“ fing er an, „man frühstückt hier ausgezeichnet!“ Nun las er wohl von Gertruds Gesicht, daß diese Fidelität nicht am Platze war, daß eine sehr ernste Spannung sich erst lösen mußte. Er ging zu einer männlichen, charaktervollen, fast tragischen Miene über. In dem Ton, der dazu gehörte, fragte er: „Und seh' ich Sie nun endlich wieder, Fräulein Gertrud?“
„Ich bin lange hier,“ entgegnete sie mit verstecktem Vorwurf. „schon seit einer Stunde.“ – Sie sah jetzt, daß Fritz Waldeck zurücktrat, als wolle er gehn. „Wohin wollen Sie?“ fragte sie überrascht, im Augenblick fast bestürzt.
Fritz warf einen halben Blick auf Arthur, dann einen ganzen auf sie. „Nur ans Meer hinunter,“ erwiderte er. Es lag etwas in seiner Stimme, das zu sagen schien: jetzt seid ihr zwei beisammen, da geh‘ ich! – Er deutete am Fels hinunter. „Der Felsenweg da ist so wunderbar,“ setzte er ruhiger und harmloser hinzu. „Schon heute nacht hab‘ ich ihn entdeckt, im Mondschein, da oben vom Balkon, als ich so viel wachte – und Herr van Wyttenbach so viel schlief. Ich glaube, da hinten raucht auch schon der Dampfer, der von Neapel kommt … Eh ich abmarschiere, seh‘ ich Sie noch!“
Er grüßte und stieg hinab. „Eh Sie abmarschieren?“ rief das Mädchen ihm nach, als wäre sie beinahe erschrocken – „Er hört nicht mehr. – Will er denn schon wieder fort?“
„Lassen wir ihn ziehn“ sagte Arthur, etwas geringschätzig lächelnd. „Das ist ein ziemlich langweiliger Bursche. Einer von diesen braven jungen Leuten, mit denen sich leider die Grazien nicht sehr viel befaßt haben.“ – Er sah, wie Gertruds Gesicht sich verzog, wie ihre Brauen zuckten und verstummte.
„Sie reden so lieblos von Ihrem Jugendfreund,“ erwiderte sie mißmutig. „Er hat besser von Ihnen gesprochen kann ich Ihnen sagen.“
„Ja, ja,“ erwiderte Arthur geschwind, „das ist eine seiner guten, braven Eigenschaften. Ueberhaupt wie gesagt – er ist grundgut! Er hat so was durchaus Rechtschaffenes, Ehrenhaftes … Was ist nun schon wieder? Was mißfällt Ihnen denn schon wieder, meine holde Gertrud?“
[771] Sie sah ihn sehr ernsthaft mißbilligend an. „Daß Sie nun ebenso plötzlich sich für ihn begeistern! – Aber lassen wir ihn jetzt. Wir müssen ja endlich – – Was wird nun aus uns? – Ich hatte heute nacht, während Sie schliefen, viele Gedanken, Arthur. Gestern abend – als Sie mich beredeten – Vico und Neapel, mein’ ich – da war ich wie von Sinnen. Das ist nicht mehr so. Sie lächelte, aber sehr gezwungen. „Seit Sie wasserscheu und seekrank wurden –“
„Ja!“ lachte er auf. „Es war ein unglückseliges, tragisches Geschick! Tragikomisch, das fühl’ ich selbst. Aber damit wir doch wieder auf die Hauptsache kommen, meine süße Gertrud“ – Er kam aber jetzt nicht weiter: vom Speisesaal rückte der kleine Oberappellationsrat an, Arthur mußte sich mitten im Wort unterbrechen. Schilcher ging so hurtig, als wäre da vorn an der Brüstung etwas sehr Merkwürdiges oder Wichtiges zu sehn. Er hatte eine Serviette unter dem Arm, wie ein Kellner. Gertrud, so ernst sie gestimmt war, lachte, als sie ihn erblickte.
„Onkel Schilcher, Guten Morgen,“ sagte sie. „Was hast du da unter dem Arm?“
„Ja, ja,“ antwortete er, „in der Zerstreuung mitgenommen. Ich hatte meinen gewöhnlichen Morgengang vor dem Frühstück gemacht und sitze bei der Chokolade, da seh’ ich durch die offene Thür, den Garten entlang, daß Herr van Wyttenbach hier an der Brüstung –“
„Und dem mußtest du so eilig Guten Morgen sagen?“
„Ich dachte, da wird auch die kleine Gertrud sein …. Ja, und da sehnte ich mich wohl nach der kleinen Gertrud. Und so hab’ ich wie ein Liebender den Rest der Chokolade stehen lassen und bin hergelaufen!“
„Ach, wie rührend. Da ist mein wirklicher Vater kaltblütiger, sieh nur, wie ruhig der aus dem Oelbaumgarten kommt. Guten Morgen, Va –“ Jetzt erinnerte sie sich erst, wie es zwischen Vater und Tochter stand. Nie, nie, nie! – Sie hatte sich heute nacht so fest vorgenommen, nicht das erste Wort zu sprechen. An den Wangen rot angeflogen, sah sie vor sich nieder, schaute dann aufs Meer hinaus, wo der Frühmorgendampfer von Neapel mächtig rauchend heranschwamm, auf die kleine Marine zu.
Rutenberg schien nichts zu merken; er begrüßte Arthur und nickte nur zu dem Mädchen hin, als hätten sie sich heute schon gesehn. Bewundernd stellte er sich vor ein Kamelienbäumchen, das herrlich blühte. „Schilcher, was für Blumen!“ sagte er. „Mitten im Dezember!“
Schilcher trat zu ihm. „Ja, Alter, beinahe so schön wie ’ne Partie Whist!“
„Sind die beiden schon lange hier?“ flüsterte Rutenberg.
„Noch nicht lange,“ flüsterte Schilcher zurück.
„Waren sie allein?“
„Keine Minute. Als der dritte Mann, der Fritz Waldeck, fortging, da kam ich sogleich.“
„Du wirst sie nicht allein lassen, Alter?“
Schilcher hob seine Serviette ein wenig, er hielt sie jetzt in der Hand „Unter dieser Fahne werd’ ich weiterdienen!“
Rutenberg lachte still. Er wandte sich beruhigt zu Arthur, der vernachlässigt und unbehaglich dastand, denn Gertruds Augen gingen noch immer mit dem Dampfer. Na, und Sie, Herr van Wyttenbach? Sie sind ganz genesen?“
„Sie beschämen mich,“ warf Arthur mit einer Art von Lachen hin „es war ja nur eine Kleinigkeit. Eine – vielleicht etwas unmännliche Schwäche –“
Gertrud zuckte zusammen. Sie zeigte dann ihr blasses, unfrohes Gesicht.
„Was haben Sie, Fräulein Gertrud?“ fragte Arthur, indem er sie durch einen heimlichen gekränkten Blick einzuschüchtern suchte.
„Gar nichts,“ entgegnete sie. Statt auf Arthur schaute sie auf ihren Vater, der seiner Tochter nicht Guten Morgen sagte. Sie fühlte sich so unglücklich …
„Kommen Sie,“ sagte sie dann zu Arthur, um sich vor dem Vater nicht schwach und „würdelos“ zu zeigen. „Sie müssen da hinten die Mandarinen sehn, die nun rot und reif werden.“
„Jawohl,“ bemerkte Schilcher, der die Serviette kurz entschlossen in die Tasche steckte. „Trudel und ich, wir zeigen Ihnen die reifenden Mandarinen, denn Sie müssen ja doch mit Nutzen reifen!“
Unten auf der Felsentreppe begann eine männliche, tiefe Stimme zu singen. Goethes Verse in Beethovens Melodie:
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Land die Goldorangen glühn?“
„Ah!“ sagte Rutenberg, der über die Brüstung blickte, „das ist Waldeck Sohn! – Er steigt herauf.“
Gertrud horchte andächtig; wie hübsch, wie rührend er singt, dachte sie. – Der Gesang ging weiter:
„Ein sanfter Wind von blauen Himmel weht, Die Myrte still –“
Hier verstummte Waldeck; vielleicht summte er noch leise weiter, ohne daß man’s hörte.
„Komisch!“ sagte Arthur. „Mitten drin hört er auf!“
Heute verletzte doch Gertrud alles. „Komisch!“ sprach sie ihm mißvergnügt nach. „Wenn man so in Gedanken singt! Er war wohl in Gedanken – Kommen Sie lieber! Zu den Mandarinen!“
„Wir kommen!“ sagte Schilcher, als gehöre er durchaus mit dazu. Die drei schwenkten ab, zu den Oelbäumen und den Mandarinen. Die Oliven waren im November gepflückt, die kleinen Goldfrüchte reiften noch ihrer Zeit entgegen. Gertrud liebäugelte täglich mit ihnen. Indem sie nun ging, warf sie noch einen traurigen Blick, einen ganz versteckten, auf den harten Vater, ob der ihr wenigstens nachsähe oder nicht. Ja, er sah ihr nach. Er schien aber zu lächeln, er sah heiter aus, statt traurig zu sein wie sie … Es ward ihr gar nicht gut, sie ging rascher weiter.
Rutenberg schaute ihr noch immer nach, als sie es längst nicht mehr wahrnahm. „Ah! ah!“ sprach er in seiner Freude vor sich hin. Mir scheint, das Ideal steht nicht mehr so hoch! Hat Schilchers Teufelei so gewirkt? oder was? – Wenn man da noch etwas weiter wirken, den Boden unter dem Ideal unterwühlen könnte …
Fritz Waldeck, „der andere“, kam heraufgestiegen. Rutenberg beobachtete ihn, während die schlanke, kraftvolle Gestalt sich so gut bewegte. Das Gesicht schien aber nicht freudig, eher vergrämt. Der junge Mann stand zuweilen still, legte den Kopf zurück und schloß die Augen. „Herr Waldeck!“ rief er ihn an, als er oben stand. Fritz nahm den Hut ab und verneigte sich. Nun ging Rutenberg mit großen Schritten zu ihm. „Guten Morgen!“ sagte er herzlich und fast mit Vorwurf. „Sie geben mir nicht die Hand?“ Fritz gab sie rasch, mit einem großen Blick.
„Gestern abend hab’ ich Ihnen gesagt, wie ich für Sie fühle; denken Sie, über Nacht ändr’ ich meinen Sinn, wie ein junges Mädchen? – Ja, und fühlen Sie denn nicht, was mir auf der Seele liegt? Ich möcht’ was gut machen, Fritz Waldeck! Ihnen was Liebes thun, alles, was Sie sich wünschen können. Sagen Sie mir! Was kann ich thun?“
Fritz bemühte sich, so ruhig wie möglich zu antworten: „Ich glaube, Herr Rutenberg, nichts.“
„Nichts?“
Fritz schüttelte den Kopf.
Das wollen wir doch sehn! dachte Rutenberg. So leicht schüchtert man mich nicht ein! – Nun, davon später, sagte er dann, dem Sohn Ferdinand Waldecks in die guten Augen blickend.
„Für diesen Augenblick gestatten Sie mir eine Fragen – gar nichts Besonderes, nichts Indiskretes, nur über Ihren Schulfreund Herrn van Wyttenbach.“
Der auch? dachte Fritz betroffen.
„Schilcher sagt mir, Sie kennen ihn schon lange.“
„O ja!“
„Wollen Sie mir die Wahrheit über ihn sagen? Wollen Sie mir sagen, ob er – wie mach’ ich das – ob er nicht nur so ein Wasserhase, – ob er ein wirklicher Feigling ist?“
Fritz war eine Weile still. – „Ihnen kann ich sagen,“ erwiderte er dann langsam, „daß er – – nun, daß er sein Leben über alles lieb hat. Daß er jede Gefahr meilenweit vermeidet, wenn es möglich ist. – Ihn flog ein schwaches Lächeln an „Und wenn es nicht möglich ist –“
„Dann?“
„Nun – dann macht er es doch möglich.“
„Ah! – Ich danke Ihnen. – Dann macht er es doch – – Ich hab’ ihn also richtig taxiert!“ Donnerwetter! fuhr Rutenberg durch den Kopf, wenn ich diesem tapfern Jüngling eine Aufgabe stellen könnte, in der er vor Trudels Augen vergeht, wie ’ne Seifenblase! – Es fiel ihm aber nichts ein, er hatte nicht Schilchers Kopf … (Fortsetzung folgt.)
[772]
Aegyptische Frauen mit ihren Kindern. (Zu dem Bilde S. 757.) Aus dem bunten Gewühl der Menschentypen, welche das Straßenleben von Kairo den erstaunten Blicken des Reisenden bietet, führt uns das Bild zwei arabische Frauen vor. Sie gehören nicht der vornehmen Welt an. Ihr blaues hemdartiges, lang herabwallendes Gewand ist aus einfachem Stoff gearbeitet. Einfach ist auch der lange Gesichtsschleier und an ihren Händen, die wohl verraten, daß sie hart arbeiten müssen, fehlt der Schmuck von Ringen und Armbändern; auch tragen sie im Gegensatz zu den vornehmen Damen ihre Kinder selbst und sind dadurch dem Fremdling auf Aegyptens Boden besonders interessant. – Andere Völker, andere Sitten! Wir sind gewohnt, die Mutter mit dem Kinde auf dem Arme zu sehen. Hier reiten die Kleinen sozusagen auf der Schulter der Mütter. Die Sitte ist im Orient uralt, denn auf den Abbildungen, die uns aus dem alten Aegypten und der Hauptstadt des assyrischen Reiches Niniveh in Hieroglyphen erhalten worden sind, finden wir Mütter abgebildet, die ihre Kinder in derselben Weise tragen. Derselben Sitte huldigen auch die Frauen vieler Negerstämme im inneren Afrika und der Naturvölker in Amerika und in Australien. Wie in Japan Kinder getragen werden, haben wir erst vor kurzem in der „Gartenlaube“ (vergl. S. 235, Jahrgang 1896.) unseren Lesern in Wort und Bild vorgeführt. Ob dieses Tragen der kleinen Kinder wohl bequemer ist als das Tragen auf dem Arm? Müßige Frage! Bequem erscheint dem Menschen, woran er sich gewöhnt hat. Das einseitige Tragen der Kinder auf dem Arm führt, wie unsere Aerzte lehren, zu Rückgratverkrümmungen. Birgt auch das Tragen der Kleinen auf der Schulter solche Gefahren in sich? Die Forschungsreisenden haben diese Frage unseres Wissens noch nicht studiert. Die Fellachinnen Aegyptens zeichnen sich durch ihre schlanke Gestalt aus, sie sind, wie das Sprichwort besagt, „dünn wie der Strick“, und seit Jahrtausenden werden die ägyptischen Kinder von den Müttern auf der Schulter getragen! In der Völkerkunde bildet das Tragen der kleinen Kinder ein besonderes Kapitel, welches mit Liebe und Sorgfalt von Heinrich Bloß ausgearbeitet wurde in seinem Buche „Das kleine Kind vom Tragbett bis zum ersten Schritt“. In demselben werden außer der erwähnten noch viele andere Arten beschrieben auf der Hüfte, Huckepack, im Korbe, im Sacke auf dem Rücken und gar im Stiefel, wie bei den Eskimos werden die Kleinen befördert. Selbst der muldenartige Korb, den vor etlichen Jahren ein Pariser Arzt unter dem Namen „Promeneuse“ ohne andauernden Erfolg zum Tragen kleiner Kinder empfohlen hat, war schon seit langer Zeit den Wilden bekannt. *
Schiffbruch. (Zu dem Bilde S. 761.) Es ist noch gar nicht so sehr lange Zeit her, daß in den Kirchen Nordfrieslands am Sonntag um einen „gesegneten Strand“ gebetet wurde… Das war ein Rest jener schrecklichen Gepflogenheit, daß der Schiffbrüchige mit Leib und Gut und Geschirr dem Strande und seinen Bewohnern verfallen war, unter die der wütende Sturm ihn warf; eine Art internationalen Wildenrechtes, dessen Spuren Gott sei Dank, seltener und immer seltener zu finden sind. Wir haben es erst in jüngster Zeit mit Freuden vernommen, wie menschlich hilfreich die Chinesen den Gestrandeten vom „Iltis“ zur Hilfe gekommen sind, und wie bei der Strandung des „Adlers“ auf Samoa sogar die feindlich gesinnte Partei der Insulaner mit aller Kraft helfende Hand geleistet, und unvergessen soll es den Dänen sein, wie sie in fünfzehnstündiger heldenhafter Arbeit die gesamte Besatzung der Brigg „Undine“ gerettet. Das klingt doch anders als die grausige Mär von dem Elternpaare, das den eigenen an den Strand geworfenen Sohn, ohne zu wissen wen sie aufgenommen, als ohnmächtigen Mann um des mitgeführten Goldes wegen ermordeten! – Wieviel Kraft und Mut und Aufopferung wird in unserer milderen Zeit jährlich von den wackeren Männern aufgewandt, die sich in den Dienst der „Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ gestellt haben und rücksichtslos ihr Leben dran setzen, um das anderer dem Verderben zu entreißen. Ein „gesegneter Strand“ ist heute der, an dem kein Schiff zerschellt und kein Menschenleben verloren geht. – Aber die See läßt nicht mit sich Verträge schließen. Sie bleibt selbstherrlich wie je, und im ungebändigten Stolz achtet sie ein Panzerschiff und einen Salonschnelldampfer nicht höher als ein Fischerboot und schleudert sie miteinander auf den Strand oder auf die Klippen, wie ein Kind eine Eierschale ins Wasser wirft. Am schrecklichsten und im wildesten Toben offenbart sie sich, wenn sie ihre brüllenden Wogen, statt auf den plattgeschlagenen Strand und Sand, brandend und donnernd gegen felsiges Ufer schleudert, daß der Gischt siedend gen Himmel fährt und wie schneeiger Nebel davongeführt wird vom Sturm. Weh’ dem armen Boot, das von übermächtiger Sturmgewalt und Strömung an solch Ufer geworfen wird! Dem Verderben entgeht es nicht, wenn nicht eisenharte Hand und adlerscharfes Auge das überflutete Schiff durch die Klippen in den sicheren verborgenen Hafen steuern kann. Hinter dem Gestein übersprüht vom verstiebenden Gischt, knieen die Mütter und Frauen und Väter in heißer Angst um die, welche draußen um ihr Leben kämpfen und den Weg durch die neblig versprühenden Schwaden suchen! – Seemannsbrot – hartes Brot! – Und allen, die draußen im Sturm fahren, einen gesegneten Strand, an dem sie in Frieden landen mögen! P. H.
Liebhaber- und Fachkalender in früheren Jahrhunderten. Schon frühe diente der Kalender neben dem Zwecke der Zeitbestimmung auch als Hilfs- und Nachschlagebuch in gewissen Lebenslagen oder als eine Art Fachlexikon für einzelne Stände oder bestimmte Kreise. Das Germanische Museum in Nürnberg bewahrt eine Reihe von derartigen merkwürdigen Kalendern deutschen Ursprungs auf, denen ihre Verleger oft die wunderlichsten Titel auf den Weg mitgegeben haben. Da ist ein „Bauernkalender“ auf einem Pergamentstreifen von 1389 mit besonderen Zeichen, gemalten Brustbildern von Heiligen und Monatsbeschäftigungen, ferner ein „Gesundheitskalender“ mit Angabe der Körperpflege für alle Tage des Jahres aus dem 15. Jahrhundert, ein „Schimpff- und Ernst-Kalender“ von 1683, ein „Alter und neuer Traumkalender“ aus dem Jahre 1674, ein „Chur-Brandenburgischer alter und neuer kurioser Historien-, Sieges- und Heldenkalender auf das 1700 Jahr Christi mit Bildniß von Berlin“, ein verbesserter Sack-Kalender (Taschenkalender) auf das 1751 Jahr, ein „Alter und neuer Musik-, Gesang- und Liederkalender,“ Nürnberg, 1681. Ein anderer Kalender führt den weitschweifigen Titel: Practica Mathiae Brotbeyhel auf das MDXXXVI jar, mit erwelten stunden etzlicher zeyt und tag zu Aderlassen Finsternuß der Sunnen, Finsternuß des Mons. Jupiter ein Herr dieß jars, Mars Mithelffer“.
[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht transkribiert.]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.