Die Gartenlaube (1897)/Heft 37
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Nr. 37. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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(6. Fortsetzung)
Unter dem blau und weiß gestreiften Zeltdach, das die Terrasse und auch die dahinterliegenden Zimmer beschattete, war der große runde Frühstückstisch gedeckt. Auf weißem, feingeblümtem Tischtuch zierliches rosagetöntes Meißner Porzellan, schweres Silbergerät, Gebäck verschiedner Art, Blumen in hoher Vase. Herangeschoben zwei bequeme Bambussessel mit Kissen belegt; der Platz vor dem dritten Gedeck noch frei.
[614] Aus der weitgeöffneten Flügelthür, aus dem im Dämmerlicht schwimmenden, behaglich eleganten Salon schob Hanna den Stuhl mit der Mutter über die Schwelle und in die Lücke zwischen die beiden Sitze.
Ein erfrischendes Morgenlüftchen, Rosenduft auf den Flügeln, kam aus dem Garten dahergeweht, mitten durch den aufsteigenden, schimmernden Strahl des großen Springbrunnens, und hob die weichen kleinen Locken auf Hannas Stirn. Die Sonne brannte noch nicht heiß, strahlte nur golden und spielte in funkelnden Lichtern auf Bäumen, Büschen, Blumen und Gras.
„Köstlich,“ sagte Frau Wasenius nach einem tiefen Atemzug und mit einem Blick in den herrlichen Garten hinein. „Ein schöner Morgen, wie er im Buch steht.“
„Ja, und ein braves Mutterchen dazu, das gut geschlafen hat.“ Hanna beugte sich zärtlich zu ihr herab. „Das beides zusammen lob’ ich mir. Du siehst heute wirklich viel besser aus, mein Engel. Was so eine schöne, ruhige Nacht doch thut. Die Tage her war ich recht unzufrieden mit dir. Weißt du das auch?“
„Freilich weiß ich’s, brauchte ja nur dein Gesicht anzusehen,“ antwortete die Mutter lächelnd. „Aber wie anspruchsvoll du auch bist. Alles soll jetzt im Galopp gehen. In ein paar Wochen soll ich die Versäumnisse von Jahren eingeholt haben. Laß mir doch Zeit, ungeduldiges Kind. Bedenke, daß die Uebersiedlung und was damit zusammenhing, für mich etwas Aehnliches bedeutete wie ein Krankheitsprozeß, der erst verwunden werden mußte. Oder, wenn dir das zu gewaltthätig klingt, eine Anstrengung, eine Erschütterung, ganz gewiß nichts Gleichgültiges. In meiner Verfassung darf man wohl eine Weile brauchen, um sich an etwas Neues zu gewöhnen. Erst von da an ist zu erwarten, daß die Erholung einsetzt. Drei Wochen sind am Ende noch keine Ewigkeit, sollte ich meinen.“
„Nein,“ sagte Hanna leise, „eine Ewigkeit sind sie nicht. Aber viele Stunden.“ Sie stand noch neben der Mutter, wieder aufrecht, den Arm auf die Rücklehne des Rollstuhles gestützt, den Kopf etwas geneigt. „Ich bin ungeduldig. Ja, in dieser Sache bin ich’s. Wort wider Wort. Es soll mir sein Versprechen halten. Ich warte darauf, Tag um Tag, Stunde um Stunde.“
„Wer soll dir sein Versprechen halten?“ fragte Frau Wasenius verwundert. Sie lehnte den Kopf zurück, um das Gesicht der Tochter zu sehen.
Von den finster gerunzelten Brauen, von den gesenkten, leise zitternden Augenlidern ward sie aber nichts mehr gewahr, so schnell hatten sich die einen geglättet, die andern gehoben.
„Es, Es, Mutterchen.“ Hanna beugte sich lächelnd wieder tiefer zu ihr herab. „Es hat keinen Namen. Oder nur einen breiten, pathetischen, der nach Wunder was klingt. Das Schicksal! Sieh’ nicht so nachdenklich aus. Ich hab’ nur Spaß gemacht. Aus Freude, weil du endlich anfängst, brav zu werden.“
Sie zog die Uhr heraus. „So. Gleich wird unser Gestrenger erscheinen. Ich kann schon klingeln.“
Sie drückte auf den Knopf der elektrischen Glocke an der Wand neben dem Fenster. Ludwig stand später auf als sie. Oder vielmehr sie erhob sich leise, leise, um ihn nicht zu stören, eine gute Stunde früher, als seine gewohnte Zeit war. Der geliebten Pflicht, die Mutter anzukleiden, wollte sie sich nicht entziehen, und er hatte sich nach einigen Einwendungen „vorläufig“ diesem Wunsch seiner jungen Frau gefügt.
Sie ging nun, bis der Diener mit dem Frühstück und den Zeitungen kam, mit ihrer Gießkanne an den Blumen entlang, die auf der Balustrade standen.
„Die rührende Malve hat doch noch wieder drei neue Blüten bekommen,“ rief sie über die Achsel zur Mutter zurück. „Und sieh nur, die Clivia! Die kann ihre Zeit nicht erwarten. Jetzt ist sie ganz geöffnet. Diese Pracht! Eins, zwei – – nein wirklich, zwölf einzelne Blumen! Kannst du sie von da aus gut sehen?“
„Ja, ich kann sie sehen.“
Der Blick der Mutter ging aber von der bunten, duftenden Herrlichkeit alsbald wieder zu der Tochter zurück. In dem weißen, schmiegsamen Hauskleid, das eine feine goldene Schnur um die Taille schloß, mit den lang niederhängenden, schweren Zöpfen, die sich unten zu Locken kräuselten … auf Ludwigs ausdrücklichen Wunsch ihre Morgenfrisur – stand sie mädchenhaft liebreizend da. Das Gesicht, den Blumen zugekehrt, für die zärtlich sorgenvollen Augen der Mutter nicht erreichbar.
Es blieb auch zum Beobachten keine Zeit mehr. Denn fast im gleichen Augenblick kam von drinnen her der Hausherr und vom Garten, aus der nahebei die im Souterrain gelegene Küche mündete, der Diener mit seiner großen Platte. Während er von einem Kredenztischchen aus die verschiedenen Sachen auftrug – den Kaffee, die Butter auf Eis, die weichen Eier, den Schinken, die frisch gerösteten englischen Brotscheibchen – trat Ludwig heran und begrüßte seine Schwiegermutter mit Handkuß und Erkundigungsfrage.
„Gute Nacht gehabt, Mama?“
„Prächtig, ausgezeichnet,“ kam die Antwort, noch gehobener als eine Stunde zuvor, und in dem offenbaren Bestreben, einen guten Eindruck zu machen. „Ich habe einfach durchgeschlafen und fühle mich heute so frisch und gesund, als wenn ich ein anderer Mensch wäre.“
„Na, siehst du wohl, das ist ja famos. Da wird ja auch hier mein kleines Ehegespons ein anderes Gesicht kriegen was? Und ganz zu Hanna gewendet, mit dem unterdrückten Ton verhaltener Zärtlichkeit. „Tag – du!“
Seine flammenden, zehrenden Blicke gingen an ihr auf und ab.
Furchtbar verliebt, fand August, der trotz der respektvoll unbeweglichen Miene des gutgeschulten Dieners alles bemerkte und kritisierte, was vorging.
Hanna nickte ihrem Mann freundlich zu. Sie hatte sich schon gleich an ihren Platz gesetzt und drehte eben den Hahn der Wiener Kaffeemaschine auf, um seine Tasse zu füllen. Er hielt aber ihre Hand fest, so daß das braune, dampfende Brünnlein wieder versiegte. Und dann, ohne Rücksicht auf die Anwesenheit des Dieners, der sich nun schnell mit einem leisen Lächeln auf seinem Diplomatengesicht entfernte, drückte er sie tief in ihren Sessel zurück und „nagelte“ sie mit dem Kuß an der Lehne fest, wie August brühwarm in der Küche berichtete.
Sie rührte sich nicht, sie griff nur nach den Bambusstäben der Seitenlehnen und umklammerte sie fein. Wie mit Glut übergossen, richtete sie sich endlich nach Empfang dieses Morgengrußes schweigend wieder auf. Ein unsicherer Blick streifte die Mutter, die aber, ganz abwesend, in eine Zeitung vertieft schien.
„Wieder ein kleiner Eisenbahnunfall,“ sagte sie, aufschauend und das Blatt zusammenfaltend, als nun Ludwig um den Tisch herum an seinen Platz ging. „Zum Glück ohne Menschenverluste. Die Zeitung möchte ich sehen, die man aufmacht, ohne auf eine solche Nachricht zu treffen!“
„Mach sie nicht auf, Mama,“ riet Thomas lachend. „Was ich nicht weiß, macht mir nicht heiß. Denk’ lieber daran, dich zu pflegen und uns durch rasch zunehmende Besserung zu erfreuen. Danke!“
Er nahm die gefüllte Tasse aus Hannas Hand. Während er sich mit Fleisch und Eiern versorgte, nickte er seiner Frau zu.
„Iß, Piepmatz! Wie lange wird’s noch dauern, bis ich dich zu einem vernünftigen Frühstück bekehrt habe? Die eine Tasse Kaffee und das Buttersemmelchen – lächerlich! Deine Mama ist verständiger als du.
„Die hat’s auch nötiger,“ antwortete Hanna freundlich. Dann wandte sie sich ihr zu. „Hier, mein Engel, Butter! Hast du Salz? Neben dir steht es. Du mußt dir viel Butter zu den Eiern nehmen, hörst du? Das ist gut. Ich mache dir derweilen dein Brötchen zurecht. Wenn ich den Schinken ganz fein schneide, dann geht mehr hinaufzupacken als bei so einer dummen Scheibe. Vergiß auch deinen Kaffee nicht.“
„Kind, du nudelst mich ja förmlich. Ich bin doch keine Gans.“
„Mein Mutterchen! Es werden ja nicht nur Gänse genudelt. Schmeckt es dir denn?“
„Sehr. Heute so wie noch nie. So wohl, wie ich mich aber heute auch fühle!“
Hanna griff strahlend nach der Hand der Mutter und küßte sie.
„Du Einziges! Wie glücklich bin ich! Und über den Tisch, zu ihrem Mann: „Sind dir die Eier heute recht. Ludwig?“
„Die Eier, ja“ antwortete er, aus seiner Zeitung aufsehend, [615] die er entfaltet und vor sich ausgebreitet hatte, als wenn er allein wäre. „Aber der Schinken ist zu salzig,“ fügte er hinzu, ein Stück versuchend. „Ungenießbar. Laß ihn stehen, Mama!“
„Mir kommt er nicht zu salzig vor,“ sagte Frau Wasenius, die nun auch mit ihrer Gabel eins von den schon geschnittenen Stückchen aufpickte.
„Aber er ist zu salzig,“ beharrte Ludwig. „Der Kerl soll kalten Braten bringen.“ Und zwei Finger zwischen die Zähne schiebend, that er schnell einen gellenden Pfiff.
Beide Frauen waren zusammengezuckt. Hanna schüttelte den Kopf mit einem vorwurfsvollen Blick. „Wieder! Ich hatte dich so gebeten, Ludwig, das zu lassen. Hunden pfeift man. Ich konnte ja klingeln.“
Thomas winkte leicht ungeduldig mit der Hand. „Auf kein Signal kommt er so schnell. Das ist die Hauptsache. Bis du da aufstehst! und hingehst! und auf den Knopf drückst! – siehst du wohl, da haben wir das Freundchen schon. – Und zu dem herantretenden Diener sagte er in kurzem, herrischem Ton: „Bei wem ist der Schinken gekauft? Ganz sicher nicht bei Borchardt, wie ich befohlen hatte.“
Der Mann wußte es nicht.
„Sagen Sie der Köchin, daß ich solches Zeug nicht noch ’mal auf dem Tisch haben will. Verstanden? Bringen Sie kalten Braten!“
„Es ist zweierlei da.“
„Also beides. Den sogenannten Schinken nehmen Sie mit.“
„Vielleicht will aber Mutter noch davon,“ wandte Hanna halblaut ein. „Er hat ihr doch geschmeckt.“
„Der Braten wird ihr besser schmecken. Allons! Und morgen früh will ich ein Beefsteak.“
„Sehr wohl.“
„Wie kannst du nur so – so unklug sein,“ sagte Thomas mit verfinstertem Gesicht, nachdem August sich mit dem Schinken entfernt hatte, „und meine Befehle kreuzen in Gegenwart eines Dienstboten. Laß das künftig! Du würdest mich sehr dadurch verbinden.“
Hanna sah ihn fest an. „Am natürlichsten wäre es wohl,“ sagte sie ruhig, „wenn du mich alle diese Essensfragen erledigen ließest. Ich kann nicht behaupten, daß ich die hotelmäßige Art, wie du die Dinge behandelst, sehr anziehend fände. Dies Haus ist doch kein Gasthaus. Es ist dein eigenes Haus. Und ich bin deine Frau. Schon mehrmals habe ich dir das sagen wollen, aber ich dachte immer noch, es würde sich von selber geben. Die Beefsteakbestellung zu morgen früh aber –“
„Die hat dem Faß den Boden ausgeschlagen, was?“ unterbrach er sie mit einem etwas gereizten Lachen. „Liebes Kind, ich bin zu lange Junggeselle geblieben, um mich darin noch groß zu ändern. So wie ich bin, wirst du mich wohl verbrauchen müssen. Wenn die Bande nur pariert!“
„Dann hat es freilich wenig Sinn, daß ich mich mit der Köchin über das Essen berate, dann brauchtest du ja eigentlich nur durch den Diener – oder vielmehr Kellner – zu bestellen, was für ein Diner oder Souper du wünschest, und abgemacht! Eine Frau wäre eigentlich nicht nötig im Haus.“
„Meinst du?“ fragte er und blickte sie lächelnd an.
Sie hatte nur halblaut gesprochen, hatte sich nicht auf ihrem Platz gerührt, nur waren ihre Wangen langsam heiß und rot geworden.
„Wie reizend siehst du aus, wenn du so die Farbe wechselst,“ bemerkte er weiter, ohne den Blick von ihr zu lassen. „Ich sollte dich eigentlich öfters ärgern. Es steht dir famos!“
Schon kam der Diener mit den zwei neuen Schüsseln zurück. Er brachte auch einen Brief für Frau Wasenius, den diese schnell ergriff und öffnete, froh, eine unauffällige Beschäftigung zu haben.
Thomas, offenbar von einem bestimmten Gedanken beherrscht, beugte sich nach Augusts Entfernung etwas vor und verschränkte die Arme auf dem Tischrand. „Reizend“, sagte er noch einmal halblaut, Hanna zunickend. Und dann, in heiteres Lachen ausbrechend. „Na komm her, ich will dir noch ’mal verzeihen.“
Er streckte ihr die Hand hinüber.
Sie rührte sich aber nicht, sie lehnte sich vielmehr zurück die Hände im Schoß gefaltet.
„Was willst du mir denn verzeihen?“ fragte sie kühl.
Er lachte, sprang auf und kam um den Tisch herum zu ihr. Sie machte eine schwache, unwillkürliche Fluchtbewegung.
„Duckst dich, wie der Hase in der Ackerfurche,“ sagte er lustig. „Nützt dir aber nichts. Komm!“
Er faßte sie mit beiden Händen und zog sie vom Stuhl auf in seine Arme, drückte sie an sich, bog ihr den Kopf zurück und küßte sie auf die kleine weiße Kehle.
„Bitte –“, sagte sie ängstlich und strebte sich zu befreien.
„Nichts bitte,“ erwiderte er, umschlang sie fester und bedeckte nun auch ihr Gesicht mit heißen, leidenschaftlichen Küssen. „Ich werd’ dir sagen,“ murmelte er, „was ich dir verzeihen will: daß du mich verrückt gemacht hast!“
Sie machte sich nun fast heftig los, über und über glühend rot. „Du vergißest dein Frühstück,“ sagte sie etwas heiser. „Darf ich dir noch einmal einschenken?“
Er kehrte langsam zu seinem Platz zurück. „Ja, ich vergesse alles über meinem entzückenden Hauskreuz. Essen und Trinken! Gieb mir noch eine Tasse! Gestattest du, Mama, daß ich dir eine Scheibe Roastbeef abschneide? oder willst du von dem Kalbsfricandeau?“
„Danke,“ sagte Frau Wasenius freundlich. „Ich bin satt. Ich war mit dem Schinken auf meinem Brötchen ganz zufrieden.“
„Reize den schlafenden Löwen nicht, Mama,“ warnte er lachend. „Erinnere mich nicht an den versalznen Schinken, sonst verderbe ich es noch einmal mit meiner gestrengen Ehehälfte. Sieh nur, wie sie dasitzt, ganz geknickt über ihren brutalen Mann. ,Ach, ich hab’ – dich ja nur – auf dein Hälschen geküßt!' Hat’s denn so weh gethan? Was hast du gedacht, als ich dich heiratete? Hast du gedacht, ich würde dich platonisch verehren wie ein Heiligenbild? Kleines Schaf du. – Das Roastbeef ist gut. Iß doch was davon! Nicht? – Du hast ein empfindliches Töchterchen, Mama. Erst will ihr das Herz brechen, weil ich dem August gepfiffen habe, dann fühlt sie sich in ihrer Hausfrauenwürde verletzt und schließlich nimmt sie’s übel, wenn ich sie küsse.
Es klang ein Unterton von Verdruß in seiner fidel sein sollenden Rede mit. Frau Wasenius sandte einen schnellen, warnenden Blick zu Hanna hin und sagte dann, wieder zu Thomas gewendet, schüchtern und sehr sanft:
„Lieber Ludwig, es will alles erst gelernt sein. Auch das Geliebtwerden. Auch die Hausfrauenwürde. Wenn sie sich nun gern ein bißchen fühlen möchte. Sie hat sich eben dumm benommen, aber das ist ein Fehler, den sie ablegen wird, hoff’ ich. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Auch noch keine vollendete Ehefrau. Ich glaube, sie sieht schon ein, daß man liebenswürdiger hätte sein können, als sie gewesen ist.
Hanna, den Blick der Mutter verstehend, hatte sich sofort beisammen. Mit einer sehr liebreizenden Gebärde streckte sie ihre Hand, zwischen Tassen, Brotkörbchen und Blumenvase durchkriechend, ihrem Mann über den Tisch entgegen. Er betrachtete einen Augenblick mit sachlichem Ernst die feinen Finger, und zur Mutter gewendet, ohne die Miene zu verziehen sagte er. „Jetzt will sie mir wieder verzeihen.“
„Es scheint so,“ erwiderte diese mit begütigendem Lächeln.
Ludwig wiegte nachdenklich den Kopf erfaßte dann vorsichtig die Spitze des kleinsten Fingers und schüttelte ihn ein wenig.
„Hoffentlich habe ich mich jetzt decent genug benommen,“ erkundigte er sich trocken, immer noch, ohne Hanna anzusehen.
„Musterhaft,“ gab Frau Wasenius zu, ein leises nervöses Zucken der Augenbrauen bekämpfend.
„Nun, dann sind wir ja quitt,“ sagte er. Und als die kleine Hand mutig und ergeben zugleich immer noch ausharrte, beugte er sich etwas vor und blies nach ihr, als wenn er sie verscheuchen wollte.
Auf dieses „Signal“ zog sie sich nun freilich sofort zurück.
Er lachte laut auf aus Vergnügen über seinen gelungenen Spaß.
„Wütend?“ fragte er lustig. Offenbar gefiel ihm wieder ihr gekränktes Gesicht.
„Nein,“ sagte sie schnell gefaßt. „Aber verblüfft bin ich über deine Unliebenswürdigkeit.“
„Potz Donner!“
[616] Er stand langsam auf.
„Jetzt bin ich unliebenswürdig, während ich nur deinen Wünschen in meinem Betragen entsprochen habe.“ Und auf ihren erstaunten Blick antwortend. „Du hast ja vorhin gethan, als ob du mindestens von einem Gorilla überfallen worden wärest. – Na, ich gehe. Erhole dich in den paar Stunden.
Vielleicht bist du bis heute mittag menschlicher gegen mich gesinnt.“
Hanna war gleichfalls aufgestanden und näherte sich ihm. „Du kannst doch nicht im Ernst verstimmt sein, Ludwig?“ fragte sie etwas ängstlich.
„Ich bin überhaupt nie verstimmt. Willst du dir das gütigst merken. Ich bin der verträglichste, gleichmäßigste, sanftmütigste Mensch in Europa. Aber Weiberchenlaunen natürlich, die machen auch schließlich einen Eichenstamm nervös.“
Hanna drückte die Lippen zusammen. „Nun, so ist ja alles in Ordnung,“ sagte sie dann aber freundlich. „Weiberchenlaunen wollen wir nicht haben. Und ihm freiwillig den Mund hinhaltend, die Hände auf seinen Schultern, sagte sie heiter.
„Adieu, Gorilla!“
Er betrachtete einen Augenblick diese zartblühenden, etwas bläßlichen Lippen, es lief nun ein hellerer Schein über sein kaltgewordenes Gesicht.
„Hexe,“ murmelte er ganz leise, „entzückende Hexe!“ Mit einem Griff in ihren Nacken, in die weichen Zöpfe, drückte er sie heran und küßte sie auf den Mund, der nun tapfer stillhielt, ohne zu zucken, so angst ihm bei diesem langen Kuß auch wurde.
„Entzückende Hexe,“ wiederholte er, sie anlächelnd und ihren Kopf an seine Schulter drückend. Er faßte dann ihr Handgelenk und streifte langsam an ihrem Arm aufwärtsgleitend, den weiten Aermel zurück bis über den Ellbogen. Sie errötete, ließ ihn aber gewähren.
„Dein Arm gefällt mir,“ sagte er. „Gerade, daß er noch so schlank ist. Und wie weiß gegen meine braune Pfote. Sieh!“
„Deine ganze Tochter gefällt mir, Mama,“ sagte er, sich über die Achsel zu Frau Wasenius wendend, die zum zweitem mal aufmerksam ihren Brief zu lesen begonnen hatte. „Sie ist zwar manchmal noch ein heilloses kleines Schaf, aber ich kann sie trotzdem gut leiden. – Von wem ist denn der Liebesbrief, den du so zärtlich studierst?“
„Von Günther. Er meldet sich von seiner kleinen Ferientour zurück und fragt an, ob Hanna im August, wenn die Proben wieder anfangen, auch in Berlin ist, um mitzusingen.“
„Natürlich,“ rief Hanna lebhaft, „ich freue mich schon darauf.“
Ein zweiter Gedanke, der unmittelbar folgte, schien sie dann zu erschrecken, sie brach ab und schwieg.
„Darüber brauchen wir uns ja jetzt noch nicht zu entscheiden,“ wendete Ludwig mit unbehaglicher Miene ein. „Mir ist diese ganze Singerei – na, das findet sich. Jetzt hör’ mal zu, mein Schatz. Erstens gehen wir heute nachmittag in die Kunstausstellung. Da sind von diesem Orientmaler ein paar famose Dinger. Wie heißt er? Kuhnert. Du sollst entscheiden, ob wir uns die Elefantensache kaufen oder die Zebraherde. Ferner, sage der Köchin – merkst du wohl, wie ich mich unter deinen Pantoffel schmiege? – sage der Person, sie soll mir zu morgen früh – zu dem bewußten Beefsteak – Ravigotbutter machen, aber nach dem Rezept, das ich ihr aus Paris mitgebracht habe. Verstanden? Na gut! – Und nun komm, begleite mich noch bis zur Thür. Adieu, Mama!“
Gewiß, sie hatte ihn gern. Sie war ihm wirklich zugethan. Es war so auch nicht so schwer, ihn liebzugewinnen, mit der Dankbarkeit als Bundesgenossen. Und angesichts der Güte, mit der er für die Mutter sorgte, ohne viel Wesens davon zu machen, was durften da die kleinen Trübungen, die Meinungsverschiedenheiten, deren das enge Zusammenleben in diesen Wochen schon einige gezeitigt hatte, bedeuten? Mit etwas gutem Willen von ihrer Seite waren sie ja auch leicht zu lösen gewesen! Eine und die andere Schrulle konnte man ihm wohl nachsehen, dem Wohlthäter! Nicht anders als mit dankbarer Freude durfte sie ihm entgegenkommen und an ihn denken. Am deutlichsten empfand sie das, wenn sie ihn nicht sah, wenn er für einige Stunden das Haus verlassen hatte, wenn sie sich seinen plumpen Zärtlichkeiten nicht ausgesetzt fühlte, die sie beim besten Willen nicht erwidern konnte. Die Glückseligkeit über das behagliche Leben in schöner Umgebung, das die Mutter jetzt führte, nahm sie dann jedesmal wieder ganz gefangen. Mit gerührter Freude sah sie auch stets von neuem auf die Fülle von Herrlichkeiten, mit denen seine verschwenderische Freigebigkeit sie überschüttete, betrachtete mit noch nicht überwundenem Staunen die Pracht, die sie umgab. Aus kümmerlicher Armut, die näher und näher rückende Not vor Augen, war sie plötzlich in das Zauberreich des Ueberflusses versetzt worden. Und der Beherrscher dieses Zauberreiches betete sie an. Mußte sie nicht glücklich sein? Gewiß, sie wollte ja auch. Sie hatte den besten Willen dazu. Aber sie mußte sich vor dem Alleinsein hüten! Es that ihr nicht gut! Es that ihr schweren Schaden! Denn in solchen Stunden der Einsamkeit ergossen sich über den künstlichen Frieden ihres Gemüts in breiten, schweren Wellen Orgelklänge daher, die sie wohl mahnen wollten mit ihrem Ruf. Sei getreu! – und die doch ihrer eigenen Mahnung zum Trotz das Schmerzensgesicht des verlorenen Freundes mitbrachten, wie es abschiednehmend und erbleichend in der sonndurchleuchteten Kirche vor ihr gestanden hatte.
Nein, sie durfte nicht allein sein!
Sie wollte ja auch nicht! Wie alle Tage nach der Verabschiedung von ihrem Mann eilte sie, zur Mutter zurückzukommen.
In keinem der prachtvollen Räume, die ihr in dem weitläufigen Hause zur Verfügung standen, fühlte sie sich so von Herzen gemütlich wie in den Zimmern der Mutter. Selbst in ihrem wirklich reizenden „Boudoir“ hatte sie noch keine Stunde hintereinander zugebracht. Freilich lag es im ersten Stock, entfernt von der Mutter, unerreichbar für sie, die unten wohnen mußte, um Terrasse und Garten mühelos benutzen zu können. Ihre beiden Zimmer, mit einem Schlafstübchen für Bertha daneben, waren den Gesellschaftsräumen abgewonnen worden, die, besonders jetzt, mit ihren geschlossenen Fensterläden, ihrer in Dämmer ruhenden Pracht, wie ein schlafender Ocean die lichte, warme Koralleninsel der Gemütlichkeit bespülten.
Aufatmend und schon wieder lächelnd trat Hanna aus der etwas dumpfen Kühle des grauen Salons – so genannt nach seiner stahlgrauen, mit reichen Silberornamenten geschmückten Ausstattung in das von der duftigen Sommerluft durchwärmte Terrassenzimmer, in dem das vielfältige Gezwitscher ihrer Vögel aus dem großen Käfig her sie anjubelte, in dem trotz aller wohlhäbigen Eleganz der Einrichtung mit dem dicken roten Plüschteppich, den schweren, persisch bunten Polstermöbeln, den schönen Kupferstichen an den Wänden, dem mächtigen Spiegel am Pfeiler, dort aus der Ecke her das alte Klavier, vom Fenster her ihr kleiner Schreibtisch und von der anderen Seite ihr Bücherschrank sie grüßte. Ludwig hatte dafür gestimmt, den ganzen „alten Krempel“, da ihn die Mutter ja durchaus nicht haben wollte, auf dem Speicher zu verstauen. Aber die Frauen hatten es doch durchgesetzt, daß die liebsten von ihren Sachen weiter im Gebrauch blieben, und es that ihnen nicht weh, daß der Hausherr naserümpfend die stillose und zusammengewürfelte Ausstattung dieser Wohnstube bekrittelte.
Nachdem sie ihre Vögel versorgt hatte, trat Hanna erst noch in das Schlafzimmer, in dem Bertha aufräumte, und überzeugte sich, wie alle Morgen, daß das Bett – ein herrliches, neues, bequemes Bett – ordentlich gemacht sei. Das Mädchen durfte die große Decke nicht eher überspreiten, als bis die „gnädige Frau“ Bertha schwelgte in diesem schönen, neuen Titel – gesehen hatte, daß das Leintuch faltenlos glatt gespannt liege und daß die Kissen durchgeschüttelt und vom Sonnen frisch aufgequollen seien.
Nachdem ihr dann Bertha noch einmal – sie selber durfte ja diesen Schlaf nicht mehr bewachen! – von der herrlichen Nacht berichtet hatte und daß die Frau Doktor wie ein Engel so ruhig geschlummert habe, nahm sie ihre Handarbeit und setzte sich zur Mutter hinaus.
Für die nächsten paar Stunden wieder Hanna Wasenius! Der Frühstückstisch war mittlerweile schon abgeräumt worden. Nur die Vase mit den Rosen stand noch mitten auf der bunten, gestickten Decke, mit der das Tischtuch vertauscht worden
[617][618] war. Eine von Hannas Stickereien, die ihr der „Herr Bankier“ damals abgekauft hatte. Mit vielen anderen ihrer Arbeiten hatte sie sie beim Einzug vorgefunden.
„Und nun sag’ mir ordentlich, was Günther schreibt,“ bat sie, ihren Bambussessel so nahe wie möglich neben die Mutter rückend.
„Hier ist der Brief. ‚Liebes verehrtes Mamachen! Seit vorgestern bin ich von meiner kleinen Ferientour zurück. Habe mich nach Kräften ausgerannt, immer querwaldein. Jetzt giebt es in Thüringen bald gar kein Fleckchen mehr, das ich nicht kenne. Auf dem Rückweg hab’ ich in Weißenfels Station gemacht und bin mit einem Wagen nach dem Dorf hinausgefahren, wo die alten Rettenbachers wohnen. Ich wollte doch dem armen Kerl, der die nötigen Groschen zur Reise nicht übrig hat, einen Gruß von zu Hause bringen. Er hat sich auch mächtig gefreut. Ich erzähle Ihnen mündlich davon. Nämlich, des Pudels Kern! Ich werde mir morgen nachmittag die Ehre geben, die Damen in ihrem neuen Heim aufzusuchen, vorausgesetzt, daß ich nicht störe. Ich bin riesig gespannt, zu hören, wie es Ihnen geht, verehrtes Mamachen, und auch, wie sich unser Hannichen als gnädige Frau fühlt. Hoffentlich wird sie doch Mitte August, wenn unsere Proben wieder anfangen, in Berlin sein, um mitzusingen. Alles weitere mündlich.
In bekannter Treue und Ergebenheit
„Also heute nachmittag,“ sagte Hanna erfreut. Zugleich aber beschlich sie eine leise Bangigkeit. Wenn nur Ludwig nicht wieder kalt und ungesellig sein möchte, wie schon ein und ein anderes Mal als Bräutigam.
„Hoffentlich kommt er zeitig genug,“ fuhr sie dann fort, „daß ich nicht am Ende schon mit Ludwig nach der Ausstellung unterwegs bin. Vielleicht verschieben wir auch die Fahrt, wenn ich ihn darum bitte. Die Bilder werden uns auch von einem zum anderen Tag nicht weglaufen. Wie schön, mein Mutterchen, daß du heute so wohl bist. Da kann ich doch Ehre mit dir einlegen.
Vom Garten her kam jetzt die Köchin, mit der um diese Zeit über das heutige „Souper“ und das morgige „Diner“ beratschlagt wurde.
Hanna empfand dieser „Perfekten“ gegenüber, die in Paris „studiert“ hatte, immer noch ein leises Gruseln. Mit ihrer eigenen Kochkunst, die sich über die schlichtesten bürgerlichen Gerichte hinaus nie erstreckt hatte, kam sie sich in ihrer eleganten Küche ganz erbärmlich vor, und so tüchtig und gesund ihre gastronomischen Grundbegriffe auch waren – hier getraute sie sich kaum Piep zu machen. Im stillen entsetzte sie sich immer vor dem, was es alles gab, was man alles kochen konnte. Aber sie wollte sich von dieser feindrähtigen Person, die mit den verzwicktesten Gerichten nur so um sich warf, nicht über die Achsel ansehen lassen und führte darum ihre Rolle als kühle und allervornehmste Verächterin dieser Uebertriebenheiten zur steten Belustigung ihrer Mutter sehr hübsch durch. Sie hatte sich diesen Standpunkt gewählt als Widerspiel zu ihrem Mann, der so unheimlich bewandert in allen Küchenfragen war, daß auch einem gewiegten Koch hätte schwindlig werden können. Mitsamt ihrer Magd aber ängstlich die Stirnfalten des gnädigen Herrn zu studieren und vor seiner Kritik zu zittern, fühlte sie sich nicht berufen. Wenigstens nicht eingestandenermaßen. Im stillen freilich hatte sie schon begonnen, nach der kleinen Wetterwolke zwischen seinen Augenbrauen zu spähen, und aus der „Idee zu wenig Pfeffer“, der „Ahnung zu stark gesalzen“ konnte sie bereits mit einiger Sicherheit auf Witterungswechsel schließen. Eine Suppe, die nicht ganz „auf der Höhe“ war, stimmte ihn gegen die ganze Mahlzeit mißtrauisch, und nur selten gelang es an solchen Tagen einem der folgenden Gerichte, den ersten Verstoß vergessen zu machen. Hanna that der Köchin nicht den Gefallen sich gemeinsam mit ihr über diese Unglücksfälle aufzuregen, so daß zu Paulinens Leidwesen in diesen Vormittagsstunden wohl eifrig beraten, aber nie geplaudert werden konnte. Hanna genoß übrigens die allgemeine Gunst des Personals, weil sie „gut“ gegen die Leute war, ohne sich etwas zu vergeben, und nicht „protzte“, wie sie es alle von der neugebackenen Millionärin erwartet hatten.
„O Gott, die hatte ich jetzt wirklich vergessen,“ seufzte Hanna, als sie den Kies des Gartenweges knirschen hörte und nun die ansehnliche Gestalt ihrer „Chefin“ mit dem weißen Mützchen auf dem noch glänzend schwarzen Haar, der blendenden Schürze über dem dunklen Kleid daherkommen sah.
„Wenn es gnä' Frau angenehm wäre –“
Ja, es war ihr angenehm.
Nach kurzer Besprechung des „ungenießbaren Schinkens, der natürlich doch von Borchardt war – wie würde sie sich unterstehen, gegen den ausdrücklichen Befehl des Herrn! – und die zum Beefsteak befohlene Ravigotbutter hinweg vertiefte sich die Beratung in Mockturtlesuppe, Potage Sévigné, Saumon Sauce crevettes, Hammelrücken à la Portugaise, Timbale de riz, Filet de chevreuil, Fonds d’artichauts an veloutée de volaille, Maraschinogelée, Mousse meringuée, Crême à la Nesselrode –--
Hanna zuckte schon nicht mehr unter Paulinens „Somong“ und „Schewrölch“. Gut, daß sie viel besser kocht, als sie spricht, dachte sie. Es schmeckte entschieden pariserisch, wenn es fertig war, und darauf kam es ja an. „Heiliger Sprachverein, bitt’ für mich!“ sagte sie lachend zur Mutter, nachdem Pauline mit dem begutachtete Küchenzettel ihrer Wege gegangen war. „Was Ludwig wohl sagen würde, wenn ich ihm die ’Speisekarte', auf gut deutsch abgefaßt, neben den Teller legte. Ich glaube, der Appetit verginge ihm schon bei der Fleischbrühe!“
„So laß ihm also das kleine Vergnügen.“
„Freilich laß' ich es ihm. Ich muß nur immer wieder lachen, wenn diese Küchenfürstin sich mir mit dem neuen Menü unterbreitet. So sagt sie ja gewöhnlich. Hast du es nicht bemerkt?“
„Ja – Aber was ich fragen wollte – wir sind durch diese Küchensorgen ganz aus dem Text gekommen. Es war wegen Günther. Wie denkst du es in Zukunft mit dem Singen in der Kirche zu halten, mein Kind? Da Ludwig ja doch nun einmal gar keine Freude daran hat. Das will gut überlegt sein. Meinst du nicht?“
Hanna nickte stumm und sah auf die Stickerei in ihrer Hand.
„Verbieten wird er es dir natürlich nicht,“ fuhr die Mutter nach einer kleinen Pause fort. „Aber du mußt darauf gefaßt sein, seiner Mißstimmung zu begegnen. Es ist jetzt ein ander Ding als zur Zeit eurer Verlobung, wo er in bestehende Verhältnisse eintrat. Dies ist sein Haushalt. Er ist der eigentliche Herr. Du kannst nicht mehr ganz frei über deine Tageseinteilung bestimmen. Die Uebungen sowohl wie der Dienst in der Kirche schließen erst nach eurer eigentlichen Abendbrotzeit. Diese müßte also verlegt werden. Ob ihm das recht sein wird? Ich zweifle. Ja, wenn er mitsänge oder doch an der ganzen Sache herzliche Freude hätte. Aber es ist etwas, was nur dich allein angeht, an dem er keinen Anteil nimmt.“
„Das ist wahr,“ sagte Hanna leise.
„Verarge ihm das nicht, mein Kind. Sieh das nicht mit Bitterkeit an. Damit thätest du ihm unrecht. Er ist ja als ganz unmusikalischer Mensch nicht mit dem Taktstock zu messen. Wie soll er denn Vergnügen an einer Sache haben, die ihm keine Spur von Genuß gewährt? – Vielleicht lernt er’s noch. Wer weiß?“
„Glaubst du das?“ fragte Hanna ebenso leise wie vorher und ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.
„Ueberzeugt bin ich nicht davon. Aber möglich ist alles. Denn er hat dich sehr lieb. – Uebrigens brauchen wir ja nicht in diesem Augenblick über die Sache zum Schluß zu kommen. Laß es dir einmal durch den Kopf gehen und bedenke dir die Art, wie du um seine Zustimmung bittest. Ich wollte nur, daß du dir darüber klar wärest, daß du nicht mehr allein darin zu entscheiden hast, mein Kind.“
„Das habe ich schon gewußt, Mutterchen.“
„Nun, also. Wir werden Günther heute nachmittag auf die mögliche Schwierigkeit aufmerksam machen. Er wird das alles einsehen. Leid thäte es mir für ihn, wenn er seine Singdrossel verlöre. Und auch für dich, mein Herzenskind, würde ich es sehr bedauern. Aber allem voran steht doch das gute Einvernehmen im Hause. Und du schuldest Ludwig so vielen Dank, daß es dir auf einige Opfer nicht ankommen dürfte. Meinst du nicht auch?“
„Gewiß, Mutterchen.“
„Wenn es mit meiner Besserung übrigens so reißend weiter geht wie heute, dann seh’ ich noch die Zeit kommen, daß ich auch wieder am Klavier sitze.“
„O Gott, Mutter, wenn wir das erlebten!“
[619] „Warum nicht? Heute glaube ich an alles. – Zur As-Dur-Polonaise von Chopin werde ich’s zwar nicht mehr bringen.
Das ist aber auch gar nicht mein Ehrgeiz. Und unser alter guter Klapperkasten möchte sich für die Zumutung bedanken.
Aber musizieren, weißt du, könnten wir dann hier in unseren vier Wänden nach Herzenslust, ohne Ludwig zu stören. Zusammen singen, wir beide, alles, was sich nicht wehrt, alle unsere lieben Duette! Ich begleite wieder, wie in früheren Zeiten.
Dann sollten wir am Ende die Sache mit der Kirche verschmerzen können. Glaubst du nicht, mein Altes?“
Hanna, so golden hoffnungsreiche Pläne an ihrer stets schwermütigen Kranken gar nicht mehr gewöhnt, hatte die Arbeit in den Schoß sinken lassen und sah nun, stumm, mit noch ungläubigem Lächeln und großen Augen, die langsam feucht wurden, der Mutter ins Gesicht.
„Wie kommt dir das so auf einmal, mein Liebling?“ fragte sie dann halblaut, fast zaghaft, als fürchte sie, durch ein lautes Wort den seltsamen Zauber zu verscheuchen.
„Jetzt werde ich dir wohl wieder zu schnell gesund? Heute morgen noch hast du gebrummt, daß ich damit so trödle. Recht kann ich’s dir wohl nicht mehr machen, du anspruchsvolles Ding?“
Hanna warf die Arbeit auf den Tisch und umschlang die Mutter stürmisch mit beiden Armen.
„Ach, du mein Einziges! Halt’ still, jetzt muß ich dich erst kaput und wieder ganz küssen! Also so wohl fühlst du dich, daß du schon schlechte Witze machen kannst? Wie soll man das Glück nur aushalten!“
Von der Kirche war nicht mehr die Rede. Hanna rührte das Wort nicht mehr an. In dem Freudensturm über die Besserung im Befinden der Mutter verwehten alle anderen Klänge.
An einem lichtvollen Frühlingstage, dem 7. April 1769, durchwanderten die graustaubigen Schuttmassen des jüngst in erst einigen Teilen abgedeckten Pompeji König Ferdinand von Neapel, seine Gemahlin Maria Karoline und deren Bruder Josef, Kaiser Josef II. Sie waren gekommen, angeregt durch das lebhafte Interesse, das der geistreiche Kaiser an dieser neuerstehenden alten Welt bekundet hatte, um die Ausgrabungen zu sehen.
Diese wurden, nachdem einige Tage vorher auf Anordnung des allmächtigen Ministers Tanucci die Zahl der Arbeiter vermehrt worden war, in den vier Zimmern eines Wohnhauses im Theaterviertel vorgenommen und förderten zur Freude des Kaisers eine Menge der köstlichsten Gegenstände antiker Kunst zu Tage.
Er erhob nun laut und dringend seine Stimme zu eifrigerem Betriebe des Werkes und fragte, wieviel Arbeiter dabei angestellt seien. Es waren dreißig. Dreißig? Und er machte seinem Schwager Vorwürfe, wie er erlauben könne, daß ein solches Weltwerk so nachlässig betrieben werde. Das sei eine Arbeit, welche 3000 Mann erfordere, und ihre Förderung werde dem Königreich Neapel zu hoher Ehre gereichen.
Da er zu den Gebäuden kam, die man nach damaligem Brauch aufgedeckt, ausgeplündert und wieder verschüttet hatte, erneuerte er seine Vorwürfe, und der König entschuldigte sich sehr verlegen damit, daß solches unter der Regierung seines Vaters, vor etwa zwanzig Jahren geschehen sei, als man noch keine Kunde davon hatte, daß hier eine Stadt zu Tage trete. Seit sechs Jahren wisse man dies und seit dieser Zeit lasse man die Gebäude aufgedeckt.
In der That hatte das klassische Aschenbrödel Pompeji unter Weizenäckern, Wiesen und Weinbergen ungestört bis ins 18. Jahrhundert hinein schlummern können, bis diese grüne Decke durch einen Zufall gehoben ward. Das war 1748 gewesen. Darauf hatten unberufene Hände begonnen, die Schlafende ihrer Kostbarkeiten und Schmucksachen zu berauben. Doch dies wüste Schatzgraben hatte sich auf die Dauer so wenig lohnend erwiesen, daß von 1750 bis 1754 niemand mehr grub. 1756 waren vier Arbeiter beschäftigt unter der Aufsicht eines Caporale. 1762 fand unser Winckelmann acht Arbeiter thätig, zwei Jahre später dreißig, es waren Galeerensklaven und Sklaven aus Tunis.
Josef hatte bei seinem Besuche den traurigen Schlendrian stark gerügt und feierliche Zusage auf Abstellung erhalten. Da jedoch vorauszusetzen war, daß er seinen Besuch nie wiederholen werde, so blieb seine Kritik ohne Wirkung. Bald auch hatten die Bourbonen, als die Glut des großen Pariser Brandes anfing, ihr Reich zu bedrohen, anderes zu thun, als alte Städte auszugraben.
Erst zu Napoleons und Murats Zeit kam neues Leben in die Ruinen. Da waren 1813 sogar bis gegen siebenhundert Arbeiter bei den Ausgrabungen beschäftigt.
Die Königin Karoline Murat, die sich durch Geist und Charakter sowie durch ihre Liebe zu Kunst und Wissenschaften auszeichnende Schwester Napoleons, brachte den Ausgrabungen das lebhafteste Interesse entgegen und spendete dafür aus ihrer Privatkasse 200 Dukaten monatlich. Ihrem Antriebe und ihrer Unterstützung ist das Zustandekommen eines der großartigsten Werke über Pompeji zu verdanken: Mazois’ „Die Ruinen von Pompeji“. Zur Drucklegung dieses Werkes, dessen erster Band 1812 bei Didot in Paris erschien, hatte Karoline 15000 Franken hergegeben.
Die auferstehende Stadt verlor ihre Gönnerin nach der Erschießung Murats. Die Bourbonen kamen wieder und die alte Oede kehrte in Pompeji ein. So waren die dreißiger und vierziger Jahre Feier-, d. h. Ruhejahre für die Stadt, und die Summe von etwa 30000 Mark, die für die Nachgrabungen ausgeworfen war, wurde in den Taschen der Beamten begraben. Um den Schein zu wahren, nahm man für billigsten Tagelohn die Frauen und Mädchen der armen Nachbarschaft in Dienst, wo es dann in den sonst so schweigsamen Ruinen der Totenstadt recht laut und lustig zugegangen sein mag. Das waren die Nachkomminnen der griechisch-römischen Frauen, die einst die Gegend bewohnten. Mit klassisch gebildeten Augen schaute der glückliche Maler E. Sain sie an, dem wir das Bild auf S. 617 verdanken, das Original hängt im Pariser Luxembourg-Museum. Ihm erschienen diese Arbeiterinnen wie aus jenen Zeiten Erstandene, er sah über Staub, Schmutz und Lumpen hinweg und zauberte leichte schlanke Grazien, wie sie auf den farbigen Wänden der vornehmen Häuser Pompejis im Bild schweben, auf die Leinwand.
Mit diesen überall ans Licht tretenden blühenden Gestalten begann die Stadt sich aufs neue zu beleben, Tausende von Kunstkennern und Künstlern ergötzten sich an ihnen, und dem Altertumsforscher hob sich der Schleier von manchem Geheimnis. Die reizenden Menschengestalten begeisterten schon Schiller zu den Versen:
„Lebt es im Abgrund auch? Wohnt unter den Larven verborgen
Noch ein neues Geschlecht? Kehrt das entfloh’ne zurück?“
Und Gregorovius baut im Geiste die alte Stadt wieder auf, durchwandelt ihre Straßen und betritt über den gefälligen Schmuck des musivisch erglänzenden Bodens das matt durch Ampeln erhellte Gemach:
„Rings auf rötlicher Wand, wie im Luftraum, glänzen Figuren …
Ueber dem dunklern Grund holdschwebend in wallenden Schleiern,
Welche das seid’ne Gelock zum Spiel hinwerfen dem Winde,
Aufwärts blickend, als ob gen Himmel die Seligen flögen …“
Diese zu Tausenden aufgedeckten Wandgemälde sind die wichtigsten Dokumente der auf uns gekommenen antiken Malerei. Die Feinheit der Farbengebung, gleichzeitig die Freude an der Farbe, die Wahrheit der Vorwürfe und Motive, die verfeinerte Ausführung sind staunenswert, trotzdem die Ausführenden meist nur Handwerker waren. Ebenso staunenswert ist die große Dauerhaftigkeit ihrer Arbeiten. 1800 Jahre haben sie unter der feuchten Asche geruht, und nun muß man sehen, wenn solch ein Bild bloßgelegt wird, wie taufrisch und unversehrt es aus Licht kommt, gerade als wenn der Maler eben den letzten Pinselstrich daran gethan hätte.
Aber Sonnenlicht und Regen lassen die Farben gar bald verbleichen.
Wie viele Bilder sind derart dahingeschwunden! Viele aber, gegen [620] elfhundert, sind im Museum von Neapel untergebracht und erfreuen den Beschauer durch die Mannigfaltigkeit der Motive aus dem Tier- und Pflanzenreich, aus dem vielgestaltigen antiken Menschenleben und aus der alten locker liebenswürdigen, ganz besonders lebendig gemachten Götterwelt.
Ebenbürtig zur Seite stehen den gemalten Bildern die farbenfesten Mosaiken, unter denen die Königin aller Mosaiken, die im Jahre 1831 in der prachtvollen Casa del Fauno aufgefundene "Alexanderschlacht“ weltberühmt geworden ist. Goethe hat sie noch in Nachbildung sehen können und darüber in heller Begeisterung geschrieben: "Mit- und Nachwelt werden nicht hinreichen, solches Wunder der Kunst richtig zu kommentieren, und wir genötigt sein, nach aufklärender Betrachtung und Untersuchung immer wieder zur einfachen reinen Bewunderung zurückzukehren.“
Mit diesem epochemachenden Schatzfunde, über den sofort eine Menge Schriftwerke in die Welt hinausflatterte, wurde das Interesse für die Stadt neu entflammt, und unter lebendiger großer Teilnahme entstand 1855 das für uns Deutsche wichtigste, schöne Overbecksche Buch „Pompeji und seine Ruinen.“
Aber erst mit dem Jahre 1860, mit dem neuen Königreich Italien wird die Gegenwart und die Zukunft der Stadt vollständig gesichert. Sie erhält in dem fachkundigen und werkthätigen Professor Fiorelli einen ausgezeichneten Gouverneur, der sofort ein Merkbuch, d. i. ein „Tagebuch der Ausgrabungen“ anlegte. Fiorelli, nun auch gestorben, war der eigentliche Märchenprinz, der nicht bloß Dornröschen, sondern auch ihr eingeschlafenes Gefolge aufweckte.
Da liegen sie, Männer, Weiber, Kinder, Hühnchen und Hunde, genau in der Stellung, in der sie vor über 1800 Jahren an jenem großen Sterbetage sich zum Einschlafen zurecht legten. Man sieht es wohl, sie thaten es nicht gern: unwillig, aber resigniert stiegen sie zum Hades hinab. Das Verfahren, diese interessanten Leichen wie Gipsfiguren zu erhalten, ist Fiorellis geniale Erfindung. Die Körper der unter dem Aschenschlamme begrabenen Pompejaner welkten und verfielen, ließen aber ihren Abdruck in der rings um sie her festgedeckten harten Masse, die nun eine richtige Form bildete. So eine feste Höhlung hört der mit Hacke und Schaufel arbeitende Gräber durch Erfahrung heraus, denn der Ton der Asche ist ein ganz anderer, sobald sie nicht durchaus kompakt ist. Jetzt wird mit äußerster Vorsicht tiefer gegangen, man sucht Löcher zu machen in die Kruste, welche die Höhlung umschließt, holt mit langen Zangen alles heraus, was sich im Grunde der Höhle findet, und gießt sie nun mit flüssigem Gips aus, genau wie der Gipsfigurenhändler seine Formen füllt. Ist der Gips trocken, so räumt man die Aschehülle weg und der längst weggeschwundene Körper erscheint in unheimlichem weißem Auferstehungsleibe. In dem kleinen Museum Pompejis sind diese antiken Toten zu sehen. Rührend ist das Bild eines jungen Mädchens, dessen schönen Körper man gern ins wirkliche Leben zurückrufen möchte. Schaurig ist der versteinerte Todeskampf des von seinem Herrn vergessenen Kettenhundes.
Fiorelli aber that weit mehr. Sein eigentliches großes Werk ist die Einteilung der Stadt, die innerhalb der sie umfassenden Ringmauer in neun Segmente (Abteilungen) und zwei Dekumanen (Hauptstraßen), die nach den Thoren verlaufen, zerfällt. Er nannte diese Stücke Regionen und zerlegte diese Regionen wiederum in „Insulae“, Inseln oder Häusergruppen, die durch angrenzende Gäßchen „isoliert“ wurden.
So wurde die Topographie der alten Stadt wiederhergestellt und der Besucher von heute kann sich darin zurechtfinden wie nur je ein pompejanischer Stadtwächter zur Zeit des Kaisers Augustus. Die Namen der Häuser sind freilich meist willkürlich gegeben, nur die ursprünglichen Bezeichnungen der städtischen Gebäude und der Tempel scheinen endlich festzustehen. So zeigt man uns den Jupitertempel, den Apollotempel, den Tempel der Fortuna Augusta, der Isis und des Herkules, dann die uralte Basilika, das Pantheon, die Curien, das Zollhaus, die Theater u. a. Aber das Haus des tragischen Poeten, das Haus des Centauren, des Kastor und Pollux, des Adonis, Meleagros, des Vesonius Primus, das Zum Bären, Zum Anker hatten zur Zeit, da die Stadt noch lebte, wohl andere Namen. Zunächst taufte man sie nach den in ihnen gefundenen Bildern und Mosaiken, dann nach Inschriften, aber auch nach fürstlichen und berühmten Persönlichkeiten, die bei der Ausgrabung zufällig zugegen waren.
Bei der Einweihung des Hauses, das wohl als das schönste, vornehmste und regelrechteste aller bezeichnet werden kann und das zur Feier der silbernen Hochzeit des italienischen Königspaares, April 1893, ausgegraben wurde, war das deutsche Kaiserpaar zugegen. Viele herrliche Dinge kamen dabei zu Tage. Ueberhaupt sind die letzten Jahre reich an interessanten Funden in Bronze und Terracotta. In einem der zuletzt aufgedeckten Häuser fand man ein weites Zimmer mit Tonnengewölbe, die Wände mit Marmortafeln bekleidet, unendlich graziösen Mosaikfußboden. Ein zierlicher Wasserbrunnen wird aus einer mit Muscheln eingelegten Nische gebildet, das Sammelbecken ist bemalt mit Zwerg- oder Pygmäenfiguren. Das Ganze war ein Nympheum, eine den Nymphen geweihte Springquelle. Zahlreiche ganz reizende Lucernen oder Lämpchen, einige darunter mit der Jupiterbüste, mit Jupiter und seinem die Flügel ausbreitenden Adler in grüner Emaille. Auf einem benachbarten Felde fand man, zu einer Gruppe zusammengedrängt, eine Anzahl von Frauenskeletten die mit dem prächtigsten Geschmeide, Ketten und Spangen in Gold, geschmückt waren. Diese Unglücklichen hatten sich augenscheinlich in ein nahes Bauernhaus retten wollen und waren auf dem Wege in Feuer und Dampf umgekommen. Verschiedene neue Körperformen konnten den alten zugefügt werden. 1889 grub man eine neue Badeanstalt und eine Turnhalle aus. In demselben Jahre, am 30. Dezember, verkündete der gegenwärtige Direktor der Ausgrabungen, M. Ruggieri, eine wichtige Entdeckung: sein Bericht war begleitet von einem Briefe des Professors der Botanik, F. Pasquale, denn die Sache schlug in sein Fach. Es war auf der Böschung in der Nähe des Stabianer Thors gegraben worden, dabei waren die Arbeiter auf die Spur von Abdrücken der Asche dreier menschlicher Körper (zweier Männer und einer Frau) sowie auf den Abdruck eines Baumes gekommen. Wie gewöhnlich hatte man die Höhlen mit Gips ausgefüllt und auf diese Weise vier vorzügliche Abgüsse erhalten. Deren wichtigster war der Baum. Deutlich konnten seine Blätter im Gipse studiert und erkannt werden, die Blätter und die Früchte, Beeren. Man hatte es mit einem laurus nobilis, einem Lorbeerbaum zu thun, dessen Früchte hier im Süden im Spätherbst zur Reife kommen. Form und Größe der Beeren, oder richtiger Steinfrüchte, bewiesen diese Reife ganz augenscheinlich, und so war mit einem Male die Ansicht derer bestätigt worden, welche, im Gegensatz zu denen, die Pompeji im August untergehen ließen, den Untergang der Stadt in den November versetzt hatten.
Der Untergang Pompejis hat demnach im November des Jahres 79 stattgefunden.
Die Ausgrabungen werden fortgesetzt. Auch sie haben ihre Technik. Die Erdarbeiten erfordern die größte Umsicht. Gleichzeitig müssen alle Kammern eines Gebäudes in gleichen Schichten abgegraben werden. Wollte man eine Kammer allein bis zum Grunde bloßlegen, so würde die Masse der die beachbarten Räume füllenden Lapilli und Aschengemenge die Wände eindrücken, wie es im Anfange der Ausgrabungen stets geschah. Auch in den lockeren Lapilli muß sehr vorsichtig vorgegangen werden, denn zumeist bergen sie Gegenstände aus Terracotta, Bronze oder Glas. Wie manches köstliche Stück ist in früheren[WS 1] Zeiten der rücksichtslosen Hacke zum Opfer gefallen!
Die Arbeiter, wie sie unser Bild auf S. 613 in voller Realistik vorführt, sind stets überwacht von einem Werkführer für den technischen Teil. Für den administrativen Teil ist eine Guardia in Uniform gestellt, auch mehrere Wächter, wenn die Arbeiter an verschiedenen Stellen graben. Aber auch die Guardien haben ihre Aufseher, die dem Staate für jeden Fund verantwortlich sind.
Sie führen Buch über jeden Fund, der mit fortlaufender Nummer unter Angabe des Stoffes, der Maße, der Beschreibung seiner Form und werden allwöchentlich der Direktion in Neapel eingesandt, und allmonatlich veröffentlicht das Ministerium eine Uebersicht des neuerdings Gefundenen.
Das Hauptsächlichste ist wohl bis heute ausgegraben, mancher Schatz mag aber in Zukunft noch gehoben werden, wenn es dem Alten, der einst in toller Laune die Herrlichkeiten unter seiner glühenden Asche begrub, dem immer bedrohlich über die Stadt hinausragenden Vesuv, über Nacht nicht einmal wieder einfällt, das nun so schön zu Tage Liegende aufs neue zu verschütten.
[621]Das Jubelfest der thüringer Glasindustrie.
Es giebt im grünen Thüringerlande gar viele Orte, die nicht nur durch landschaftliche Reize, sondern auch durch die Eigenart und den Gewerbfleiß ihrer Bewohner auf den Besucher anziehend wirken. Ein derartiger Landstrich ist auch das Meininger Oberland, in dem die Spielwarenindustrie zu hoher Blüte gelangt ist, und in ihm ragt wieder Lauscha ganz besonders hervor. Das stattliche Dorf blickt auf eine ruhmvolle, weil arbeitsreiche Vergangenheit zurück; in ihm stand einst die Wiege der thüringer Glaswarenindustrie.
Vor dreihundert Jahren war es, als zwei aus ihrer Heimat vertriebene Protestanten, Christoph Müller aus Böhmen und Hans Greiner aus Schwaben, in den stillen Thälern des Meininger Oberlandes Zuflucht suchten. Glasbläser von Beruf, wollten sie in der neuen Heimat
ihr Kunsthandwerk ausüben. Auf einem Gebiet, das dem Grafen Pappenheim gehörte, gründeten sie im Jahre 1595 ihre erste Hütte, aber sie gerieten in Streitigkeiten mit dem Grafen und sahen sich genötigt, weiter zu ziehen. Von dem Herzog Johann Casimir in Coburg erlangten sie am 10. Januar 1597 in einem „Erbbrief“ das Privilegium zum Anbau an der Lauscha und gründeten nun den Ort, der in der Geschichte der thüringer Industrie so berühmt werden sollte.
Ein trefflicher Kenner Thüringens, Dr. Friedrich Hofmann, hat bereits im Jahre 1883 in einem anziehenden Artikel das thüringer Spielwarenland in der „Gartenlaube“ geschildert und dabei auch Lauschas ausführlich gedacht. Er wies darauf hin, wie das Gewerbe der Vorfahren sich auf Enkel und Urenkel forterbte und von diesen im Laufe der Zeiten vervollkommnet wurde. Zu den altbekannten Glasgegenständen, die in Lauscha hergestellt wurden, kamen neue hinzu, welche die thüringer Meister ersannen. So erfreuen sich die Lauschaer Glasmärbel, die buntfarbigen Glaskugeln, mit denen die Jugend so gern spielt, großer Beliebtheit, ferner ist Lauscha berühmt durch die zuerst von L. Müller-Uri hergestellten künstlichen Menschenaugen und in jüngster Zeit wird namentlich der bunte glitzernde Schmuck fabriziert, der alljährlich auf dem Weihnachtsbaum in deutschen Häusern prangt. Es sind zumeist noch immer die Nachkommen der ersten Einwanderer, die hier die Glasindustrie betreiben. In Lauscha wohnen fast lauter Greiner und Müller, die, um sich von ihren Anverwandten zu unterscheiden, ihren Familiennamen besondere Abstammungs- oder Scherzanhängsel beifügen.
Seit dem Jahre 1886 ist Lauscha durch Weiterbau der Strecke Coburg-Sonneberg endlich in den Eisenbahnverkehr einbezogen worden. Auf steiler Steigung erreicht das Dampfroß den 640 m über dem Meere gelegenen Ort. Kurz zuvor, rechts von der Bahnlinie erhebt sich der steile Lauschenstein (vgl. Abbildung S. 625), auf dem sich eine Schutzhütte befindet. ES lohnt sich, ihn zu besteigen, denn von seiner Spitze erhält man einen Ueberblick über Lauschas Umgebung; da schauen wir in einen wildromantischen Thalkessel, der ringsum von düstern Tannenwäldern umstanden ist; Waldesfrieden überall, wohin das Auge blickt. Die Aussicht erinnert sehr an den berühmten Ausblick, der sich vom Trippstein bei Schwarzburg dem Wanderer bietet.
In einem Waldthale ist auch Lauscha selbst gelegen. Wie ist aber das Dorf im Laufe der Zeiten stattlich gewachsen. Es zählt an 4000 Einwohner und das Thal wird ihm schier zu eng, denn sogar die Bergwände sind schon dicht mit Häusern besetzt.Es ist ein malerisches Bild, dessen Wirkung [622] noch durch die eigenthümliche Bauart erhöht wird; denn die Häuser sind meist aus Holz gebaut und mit Schiefer verkleidet. Ein Beispiel reicherer Ausführung, wobei dunkle und helle Platten in gefälliger Musterung miteinander abwechseln, finden wir auf unserem unteren Bilde (S. 625) in dem stattlichen Hause rechts.
Dicht davor steht auch die Hauptsehenswürdigkeit des Ortes, die alte Dorfglashütte, gewöhnlich nur „die Hütt“ genannt. Wir gewinnen hier sogleich einen Einblick in die gewerbefleißige Thätigkeit der Einwohner. Vor der Hütte sind Arbeiter mit Röhrenziehen beschäftigt. Der eine aus der Hütte heraustretende bläst den sogenannten Glasposten auf, weiter sehen wir, wie ein anderer Arbeiter den Glasposten mit dem Hefteisen aufnimmt, worauf dann beide Arbeiter, wie im Vordergrunde, rückwärts auseinanderlaufen, die Röhren bis zu 50 m lang ausziehend, eine Arbeit, die durchaus nicht so einfach und leicht ist, wie es scheint. Die Röhren wandern dann in die Hand der Glasbläser, meist Hausarbeiter, welche nun an der Stichflamme der Gebläselampe mit staunenswerter Geschicklichkeit die tausend verschiedenen Gegenstände anfertigen, die von Lauscha aus in alle Welt gehen. Ferner werden in der Glashütte die bekannten Glasmärbel angefertigt, indem man von einem entsprechend vorbereiteten Glasstrange, während er noch glüht, mit einem scherenartigen Instrument, welches auf der einen Seite mit einer halbkugeligen Form, auf der andere Seite mit einem Messer versehen ist, die einzelnen Stücke gleichzeitig abschneidet und rundet.
In dem untenstehenden Bilde ist die zweite Glashütte des Ortes, der Firma Elias Greiner Vetters Sohn gehörig, wiedergegeben. Dieselbe ist im Gegensatz zu der Dorfglashütte, wo noch in althergebrachter Weise der Ofen direct befeuert wird, mit der den Anforderungen der Neuzeit mehr entsprechenden und rationelleren Gasfeuerung eingerichtet. Eine dritte Hütte, die längere Zeit außer Betrieb war, befindet sich zur Zeit im Umbau.
Am 10. Januar waren dreihundert Jahre seit der Begründung der Glashütte in Lauscha verflossen. Die rauhe Winterzeit erschien jedoch zur Abhaltung einer Jubiläumsfeier nicht geeignet und man verlegte das Fest auf den 8. August.
Schon am Sonnabend, dem 7. August, fand eine Vorfeier statt, wobei in einer Reihe von lebenden Bildern die Gründung des Ortes und die Weiterentwicklung seiner Industrie veranschaulicht wurde. Derselben ging ein Vorspiel voraus. Greiner und Müller legen sich, auf der Suche nach einer neuen Heimat, ermüdet im Walde zur Ruhe. Da erscheint ihnen im Traume die Lauscha, fordert sie auf, sich in ihrem Gebiet niederzulassen, und enthüllt ihnen die erfreuliche Zukunft. Das erste von den lebenden Bildern, das von unserem Zeichner wiedergegeben wurde, zeigt die Uebergabe der Gründungsurkunde an Greiner und Müller durch den Herzog Casimir. Im Hintergrunde steht Graf Pappenheim, sich voll Unwillen wegwendend.
Am Morgen de Sonntags, des eigentlichen Haupttages, wurde zunächst durch den Ortspfarrer Erl auf dem Festplatze ein feierlicher Feldgottesdienst abgehalten, dessen Weihe die erhebenden Vorträge des gutgeschulten erweiterten Kirchenchors noch erhöhten.
Die Festlichkeiten des Nachmittags begannen mit dem großen historischen Festumzug durch den Ort. Unsere Vignetten auf Seite 621 geben einige der malerischen Gruppen wieder. Voran ritt ein Herold, es folgten Graf Pappenheim mit Begleitern, Herzog Casimir mit Jagdgefolge, Greiner und Müller mit ihren Familien und Arbeitern, schlanke Mädchen in thüringer Nationaltrachten, dazwischen die vier großen Festwagen und die Vereine des Ortes, einer derselben ein aus gesponnenem Glas angefertigtes Banner mit sich führend. Die vier Wagen veranschaulichten die Lauscha, von Musik und Gesang begleitet, die Gründung der Glashütte, die Kunstmalerei, endlich die Neuzeit. Besonders schön waren der zweite und der vierte Wagen, beide von Maler Anton Kune gestellt. Der zweite Wagen trug einen Glasofen mit daran beschäftigten glasblasenden Arbeitern, der vierte war mit versilbertem, vergoldetem und buntfarbigem Glas, Röhren, Kugeln und Spiegeln, reich doch geschmackvoll ausgestattet, den Mittelpunkt des glänzenden Schmuckes bildete ein prächtiger Weihnachtsbaum. Es befanden sich ferner auf dem Wagen mehrere Frauengestalten; die beiden vorderen knieenden stellten Poesie und Fortuna vor, hinter ihnen stand eine reich mit Perlen aller Art geschmückte Frau, das Sinnbild der Perlenfabrikation. Als Verherrlichung der Kunstglasindustrie Lauschas befand sich daneben eine andere Gestalt mit lang herabwallendem silberschimmerndem Haar, auf der Brust einen Zweig aus Glas gefertigter Rosen, in der Hand ein kunstvolles Zierglas. Hintenauf hockte Knecht Ruprecht, aus wohlgefüllten Säcken seine Sachen austeilend.
Sämtliche in dem Festzuge sowie zu den lebenden Bildern benutzten Kostüme waren durchaus dem Charakter der betreffenden Zeit entsprechend und in zuvorkommendster Weise von dem allverehrten Landsherrn, dem Herzog Georg, aus den reichen Beständen seines berühmten Meininger Hoftheaters zur Verfügung gestellt worden.
Nachdem der Zug auf dem Festplatz angekommen war, konnte der Ortsvorstand einen Jubiläumsgruß des Herzogs verlesen, worin der Wunsch ausgesprochen war, daß der Ort sich durch die Regsamkeit und Thatkraft seiner Bewohner mehr und mehr entfalten und bis in die späteren Zeiten durch seinen Gewerbefleiß hervorleuchten möge. Nun sollte das Festspiel beginnen, das denselben Vorwurf, wie die lebenden Bilder nur in mehr allegorischer Art behandelt, da strömte unendlicher Regen herab und bereitete dem schönen Fest ein vorzeitiges Ende. Auch die für den Abend geplante Illumination des Ortes, die bei der bereits geschilderten terrassenartigen Lage der Häuser übereinander ein besonders prächtiges Bild zu bieten versprach, konnte unter diesen Umständen nicht zur vollen Geltung kommen.
Im Anschluß an das Jubelfest wurde einen Ausstellung der Glas- und Porzellanindustrie Lauschaas veranstaltet. Alten Gläsern, mit Emailfarben bemalt, kunstvoll geschliffenen Bechern und Pokalen, standen gegenüber die Erzeugnisse der Neuzeit: aus Glas geblasene Tiere, Blumen und Früchte, Spielzeug, Perlen, Glasgespinste, Märbel aus Porzellan und Glas, physikalische Instrumente, künstliche Augen für Menschen und Tiere, Christbaumschmuck und zahlreiche Porzellanmalereien von einfacheren Ausführungen für Pfeifenköpfe bis zu kunstvollen Plattengemälden. Die Ausstellung bildete eine wichtige Ergänzung zur Geschichte der Industrie des Ortes sowohl wie der Thüringens und Deutschlands überhaupt und war von einer Vollständigkeit, wie sie wohl so bald nicht wieder erreicht werden dürfte.
[623]
Roman von Ernst Eckstein.
(Schluß.)
Doktor Ambrosius hatte noch mancherlei in der Stadt zu erledigen. Nachdem dies geschehen war, entließ er die sechs Begleiter, die ihm bis dahin vorsichtshalber gefolgt waren, und begab sich in seine Wohnung. Der Marktplatz wimmelte noch von Menschen, obgleich es schon dunkel war. Das aufregende Tagesereignis ward hier in allen Tonarten durchgesprochen.
Unerkannt und von keinem, weder im guten noch im bösen behelligt, erreichte Doktor Ambrosius das alte trauliche Haus, wo sich die ewig unvergeßliche Elma für ihn geopfert hatte. Rudloff, der Altgeselle empfing ihn mit eigentümlicher Schwermut. Der Zunftobermeister war noch nicht heimgekehrt. Doktor Ambrosius setzte sich eine Weile zu Rudloff und sprach lange mit ihm von der teuern Verklärten, ohne trotz all’ seiner Menschenkenntnis zu ahnen, was dieser schlichte, äußerlich ruhige Mann litt. Mit Elma Wedekind war für Rudloff alles gestorben, was er auf Gottes Welt lieb gehabt und in ehrfürchtiger Einfalt bewundert hatte. Die Tage gingen ihm jetzt dahin wie dem geblendeten Vogel im Käfig. Er hatte für nichts mehr Sinn und Teilnahme. Selbst der Sturz der Malefikantenrichter flößte ihm kein Interesse mehr ein. Was half ihm das noch?
Da es Zehn schlug, ohne daß der Zunftobermeister heimgekehrt wäre, ging Doktor Ambrosius schlafen. Morgen früh vor Beginn der Ratsversammlung fand sich so wohl noch Gelegenheit, dem schwergeprüften Vater des tapferen Kindes freundschaftlich eine Stunde zu widmen.
Die Nacht verging. Doktor Ambrosius erwachte erst gegen halb Sieben. Als er die Treppe hinunterstieg, ward ihm von der alten Magd, die seit dem Tod Elmas die Wirtschaft führte, umständlich mitgeteilt, Herr Karl Wedekind sei schon um Sechs in hochwichtiger Angelegenheit fortgegangen. „Zum neuen Herrn Bürgermeister, sollte sie sagen, falls Herr Doktor Ambrosius nach Herrn Wedekind fragen würde.
„Er kommt gar nimmer heim vor dem zweiten Frühstück,“ sagte das Weib. „Vom Herrn Weigel geht er dann gleich ins Rathaus.“
Doktor Ambrosius wußte noch nichts von dem Plane des Zunftobermeisters. Mit Woldemar Eimbeck, der ihn so zweifellos von der Sache in Kenntnis gesetzt haben würde, war er seit der gestrigen Ratssitzung nicht mehr zusammengetroffen. Der Zettel jedoch, der ihn zur heutigen Sitzung einlud, enthielt nur die kurze Bemerkung, auf der Tagesordnung stehe nebst anderen Punkten auch der Bericht Karl Wedekinds über die Maßnahmen, zu denen die Ratsversammlung ihn gestern bevollmächtigt habe.
Das neue Stadtoberhaupt war schon längst außer Bett, als Herr Wedekind bei ihm anpochte.
Rolf Weigel hatte um fünf Uhr auf eigene Faust einen reitenden Boten nach Lich gesandt – mit dem ehrfurchtsvollen Ersuchen an den durchlauchtigsten Landgrafen, keinerlei Feindseligkeiten gegen sein treues und gehorsames Glaustädt unternehmen zu wollen, bis man ihm die außergewöhnlichen Gründe zu dem gewaltsamen Vorgehen wider die Zwingherrschaft des Balthasar Noß klar und ausführlich dargethan hätte, was spätestens binnen vierundzwanzig Stunden geschehen solle. Man halte sich überzeugt, daß Seine Durchlaucht das scheinbar ungesetzliche Vorgehen der Bürgerschaft nachträglich in landesherrlichem Wohlwollen gutheißen werde. Glaustädt, obwohl einmütig in der Verwerfung des Malefikantengerichts, denke auch nicht von ferne daran, sich der Botmäßigkeit des allergnädigsten Landgrafen aufrührerisch entziehen zu wollen, wie dies vielleicht von den Anhängern des Balthasar Noß fälschlich behauptet werde.
Um dieser Zuschrift mehr Nachdruck und Wert zu verleihen, hatte Rolf Weigel den seines Amtes entkleideten früheren Bürgermeister Georg Kunhardt zur Mitunterzeichnung veranlaßt. Der weinfrohe alte Herr, der bei all seiner Schwäche ein ganz wackres, ehrliches Haus war und den Sturz des Balthasar Noß nicht ungern sah, hatte Selbstverleugnung genug besessen, dem Wunsch Rolf Weigels ritterlich zu entsprechen – was für die Sache der Aufständischen nicht ohne Belang schien, denn Georg Kunhardt war am Hofe zu Lich wohlangeschrieben.
Jetzt, als Wedekind bei ihm vorsprach, hatte Herr Weigel das alles schon glücklich hinter sich. Er saß im Lehnstuhl vor einem kalten Imbiß und gönnte sich einen herzhaften Schluck feurigen Portweins. Der Zunftobermeister teilte ihm alles, was er seit gestern abend erlebt und erreicht hatte, eingehend mit. Rolf Weigel zuckte ein paarmal die Achseln, als wollte er sagen. „Absolut korrekt ist ja die Sache nicht.“ Aber dann mußte er einräumen daß es Verhältnisse giebt, wo man fünf gerade sein läßt.
Nachdem auch Wedekind, der über das ganze noch jüngst so bleiche und vergrämte Gesicht vor wilder Genugthuung strahlte, ein paar Gläser von dem ausgezeichneten Südwein geleert hatte, machten die beiden Männer sich langsam und schweigend auf den Weg nach dem Rathaus.
Die monumentale Uhr über den altniederländischen Fresken der Rückwand wies ein Viertel auf Neun, als Rolf Weigel die Ratssitzung eröffnete. Zunächst wurden einige Mitteilungen des Hauptmanns Fridolin Geißmar über die Bürgerwehr und über die Schritte entgegengenommen, die er behufs einer ausgiebigen Verproviantierung der Stadt teils gethan hatte, teils noch beabsichtigte. Dann erzählte der Maler und Reißer Kunz Roll etliche Einzelheiten über die Befreiung der Inkulpaten und veranlaßte so die schnell und einstimmig gefaßten Beschlüsse zu ihren Gunsten.
Nachdem dies in kaum einer halben Stunde erledigt war, erhielt der Zunftobermeister Karl Wedekind das Wort zur Berichterstattung.
„Liebwerteste Mitbürger,“ begann er mit einer Stimme, der man die Aufregung anhörte. „Ich kann euch vermelden, daß der Plan, zu dem ihr mich vorgestern bevollmächtigt habt, über alles Erwarten geglückt ist!“ Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. Durch die Versammlung ging ein Murmeln des Beifalls, der Neugier, des staunenden Zweifels.
„Hört nun zuvörderst, was ich gethan habe!“ fuhr Karl Wedekind fort. „Ich habe das Malefikantengericht, das ihr aufgelöst habt, wieder eingesetzt. Laßt mich nur erst ruhig zu Ende reden! Ihr sollt schon billigen, was euch jetzt überrascht! Den ehemaligen Beisitzer Wolfgang Holzheuer hab’ ich zum Vorsitzer gemacht. Gestern abend noch hab’ ich ihn aus dem Stockhaus geholt. Er traute zwar seinen Ohren nicht, aber als guter Jurist begriff er doch augenblicklich. Ja, und außerdem hab’ ich die drei bisherigen Schöffen antreten lassen. Macht vier. Ich selbst bin der fünfte gewesen. Und ich versichere euch, liebwerte Freunde, ich habe kein Blatt vor den Mund genommen. Zwölf Glaustädter Bürgersöhne mit Schießzeug und Messern hielten die Eingänge besetzt. In alter Form, wie’s die hochverordneten Malefikantenrichter gewöhnt sind, hab’ ich den schändlichen Balthasar Noß peinlich verhören lassen. Ich hab’ ihn von Amts wegen der höllischen Zauberei beschuldigt.
Karl Wedekind trocknete sich den Schweiß von der Stirn.
„Weiter! Weiter!“ klang es im Chore.
Der Zunftobermeister rollte die Augen, als stünde er noch dem wüsten Zerstörer seines Familienglücks von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er hub mit laut schallender Stimme wiederum an: „‚Elender Schurke‘, hab’ ich ihm zugerufen, ‚willst du mir abstreiten, daß du mit Satanas zum Verderben der Unschuldigen einen himmelschreienden Pakt geschlossen? Daß du zahlreiche Opfer schuldlos gemordet hast?‘ – Auch sonst hab’ ich ihm dutzenderlei aufgeredet. Und wie hat sich der Bube angestellt! Von etlichen armen Weiblein wird uns berichtet, daß sie den Grausamkeiten der Folter bis zum letzten Augenblick tapfer standgehalten und lieber die Seele verhaucht als eine Schuld eingeräumt haben. Der elende Balthasar Noß hat alles gestanden, eh’ noch die Knechte ihr Werkzeug hervorholten! Hier, meine liebwerten Mitbürger, hab’ ich das Protokoll seines Geständnisses, von ihm selbst unterzeichnet und von sämtlichen Richtern. Mich [624] dünkt, dies Aktenstück müßte doch unserm Herrn Landgrafen endlich die Augen öffnen. Soll ich’s hier vorlesen?“
Die Ratsversammlung staunte und starrte. Der Einfall Wedekinds war ja so naheliegend. Gleichwohl hatte ihn keiner gehabt als dieser ungelehrte schlichte Zunftobermeister. Sehr gut! Recht so! Und so stark war die Erbitterung gegen die Blutrichter, daß nirgends auch nur der Schatten eines Bedenkens geäußert wurde. Niemand sprach etwa die Meinung aus, wer über Grausamkeiten und Willkür Klagen erhebe, der dürfe sich doch nicht die nämliche Schuld aufladen. Im Gegenteil: nachdem sich die erste Verblüfftheit gelegt hatte, erschollen überall Freudenrufe und die laute Beteuerung, es sei nur billig und recht, daß der schändliche Volkspeiniger Balthasar Noß, der all diese Greuel über die Stadt herauf beschworen, nun auch mit seiner eigenen Person dazu beitrage, dem irregeleiteten Landgrafen Otto den Star zu stechen.
„Lest, lest!“ riefen die Ratsgenossen. Und Karl Wedekind las.
Die Urkunde enthielt die volle Bestätigung alles dessen, was die Auslage behauptete. Balthasar Noß bekannte sich auf der ganzen Linie ohne jegliche Abmilderung schuldig. Infolge dieses Bekenntnisses wäre er nach bisheriger Praxis zweifellos zur Enthauptung, wenn nicht zur Einäscherung verurteilt worden.
Bei mehreren Stellen des Protokolls unterbrach den Vorleser ein helldröhnendes Hohngelächter. Die Sache entbehrte nicht eines gewissen Humors, trotz ihrer Schauerlichkeit. Eine wirksamere Darlegung, daß der gesamte Hexenprozeß mit seinem ruchlosen Beweisverfahren allen Gesetzen der Vernunft Hohn spreche, war noch niemals erbracht worden. Aber es kam noch besser.
Nach Ablegung seines eigenen Schuldgeständnisses hatte Herr Balthasar Noß in wahnwitziger Angst vor den Daumenschrauben und den spanischen Stiefeln auch eine Anzahl Mitschuldige angegeben. Da war erstens genannt Herr Doktor Adam Xylander, der jetzt im Krankenhause, von fürchterlichen Wahnvorstellungen gequält, sich des Mordes und des Meineids bezichtigte. Ferner die zwei bevorzugten Ratgeber des Landgrafen, der Hofmarschall Benno von Treysa und der Geheimsekretär Schenck von der Wehlen. Dann aber hieß es wörtlich wie folgt:
„Auch bekenne ich hier aus freien Stücken, daß unter den Zauberern und Missethätern, mit denen ich, Balthasar Noß, auf dem Herforder Steinhügel zusammengekommen bin, um Gott zu verleugnen und dem Satan zu huldigen, auch der Landgraf Otto von Glaustädt-Lich voll unermüdlichen Eifers thätig gewesen ist. Möge die aufrichtige Reue die ich jetzt fühle, wirkungslos bleiben in alle Ewigkeit, möge ich ohne Gnade verdammt sein, wenn ich hier nicht die volle, unverschleierte Wahrheit kundgebe. Landgraf Otto von Glaustädt-Lich hat mit den übrigen Unholden wüste Gelage gefeiert, lästerliche Gebräuche verübt und auf die höllische Hostie geschworen, so viel Böses zu thun als irgend in seiner Macht stünde. Er hat gräßliche und schamlose Tänze vollführt, Gott und die heiligen Engel beschimpft und sich zuletzt mit dem Teufel, der die Gestalt eines blühenden Weibes hatte, vermählt. Nachdem der Gerichtsschreiber mir das vorliegende Protokoll Wort für Wort zu Gehör gebracht und mich gefragt hat, ob ich etwa dies oder das widerrufe, erkläre ich nochmals jede Silbe für unanfechtbar, so wahr der Himmel sich meiner erbarmen möge! Des zum Beweise folgt hier meine eigenhändige Unterschrift. So geschehen in Glaustädt am achtundzwanzigsten Julius anno domini sechszehnhundertundachtzig.
Die Wirkung dieses Dokumentes auf die Versammelten war eine ungeheure. Von allen Seiten rief man dem Zunftobermeister Worte des Beifalls und der Bewunderung zu. Doktor Ambrosius schüttelte ihm voll Inbrunst die Hand. Er und Wedekind hatten fürwahr keinerlei Ursache, mit dem gestürzten Blutrichter Mitleid zu fühlen. Doktor Ambrosius war überdies zu gründlich von der Zweckmäßigkeit dieses Aktenstückes durchdrungen, als daß er Zeit und Stimmung für theoretische Skrupel gefunden hätte.
Nach zehn Minuten kam die Angelegenheit zur Beratung. Ein ältlicher Kaufherr meinte, das Protokoll sei ohne Beweiskraft, da sich der Landgraf sofort sagen werde, daß es erpreßt sei.
Die Schiefheit dieser Behauptung ward von Doktor Ambrosius augenblicklich erhärtet. Just auf dieses Erpreßtsein kam es ja bei der ganzen Idee des Zunftobermeisters an. Man wollte dem Landgrafen an diesem Beispiel darthun – was ihm auch ohnehin die gesunde Vernunft hätte sagen können, daß durch die schauerlichen Hilfsmittel der Folter, ja durch die bloße Furcht davor jedes, auch das unsinnigste Geständnis erzielt werden könnte.
Man kam überein, der Notar Weigel und zwei der vornehmsten Patrizier sollten sich heute noch mit dem seltsamen Dokument, von dem man übrigens eine beglaubigte Abschrift behielt, nach Lich begeben. Der Notar wurde beauftragt, die Ueberreichung so zu begründen, wie ihm dies der Augenblick eingeben würde. Daß Landgraf Otto die Abgesandten ohne Verzug anhören werde, dafür sprach eine ganze Reihe von Umständen. Ein offener Konflikt konnte bei der jüngsthin wieder zu Tage getretenen Hartnäckigkeit gewisser Dernburgscher Ansprüche leicht zu folgenschweren Erörterungen führen. Der Landgraf war also schon durch sein eigenes Interesse gehalten, den tapferen Glaustädtern eine goldene Brücke zu bauen.
Die Sitzung ward gegen zehn Uhr geschlossen. Der Notar und die beiden Ratsherren machten sich reisefertig.
Woldemar Eimbeck indes und Doktor Ambrosius begaben sich nach der Wohnung des Stadtpfarrers Melchers. Doktor Ambrosius fühlte das heiße Bedürfnis, dem ehrwürdigen Mann für die tröstende Teilnahme, die er der armen Verurteilten geschenkt hatte, innig zu danken. Woldemar Eimbeck wünschte mit Herrn Melchers über die Predigt des kommenden Sonntags Rücksprache zu nehmen. Hier und da zeigte sich noch in den Gemütern der Glaustädter ein heimlicher Zwiespalt. Woldemar Eimbeck hatte das mehrfach herausgefühlt. Ein Teil des Volkes hatte noch immer das dunkle Gefühl, als sei diese Verschwörung nicht ein Akt berechtigter Notwehr, sondern ein sündiger Aufruhr gewesen. Falls der Herr Pastor nun die Gewogenheit hätte, demnächst von seiner Kanzel herab ein paar Worte milder Beruhigung zu sprechen und das Thema von dem getretenen Wurm zu erörtern, und von dem Bogen, der da zerbricht, wenn er zu straff gespannt wird, dann mochte das viel dazu beitragen, die allgemeine Gewissensruhe und das öffentliche Vertrauen zu festigen.
Woldemar Eimbeck trug ihm dies Ansuchen äußerst beredt vor. Herr Melchers aber weigerte sich mit großer Bestimmtheit.
„Das Treiben der Blutrichter hat auch mir stark widerstrebt, sagte er traurig. „Ja, im vorigen Herbst, als der Herr Landgraf während der Stauffheimer Jagden zwei Tage hier war, hab’ ich’s sogar gewagt, ihm dieserhalb in schuldiger Ehrerbietung Bestellungen zu machen. Die Gewalt aber, die das Gesetz bricht, kann ich als Diener der Kirche unmöglich verherrlichen. Ich bin durchaus nicht so engherzig, über euch und euer Verfahren blindlings den Stab zu brechen. Nur verlangt nicht, daß ich es anpreise.
Woldemar Eimbeck zuckte die Achseln.
„Jeder nach seiner Art,“ wiederholte er leise. „Da hört Ihr’s, Ambrosius! Beinah’ hätt’ ich mir’s denken können.
„Hochwürdigster Herr“, sprach Doktor Ambrosius, „wenn Eure herzliebe Tochter Margret an Stelle Hildegards das Opfer der Blutrichter gewesen wäre, Ihr hättet vielleicht mehr Verständnis für die Handlungsweise des Mannes, der da nicht duldet und abwartet, sondern mutig zur That schreitet.
„Ich habe Verständnis dafür,“ sagte Herr Melchers. „Aber als Priester steh’ ich und falle ich mit dem Gesetz.“
„Erlaubt Ihr noch,“ fragte Woldemar Eimbeck zögernd, „daß wir nach dieser unwillkommenen Belästigung Eure Gemahlin und das Fräulein begrüßen?“
Statt aller Antwort führte Herr Melchers die beiden Männer ins Wohngemach, wo die schwarzäugige Margret mit bangem Herzklopfen dem Hall der Stimmen gelauscht hatte, die im Arbeitszimmer des Vaters so merkwürdig ernst durcheinander klangen.
Margret Melchers hatte sich während der letzten Zeit auffällig verändert. Sie schien bleich, zaghaft und tief nachdenklich. Das Unglück Hildegard Leutholds raubte ihr fast den Verstand, zumal sie im Anfang keineswegs von Hildegards Schuldlosigkeit überzeugt war. Seit dem Ausbruch der Rebellion hatte sie vollends keine ruhige Sekunde gehabt. Der Mann ihrer
[625][626] heimlichen Liebe stand ja leider Gottes mit an der Spitze des Aufruhrs. Die Sache, für die Woldemar Eimbeck stritt, mußte wohl selbstverständlicherweise edel und gut sein. Aber die ungeheure Gefahr! Und dann – wer sich so mit Gut und Blut dem Gemeinwesen widmete, konnte der noch was übrig haben für ein kleines unbedeutendes Mädchen, das nicht einmal mehr den Vorzug besaß, unterhaltsam und lustig zu sein?
Gleichzeitig mit Woldemar Eimbeck und Doktor Ambrosius trat von jenseit die Frau Pastorin über die Schwelle. Die frische, kernhafte Frau wußte bereits, daß sich die Aussichten der Rebellion gar nicht so ungünstig anließen, wie dies von einzelnen Schwarzsehern behauptet wurde. Und wenn selbst alles hier fehlschlug – Woldemar Eimbeck war schon der Mann danach, sich um seine persönliche Zukunft nicht weiter grämen zu müssen. Der fand überall ein gemachtes Nest – in Frankreich so gut wie in England oder Italien. Und daß sich die beiden, Woldemar Eimbeck und ihr niedliches Töchterlein, heiß lieb hatten, das war ihr längst klar wie das himmlische Sonnenlicht. Sie gab also dem Ratsbaumeister wie seinem Freunde Ambrosius ohne weiteres die Hand, hieß sie willkommen und tischte dann, unbekümmert um Gesetzmäßigkeit oder Nichtgesetzmäßigkeit, einen achtbaren Frühtrunk auf. Herr Melchers hatte sich gleich an der Thür wieder zurückgezogen. So saßen die Vier wohl zwanzig Minuten lang und schlürften das läßliche, rotbraune Glaustädter Bier und stießen hoffnungsfroh miteinander an auf allseitiges gutes Gelingen. Woldemar Eimbeck sagte noch nichts Entscheidendes. Zu einer förmlichen Werbung war ja der Augenblick nicht eben günstig. Aber die glutäugige kleine Margret verstand ihn. Als sich die Freunde erhoben – Woldemar Eimbeck, um sich mit Fridolin Geißmar zu treffen. Doktor Ambrosius, um nach dem Haus des Magisters Leuthold zu wandern – da hatten sich alle Trübseligkeiten im Herzen des glücklichen Mädchens vollständig aufgehellt. Fast noch eh’ sich die Thüre des Vorzimmers hinter den Männern geschlossen hatte, fiel Margret ihrer gerührt lächelnden Mutter stürmisch um den Hals und küßte sie leidenschaftlich.
Der vierte Tag seit der Wegreise der Ratsabordnung begann sich zu neigen. Die Männer, die man beauftragt hatte, der Sache von Glaustädt vor dem Landgrafen das Wort zu reden und die Nichtswürdigkeit der bisherigen Zustände aufzudecken, wurden jetzt stündlich zurückerwartet.
Schon vorgestern hatte Rolf Weigel an Doktor Ambrosius eine Zuschrift gerichtet, die zwar noch nichts Endgültiges meldete, aber den Rat und die Bürgerschaft doch im wesentlichen beruhigte. Vorerst sei der Landgraf allerdings über die Maßen erzürnt gewesen und habe die Deputation überhaupt nicht anhören wollen, sondern Lust bezeigt, ohne weiteres die drei Delegierten als Aufrührer in Haft zu nehmen. Ein kurzes und sehr bestimmtes Gespräch aber zwischen Rolf Weigel und dem landgräflichen Hausminister von Gehlbrunn habe die Wirkung erzielt, daß Seine Durchlaucht sich anders besonnen und die Glaustädter Abgesandten in mehr als zweistündiger Audienz empfangen habe. Gleichzeitig müsse am landgräflichen Hofe – wie der Notar aus verschiedenen Aeußerungen des Herrn von Gehlbrunn schließe – eine geheimnisvolle, außerordentlich wichtige Botschaft angelangt sein, die von gewissen Machinationen einer benachbarten Regierung handle und dem Landgrafen den Wunsch einer raschen Verständigung mit den Glaustädtern nahe legen. Thatsache sei, daß seine Durchlaucht bei der Audienz zwar streng und gemessen, aber nicht ungnädig dreingeschaut und sich jeder Kritik des Vorgefallenen mit augenscheinlicher Absichtlichkeit enthalten habe.
„Das Protokoll über die peinliche Vernehmung des Balthasar Noß – das war der Schlußpassus des Weigelschen Briefes – „haben wir in den Händen des Landgrafen zurücklassen müssen. Noch an dem selbigen Abend erhielt ich vom Hausminister von Gehlbrunn die Mitteilung, Seine Durchlaucht verlange mit mir eingehend zu erörtern, was in dieser schwerwiegenden Angelegenheit zu geschehen habe. Zu diesem Behufe sei ich auf zehn Uhr früh in das landgräfliche Schloß bestellt. Ich hoffe zu Gott, daß alles in Frieden und Freundschaft sich abklären wird. Doktor Ambrosius setzte den Rat von dieser Zuschrift in Kenntnis und bald wußte ganz Glaustädt, wie es um die Sache der Deputation stand. Allgemeinste Genugthuung. Rolf Weigel war gewiß nicht der Mann danach, die Verhältnisse zu rosig zu schildern. Immerhin konnten sich unverhoffte Schwierigkeiten ergeben. Auch brannte man auf die Einzelheiten. So war es begreiflich, daß man der Rückkehr der Abgesandten mit wahrhaft stürmischer Unrast entgegenharrte. Etwa um Sechs, halb Sieben sollten die Herren durch das Gusecker Thor einfahren. Schon um Fünf staute sich dort jenseit der Stadtmauern eine geräuschvolle Menschenmenge. Die ganze Bevölkerung schien auf den Beinen. Immer weiter hinaus zog sich der buntwimmelnde Schwarm, getrieben von der wachsenden Ungeduld, möglichst frühzeitig den Liebling des öffentlichen Vertrauens, Herrn Rolf Weigel, zu bewillkommnen und von ihm selber zu hören, was er bei Seiner Durchlaucht dem Landgrafen ausgerichtet.
Wo die Gusecker Heerstraße in südöstlicher Richtung nach dem Pfarrdorfe Lützelheim abbog, da stand Doktor Ambrosius als einer der Vordersten und blickte hinaus über die gelbschimmernden Stoppelfelder, die sich hier mit ihren endlosen Reihen von hochaufgeschichteten Garben bis an den Rand des Gehölzes zogen. Er war ja fest davon überzeugt, daß die Gefahr einer feindseligen Auseinandersetzung mit der Regierung von Lich endgültig überwunden sei. Rolf Weigel hätte sonst längst Mittel und Wege gefunden, seinen Mitbürgern Nachricht zu geben. Trotzdem sehnte sich Doktor Ambrosius inbrünstig, wie kein anderer aus dieser ungeduldig harrenden Schar, nach der vollen Bestätigung seiner Zuversicht. Erst das amtliche Ja und Amen würde die letzte Bangigkeit seiner Seele hinwegnehmen. Es wäre doch gar zu trübselig gewesen, Hildegard und ihren Vater aus dem behaglich eingerichteten Heim in der Grossachstraße hinter die Stadtmauern oder nach Dernburg bringen zu müssen – jetzt, wo die Genesung der beiden so erfreuliche Fortschritte machte! Und hiervon abgesehen. Glaustädt, die teure Heimat, sollte nicht in das Unheil einer Fehde verstrickt werden, wo dies irgend vermeidbar schien!
Zum erstenmal seit der Niederwerfung der Blutrichter überkam ihn hier das Gefühl einer schweren Verantwortung. Aber da streifte sein Blick die Hochfläche des Böhlauer Triebes, wo man vor zwei oder drei Tagen erst den Scheiterhaufen hinweggeräumt hatte. Und Doktor Ambrosius schämte sich. Falls es denn wirklich zum äußersten käme – wohlauf in den Kampf! Kein feiges Bedauern, wenn die Verteidigung des Rechts und der Freiheit Opfer kostete! Und so lebhaft war jetzt in ihm der Haß wider die Knechtschaft erwacht, daß er für Augenblicke vergaß, wie fest er auf eine frohe, friedliche Wendung hoffte.
Endlich sah man am Ausgange des Dorfes hinter dem halbhohen Ellerngesträuch das Blinken und Blitzen eines zweispännigen Hofwagens. Die sinkende Sonne warf ihren goldigen Glast auf das welsche Kostüm des borten- und tressengeschmückten Kutschers, der mit unnachahmlicher Steifheit und Würde die breiten silberbeschlagenen Zügel hielt. Rechts und links hinter dem prunkhaft ausgestatteten Fuhrwerk sprengten als Ehrengeleite sechs landgräfliche Kürassiere in flammendem Brustharnisch. Besser konnte der Landgraf seiner Glaustädter Bürgerschaft nicht bekunden, daß er vollste Indemnität erteilte. Rolf Weigel mit seinem Adlerblick hatte den jungen Arzt schon von weitem erkannt. Freudestrahlend zog der Notar seinen breitkrempigen Hut, stellte sich auf und winkte dem Harrenden triumphierend zu.
Jetzt fuhr der Wagen im Schritt. Die Heerstraße stieg. Mit jeder Minute hörte man deutlicher das Knirschen und Stoßen der Räder. Auf der Höhe des Wegs angelangt, machte die landgräfliche Kutsche Halt. Rolf Weigel konnte sich’s nicht versagen, den Doktor Ambrosius, der dem Fuhrwerk noch eine ziemliche Strecke weit entgegengeeilt war und nun glühend vor Aufregung zum Schlage herantrat, mit ganz besonderer Feierlichkeit zu begrüßen. Er streckte ihm vor dem ungestüm herandrängenden Volk beide Hände entgegen und rief pathetisch:
„Ein frohes Glückauf dir und allen Freunden und Mitbürgern! Die Sache Glaustädts hat obgesiegt. Seine Durchlaucht waren die Gnade und Huld selbst. In weiser Erwägung der obwaltenden Umstände billigt der Landgraf nachträglich, was hier geschehen ist. Ja, Seine Durchlaucht sprechen sogar dem findigen Zunftobermeister Karl Wedekind ihren hochfürstlichen Dank aus, weil er – wenn auch mit etwas bedenklichen Mitteln – den Irrwahn zerstört hat, den arge Sophisten [627] und üble Ränkeschmiede dem frommgläubigen Landesvater in tückischer Arglist um die wohlmeinende Seele gesponnen. Der Hofmarschall Benno von Treysa und der Geheimsekretär Schenck von der Wehlen, die Hauptstützen der Malefikantenverfolgung, sind ihres Amtes entsetzt. Weitere Entlassungen werden im Lauf dieser Tage folgen. Morgen bereits wird Seine Durchlaucht einen zu diesem Zweck eigens ernannten Regierungskommissarius nach Glaustädt senden, der in Gemeinschaft mit den Vertretern der Ratsversammlung alles Weitere erörtern soll. Der Landgraf will, daß man im ganzen Lande dem Hexenwahn eifrig entgegenwirkt. Lehrer und Geistliche sollen gehalten sein, ihr Augenmerk ganz besonders auf diesen Punkt zu richten. Auch will Seine Durchlaucht die Schriften des edlen Friedrich von Spee und anderer Feinde der Malefikantenverfolgung in zahllosen Exemplaren unter das Volk bringen.
„Gott sei gelobt!“ rief Doktor Ambrosius, als der Notar innehielt. „Das ist so ein ganzes Füllhorn glücklicher Botschaften! Wahrhaftig, Ihr habt da den großartigsten Sieg erfochten, den unser Glaustädt jemals erlebt hat!“
„Nicht ich, sondern die Wahrheit und die Vernunft haben den Sieg erfochten. Balthasar Noß wird nun zunächst wegen der schnöden Mißachtung unserer Protesturkunde, und zwar vom Hoftribunal zu Lich, prozessiert werden. Außerdem aber steht ihm wegen verschiedener sonstiger Uebelthaten die Anklage hier in Glaustädt bevor. Ich erzähl’ Euch das alles später. So lange Herr Noß allmächtig war, hat man geschwiegen. Jetzt hört diese Rücksicht auf – und da kommt der Zusammenbruch!“
Als Weigel geendigt hatte, schaffte der langverhaltene Jubel, der die stumm lauschenden Volksmassen bewegte, sich mit brausender Heftigkeit Luft. Aus dem Gewaltstreich der kühnen Rebellen würden also der Vaterstadt keinerlei Wirrnisse erwachsen! Man konnte jetzt seines Daseins wieder in Ruhe froh werden. Das war die Erkenntnis, die selbst die Aengstlichsten unwiderstehlich fortriß.
„Hoch lebe der Landgraf! Hoch lebe Herr Weigel, der Bürgermeister!“ scholl es vielhundertstimmig um den höfischen Prunkwagen herum. Die Kutschpferde schnaubten und stampften, der Grauschimmel eines der landgräflichen Kürassiere bäumte sich bei diesem unerwarteten, donnerähnlichen Lärm, der für Weigel eine Huldigung ersten Ranges bedeutete.
„Auf Wiedersehen!“ rief der Notar dem Doktor Ambrosius zu, als sich der Aufruhr dieser Begeisterung einigermaßen gelegt hatte. „Ich treff’ Euch im Rathaus!“
„Auf Wiedersehen!“ murmelten auch die zwei Patrizier, die sich bis jetzt im Bewußtsein, daß Rolf Weigels geistiger Ueberlegenheit in der That beinahe alles zu danken war, mit der Rolle schweigsamer Gefolgsmänner begnügt hatten.
Und so rollte der Hofwagen, von den sechs landgräflichen Kürassieren im blitzenden Harnisch begleitet, über die stiebende Heerstraße der abendlichtumfluteten Stadt zu.
Dem Landgrafen Otto von Glaustädt-Lich war es mit seiner Umkehr und Reue tiefinnerlich Ernst. Nicht nur, daß er alles das ausführte, was er der Abordnung des Glaustädter Rates unter dem Eindruck der ersten Gemütsbewegung versprochen hatte, er suchte auch sonst eifrig dahin zu wirken, daß dem leider noch immer tiefwurzelnden Aberglauben auf allen Gebieten die Zufuhr abgeschnitten und Einsicht und Wissen von Jahr zu Jahr in weitere Kreise verpflanzt wurden. Das Andenken der zahlreichen Unglücklichen, die von dem Glaustädter Blutgerichte zum Tode verurteilt und exekutiert worden waren, befreite er durch ein Regierungsdekret ausdrücklich von dem darauf lastenden Makel und ordnete in allen Kirchen des Landes große Entsühnungsfeierlichkeiten und Büßungen an. Zum dauernden Zeichen der Volksreue ward noch vor Ende September in Glaustädt der Grundstein gelegt für die nachmals berühmt gewordene Glaustädter Christuskirche, mit deren Ausführung der schöpfungsmächtige Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck betraut wurde.
Der glorreiche Umschwung in der Landgrafschaft Glaustädt-Lich übte auf den Fürsten Maximilian von Dernburg eine tiefbedeutsame Wirkung aus. Der Fürst begeisterte sich so nachhaltig für seinen ehrlichen und charaktervollen Grenznachbarn, der da den Mut hatte, sofort nach erlangter Einsicht seine bisherigen Irrtümer frei zu bekennen, daß er, Maximilian, die traditionelle, vornehmlich von dem ausgezeichneten Rechtsgelehrten Herrn Theodor Welcker vertretene fürstlich Dernburgsche Hauspolitik über Bord warf und von jetzt ab jeden Anspruch auf das ehedem reichsunmittelbare Glaustädt aufgab. Beide Regenten traten mehr und mehr in persönlich freundschaftliche Beziehungen und ihre Länder galten von jetzt ab für die ausgesprochensten Hochburgen der Intelligenz und der Freiheit, während im übrigen Deutschland noch auf Jahre hinaus zur Schmach der Menschheit die entsetzlichen Holzstöße der Blutrichter fortloderten. –
Im Weinmonat, als an den Hängen der Gusecker Hügel die frohen Gesänge der Winzer und Winzerinnen erschollen, fand in dem lieben, traulichen Haus an der Grossachstraße die Hochzeit des Doktor Ambrosius und seiner jungblühenden Braut statt. Woldemar Eimbeck und die kleine schwarzlockige Margret Melchers waren schon etliche Wochen vorher zum Altar getreten und wohnten nun dieser Vermählungsfeier als junges Ehepaar bei. Hildegard Leuthold trug einen schweren, dichtwallenden Brautschleier, der so reich und kunstvoll mit Spätrosen und Myrten besteckt war, daß man das Fehlen der einst so üppigen lichtbraunen Zöpfe kaum noch bemerkte. Der wackere Magister hatte sich vollständig wieder erholt. In alter Kraft und Gesundheit brachte er mit goldfunkelndem Rheinwein den Trinkspruch aus auf das Glück und die Zukunft seiner herzlieben Kinder. Dann erhob der Bürgermeister von Glaustädt Rolf Weigel das Glas und feierte den glückstrahlenden Bräutigam als den ruhmgekrönten Befreier der Heimat. Woldemar Eimbeck, den Rolf Weigel bei diesem Anlaß miterwähnte, stellte bescheidentlich fest, daß der erste Gedanke einer Auflehnung wider die Mißwirtschaft der schändlichen Volkspeiniger allerdings in der Seele des Doktor Ambrosius aufgekeimt sei. Er selbst habe sich diesem zornsprühenden Freiheitsapostel nur angeschlossen wie der Aehrenleser dem Schnitter. Jetzt aber gelte sein Hochruf weder dem jungen Achilles, der die feindliche Zwingburg so kühn und heldenmütig erstürmt habe, noch dem vielgewandten Odysseus Rolf Weigel, dessen erprobte Staatsklugheit für die Bürger von Glaustädt wahrscheinlich noch mehr geleistet, sondern dem würdigen Brautvater, dem die allgütige Vorsehung nach so schmerzlichen Prüfungen nur noch heitere, sonnige Tage und die Erfüllung alles dessen bescheren möge, was er im tiefsten Grund seines Vaterherzens hoffe und wünsche.
Als Doktor Ambrosius zu vorgeschrittener Nachtstunde seine liebreizende Hildegard in das wohleingerichtete Heim an der Kirchgasse führte, wo sie nun schalten und walten sollte als seine treue, fürsorgliche Lebensgefährtin, da flüsterte sie im Ueberschwang ihres jungen Glücks: „Mir ist’s wie ein Traum! Noch glaub’ ich zuweilen das Aechzen der Thürangeln im Stockhaus zu hören, wo ich so trostlos war und so elend! Und jetzt …!“
Sie warf sich weinend an seine Brust. Er aber zog sie sanft über die Stubenschwelle. „Süßer Liebling! Laß die Vergangenheit ruh’n! Mit Gottes Hilfe haben wir über das Schicksal gesiegt. Nun bist du mein und ich halte dich fest und freue mich der entzückenden Gegenwart.“
„Ja, du hast recht!“ sagte sie, glücklich zu ihm aufschauend. „Und ich will das alles auch gern erduldet haben, weil es der Anlaß war, daß so viele aus Jammer und Qual befreit und gerettet wurden. Jetzt kein Wort mehr davon!“
Glutüberströmt schaute sie sich in dem trauten Gemach um, wo eine silberne Hängelampe ihr mildfreundliches Licht verstreute.
Als sie den Brautkranz mit leise bebender Hand aus dem Haar löste, brach sie von dem handbreiten Geflecht einen Zweig ab und legte ihn sorgfältig auf die buckelbeschlagene Eisentruhe neben dem Kachelofen.
„Das bringen wir morgen als Totengruß auf den Grabhügel der kleinen Elma,“ sprach sie bewegt. „Ich hab’ mir’s gelobt, wie uns der Priester den Segen gab.“
Doktor Ambrosius küßte ihr schweigend die Lippen. Vom Turm der Marienkirche schlug es halb Eins. Und über den Dächern und Giebeln des nächtlichen Häusermeeres stieg in gelbrotem Fackelscheine der herbstliche Mond herauf. [628]
Die geistigen Fähigkeiten der Frau nennt sich eine sehr bemerkenswerte Schrift von Dr. Otto Dornblüth (Rostock, Werther), welche vom Standpunkte des vorurteilsfreien Mediziners die vielumstrittene Frage eingehend beleuchtet. Alle Einwände der Gegner, die Verschiedenheit der geistigen Anlagen beider Geschlechter, die mangelhafte Frauenlogik, die körperliche Unfähigkeit zu stärkeren Anstrengungen, die Nervosität und Erregbarkeit der Frauen, alle diese werden nacheinander geprüft, um den Verfasser schließlich zu dem Resultat zu führen, daß wirklich begabte Mädchen die etwaigen Mängel ihrer wissenschaftlichen Ausbildung durch ernsthafte Studien ausgleichen können, daß ihnen gerade die weiblichen Eigenschaften der größeren Feinheit und Schnelligkeit im Beobachten sehr zu statten kommen und daß bei vernünftiger Lebensweise ihre Gesundheit keinen Schaden nimmt. Für die vielen anderen aber wünscht der Verfasser ein ernsthaftes gründliches Lernen und die Entwicklung zur geistigen Selbständigkeit. „Denn das Ziel, dem der berechtigte Kern der deutschen Frauenbewegung zustrebt, ist ja nicht die studierte Frau, sondern die wahrhaft gebildete Frau.“ Und er setzt weiterhin die schwerwiegenden Worte hinzu: „Leider ist das Vorurteil weit verbreitet, daß eine höhere Geistesbildung die wahre Weiblichkeit und den eigentlichen Beruf der Frau gefährde. Wie traurig müßte es um die Ehe bestellt sein, wenn sie darunter litte, daß die Frau etwas Ordentliches gelernt hat! Ich habe in meinem Beruf zahlreiche unglückliche Ehen kennengelernt, zahlreiche Male Liebe und Glück, Gesundheit und Kindererziehung scheitern sehen, aber ich habe nie beobachtet, daß daran die zu hohe Bildung der Frau schuld gewesen wäre. Um so öfter war es die Halbbildung mit ihrem Gefolge von Putz- und Vergnügungssucht, schlechter Wirtschaft, Unfähigkeit zur Fürsorge für Mann und Kinder.“
Möchten doch viele, die bisher suchten, die hochwichtige Frauenbewegung mit ein paar billigen Schlagworten abzuthun, diese Ausführungen lesen und dann bei Erziehung der ihrer Autorität unterstellten Töchter danach handeln! Die Familie vor allem würde den größten Nutzen davon haben! Bn.
Fasanenkuckucke. (Mit Abbildung.) Aus dem dichten, von Lianen durchwobenen Dorngestrüpp, das in Südost-Australien die Ränder des aus Brigalow-Akazien bestehenden Buschwaldes begleitet, klingen nach Sonnenuntergang eigentümliche Laute weithin über die Grassteppen, durch welche die Fluten des Darling westwärts zum Murray rauschen. Hohl und tief folgen sich mehrere flötende Laute, immer schneller und schneller, immer höher und kürzer schmiegen sie sich aneinander an, sie schwellen auf zu einem langgezogenen vibrierenden Triller, um schließlich mit einigen gedehnten, klagenden Lauten zu enden. Fasanenkuckucke sind die sonderbaren Musikanten, Vögel von der Größe einer Krähe, mit kräftigem, hakigem Schnabel, kurzen gerundeten Flügeln, mit ziemlich hohen Läufen und einem langen, flusigen und breitfederigen Schwanz. Sie haben, wie alle Kuckucke, Kletterfüße, d.h. die erste und vierte Zehe sind nach hinten gerichtet, die beiden anderen Zehen greifen nach vorn und zwischen den einzelnen Zehen sind Hefthäute nicht ausgespannt. Nur die mittelamerikanischen Rennkuckucke (Geococcyx) machen hierin eine Ausnahme, weil ihre Vorderzehen durch eine kurze Spannhaut verbunden sind. Der ausgefärbte Fasanenkuckuck hat einen schwarzen Kopf, Hals und Unterkörper; die Flügeldecken sind rostbraun mit gelb-brauner und schwärzlicher Zeichnung, die sich in Bändern und Stricheln ausdrückt. Die Schwingen tragen schwarzbraune Querbinden auf rotbraunem Grunde. Der Schwanz ist schwarz und auf den Außenfahnen der Federn rötlichbraun quergebändert. Alle Federfahnen glänzen lackartig. Die jungen Vögel sehen ganz anders aus; bei ihnen sind der Hals und die Brust schmutzig gelbbraun, der Bauch auf schwarzem Grunde hellbraun gebändert, der Kopf und Nacken rotbraun mit weißen Federschäften. In der ornithologischen Systematik heißen diese Vögel Centropus phasianus, weil sie den Eindruck von kleinen Fasanen erwecken, wenn sie über den Erdboden dahinrennen, und weil bei ihnen, ebenso wie bei ungefähr 35 ähnlichen, die Tropen der Alten Welt bewohnenden Arten, an der ersten Zehe eine lange, gerade Kralle sitzt, welche ihnen den Namen Sporenfuß („centropus“) eingetragen hat, wie man denn auch die Vögel dieser Gattung Sporenkuckucke nennt. Unser Bild ist nach zwei Exemplaren von Fasanenkuckucken gezeichnet, welche augenblicklich im Berliner Zoologischen Garten durch ihre merkwürdigen Stimmen und ihr lebendiges Wesen die Besucher fesseln. Sie befanden sich gerade in der Mauser, als der Künstler sie porträtierte, daher erscheinen die einzelnen Schwanzfedern ungleich lang. Die Fasanenkuckucke leben an Waldrändern im dichten Unterholz, durch welches sie sehr schnell zu laufen verstehen und worin sie sich so geschickt verbergen, daß der Jäger regelmäßig getäuscht wird. Zum Fliegen sind sie nicht leicht zu bewegen, und wenn es geschieht, so schweben sie mit wenigen Flügelschläge eine kurze Strecke weit, um dann irgendwo einzufallen. Ihre Nahrung besteht wohl vorwiegend aus Insekten, jedoch scheinen sie auch kleine Kriechtiere und Mäuse nicht zu verschmähen. Sie gehören zu den Kuckucken, welche selbst brüten, bauen ein großes napfförmiges Nest aus Gras und Blättern, welches im Gestrüpp steht, und legen reinweiße, ovale Eier. P. Matschie.
Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 37/1897 ]
[ Verlagswerbung für den „Gartenlaube-Kalender 1898“ ]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
Anmerkungen (Wikisource)
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