Die Gartenlaube (1897)/Heft 36
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Nr. 36. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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Einsam.
(5. Fortsetzung)
Keine Sorgen mehr! Keine Furcht mehr vor dem schrecklichen Quartalsersten. Kein angstvolles Rechnen mehr mit Kassensturz am Abend, mit immer neuem Verteilen der noch übrigen Summe auf die noch übrigen Tage. Kein Arbeiten mehr um Lohn mit heißen Augen, mit schmerzendem Kopf. Kein banges Ueberlegen mehr: dürfen wir das auch diesen Monat noch ausgeben? Oder: dafür muß dann aber das und das unterbleiben.
O, verhaßtes Geld! Verhaßter Tyrann!
Hanna Wasenius wäre kein Mensch von Fleisch und Blut gewesen, wenn das Gefühl der Befreiung von dieser Last ihr nicht allgemach die beengte Brust zu tiefen, lauten Atemzügen gehoben hätte. Keine Geldnot mehr! Das läßliche Bewußtsein der Erlösung von allen Sorgen begann sich als flimmerndes Gerank um den jungen Stamm ihrer Opferfreudigkeit zu schlingen. Es war nicht mehr ganz allein; die gesunde Feuerwärme ehrlichen Wollens, ehrlichen Ueberwindens, die ihr die blaß gewordenen Wangen färbte.
Ein Hauch von dem berauschenden Blütenduft aus dem Garten der Ueppigkeit war herübergeweht. Mit Verwunderung, mit leiser Beschämung gestand sie sich ein, daß sie anfange, sich auf den Reichtum, der ihrer wartete, zu freuen. Ein noch fremdes Gefühl, das sie sehr verwirrte. Wie geschah ihr denn nur? Die oberste, stärkste und einzig entscheidende Triebkraft zu ihrem Entschluß war doch die Liebe zur Mutter gewesen. Sie war auch das stärkste Gefühl geblieben nachher – aber nicht das einzige. Hanna erschrak vor diesem Selbstbekenntnis. Wie ertappt bei einem Unrecht stand sie da. Sie war bis jetzt immer ehrlich gegen sich selbst gewesen; sie bemühte sich, es auch zu dieser Frist zu bleiben. Wo war denn also der Wert ihres Opfers, wenn sie es sich mit klingender Münze bezahlen ließ? War es alsdann überhaupt noch eines? Wurde es nicht ein einfaches Tauschgeschäft? War es das nicht am Ende von Anfang an gewesen? – – Mit selbstquälerischer Grübelei spürte sie Schritt für Schritt ihrem Empfindungsleben der letzten
[598] Wochen nach. – Nach dem lähmenden, kalten Schrecken der ersten unwillkürlichen Abwehr, die keine Gründe gab, auf keine Gründe hörte, war das Leidensgesicht der kranken Mutter als stummer Ueberwinder aufgetaucht und neben ihr stehen geblieben. Der Herzensaufschrei: ich kann nicht! war bald genug zum bittern Weinen der Ergebung geworden. Im Kampfe mit der starken und reinen Kraft der Kindesliebe zerknickte das arme Schattenpflänzchen ihrer verschwiegenen Sehnsucht nach dem Manne, der nun schon über Jahr und Tag so starr und aufrecht neben ihr dahergegangen war, der von all ihrer Not und Pein nichts wußte, auch niemals davon hätte erfahren dürfen. Mit dem Stolz als Wanderstab, mit dem Lächeln der wieder lebenatmenden Mutter als Wegzehrung war ihr von da an die Wanderung ins neue Leben hinein nicht mehr allzu schwer geworden. Von dem Dornenzweig, der sich ihr ans Gewand geheftet hatte, den sie mitschleppte, wußte niemand etwas. Nein, sie hatte wirklich Leid auf sich genommen, dem kein Reichtum Balsam brachte. Und endlich – wo stand sie denn heute noch? Doch wohl auf der Schwelle erst dieses neuen Lebens. Mit ihrem auch noch so tapferen „Ich will!“ und „Ich werde!“ war ja noch nichts gethan. Ob sie sich treu bleiben würde, ob sie standhalten würde – wie konnte sie das heute schon wissen? Sie hoffte es zwar.
Sie hoffte es mit fester Zuversicht. Wie klein wäre ihr Herz gewesen, wenn sie nicht mit tiefer Dankbarkeit zu dem Manne aufgesehen hätte, der gegen ihre Mutter so gut war. Sie nannte ihn sich beständig den Retter, den Helfer, den Gütigen, da sie ihn den Liebsten nicht nennen konnte. Aber der Anblick der sichtbarlich auflebenden Mutter goß ihr täglich neue Freudigkeit in die Seele. So schufen Rührung und Dankbarkeit zusammen ein Gefühl der Sympathie, das sie stark genug wähnte, um damit auf die lange Reise gehen zu können. Den gebieterischen Wink der Natur, der sie am Anfang unbedenklich Nein sagen hieß, hatte sie vergessen, wollte sie vielmehr vergessen haben. Ludwig erinnerte sie nicht daran, obwohl ihm das Wort manchmal auf der Lippe schwebte, wenn sie sich mit ängstlich bittendem Blick aus seinen Armen befreite. Er vertröstete sich im stillen auf später, auf den natürlichen Lauf der Dinge und nannte sie nur lachend sein scheues Vögelchen, das erst noch gezähmt werden müsse. Mit heißer Ungeduld sehnte er den Tag ihrer Vereinigung heran. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte man sich nach Erledigung der nötigen Förmlichkeiten in denkbar kürzester Frist auf dem Standesamt zusammengeben lassen. Von einer kirchlichen Trauung wollte er zuerst überhaupt nichts hören. Er hatte aber nachgeben müssen, hatte auch nach einem Blick auf Hannas betrübtes, fast erschrockenes Gesicht gern wieder eingelenkt. Die Gelegenheit, ihr doch einmal einen persönlichen Wunsch erfüllen zu können, war ihm dann ganz recht.
„Also gut, gehen wir in die Kirche,“ hatte er gesagt, „aber empfiehl deinem geehrten Herrn Pastor, daß er sich nach Kräften mit seinem Sermon beeilt.“
Erdmann, den Hanna in seiner stillen Klause aufsuchte, um ihm von der Wendung in ihrem Schicksal zu erzählen, versprach, sich kurz zu fassen.
„Ich hätte ohnehin nicht viel Worte gemacht,“ sagte er mit einem feinen und weichen Lächeln. „Je tiefer einem das Gemüt bewegt ist, desto weniger spricht man. Fräulein Lieschen Müller und Herrn Ferdinand Schönecker, die ich morgen traue und die mich gar nichts angehen, werde ich eine schwungvolle Rede halten. Meiner lieben Hanna gegenüber – – Herr Thomas wird zufrieden sein. Hat er denn Freude an der Musik? Der Chor wird doch singen?“
„Ja, er wird singen.“
Auf die andere Frage antwortete sie nicht. Nein, er hatte keine Freude an der Musik. Leider!
„Laß sein, laß sein,“ hatte er gleich am Anfang gesagt. „Komm von dem Klavier weg, thu mir den einzigen Gefallen. Worte ohne Lieder, wenn ich bitten darf.“
„Ist das ein Programm?“ hatte das Mädchen mit einem verwirrten Lächeln gefragt.
„Sieh’ doch nicht gleich so niedergedonnert aus,“ war die Antwort gewesen. „Es müssen doch nicht alle Leute in Tönen schwelgen. Man kann auch so glücklich sein, glaube mir. Komm’ auf meinen Schoß. Was Gescheiteres kannst du im Augenblick nicht thun. Ei Gott, ei Gott, macht sie jetzt nicht ein Gesicht, Mama, wie ein Kätzchen beim Gewitter?“
Frau Wasenius hatte ihrer Tochter lächelnd und beruhigend zugewinkt.
„Ein bißchen Musik zuweilen mußt du ihr schon gönnen, Ludwig. Der eine braucht sie, der andere nicht. Dir vorzusingen, wird sie bleiben lassen, aber ganz stumm muß man so eine Drossel nicht machen wollen, sonst wird sie traurig.“
„Herrje, will ich ja auch gar nicht. Aber alles zu seiner Zeit und an seinem Platze. Ich bin jedenfalls ein vollständig unwürdiges Publikum, und ob du mir einen Choral oder ein Liebeslied vorträgst, verschlägt mir keinen Pfifferling. Ich unterscheide es höchstens am Text – wenn ich zuhöre.“
Also, das war abgemacht.
Im Hause wurde nicht mehr musiziert, in seiner Gegenwart wenigstens nicht.
Auch von der „ollen Singerei“ in der Kirche war nur flüchtig die Rede noch. Ungern genug zwar beurlaubte Thomas seine Braut zu den Uebungen am Mittwoch und zu den Abendgottesdiensten. Hanna war aber fest geblieben und hatte keine Probe versäumt.
Sie gab sich nicht Rechenschaft von dem beruhigenden Gefühl des Geborgenseins, mit dem sie, sicher vor seiner Gegenwart, in den Konfirmandensaal des Predigerhauses trat, in dem die Uebungen stattfanden, oder die Treppe der Orgelempore hinaufstieg.
In dem kühlen, feierlichen Kirchenraum mit seinen ernsten Wölbungen, seinem milden, durch die hohen, gemalten Fenster weichgetönten Helldunkel atmete sie jedesmal tiefer auf, als sie selbst wußte. Und willenloser, als sie selbst wußte, wies in diesen Stunden auf den breiten, mächtigen Wellen des Orgelklanges ihre arme Seele Seite an Seite mit der anderen, die so still ihres Weges zog, daß man kaum gewahr wurde, sie lebe noch.
Heute saß Hanna in tiefer Beklommenheit an ihrem gewohnten Platz.
Es war ihre letzte Motette vor der Hochzeit. Am nächsten Mittwoch stand sie dort unten am Altar.
Das Herz schlug ihr hart und schwer, wie vor dem Abschiednehmen. Ihre Stimme zitterte und verlor den Halt, mehr als einmal verdunkelten Thränen ihren Blick. Sie erlitt heute die Musik, anstatt sie zu erleben wie sonst. Sie gab ihr keinen Trost, that ihr nur wehe. Ein innerliches Frösteln, wie es auch der Eilige empfindet, und das von Minute zu Minute stärker wurde, nahm ihr die Ruhe. Ihre Gedanken, schon rastlos, wanderten hin und her, gingen voraus, kamen wieder, erinnerten sich, überlegten und kehrten endlich, wie in einen Nothafen, zu dem einen Punkt zurück, von dem sie in all ihren mannigfachen Verzweigungen ausgestrahlt waren, zur Mutter. Am Hochzeitstag sollte die Mutter zum erstenmal das Haus verlassen und nicht mehr dahin zurückkehren. Von der Kirche aus gleich nach der Tiergartenstraße, so war es abgemacht worden. Der Herr Sanitätsrat hatte einen Krankenwärter bestellt, „den stärksten und geschicktesten“, wie er dem ängstlichen Mädchen versicherte, der sollte das Mutterchen die Treppe hinunter und in die Kutsche tragen, von der wieder in die Kirche und auf einen bequemen Sessel und so weiter bis zur endlichen Landung im neuen Heim. Der Kranken zuliebe war von jeder Festlichkeit zunächst Abstand genommen worden. Die Uebersiedlung brachte Aufregung genug. Ein kleines feines „Souper“ mit der Familie von Ludwigs Schwester, die erwartet wurde, und damit fertig. Der Tribut an den Freundes- und Bekanntenkreis sollte erst einige Wochen später gezahlt werden. Hannas Dank für all diese Rücksichtsnahme hatte er lachend hingenommen. Ihm selber stehe ja der Sinn augenblicklich nicht nach „Gesellschaftstrara“, er denke an nichts andres als daran, seinen Schatz endlich in seine Höhle zu tragen. Zur herzlichen Erleichterung des Mädchens waren sie beide über die Frage einer Hochzeitsreise vollkommen einig; es war keine Rede davon.
Fast erschrocken fuhr Hanna zusammen, als Pastor Erdmann Amen sagte.
Es klang ihr lauter als sonst ins Ohr, fast wie ein Ruf. Amen! Nicht so sei es! Sondern nun ist es aus!
[599] Langsam erhob sie sich von ihrem Platz. Zum letztenmal sammelte sie die Stimmen ein. Zum letztenmal. Warum nicht gar! Wie nervös sie geworden war. Sie kam ja wieder. Sie ging ja nicht weg. Nur von einem Haus ins andere. Nach den Ferien, die jetzt begannen und die so lange dauerten wie die der Schulen, kam sie wieder. Natürlich. Mit dem Versuch, sich selbst aus ihrer schwermütigen Stimmung aufzurütteln, sagte sie sich, wie man einem betrübten Kind etwas verspricht, damit es wieder lacht; dann kann man auch gefahren kommen, wenn man zu faul zum Laufen ist.
Sie ging dann mit Günther und Rettenbacher ins Pfarrhaus hinüber, um die Noten im Schrank zu verwahren, wie sie immer gethan hatten, wenn sie sie nicht zu irgend einem Zweck mit nach Hause nahmen. Arnold schloß sich von dieser gewohnten Hantierung auch jetzt nicht aus. Er trug seine Hälfte Noten und den „dicken Schöberlein“, aus dem Günther den Palestrina dirigiert hatte. Es wäre aussagend gewesen, wenn er sich auch hiervon zurückgezogen hätte, seit kurzem mußte er sowieso am Samstagabend immer in eine Lehrerversammlung und kam dann erst spät nach dem Abendessen heim.
Sie fanden dumpfe, schlechte Luft in dem Saal, auf dessen Fenster die Sonne geschienen hatte, es war Unterricht gewesen und noch der ganze Menschendunst eingefangen beisammen. Nachdem sie geschwind alles aufgemacht hatten, räumten sie ihre Noten weg. Sie waren noch am Stimmenordnen, da wurde die Thür aufgerissen und Thomas erschien.
„Donnerwetter,“ sagte er statt aller Begrüßung, „'ne nette Sommerluft ist das ja hier drinnen. Danke ergebenst.“
„Wo kommst denn du her?“ fragte Hanna, ganz verwirrt auf ihn zugehend. „Guten Abend übrigens.“
„Ich wollte dich abholen,“ antwortete er, erst jetzt den Hut abnehmend und die beiden Herren flüchtig begrüßend. „Habe aber den Anschluß versäumt. Die Geschichte war schon aus und der Fritze da drüben, der Kirchendiener, wies mich hierher.“
„Das war ja ein freundlicher Gedanke von dir,“ sagte Hanna, immer noch sehr befangen.
„Was machst du denn nun aber noch in diesem stickigen Lokale“, fuhr er fort. Ein unruhiger, nicht besonders liebenswürdiger Blick streifte dabei Günther und Rettenbacher.
„O, wir ordnen nur, wie gewöhnlich, unsere Noten“, erklärte der Musiker. „Aber Fräulein Hanna steht natürlich ganz zu Ihrer Verfügung.“
„So, sehen Sie ’mal. Nett von Ihnen,“ sagte Thomas, kurz auflachend. „Alles mögliche, daß Sie weiter keine Ansprüche machen, kann ich ja kaum annehmen.“ Hanna griff schnell nach Handschuhen und Schirm. Beklommen und unruhig sah sie ihren Verlobten an. Worüber war er denn so ganz ersichtlich gereizt? Und warum kam er hierher, was er noch keinmal gethan hatte. „Wollen wir gehen?“ sagte sie. Er nickte, öffnete die Thür und ließ sie voraus. „'n Abend,“ murmelte er über die Achsel zurück, ohne die beiden, die ihm erstaunt nachblickten, recht anzusehen.
„Was fehlt dir?“ fragte Hanna, als sie draußen waren. Er blieb auf der kleinen Treppe stehen und betrachtete sie mit unstet funkelnden Augen. Dann, ganz unvermittelt, begann er zu lachen, ergriff sie an beiden Händen und zog sie zu sich.
„Wie reizend siehst du aus, wenn du erschrocken bist!“ Sie machte sich aber los. „Was dir fehlt, sollst du mir sagen,“ wiederholte sie kühl.
„Nichts fehlt mir – wenigstens in diesem Augenblick erhol’ ich mich. Aber ich war allerdings etwas unwohl, vor Ungeduld und – na, und vor Sehnsucht. Du bliebst mir zu lange. Ich habe nämlich da in der Kirche gesessen und euer Dideldum angehört. Habe dich stehen sehen und aus der Ferne mit den Augen verschlungen, habe diesen – Günther beneidet, der dir so nahe war, und den du so andächtig angucktest. Wollte dich abfangen, überraschen. Aber natürlich wußt’ ich nicht Bescheid in dem edlen Gebäude und starrte mir die Augen aus dem Kopf nach dir. Endlich kriegt’ ich den Kirchendiener am Flügel, rabiat, wie ich schon war. Ja Kuchen! Die Sänger sind hinten raus. Weg. Bald hätt’ ich geflucht. Aber als ich nach dir fragte, da meinte der Onkel, du würdest wohl noch hier drüben sein. Mit Herrn Günther. So stürz’ ich denn her. Fuchs-teufelswild. Finde dich auch, aber wenigstens nicht allein mit dem verdrehten Musikanten. Mädel – er zog sie heftig an sich – siehst du denn nicht, hörst du denn nicht, merkst du denn nicht – Donner und Doria – daß ich eifersüchtig bin auf jeden Menschen, den du nur ansiehst!“
„Eifersüchtig?“ fragte Hanna sehr erschrocken. „Rasend eifersüchtig,“ murmelte er, sie leidenschaftlich küssend. „Bedenk’ das, vergiß das nie! Milch hab’ ich nicht in den Adern!“
Frau Wasenius war die erste in der Kirche. Der ihr zugesagte Wärter war in seiner ganzen Riesengröße schon zeitig in der Linkstraße erschienen, um ihr, bei aller Gemütsruhe des Transportes, nachher noch die Möglichkeit der Erholung vor Beginn der Feier zu schaffen. Er hatte sie sorglich in Pastor Erdmanns bequemstem Sessel untergebracht, rückte nun das breite, weiche Fußkissen, das der Pfarrer gleichfalls herübergeschickt hatte, zurecht und breitete die Decke über die Kniee der Kranken.
„Sitzen Sie so gut, gnädige Frau?“
„Herrlich. Ich danke Ihnen. Wie schön Sie das alles machen. So sanft und sicher. Ganz vergeblich hab’ ich mich vor dieser Expedition gefürchtet.“
„Na, gnädige Frau sind ja auch man ein Häschen, da ist nich viel Kunst bei nötig. Wir im Krankenhaus sind das anders gewöhnt. Da kommt verschiedenes Kaliber vor.“ Er trat jetzt zurück und setzte sich in ihrer Nähe auf die vorderste Bank.
Ein Weilchen blieb Frau Wasenius nun noch still, mit angelehntem Kopf, mit geschlossnen Augen sitzen. Die lautlose Ruhe, die Kühle des weiten Raumes thaten ihr wohl, besänftigten die schweren, schmerzenden Schläge des kranken Herzens.
Dann aber begann sacht um sie her das Geräusch von Schritten auf den Steinfliesen, das Rascheln und Huscheln von Kleidern, das Murmeln von Stimmen. Hinter ihr, in den Bänken, schoben sich die Leute hin und her, das gewöhnliche Publikum, das den Trauungen beizuwohnen pflegt. Für die sehr kleine Hochzeitsgesellschaft standen nur einige Stühle neben ihrem großen Sessel vor dem Altar. Oben auf den Emporen wurde es nun auch lebendig, dort hallten die Schritte lauter. Eine ganze Gruppe mußte sich jetzt gleichzeitig eingefunden haben: die Sänger, die Aufstellung neben der Orgel nahmen. Dann wurde es wieder für ein Weilchen still.
Frau Wasenius hatte die Augen nicht geöffnet. Erst als Wagenrollen näher kam, erhob sie den Kopf und sah sich um.
Vereinzelte neugierige Gesichter, die sich weiter vorgedrängt hatten, starrten sie an. Von den andern hinter ihr in den Bänken wurde sie nichts gewahr. Die Stühle neben ihr waren noch leer. Der Kirchendiener trat aber jetzt heran und rückte sie noch einmal zurecht, empfing dann mit ergebenstem Bückling die majestätische Erscheinung der Frau Bankdirektor Eggebrecht, geborene Thomas, die am Arm ihres ebensogroßen, aber nur halb so breiten Gatten dahergerauscht kam, begleitet von zwei sehr jugendlichen Töchtern und einem erst halbausgebackenen, schlenkrigen Gymnasiasten.
Die kleine gelähmte Frau, die als Brautmutter so wenig Imponierendes an sich hatte, wurde mit der gebührenden Höflichkeit, aber kalt begrüßt. Um so liebenswürdiger bemühte sich der alte Sanitätsrat, der als langjähriger Freund der Familie Verwandtenrechte genoß, Frau Wasenius seine Freude über ihre Anwesenheit auszudrücken.
Nach kürzester Frist hatte man sich auf den verschiedenen Plätzen geordnet.
Nun setzte die Orgel ein. Frau Wasenius fuhr zusammen und begann nervös zu zittern.
Hanna und Ludwig kamen den Mittelgang herauf, von den brausenden, tiefen Tönen begrüßt und geleitet.
Zu den bunten Kirchenfenstern schien die Sonne herein und umwob mit einer vielfarbigen Strahlenglorie das blumengeschmückte dunkelblonde Haar der Braut. In dem weißen,
[600][601] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [602] weichen, schleierumflossenen Gewand sah das Mädchen mit seinem schneeblassen, stillen Gesicht, in dem die grauen Augen leuchteten, an der Seite dieses kräftig blühenden Mannes, dem es bis an die breite Schulter reichte, wie ein weltfremdes, aus irgend einem Zauberland geholtes Märchenwesen aus.
Langsam waren sie bis zu den Stufen vor dem Altar vorgeschritten.
Bei der Mutter angekommen, blieb Hanna stehen und ließ ihre Hand von Ludwigs Arm herabgleiten. Den weißen Rosen- und Myrtenstrauß der Mutter in den Schoß legend, beugte sie sich nieder und küßte sie auf den Mund. Diesem ganz unherkömmlichen Gebaren sah die Frau Schwägerin mit gerunzelter Stirn, die junge Verwandtschaft mit nur schlecht verbissenem Lächeln zu.
Aber die Unterbrechung hatte kaum eine Minute gedauert, und nun führte Ludwig schon, etwas rot im Gesicht, seine Braut an ihren Platz.
Zum Wundern blieb keine Zeit. Denn droben begannen in diesem Augenblick schon die Engelstimmen ihren zarten Gesang.
„Hebe deine Augen auf zu den Bergen, von welchen dir Hilfe kommt. Deine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht.
Hanna saß tiefatmend da, den traumverlorenen Blick geradeaus gerichtet. Der Schauer der Andacht, mit dem die unbeschreibliche Poesie der Kirchenmusik sie stets umwehte, senkte sich wieder auf sie herab und umspann sie ganz.
„Hebe deine Augen auf zu den Bergen von welchen dir Hilfe kommt!“
In die tiefe Stille hinein, die dem Verklingen des Engelgesanges folgte, tönte nun weich und mild, vor Bewegung zitternd, Pastor Erdmanns Stimme:
„Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“
Er hielt sein Wort. Seine Rede war nur kurz. Sie enthielt keine herkömmlichen Floskeln, hatte eigentlich gar keinen rednerischen Schwung, war nichts als ein herzwarmer Geleitruf des väterlichen Freundes an das Kind, das die Schwingen lüftete zur Reise in das fremde Land, war eine schlichte Mahnung an die Erkenntnis der hohen Aufgabe für den Mann, der von heute ab dieses Kindes Führer sein wollte.
Die Hände des Pfarrers zitterten, als er sie nach dem gewohnten Spruch: „Rein, wie dieses Gold, und ohne Ende, wie dieser Ring, sei eure Liebe“ über den Vereinigten ausbreitete, um sie zu segnen.
„Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir,“ klang es wieder von droben, diesmal aber mit allen Stimmen, sogar im Doppelquartett. Man hätte dem kleinen bescheidenen Sängerchor diese jubelnde Tonfülle kaum zugetraut.
„Daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen, daß sie dich auf den Händen tragen, und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“
Hanna, von Ludwig unterstützt, hatte sich von ihren Knieen erhoben. Die Thränen liefen ihr übers Gesicht. Ohne jemand anzusehen wandte sie sich um, trat die Altarstufen hinab und kniete vor ihrer Mutter nieder, die, von heftigem, fast krampfhaftem Weinen geschüttelt, nur wortlos die Arme um ihr Kind schlang.
„Mutter, weine nicht,“ murmelte Hanna, am ganzen Körper zitternd, dicht an sie geschmiegt. „Weine nicht. Alles ist ja gut. Ich bin ja froh. Weine nicht, du machst dich krank.
Man ließ auf einen Wink des Sanitätsrates die beiden, die alles um sich her vergessen zu haben schienen, einstweilen gewähren. Der gelähmten Frau wegen mußte man ja auf die gebräuchliche Form, sich nach vollzogener Trauung in die Sakristei zurückzuziehen, verzichten.
Ludwig Thomas stand mit einem Gesicht, in dem Verlegenheit mit unwillkürlicher Rührung kämpfte, neben seiner jungen Frau, strich auch ein und ein andres Mal der Kranken über die Schulter und den Arm herunter.
„Daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen!“ schloß der Gesang jetzt zart und leise. Und zart und leise hob die Orgel wieder zu spielen an, wob ein Gespinst von seinen, allerfeinsten Modulationen aus dem Schlußaccord des Quartetts und spann sich dann in die Melodie der Mendelssohnschen Kavatine hinüber, die den Hochzeitsspruch gegeben hatte: Sei getreu bis in den Tod – –
Hanna, wieder gefaßt, erhob sich jetzt.
Erdmann kam auf sie zu, schloß sie in die Arme und küßte sie auf die Stirn. Mit Thomas wechselte er einen kräftigen Händedruck. Auch die Familienmitglieder näherten sich nun den Neuvermählten und die kühle offizielle Scene der stummen oder gemurmelten „Gratulationen“ löste die nervöse Spannung und leitete zu normalerer Stimmung über. Frau Wasenius war nun auch schon imstande, mit einigen freundlichen Worten auf die höflichen Redensarten der Breslauer zu erwidern.
Indessen hatten die Sänger mit anerkennenswerter Geschwindigkeit ihre Empore verlassen und kamen nun unter Anführung ihres Dirigenten den Mittelgang der Kirche herauf, um auch ihr Scherflein zur allgemeinen Beglückwünschung beizutragen.
Hanna streckte Günther, der mit nassen Augen daherkam, strahlenden Blickes beide Hände entgegen.
„Gutes, liebes Güntherchen! Wie schön, wie schön! Lauter Engelstimmen! Wie danke ich Ihnen! Und Ihnen allen, allen!
Sie winkte den Sängern und Sängerinnen zu, die sich nun allmählich heranschoben, um doch ein jedes ihrer sehr beliebten jungen Stimmführerin, zum Abschied gewissermaßen, die Hand drücken zu können. Helene Imhoff küßte die Freundin zärtlich.
„Liebe gute Hanna,“ murmelte sie mit Thränen in den Augen. Sie schlang dann – vorsichtig , um dem duftigen Schleiergewölk kein Leid anzuthun – beide Arme um sie. „Daß du mir glücklich wirst, das sag’ ich dir! So glücklich wie ich!“
Mit strahlendem Lächeln sah sie zu ihrem Manne auf, der sich unter dem „Publikum“ befunden hatte und nun glückwünschend herangetreten war.
Thomas dauerte diese Scene aber schon viel zu lange.
„Komm, komm!“ sagte er etwas ungeduldig. „Mach ein Ende, liebes Kind!“ Und zu der Gruppe der Chormitglieder: „Meine Herrschaften, genehmigen Sie in corpore meinen ergebensten Dank und gestatten Sie mir gütigst, meine kleine Frau nun endlich nach Hause zu führen.“
Hanna war leicht zusammengeschreckt.
„Gleich, bitte,“ sagte sie leise. „Nur noch – –“
Als letzter war Rettenbacher zurückgeblieben, scheinbar verdrängt von den andern, in die Bankreihen hinein. Hanna trat auf ihn zu. Die Anspannung all ihrer Nerven half ihr über ein plötzliches feiges Zittern hinweg, daß sie sehr blaß wurde, wußte sie nicht.
„Ein gutes Wort von Ihnen,“ bat sie mit matter Stimme.
Er nahm ihre dargereichte Hand, beugte sich und küßte sie. Zum erstenmal. Zum Abschied. Sprechen konnte er nicht. Er sah sie auch nicht an.
Aber Thomas war schon wieder da. Vielmehr hatte er das Mädchen nicht aus den Augen gelassen. Er schlang jetzt mit einiger Heftigkeit den Arm um Hannas Nacken und zog sie mit sich fort.
„Komm, mein Herz, wie lange soll ich noch warten! Empfehl’ mich, Herr Rettenbacher.“
Schon im Gehen, aber von ihm festgehalten, sah Hanna noch einmal zurück, sah in ein paar flammende Augen, in ein von tiefem Schmerz verzerrtes Gesicht, sah dieses so plötzlich unbeherrschte bleiche Gesicht zusammenzucken und sich schnell abwenden – – und blieb stehen, atemlos, von einem jähen, rasenden Herzklopfen überfallen.
„Was ist los? Wie siehst du aus?“ fragte Thomas erschrocken.
Sie schüttelte nur mit dem Kopf.
Argwöhnisch folgte er ihrem jammervollen Blick.
Dort ging langsam, langsam Arnold Rettenbacher zur offenen Kirchenthür hinaus.
Von Wilhelm Haacke.
Wenn ein Europäer, der über die Grenzen der Kulturwelt nicht hinausgekommen ist, davon liest, daß Reisende in den eisigen Einöden der Polarländer oder in den Wüsten der heißen Erdstriche vor Durst und Hunger umgekommen sind, so erscheinen ihm solche Unfälle durchaus natürlich. Unglaublich klingt ihm aber die Nachricht, daß auch in den üppigen tropischen Urwäldern bittere Hungersnot ganze Expeditionen zu bedrohen vermag und zahlreiche Opfer an Menschenleben fordert. Sollten Gebiete, die sich gerade durch die größte Fülle des Pflanzenwachstums auszeichnen, so arm an Nahrungsmitteln sein? Sollten sie so wenig eßbare Früchte hervorbringen und kein jagdbares Wild beherbergen? Und doch ist dem so! Schon die Spanier, die im 16. und 17. Jahrhundert von Peru aus in die Urwälder am Amazonas eindrangen, um neue Goldländer zu entdecken, litten dort furchtbar unter der Hungersnot, und die Hungersnot hat in jüngster Zeit den Begleitern Stanleys auf dessen Zuge durch die Wälder am Aruwimi im Dunkelsten Afrika die schlimmsten Qualen und Entbehrungen auferlegt. Daß an dem Untergange des kühnen Reisenden Otto Ehlers auf seiner Durchquerung von Neu-Guinea gleichfalls die Hungersnot in hohem Grade beteiligt war, wußten wir bereits auf Grund der ersten Mitteilungen über seinen und seines Begleiters Piering Tod. Die nach der Küste zurückgekehrten Eingeborenen, die an der Expedition teilgenommen hatten, erzählten, der Mangel an Nahrungsmitteln sei so groß gewesen, daß sie Gras hätten essen müssen. Ehlers und Piering seien bei einem Flußübergang ertrunken. Nach neuesten Nachrichten sind die beiden Deutschen von ihren schwarzen Begleitern, durch den Hunger zur Meuterei getriebenen Bokkoleuten, erschossen worden. Unter dem Eindruck dieser erschütternden Kunde wird ein Bild der Verhältnisse, welche die Hungersnot verständlich machen, von der Ehlers und seine Leute betroffen wurden, gewiß ganz besonders willkommen sein.
Ja, es ist eine unleugbare Thatsache, daß der tropische Urwald dem Menschen feindlich entgegenwirkt. Die unermeßliche Fülle der Pflanzen ist für die Ernährung des Reisenden belanglos, denn sie bringt fast gar keine bekömmlichen oder nur genießbaren Früchte hervor, und die Jagd in dem undurchdringlichen Gewirr des Unterholzes ist nur sehr wenig lohnend. Der Forschungsreisende muß auf solchen Märschen Nahrungsmittel von den Eingeborenen, die hier und dort in Lichtungen des Waldes wohnen, zu beschaffen suchen, aber das gelingt ihm nur selten, da diese Eingeborenen Fremde fürchten, ihnen feindlich entgegentreten oder vor den Expeditionen die Flucht ergreifen und dabei alle Vorräte aus den Dörfern fortschleppen.
Ich habe aus eigener Erfahrung die Sorgen kennengelernt, die dem Führer einer Expedition in solchen Gebieten die Beschaffung der Nahrung bereiten kann. Das geschah gerade in den Urwäldern Neu-Guineas, die noch obendrein nur wenige und kleine Säugetierarten beherbergen. Ich möchte darum, aus meinen Erinnerungen schöpfend, die Leser zu einem Jagdausflug in jene Urwälder einladen. Sie werden auf diese Weise wohl am besten erfahren, womit sich dort im glücklichsten Falle die Jagdtasche füllt, und wie es dort mit der Küche der Forschungsreisenden bestellt ist.
Zuvörderst wollen wir aber den Eingeborenen einen Besuch abstatten, um uns bei ihnen, allerdings ausnahmsweise, durch Speise und Trank für unseren Streifzug zu stärken.
In den Dörfern an der Küste sind die Papuas stellenweise schon einigermaßen zugänglich. Hier ist der weiße Mann mancherorts bereits bekannt und wird von den Eingeborenen meistens freundlich aufgenommen. Wir selbst haben vor einem Dorfe an der Mündung des Flyflusses Anker geworfen und lassen uns von einem der kleinen Boote unseres Dampfers ans Ufer setzen, um bei den Dorfbewohnern vorzusprechen. Laut schreiend und wild gestikulierend steht ein Haufen Eingeborener am Ufer. Es sind freilich nur Männer und Knaben, denn die Frauen und Mädchen hat man beiseite geschafft. Aber der Empfang ist gleichwohl ein liebenswürdiger. Man trägt uns über den tiefen Schlamm, der die Ufer zur Zeit der Ebbe umsäumt, hinweg und begrüßt uns mit freundlichem Händeschütteln. Wir wollen, abgesehen davon, daß wir allerhand Geräte der Eingeborenen einzutauschen wünschen, vor allem etwas Abwechslung in unsere aus Konserven bestehende Expeditionsnahrung bringen und finden, daß Kokosnüsse und Bananen in Hülle und Fülle zu haben sind. Ein Stückchen Tabak von jener Sorte, der in Amerika eigens für Handelszwecke in der Südsee fabriziert wird, reicht aus, um eine große Traube reifer Bananen und einen Haufen von Kokosnüssen einzuhandeln. Mit den Bananen machen wir kurzen Prozeß. Sie lassen sich bequem ihrer Schale entledigen, und ihr weiches, fast kernloses Innere, das, ziemlich mehlig, an Aepfel und Birnen erinnert, wird nach Gebühr von uns gewürdigt. Die Kokosnüsse machen schon größere Schwierigkeiten. Sie sind von einer dicken, faserigen Hülle umgeben. Da diese noch ziemlich grün ist, gelingt es uns aber, sie zum Teil zu entfernen und bis zur Schale der eigentlichen Nuß vorzudringen. Nunmehr bohren wir ein Loch in die Schale und setzen die gewaltige Nuß an unsern Mund, um die sogenannte Kokosmilch, die an Ort und Stelle, wo man sie nur von unreifen Nüssen genießt, freilich farblos und klar ist, in vollen Zügen zu schlürfen. Dann übergeben wir die Nuß einem Eingeborenen, der sie von der faserigen Hülle vollends befreit, ihre Schale zerschlägt und uns deren Stücke darbietet. Mit einem der kleineren Schalenscherben kratzen wir den weißen Rahm, der die Schale von innen auskleidet, zusammen, wobei wir finden, daß wir es hier allerdings mit einem nahrhaften und vortrefflich schmeckenden nußartigen Brei zu thun haben.
Jetzt könnten wir auch einmal den Sago der Eingeborenen probieren, eine mehlartige, kompakte Masse, die aus dem Stamm der Sagopalme durch Klopfen und Auswaschen des Holzes gewonnen wird und im wesentlichen aus Stärke besteht. Aber wir sind jetzt lange genug Vegetarianer gewesen und möchten auch etwas Fleischkost zu uns nehmen. Auf einem Kohlenfeuer sehen wir einen jungen Kasuar von der Größe eines Huhnes sich in ein Backhähndl verwandeln. Unser Hund ist aber schneller bei der Hand als wir, er hat sich lange mit Reisbrei begnügen müssen und macht sich die gebotene Gelegenheit zu nutze. Mit Entrüstung und Neid sehen wir, wie er den zarten und äußerst saftig erscheinenden Braten in Hast verschlingt, so schnell, daß wir nicht einmal zur näheren Untersuchung des Fleisches gelangen. Aber wir haben genug gesehen, um zu erraten, daß ein Kasuarkücken im Gegensatz zu einem ausgewachsenen Vogel seiner Art nicht übel sein muß. Einen großen hatten wir nämlich einmal geschossen und ihn, nachdem wir die für die Sammlung bestimmte Haut abgezogen hatten, zu Küchenzwecken verwendet, aber gefunden, daß er zäh wie Sohlenleder war. Da es mit dem Kasuar-Backhähndl nichts war, sehen wir uns nach anderer fleischlicher Nahrung um. Man bietet uns einen Pudding an, der aus kleinen faulenden Fischen, die mit Sago gemengt sind, bereitet ist und bestialisch duftet. Unser Enthusiasmus für ethnographische Untersuchungen ist aber nicht groß genug, um diesen Teufelsbrei zu versuchen. Endlich handeln wir für reichliche Tauschgeschenke ein Paar Haushühner und ein kleines Schweinchen ein. Die Tiere leben aber noch, weshalb wir darauf verzichten müssen, sie sofort zu verspeisen. Wir schicken sie mit unserem Landungsboot auf den Dampfer und treten einen Ausflug in den nahen Urwald an.
Hier stoßen wir zunächst auf etliche Schweine. Wir sehen aber, daß es zahme Schweine der Eingeborenen sind, die gleich uns einen Waldspaziergang unternommen haben. Hunde und Hühner sind in Neu-Guinea echte Haustiere. Die Schweine kann man aber nur als halb gezähmt betrachten, denn sie halten gar oft mit den wilden Schweinen im Urwalde Gemeinschaft. Unsere Hoffnung, völlig wilden Schweinen zu begegnen, geht nicht in Erfüllung, obwohl wir deren Spuren hier und da antreffen. Sonst sehen wir zunächst nichts Jagdbares auf dem Boden des Urwaldes. Darum schauen wir uns nach Vögeln um, können aber, obwohl wir ab und zu eine Vogelstimme vernehmen, nichts in dem dichten Laubdach des Urwaldes entdecken. Endlich sehen wir einige bewegte Blätter. Wir richten unsere Flinte auf den Punkt, wobei wir gezwungen sind, den Kopf soweit in den Nacken zu legen, daß unser Hut herunterfällt, und schicken [604] eine Schrotladung nach oben. Ein farbenprächtiger Papagei ist unsere Beute. Nachdem er in der Jagdtasche wohlgeborgen ist, setzen wir unseren Streifzug fort. Erst nach einer geraumen Stunde kommen wir wieder zum Schuß. Ein kleiner blauer Eisvogel fliegt durch das Unterholz, bleibt auf einem niedrigen Strauche sitzen und fällt unserem Gewehr zum Opfer. Mit dieser spärlichen Beute sind wir aber keineswegs zufrieden, da es uns heute nicht auf die Bereicherung unserer Sammlung, sondern vor allem darauf ankommt, unserer Küche Wildbret zuzuführen. Unsere Hoffnung darauf soll sich schließlich auch erfüllen. Zwar streifen wir noch einige Stunden lang vergebens im Urwald umher, wobei wir durchschnittlich jede Stunde einmal zu Schuß kommen, aber nur kleine Vögel für die Sammlung erbeuten. Endlich setzen wir uns ermüdet auf einen umgefallenen Baumstamm. Nach geraumer Weile hören wir ein Rauschen in dem dürren Laub, das den Waldboden dicht bedeckt, und sehen eine große, über einen Meter lange Eidechse des Wegs daherkommen. Wir begrüßen sie mit einem Schrotschuß, worauf sie regungslos liegen bleibt. Aber gerade, als wir sie ergreifen wollen, wird sie wieder lebendig und klettert eiligen Schrittes am nächsten Baumstamm in die Höhe. Wir sind jedoch nicht gewillt, sie preiszugeben, haben auch im zweiten Laufe unserer Doppelflinte noch eine mit Vogeldunst gefüllte Patrone stecken und brennen ihr diese Ladung aus nächster Nähe auf den Schuppenpelz. Mit Mühe wird auch sie in der ziemlich weiten Jagdtasche untergebracht.
Wir sind durch diese Beute zu weiteren Streifereien ermuntert worden und begeben uns aufs neue auf den Pirschgang. Niederes Buschwerk hemmt unseren Weg, und hier fesselt ein in greifbarer Nähe sitzendes farbenschillerndes Insekt unsere Aufmerksamkeit. Wir strecken gerade unsere Hand aus, um nach ihm zu haschen, als wir vor einer auf demselben Strauche liegenden wohl drei Meter langen Riesenschlange zurückprallen. Riesenschlangen sind zwar nicht so gefährlich, wie es nach den Bildern, die wir in unserer Jugend gesehen haben, scheinen möchte. Immerhin war es gut, daß wir die unsrige rechtzeitig sahen, denn wir müssen auf ein Mittel sinnen, ihrer habhaft zu werden. Ihr Kopf und eine fußlange Strecke des Halses, wenn man bei einer Schlange hiervon sprechen darf, liegt frei, und deshalb kommen wir auf den Gedanken, den Inhalt einer Schrotpatrone auf ihren Hals zu entleeren, möglich, daß eins der Schrotkörner das Rückenmark trifft und dadurch die Schlange lähmt. Gedacht, gethan. Der Plan gelang. Zwar ist der Kopf der Schlange noch äußerst munter und keineswegs damit einverstanden, daß wir den übrigen langen Schlangenkörper außer Aktion gesetzt haben, aber durch einige ihm applizierte derbe Schläge wird auch er beruhigt. Wir freuen uns, daß wir nunmehr auch einen Vertreter einer zweiten Reptilienordnung haben, und hängen ihn uns um den Nacken – beinahe hätte ich gesagt, als wirkliche und wahrhaftige Boa, wenn ich mich nicht zur rechten Zeit erinnerte, daß es Boas nur in Amerika giebt und daß unsere Schlange vielmehr ein Python ist, ein Name, der nebenbei einem spekulativen Pelzwarenhändler empfohlen sein mag, als verwendbar für eine von ihm zu erfindende neue Art haariger Schlangen, wie sie den Vorzug genießen, sich um den Nacken unserer Damen zu schlingen. Unser Python muß sich mit unserem eigenen Nacken begnügen und berührt, von ihm herabhängend, mit Kopf und Schwanzspitze nahezu den Boden.
Wir haben heute Glück; denn eben streicht ein Paar Nashornvögel rauschenden Flugs über den Wald. Auf einem unserer Flinte erreichbaren Baumast lassen sich die beiden sonderbaren Gesellen nieder, und wenigstens einer von ihnen wird unsere Beute. Er ist so schwer, daß er uns im weiteren Hantieren mit der Flinte hindern würde, weshalb wir ihn dem uns begleitenden Malayen übergeben, der sich geweigert hat, die Riesenschlange zu tragen, den Nashornvogel aber ebensowenig fürchtet wie die große Krontaube, die wir zum Schluß noch erlegen.
Es ist indessen Zeit, auf unser Schiff zurückzukehren, denn es soll noch eine Strecke weiter fahren. Wir hatten uns die Himmelsrichtung des Flußlaufes gemerkt und steuern mit Hilfe unseres Taschenkompasses direkt auf den Fluß zu, der auch nach einiger Zeit glücklich erreicht wird.
Ehe wir völlig aus dem Walde hinaus sind, sehen wir von einer kahlen Stelle des Ufers aus Sand in die Höhe fliegen.
Wir vermuten, daß hier eine Schildkröte ein Loch zum Ablegen ihrer Eier gräbt, laufen schnell hinzu, wenden das etwa einen Fuß im Durchmesser haltende Tier auf den Rücken und sind nunmehr auch im Besitz eines Vertreters einer dritten Reptilienordnung. Ein Schuß macht uns unseren Gefährten auf dem Dampfer bemerklich, man findet ein Boot, uns zu holen. Während der Dampfer sich in Bewegung setzt und keuchend und pustend stromaufwärts fährt, balgen wir unsere Tiere ab. Nashornvogel und Krontaube geben dabei noch einen vorzüglichen Abfall für die Küche, und auch das Innere der Schildkrötenschale bietet eine Delikatesse, die auch dem verwöhntesten Gaumen noch einigen Beifall abgewinnt. Die Schildkröte birgt überdies eine große Anzahl von Eiern, deren Eiweiß trotz allen Kochens zwar nicht gerinnen will, immerhin aber so wenig zu verachten ist wie der Dotter. Für die große Anzahl der Expeditionsmitglieder – außer uns befinden sich noch 11 Europäer an Bord – reicht der Nashornvogel und die Krontaube nicht zu einem Mahle aus. Wir entschließen uns deshalb, Tauben- und Nashornvogelfleisch mit dem des Python und der Rieseneidechse zu vermengen. Aber die Tiere sind nicht besonders fleischig, wir müssen immer noch auf Vergrößerung der zu dem in Aussicht genommenen Ragout erforderlichen Fleischmengen Bedacht nehmen. Da kommt uns ein glücklicher Umstand zu statten. An einer Stelle des Ufers stehen ausnahmsweise ziemlich niedrige Bäume, und diese sind, wie näheres Zusehen ergiebt, die Ruheplätze von fliegenden Füchsen. Ein Schuß bringt Leben in die träge Gesellschaft, die noch eben träumend und allenfalls sich fächelnd dicht gedrängt an den von der Sonne beschienenen Zweigen der Bäume herabhängen. In einem gewaltigen Schwarm erheben sich die Flattertiere in die Luft, hierbei dicht über unserem Dampfer hinwegfliegend, so daß wir mit einigen aufs Geratewohl gen Himmel entsandten Schrotschüssen mühelos ein halbes Dutzend von ihnen erbeuten. Sie erscheinen zwar nicht besonders verlockend, aber beim Abbalgen zeigt sich, daß ihr zartes weißes Fleisch gut zu unserem Ragout paßt. Dieses wird denn auch nach allen Regeln der Kunst hergestellt und reichlich mit Curry versetzt, jenem indischen Gewürz, an das sich der Europäer in den Tropen so leicht gewöhnt. Mit vorschriftsmäßig zubereitetem Wasserreis serviert, wird das Ragout schließlich mit viel Appetit verzehrt.
Nach dieser Schilderung sieht es nun zwar nicht so aus, als ob es in Neu-Guinea besonders spärlich herginge, aber wir haben auch einen guten halben Tag auf unsern Jagdausflug verwendet, sind bei diesem ganz ausnahmsweise glücklich gewesen, so glücklich, wie es im Laufe eines Jahres durchschnittlich nur ein- oder zweimal vorkommen mag. Außerdem waren wir zufällig auch noch auf die Schar fliegender Füchse gestoßen. Bei alledem hatten wir schließlich auch nur genug für eine einzige, allerdings ziemlich kräftige Mahlzeit. Im großen und ganzen muß man froh sein, wenn man bei Jagdausflügen in den Urwald Neu-Guineas durchschnittlich jede Stunde irgend ein Tier erlegt. Was man auf diese Weise erhält, beträgt im Laufe eines ganzen Tages in der Regel nicht mehr, als ein einziger Mann zu verzehren vermag. Und mit solchem Erfolg kann die Jagd nur dann betrieben werden, wenn sie allein Zweck eines Aufenthaltes im Urwalde ist. Wer gezwungen ist, diesen schnell zu durchstreifen, der wird vielleicht viele Tage lang nicht zum Schuß kommen. Dabei trifft die Schilderung, die ich von einem Jagdausflug gegeben habe, auch nur für die Ebene Neu-Guineas zu. Auf der Höhe des Gebirgs ist die Tierwelt weit spärlicher vertreten als in den Wäldern des Tieflandes.
Wir haben uns auch nach Eßbarem aus der Pflanzenwelt auf unserem Ausflug umgesehen, indessen nichts gefunden. Kokospalmen finden sich nur bei den Dörfern der Eingeborenen und fast nur in der Nähe des Meeres. Wilde Bananen sind nahezu ungenießbar. Ab und zu trifft man einen Brotfruchtbaum, der ein kohlartiges Gemüse bietet, das man mit den Beeren einer Kletterpalme ansäuern kann. Aber sonst findet man selten etwas Einladendes. Neu-Guinea ist ein an Nahrung entsetzlich armes Land, und wer Expeditionen in sein unerforschtes Innere zu unternehmen gedenkt, hat vor allem mit dieser Thatsache zu rechnen, die durch Ehlers’ und seines Begleiters Tod eine so tragische Beleuchtung erfahren hat.
[605]Ein Ringreiterfest auf Alsen.
„Bleibt’s also dabei, daß Sie nach Sonderburg zum Ringreiterfest reisen,“ schrieb mir die Redaktion der „Gartenlaube“. Und ich erwiderte mit einem lebhaften Ja, packte meinen Handkoffer und fuhr ab.
Zunächst ging’s nach Flensburg, der wunderschönen Föhrdestadt. Mit gewohntem Behagen durchwanderte ich die buntbelebten Straßen, erfreute mich an dem kräftigen Bau der Häuser mit ihren tiefen Höfen und mächtigen Hintergebäuden und fand später gute Freunde, in deren Kreise ich mich durch ein langandauerndes Beisammensein darauf vorbereitete, am andern Morgen früh um Fünf wieder auf zu sein.
Wunderherrlich regte sich der Tag, als ich um die genannte Zeit auf den Balkon meines Zimmers in dem trefflichen „Bahnhofshotel“ trat, der Träume Schwere abschüttelte, die Glieder erstarkend reckte und die frische Morgenluft, die vom Hafen zu mir herüberdrang, in mich aufsog.
Kein herrlicheres Gefühl, als so einmal, vom Tagesdienst abgelöst, einer anderen Welt mit anderen Gegenden, Lüften und Menschen entgegenzustreben, Stunden
der Freiheit und des Genießens vor sich zu haben!
Nun stand ich auf dem Deck des Dampfers „Thor“, überschaute den Flensburger Hafen mit seinen bemasteten Schiffen, Dampfern und Kränen, seinen unregelmäßig verteilten, malerischen Gebäuden und thätigen Menschen, vernahm das lauthämmernde, klopfende Geräusch von den Schiffswerften, ward berührt von dem Teer- und Seeduft, der unzertrennlich ist von jedem Schiffsverkehr des Erdenrunds, und suchte endlich, von dem schrillen Pfiff der Dampfpfeife belehrt, mir ein passendes Plätzchen aus. Und dann ging’s vorwärts! Kräftig arbeitete die Maschine, stolz rauschte „Thor“ vom Hafen ab.
Und nun die Flensburger Föhrde! In der That, es ist begreiflich, daß jeden Tag, so lange die Jahreszeit Ausflüge erlaubt, die nach Glücksburg und Alsen bestimmten Dampfschiffe fast überfüllt sind. Das ist nach der Tagesarbeit eine köstliche Abwechslung, das giebt dem Schönheitsdrang Nahrung! Ein solches tägliches Leben auf dem Wasser stärkt Kopf und Nerven! Links und rechts grüßen die Ufer mit Dörfern und kleineren Ortschaften, mit hohen, grünen Waldungen und goldenen Feldern. Ueberall regsames Leben oder jene stille Einsamkeit der Fluren, die uns so unendlich anmutet.
Wassersleben, der Badeort Kollund taucht auf, Süderhaff und Randershof erschließen sich dem Blick, Glücksburgs weiße Schloßwände drängen sich durchs Grün, die vielfenstrigen Hotels des vielbesuchten Kurorts streben empor. Sandacker mit seinen niedlichen rotbedachten Häusern schmeichelt sich am Strande entlang, Ekensund und Brunsnis, schon ferner dem Blick in dem breiteren Fahrwasser, entzücken das Auge, bis endlich, nach dreistündiger Fahrt aus dem dunkelgrünen Element, ein von Liebreizen umsäumtes stilles Heiligtum, bis die Insel Alsen am Horizont empordämmert. Und aus der winddurchrauschten Wasserwelt gleitet dann mit sanfter Fahrgeschwindigkeit der Dampfer zuletzt in die Sonderburger Bucht. Vor mir liegt das reizend ausgebreitete Städtchen; zur Linken erheben sich in Sundewitt die grünen Höhen von Düppel mit der weißen Mühle und dem Denkmal, und zur Rechten steigt, von Bäumen und Gebüsch umrahmt, das alte zweistöckige, graue Sonderburger Schloß dickmastig in die Höhe.
Rasch geht’s ins Hotel „Zum Holsteinischen Hause“, und nach schnellem Umkleiden beschreite ich die lange, eine erhebliche geschäftliche Regsamkeit durch große Schaufenster und vielfach angebrachte Schilder bekundende Hauptstraße. Bald liegt, nachdem ich zur Linken abgebogen bin, der Festplatz und das große Zelt vor mir, in das mich das Komitee zu einem Festfrühstück eingeladen hat. Rauschende Musik tönt mir entgegen. An langen Tafeln speisen und pokulieren die Vorstandsmitglieder und übrigen Teilnehmer, und kaum, nachdem ich neben dem eigentlichen Schöpfer und Vorsitzenden des großen nordischen Ringreiterfestes, Georg Hansen, und dem Landrat von Tschirschnitz Platz genommen, erfolgt auch schon der erste interessante Akt des heutigen Haupttages.
Der Vorsitzende begrüßt die Anwesenden und verteilt die Medaillen an diejenigen, die sich seit zehn Jahren – heute ist das zehnjährige Jubiläumsfest – regelmäßig zur Mitwirkung am Reiten eingestellt haben. Und Toast auf Toast, abwechselnd in dänischer und deutscher Sprache, folgt, dann bricht alles auf und begiebt sich zum Schloßplatz.
[606] Ein herrliches Bild bietet sich hier dar. Ein paar hundert Reiter in weißen Hosen und dunklen Jacken, mit bespornten schwarzen Stulpenstiefeln und weißen Jockeymützen regieren ihre kräftigen Pferde. Jeder trägt eine Lanze. Rote, lila, weiße, grüne, blaue Fähnlein wimpeln in der sonnendurchfluteten Luft. In Abteilungen stellen sie sich auf, mit einer staunenswerten Ordnung, mit einer verblüffenden Ruhe vollzieht sich alles. Fortwährend fliegt, wie ein Herrscher seine Truppen
musternd, Georg Hansen, ein junger Mann mit geschmeidigem Körperbau, sympathischen Gesichtszügen und in einer Haltung auf seiner feurigen Fuchsstute hin und her, als ob Roß und Reiter zusammengewachsen wären. Und dann setzt sich der Zug in Bewegung. Voran zwei Herolde in mittelalterlichem Kostüm, dann ein vierspänniger bekränzter Musikwagen mit Musikern in weißen Mützen, mit Jockeys in blutroten Jacken auf den Handpferden. Und abermals ein Musikantenwagen, voran vier Gäule, zwei mit wallenden Federbüschen auf den Köpfen, inmitten des langen Zuges, dem das nach Tausenden zählende Publikum nachströmt. Oben in der Hauptstraße habe ich mich aufgestellt, nachdem ich eiligst vorangeschritten bin, um den Gesamteindruck der bewegten Masse auf mich wirken zu lassen. In der Sonne schimmern die weißen Mützen der Reiter wie Silber, dazwischen all die nickenden Pferdeköpfe, darüber die bunten Fähnlein, zu seiten die Gebäude mit ihren roten Dächern, hellen Wänden, glitzernden Türmchen und Blitzableitern. Ein prächtiger, überaus malerischer Anblick!
Und nun ging es zurück zu dem lang ausgestreckten Festplatz mit all dem vielerlei, das zu einem Jahrmarkt und Volksfest gehört: den Karussells, den Buden, Zelten, Schiffsschaukeln, Bierhallen, Glücksrädern, Phonographen, Schießständen und Kraftmessern. – Zur Linken aber dehnten sich die Reitbahnen aus, sie, das Hauptstück des Festes, zu dem sich wohl achttausend Personen versammelt hatten. Am Ausgange einer jeden der von beflaggten Fahnenstangen eingefriedigten Reitbahnen befand sich ein schwebendes Seil, in
dessen Mitte ein eiserner Ring so in einer Klammer befestigt ist, daß er sich bei scharfer Berührung löst. Jeder Reiter legt nun, in Galopp vorwärts stürmend, seine Lanze ein und hat, während er unter dem Seil dahinfliegt, die Aufgabe, den Ring herauszustechen. Freilich, nur den Meistern gelingt diese Aufgabe der Geschicklichkeit. Knaben bedienen den Apparat mit dem Seil; ist ein Ring heruntergestochen, so wird ein neuer in die Klammer gefügt. Jeder Treffer wird notiert. Das Spiel ist für die Reiter von großem Reiz und für den Zuschauer ein außerordentlich anziehendes Schauspiel.
Welche schlanken und kernigen Gestalten, welche kraftstrotzenden, gleichsam aus der Ritterzeit stammende Gäule! Welche flottstürmende Gangart! Und immer so fort, stundenlang, nur dreimal am Nachmittage durch eine kurze Pause von zehn Minuten unterbrochen.
Schon herrschte auf dem Festplatz allüberall das lustigste Treiben. Zelt- und Reitermusik, Pferdegewieher, Klingeln, Johlen, Singen und Lachen, Drehorgelklang und Karussellbegleitung klang ohrenbetäubend durcheinander, als die Auffahrt der Augustenburger Herrschaften von Schloß Gravenstein her erfolgte. Die liebenswürdig leutselige Herzogin Adelheid, die Mutter unserer Kaiserin, steigt aus, begleitet von dem Herzog Ernst Günther, der Herzogin Ferdinand von Glücksburg und der Prinzeß Feodora von Augustenburg. Das Gefolge schließt sich an, und die vom Publikum freudig begrüßten Gäste wenden sich unter Herrn Hansens Führung dem Festplatze zu. Zuerst wird den Spielen der Jugend zugesehen, Wettlaufen, Topfschlagen, Stangenklettern und Eselreiten von eigenartig herausstaffierten mit grotesken Masken versehenen Jungen folgen einander, bis die Versammelten, immer begleitet von dem nachdrängenden Publikum, zu den Reitbahnen aufbrechen und diesem Geschicklichkeitskampf der Reiter und Pferde ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Erst nach einstündigem Aufenthalt erfolgt der Aufbruch. Die Wagen mit der Dienerschaft in silberbeknöpften Jacken und polnischen Mützen fahren vor, die Herrschaften nehmen Abschied.
Alsdann stürmt alles zur hohen, bekränzten Tribüne. Die Sieger erscheinen und empfangen, nachdem der letzte Wettkampf zwischen gleichbefähigten Ringreitern nach der vorgeschriebenen Ordnung ausgefochten, die Preise. Mit Lorbeerkränzen das Haupt oder die Brust umwunden, kehren sie zurück, von der Musik mit Tusch, vom Publikum mit einem brausenden Hoch begrüßt. Aber auch reiche Gaben, Reit- und Fahrutensilien und silberne Pokale von beträchtlichem Wert für den König und den besten Ringstecher werden verteilt. Dann ordnen sich die Reiter wieder zum Zuge, der, von der Menge begleitet, den Platz verläßt, mit Musik die Stadt [607] durchzieht, abermals auf dem Schloßplatz Halt macht und hier nach Ablieferung der Lanzen sich auflöst. Nun eilt alles den Vergnügungsorten zu, um sich bis zum frühen Morgen der Lust, dem Tanz, der Geselligkeit hinzugeben.
Alsen ist, wie das felsig emporsteigende Helgoland in der Nordsee, ein mit paradiesisch hingelagerten Ufern abgesondertes reizvolles Inselland in den Fluten der Ostsee.
Auch hier wohnt ein Geschlecht, das seine Eigenart sich bewahrt hat, das die Heimat mit allen Fasern der Seele liebt, das stolz ist auf seinen Boden, auf seine Fluren, das festhält an seinen heimatlichen Sitten, Gebräuchen und Gewohnheiten, das nichts Herrlicheres kennt als seine von der salzigen Woge umspülte Inselheimat. Und das durch diese Heimatliebe und diesen Heimatstolz sich immer wieder erstarkende Gefühl unzerreißbarer Zusammengehörigkeit eines urkräftigen, edlen, unabhängigen und doch überaus gesetzlichen Geschlechts ist es, was seine Mitglieder hier jedes Jahr aus dem gesamten Alsen-Sundewitter Kreise zusammenströmen läßt.
Wie in den griechischen Zeiten die Völker zu den korinthischen Spielen eilten, so schart sich in Sonderburg bei dieser Gelegenheit die Bevölkerung zusammen. Der Parteihaß ruht. Der Däne legt neben dem Deutschen die Lanze ein und tummelt sein Pferd.
An dem Wettkampf hat die Politik keinen Teil. Und gerade deshalb hat auch dieses Sonderburger Fest eine gewisse nationale Bedeutung.
Am folgenden Tage benutzte ich noch die Gelegenheit, mir einen Teil der Insel anzusehen. Ich fuhr durch einen blühenden Garten, ich fuhr durch ein kleines Paradies. Ich sah das weiße Gemäuer des Augustenburger Schlosses, das aus einem schöngepflegten Gartenvorpark sich erhebende weißschimmernde Prinzessinnen-Palais, durchstreifte den entzückenden Parkforst, weilte an den Ufern des Wassers, das ihn gleichsam zärtlich umsäumt, ließ in Höruphaff das Auge über das silbern schimmernde Meer schweifen und kehrte zurück in die anmutige Stadt mit ihren rührigen und liebenswürdig zuvorkommenden Einwohnern.
Und als ich am andern Morgen wieder auf dem Verdeck des Dampfschiffes stand, da schied ich mit Gefühlen heißer Sehnsucht nach Wiederkehr. Wer sich einmal gut thun will, abstreifen was ihn beengt und belastet, wer Geist und Körper stärken will, der bade hier in der wunderherrlichen Luft und in der erfrischenden Ostseeflut. Er gesundet unter den grünen nordischen Buchen, in denen ein vergnügtes Vogelvolk zwitschert, dessen Brust in diesem stillen Inselfrieden nur von dem Vollglück seligen Daseins durchdrungen scheint.
Roman von Ernst Eckstein.
(16. Fortsetzung.)
Gleich nach dem Ansturm des Doktor Ambrosius und seiner Schar, und während diese auf die Blutrichter eindrangen, erhob sich auch unter dem Volk, das den Richtplatz umstand, unerwarteter Lärm und wildes Getümmel. Jansen, der cholerische Buchdrucker, der selbst in gewöhnlichen Zeitläufen aussah, als sollte ihn augenblicklich der Schlag rühren, hatte hier geröteten Angesichts mit zahlreichen Gesinnungsgenossen Posto gefaßt. Der Hauptmann Fridolin Geißmar, der kleine hohlwangige Maler und Reißer Kunz Noll und andere Verschworene kommandierten hier ihre Getreuen, die sämtlich mit Dolchmessern oder Pistolen versehen waren. Jetzt, wie die handfeste Schar da unter Ambrosius herankam, warfen sich diese Aufrührer mit überlegener Macht rechts und links auf die Stadtsoldaten. Im Augenblick waren die überrumpelten Schergen entwaffnet. Die Speere erwiesen sich bei diesem Nahkampf wirkungslos. Der letzte der drei Soldaten, die Zeit gefunden, das kurze Schwert zu ziehen, ergab sich fluchend, als Doktor Ambrosius ihm die schwarzgähnende Mündung seiner Pistole unter die Augen hielt. – Bis auf einige Schrammen und eine kaum gefährliche Armwunde Fridolin Geißmars hatte der Sieg kein Blut gekostet.
Die Malefikantenrichter, die vor Schreck und Verblüfftheit unfähig waren, auch nur einen Finger zu rühren, wurden sofort in Haft genommen. Je augenscheinlicher die Rebellion triumphierte, um so rascher mehrten sich ihre Anhänger. Fast die gesamte männliche Jugend ergriff mit lauthallenden Zurufen Partei für Doktor Ambrosius, der jetzt glückstrahlend zu Hildegard Leuthold herantrat und die Taumelnde in seinen starken Armen liebevoll auffing. Die Armesünderpferde wurden im Nu abgedrängt und der Schandkarren umgestürzt, so daß seine Räder hilflos zum Himmel aufstarrten wie die vier Pranken eines verendeten Untiers. Den Henker trieb man mit Stockschlägen querfeldein und verhöhnte ihn weidlich. Seine Gehilfen hatten beim ersten Ausbruch der Feindseligkeiten sofort Reißaus genommen.
„Um Gott, was beginnt Ihr?“ stammelte in tiefster Erregung der Stadtpfarrer Melchers, auf Doktor Ambrosius zuschreitend.
„Was ich mußte, mein hochwürdigster Herr! Man hat mir die Waffe hier mit Gewalt in die Hand gezwängt, und nicht eher will ich sie niederlegen, als bis unser Glaustädt ein für allemal von den Bluthunden befreit ist.“
Dann zu Hildegard.
„O du armes gequältes Lieb! Nun aber bist du erlöst!“ Sie hatte bisher dem Kampf starr zugesehen. Auch jetzt noch schien sie zu fürchten, dieser tollkühne Angriff möchte zum Unheil ausschlagen. Ihr Verlobter aber drückte sie heiß ans Herz und sprach ihr in rasch geflüsterten Worten Mut ein.
„Hörst du, wie sie dort überall Sturm läuten? Sie wissen jetzt, daß unser Anschlag hier draußen geglückt ist. Sieh das weiße Tuch da im Wipfel der Edeltanne – unser vereinbartes Zeichen! Die Antwort von drüben wird, so Gott will, nicht ausbleiben.
Nun stieg Doktor Ambrosius auf den gestürzten Schandkarren, wie der Ritter St. Georg auf den Schuppenleib des getöteten Drachens. Mit lauter Stimme rief er dem Volk zu, was er jetzt eben zu Hildegard Leuthold gesagt hatte, daß die Verschwörung im Innern der Stadt mit dem erfolgreichen Ueberfall hier auf dem Böhlauer Trieb Hand in Hand gehe. Dann fuhr er mit hinreißender Eindringlichkeit fort:
„Mitbürger! Die Herrschaft des Blutgerichts hat ihr Ende erreicht! Glaustädt soll in Zukunft nicht mehr unter dem Joch dieser Buben zittern, die sich mit Folter und Henkerbeil in eure Familien gedrängt und dies einst so lebenslustige, reiche Gemeinwesen an den Rand der Verzweiflung gebracht haben. Unser Aufstand ist von langer Hand vorbereitet. Mein Freund Woldemar Eimbeck hat wohl in dieser Minute schon das Rathaus besetzt und die armseligen Ratsherren, die dem Blutgericht günstig waren, jeden für sich daheim in der Wohnung festnehmen lassen. Das Gleiche geschieht mit dem landgräflichen Kommissarius und etlichen hohen Verwaltungsbeamten. Ueber zweihundert Mann werfen sich auf die Stadtwache; ein Teil der Soldaten ist schon längst für uns gewonnen. Sollte sich noch hier oder da ein unerwartetes Hemmnis ergeben, so rechnet Glaustädt auf eure Hilfe! Wenn ihr eure Vaterstadt liebt, so schart euch todesmutig zu uns! Gelobt euch, ihre Freiheit und ihr Recht zu verteidigen bis auf den letzten Blutstropfen!“
„Hurra!“ brauste es durch die Masse. „Ja, das geloben wir! Gott ist Zeuge! Es lebe die Vaterstadt! Es lebe Doktor Ambrosius!“
„Ich danke euch, Mitbürger! Selbst der Landgraf soll nicht befugt sein, diese Freiheit und dieses Recht anzutasten. Als gute Deutsche wehren wir uns straff gegen jedermann, und trüge er gleich ein halbes Dutzend Kronen zu Lehen. Glaustädt wendet sich nötigenfalls an den Kaiser! Und wir haben da einen gar mächtigen Fürsprecher, den Fürsten Maximilian von Dernburg, der nicht zugeben will, daß eine ehemalige Freie Reichsstadt zu gunsten etlicher fanatischer Wucherer und Schachergesellen vernichtet werde. Und Wucherer und Schachergesellen sind sie, diese [608] gewerbsmäßigen Hexenrichter. Furchtbare Alchimisten, die sich auf die gewinnreiche Kunst verstehen, aus Menschenblut Gold zu machen!
Er schwieg. Tosender Beifall umbrandete ihn. Die wenigen Stimmen, die sich noch für die Schreckensherrschaft des Balthasar Noß hätten erheben können, verstummten klüglich vor dem Ueberschwang dieser allgemeinen Begeisterung. Uebrigens glaubte hier jedermann, die Verschwörung umfasse weit größere und einflußreichere Kreise, als dies wirklich der Fall war.
„Auf nach der Stadt!“ scholl es tumultarisch aus hundert und aber hundert kampflustigen Kehlen.
Im Untergehölz der Wolfskante lagen noch einige hundert Flinten nebst Munition, sowie eine Kiste mit breiten Dolchmessern. Dieser Vorrat wurde alsbald verteilt. Auch die Schwerter und Spieße der überwältigten Stadtsoldaten fanden bereitwillige Abnehmer. Die übrigen bewaffneten sich mit Keulen und Knütteln, die man, so gut es ging, von dem Nachwuchs der Tannen und Fichten losriß. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde es ja zu keinem Zusammenstoße mehr kommen, aber besser war besser.
Einem Bauern, der mit seinem Planwagen die Straße daher kam, ward das Gefährt abgemietet, da sich Hildegard doch zu schwach fühlte, um die weite Strecke zu Fuß zu machen. Sie sollte nur damit auf dem geradesten Wege in ihr Daheim gebracht werden, wenn man inzwischen Kunde bekam von dem endgültigen Sieg Woldemar Eimbecks. Andernfalls wollte man sie noch vor dem Gusecker Thor in vorläufige Sicherheit bringen.
Während man ihr mit Heu und zwei leeren Säcken ein bequemes Lager zurecht machte, trat Doktor Ambrosius zu Balthasar Noß. Er spürte den wilden Drang, die Bestie in Menschengestalt, die da so feig und so aschfahl zu Boden sah, hier auf dem Fleck die schurkische Niedertracht heimzuzahlen. Schon hob er die Schußwaffe. Da fiel sein Blick auf die sonnenüberglänzte Stadt, von deren Türmen so machtvoll mahnend die Sturmglocken ertönten. Es ward ihm klar, daß er die Sache seiner geliebten Heimat nie und nimmer durch einen Akt persönlicher Rachsucht entweihen dürfe. Und er begnügte sich, dem Blutrichter ein Wort heißer Verachtung ins Antlitz zu schleudern und ihm von Ekel erfüllt den Rücken zu kehren.
Adam Xylander inzwischen hatte dies alles stieren, verglasten Auges wortlos mitangesehen. Der Eindruck beherrschte ihn, als vollziehe sich hier ganz ordnungsgemäß ein von der Gottheit verhängtes Strafgericht. Denn – so folgerte sein krankhaft erregter Geist – wenn Gott der Herr die Verurteilung Hildegard Leutholds gebilligt hätte, dann hätte er ihre Befreiung durch die Aufrührer niemals zugelassen. Das Verdikt war also zu Unrecht. Er, Doktor Xylander, hatte sich hier – das erste Mal, seit er als Beisitzer mitwirkte – schmählich zum Nachteil einer schuldlosen Inkulpatin geirrt …
Der helle Wahnsinn, der so lange schon auf ihn gewartet hatte, brach in diesem Augenblick aus. Nur mit Mühe gelang es den Leuten des Buchdruckers Jansen, den Tobenden zur Ruhe zu bringen und seine Fortschaffung ins Siechenhaus in aller Stille zu bewirken.
Und nun setzte sich der Zug der Verschworenen und ihrer zahlreichen Mithelfer schnell in Bewegung. Ein Jubelruf glitt von den Lippen der Eingeweihten … Jetzt eben stieg am Turm der Marienkirche stolz wallend eine hellblaue Fahne empor. Das war die Botschaft Woldemar Eimbecks! Auch dort hinter den Stadtmauern war die Umwälzung vollkommen geglückt.
„Sei nun getrost, mein Liebling!“ flüsterte Doktor Ambrosius, neben Hildegard einherschreitend. „Alles geht uns nach Wunsch. Und wenn wir dann unwiderruflich gesiegt und die Heimat für immer von ihrem Elend befreit haben, dann – du weißt …“
„Und wenn es euch fehlschlägt …?“
„Es wird nicht. Und schlimmstenfalls findet sich eine Zufluchtstätte, fern ab von hier – jenseit des Oceans …“
Weiter sprachen sie nichts. Ihre Herzen waren zu voll. Die plötzliche Rettung aus den Griffen der Henker hatte auf Hildegard fast betäubend gewirkt. Ihre Gedanken wogten dahin wie farblose Nebel. Ab und zu nur schwebte ihr mit plötzlicher Klarheit ein beklemmendes Bild vor. Ihr teurer Vater – bewußtlos – in leisem Röcheln einsam dahinsterbend …. Aber die unendliche Mattigkeit, die ihr jetzt alle Nerven umspann, hinderte sie, diese grausame Vision lange festzuhalten.
Das erste, was nun in Glaustädt geschah, war die Neukonstituierung des Rates und die Ernennung des wackeren Notars Rolf Weigel zum Bürgermeister. Herr Georg Kunhardt schien trotz seiner persönlichen Achtbarkeit nicht der geeignete Mann, unter den obwaltenden Schwierigkeiten dies Amt weiterzuführen.
Gleichzeitig traf der Hauptmann Fridolin Geißmar die nötigen Vorkehrungen zur Bildung einer kampftüchtigen Bürgerwehr. Man rüstete sich mit Anspannung aller Thatkraft für die Möglichkeit eines feindlichen Angriffs. Man holte aus dem uralten Zeughaus ein Dutzend noch sehr verwendbarer Kanonen hervor und armierte die Stadtwälle. Die Begeisterung der Glaustädter Bevölkerung, zumal der männlichen Jugend, wuchs zusehends.
Während Fridolin Geißmar so die Verteidigung vorbereitete, übernahm es der Reißer und Maler Kunz Noll, die Malefikantenabteilung des Stockhauses aufschließen zu lassen und sämtliche Angeklagte in Freiheit zu setzen. Es war ein erschütternder Anblick, wie diese unglücklichen Männer, Weiber und Kinder herausströmten in das rosige Licht des ebbenden Sommertages, – zum Teil wortlos und wie in Stein verwandelt, zum Teil jauchzend, schreiend und betend oder laut ihre Unschuld beteuernd. Die armen Insassen der Krankenabteilung schaffte man sofort auf Bahren und Tragstühlen ins städtische Siechenhaus, darunter Brigitta Wedekind, die Ehewirtin des Zunftobermeisters, die sich während der letzten vier Tage zwar auffällig erholt hatte, aber doch immer noch sehr der Schonung benötigte. – Der neugebildete Rat nahm sich alsbald sämtlicher Freigelassenen hilfreich an, ließ sie einstweilen auf Kosten des Stadtsäckels verpflegen, teilte zur Entschädigung für das erlittene Unrecht mehrfach Geldspenden aus und schritt gegen jedermann, der sich in herkömmlicher Thorheit erlaubte, die ehemaligen Inkulpaten als anrüchig zu bezeichnen, mit unerbittlichster Strenge ein. Auch sollte demnächst ein vorurteilsfreies Kollegium von Rechtsgelehrten damit beauftragt werden, die Haltlosigkeit der vorgebrachten Beschuldigungen in jedem einzelnen Fall nachzuweisen.
Zugleich mit den Opfern der Hexenverfolgung ward auch der Zunftobermeister Karl Wedekind aus seiner kurzen Haft befreit. Woldemar Eimbeck schlug in Gemeinschaft mit dem Reißer und Maler Noll vor, den schwer gekränkten und geschädigten Mann, der sich mit seinem persönlichen Angriff wider Balthasar Noß nur einer wohlbegreiflichen und entschuldbaren Ausschreitung, aber keines die Achtung untergrabenden Frevels schuldig gemacht habe, als Vertreter einer der angesehensten Zünfte mit in den Rat zu nehmen, was denn unverzüglich genehmigt wurde.
Noch an demselben Tage hielt der neukonstituierte Rat eine langwierige Sitzung ab. Man beleuchtete umständlich die Lage, erörterte unter lebhaftem Gegeneinanderprallen der Geister alle Wahrscheinlichkeiten, äußerte vielfache Bedenken und war zuletzt nur über den einen Punkt klar, daß man die schönen Errungenschaften dieses glorreichen Tages festhalten und verteidigen müsse um jeden Preis. Wie man sich aber zum Landgrafen und der Regierung in Lich stellen solle, was für Maßregeln hier zu ergreifen seien, um angesichts dieser offenen Rebellion doch den Schein getreuer Unterthanenschaft aufrecht zu erhalten und so den immerhin schwer bedenklichen Anmarsch landgräflicher Truppen zu hintertreiben, darüber konnten sich die erregten Gemüter nicht einigen. Rolf Weigel war eben schon im Begriff, die Sitzung zu schließen, als der Zunftobermeister Karl Wedekind aufstand und mit leise zuckender Lippe ums Wort bat. Da Rolf Weigel ihm freundlich zunickte, sprach er wie folgt:
„Herzliebe Freunde und Mitbürger! Schenkt mir ein kurzes Gehör! Ich bin ja freilich nur ein schlichter, einfacher Mann, aber das große Leid, das ich erduldet, hat mir die Sinne und den Verstand gar sonderbarlich geschärft. Eh’ ich hier eintrat, war ich bei meiner Ehewirtin, die just auf ein Tragbett gelegt wurde, um den getreuen Pflegerinnen des städtischen Siechenhauses überantwortet zu werden. Und als ich ihr so in die thränenden Augen sah, da überkam’s mich wie eine plötzliche Offenbarung! Herzliebe Freunde und Mitbürger! Wenn ihr vertraut und mir Vollmacht gebt, so mach’ ich mich anheischig, unserem Landgrafen ehestens ein Aktenstück vorzulegen, das ihn wohl stutzig machen und seinen Hexenglauben gründlich erschüttern soll. Ist dies aber geschehen, so wird der Herr Landgraf wohl
[609][610] auch geneigt sein, unser Verfahren gegen Balthasar Noß gut zu heißen und die Wandlung, die sich jetzt hier in Glaustädt vollzogen hat, nachträglich anzuerkennen. Er hielt einen Augenblick inne.
„Gott’s Donner!“ rief der Buchdrucker Jansen. „Ihr sprecht zuversichtlich!“
„Also wie einer, der seine Zusage halten wird!“ meinte der Ratsbaumeister.
„Erklärt Euch genauer!“ scholl es von allen Sesseln.
Ueber das Antlitz des Zunftobermeisters glitt ein verschlagenes Lächeln. „So, ihr gestattet,“ fuhr er mit ruhiger Siegesgewißheit fort, „möcht’ ich die Einzelheiten des Planes, den ich mir ausgedacht, vorläufig geheim halten. Ich bitt’ euch, vergönnt mir das! Um euch für die Brauchbarkeit meines Vorhabens ausreichende Bürgschaft zu geben, will ich hier gleich den Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck, dem ihr doch volles Vertrauen schenkt, kurz von der Sache in Kenntnis setzen. Wenn der mir beistimmt und meinen Einfall für gut erklärt, dann könnt ihr mir wohl ohne Besorgnis Vollmacht erteilen. Morgen schon werd’ ich euch dann das gewichtige Aktenstück zeigen können. Haltet ihr’s dann, wie ich bestimmt erwarte, für zweckmäßig, so beauftragen wir das neue Stadtoberhaupt, nach Lich zu reisen, um dem Herrn Landgrafen unsere Wünsche und Hoffnungen mit dem in Rede stehenden Aktenstück gleichzeitig vorzulegen.
„Gut, gut!“ rief eines der alten Ratsmitglieder. „Herr Woldemar Eimbeck mag sich mit Euch besprechen und dann vermelden, was er von Eurem Plan hält.
„In so ernstschwieriger Lage muß man alles versuchen,“ meinte der Buchdrucker Jansen beifällig.
Karl Wedekind also begab sich mit Woldemar Eimbeck ins Nebengemach. Dort setzte er dem eifrig lauschenden Ratsbaumeister kurz auseinander, was er im Schilde führte.
„Ausgezeichnet!“ sagte der Ratsbaumeister. „Aber weshalb thut Ihr mit Eurem Plan so geheimnisvoll? Ihr könntet das doch offen heraussagen.“
„Weil ich fürchte, die Ratsversammlung möchte mir am Ende die Ausführung aus der Hand winden. Und das will ich um keinen Preis.
„Also, es bleibt dabei ich verrate nichts, und Ihr selber geht noch heute ans Werk. Je früher, je besser. Wir haben bei dem gestrengen Herrn Landgrafen keine Zeit zu verlieren.“
Nach fünf Minuten traten die beiden Männer zurück in den Sitzungsraum.
„Liebwerte Freunde und Mitbürger!“ sprach Woldemar Eimbeck. „Auf meine Verantwortung, ihr könnt es getrost mit dem Vorhaben des Herrn Zunftobermeisters versuchen. Nach allem, was ich von der Persönlichkeit unseres Landgrafen weiß, bedünkt mich die Sache im höchsten Grade aussichtsvoll. Ich stelle daher den Antrag, daß man dem Zunftobermeister Karl Wedekind unbeschränkte Vollmacht erteile, seinen mir kundgegebenen Plan zu verwirklichen. Zu diesem Behufe müßte das neuernannte Stadtoberhaupt ihn jetzt gleich unter vier Augen zu dem autorisieren was Herr Karl Wedekind von ihm verlangen wird. Seid ihr mit diesem Vorschlag einverstanden?“
Das Ansehen Eimbecks unter den neuen Ratsherren war so groß, daß man ihm augenblicks zustimmte. Ueber die Züge Karl Wedekinds flammte ein wildes Aufleuchten. Der urwüchsige, starkfühlende Mensch dachte in dieser Minute wohl ungleich lebhafter an das eigene Weh als an das Schicksal von Glaustädt.
So schloß die Versammlung. Karl Wedekind verfügte sich mit dem Notar Weigel ins Bürgermeisterzimmer, teilte ihm alles Notwendige mit und erhielt von dem ernst dreinschauenden Herrn die gewünschte Ermächtigung.
„Haltet nur Maß!“ flüsterte Weigel, als sich der Zunftobermeister mit der feierlich untersiegelten Autorisation auf den Weg machte.
„Keine Sorge, vielteurer Herr! Ich verfahre nur ganz ordnungsgemäß! Auf Wiedersehen morgen um acht Uhr früh!“ Und somit ging er ans Werk.
Doktor Ambrosius hatte dieser Versammlung im Rathaus nicht angewohnt. Von sechs Mitverschworenen begleitet, war er dem Planwagen gefolgt, der die erschöpfte Hildegard nach ihrem einst so glücklichen Heim führte.
Durch Woldemar Eimbeck war Doktor Ambrosius schon längst benachrichtigt worden, daß sich die Krankheit Franz Engelbert Leutholds nach wie vor traurig dahinschleppte. Die Wirtschafterin Gertrud Hegreiner hatte zwar alles aufgeboten an treuer, hingebender Pflege, auch die Anordnungen des alten Stadtmedikus, der seit der Flucht des Doktor Ambrosius den Patienten behandelte, redlich erfüllt, aber das Fieber mit seinen immer wiederkehrenden Ausbrüchen von stürmischer Unrast und schreckhaften Delirien wollte und wollte nicht nachlassen. Der Stadtmedikus hatte noch gestern abend erklärt, falls nicht binnen kürzester Frist ein Umschwung zur Besserung eintrete, solle sich Gertrud Hegreiner auf das Schlimmste gefaßt halten. Aerztliche Kunst sei hier vollständig machtlos.
Seit jener herzerschütternden Sinnestäuschung, die ihm das Kleppen des Armesünderglöckchens in das feierliche Gebrause der Hochzeitsglocken verwandelt hatte, lag Franz Engelbert Leuthold still und bewegungslos in den Kissen. Gertrud Hegreiner hatte zwei- oder dreimal durch den Thürspalt der Nebenkammer gelugt, ohne eine Veränderung wahrzunehmen. Das Herz stockte ihr fast in trübseliger Vorahnung. Der mehrstündige Schlaf, der seine Fittiche über den Kranken spreitete, schien ihr der unheimliche Vorläufer des Todesschlafes. Zuletzt hatte sich Gertrud mit dem Gedanken, daß nun alles zu Ende sei, weinend zurecht gefunden. Es war ja das beste so für diesen ewig bejammernswürdigen Mann, dessen alles und eins da draußen vor der herzlos gaffenden Menschenmenge elend geschlachtet wurde.
Dann kamen die Wellenschläge der großen Ereignisse langsam herangerollt. Erst als dunkle Gerüchte. Dann immer klarer und deutlicher. Und zuletzt in Gestalt des geretteten Opfers und ihres Befreiers. Jetzt erst verlor Gertrud Hegreiner ihre Fassung. Sie fand nicht Worte, die Heimkehrende zu begrüßen. Nur stumm, unter rollenden Thränen, zog sie die Hand des Mädchens an ihre Lippen und sank zuletzt, übermannt von ihrer Gemütsbewegung, leichenblaß auf die Ruhebank.
Doktor Ambrosius redete seiner Braut zu, sich sogleich zur Ruhe zu legen. Hildegard aber weigerte sich, verlangte vielmehr an Stelle ihres zerknitterten und verstaubten Kleides ein frisches Gewand. Bevor sie sich niederlegte, wollte sie ihren todkranken Vater sehen. „Gut!“ sagte der junge Arzt. „Ich möchte dich zwar vor jeder Aufregung hüten, aber du hättest ja doch keine Ruhe. Nur erlaubst du mir, daß ich zuerst gehe. Kleide dich unterdes um!
„Weshalb willst du nicht auf mich warten?“ frug Hildegard mit einem Blick auf die verstört dreinschauende Gertrud. „Geh’ in mein Wohnstübchen! Ich komme in fünf Minuten.“
Doktor Ambrosius strich ihr beschwichtigend über die Wange.
„Wir zwei auf einmal – das möchte ihm leicht zu viel werden. Er schläft nun bereits mehrere Stunden lang. Nach diesem tiefen Schlummer könnte er das Bewußtsein wieder erlangt haben. Stehst du dann in leibhaftiger Gegenwart vor ihm, so weiß ich nicht, ob er den Anprall aushält.
Was Doktor Ambrosius da flüsterte, war nur halb seine Meinung. In der That konnte der freudige Schreck, wenn er so ganz ohne Vorbereitung hereinbrach, den Kranken zu Grunde richten. Mehr noch aber als diese Wendung schwebte dem Arzt die Möglichkeit eines Unheils für seine Hildegard vor. Wenn Franz Engelbert Leuthold, wie das die Wirtschafterin offenbar fürchtete, schon die Augen für ewig geschlossen hatte …?
Hildegard fügte sich. Während sie sich hochklopfenden Herzens auf ihre Bettstatt setzte, begab sich Doktor Ambrosius, von Gertrud begleitet, hinüber ins Krankenzimmer. Franz Engelbert Leuthold atmete ruhig und gleichmäßig. Die abgemagerten Hände lagen ruhig auf der Wolldecke. Der junge Arzt tastete ihm vorsichtig nach dem Puls. Höchstens fünfundsiebzig bis achtzig Schläge. Die Haut fühlte sich etwas feucht an.
Als Doktor Ambrosius wieder zurücktrat, fing der Patient an, sich zu regen. Die eingesunkenen Lider hoben sich langsam. Trotz der wohlthuenden Dämmerung, die in dem Krankenraum herrschte, sah Herr Leuthold wie geblendet umher. Beim Anblick des schwarzgekleideten Mannes, der da mit Gertrud abseits stand, schrie er laut auf. „Doktor Ambrosius! Was wollt Ihr? Ich seh’ es Euch an … Sie ist tot! Sie ist tot!“
Es war herzzerreißend, wie sich das bleiche, hohle Gesicht bei diesen Klagelauten verzerrte. Doktor Ambrosius aber fühlte [611] sich eben deshalb in seiner Hoffnung bestärkt, daß die endlich hier eingetretene Krisis zu einem günstigen Ausgange führen werde. Der Magister hatte ihn klar erkannt und war sich der ganzen Situation augenscheinlich bewußt. Nun galt es, dem Gramgebeugten die erlösende Wahrheit beizubringen und ihm so den Frieden des Herzens wiederzugeben.
Der geradeste Weg war hier vielleicht der beste.
„Bei meiner Ehre und Seligkeit,“ sagte Doktor Ambrosius, „Eure Hildegard lebt! Und mehr noch: sie ist befreit!“
Herr Leuthold starrte ihn wie gelähmt an.
„Zweifelt nicht!“ fuhr der Arzt fort. „Sie weilt hier sogar im Hause. Wollt Ihr sie sehen?“
Und da schlüpfte sie auch schon durch die Thüre des Krankenzimmers, schlank und lieblich wie einst, das gekürzte Haar mit einem turbanartig geschürzten Tuch überdeckt, die Wangen vor heiliger Freude gerötet, so daß man ihr kaum noch ansah, was sie in diesen letzten Tagen erduldet hatte. Sie war den Zweien sofort nachgeschlichen, hatte gelauscht und mit unsagbarem Jubel gehört, daß der verehrungswürdige Dulder da drinnen bei vollem Bewußtsein war.
„Vater!“ sprach sie mit ihrer weichen, goldklaren Stimme. „Herzlieber Vater!“ Im nächsten Moment lag sie kniend vor seiner Bettstatt und küßte ihm zärtlich die welken Finger.
Ueber das Antlitz des alten Herrn flog ein glückseliges Lächeln. Dann umflorten sich seine Blicke. Er sank ohnmächtig in die Kissen zurück.
„Fürchtet nichts!“ sagte Doktor Ambrosius. „Diese Anwandlung wird vorübergehen. Er ist furchtbar erschöpft aber so Gott will, erholt er sich, ehe der Mond sich rundet. Jetzt jedoch zu dir, mein Liebling! Auch du bedarfst dringend der Ruhe! Geh nun und laß dich zu Bett bringen! Versuche zu schlafen!“
„Ich kann nicht schlafen,“ versetzte Hildegard. „Aber wenn du’s erlaubst, will ich mich drüben im Wohnzimmer auf die gepolsterte Bank strecken und ohne mich zu bewegen dir zuhören … Nicht wahr, mein Freund, ein kurzes Stündchen noch leistest du mir Gesellschaft? Und du erzählst mir, wie das alles gekommen ist.
Da jetzt Gertrud voranschritt, legte Hildegard zärtlich die Stirn an Gustavs Schulter. „Du mein Alles, mein Glück, mein Befreier!“ klang es von ihren Lippen.
Ein langer, inbrünstiger Kuß war die Antwort.
Und als sich Hildegard dann auf die gepolsterte Bank niedergelegt und ihren turbanumwundenen Kopf mit einem widerstandsfähigen Rundkissen gestützt hatte, ließ sie sich von Doktor Ambrosius erzählen, wie alles gekommen. Die Umsicht und Thatkraft, mit der das Rettungswerk schier über Nacht in Scene gesetzt worden, flößte ihr unbeschreibliche Bewunderung ein. Das Schicksal der toten Elma entlockte ihr eine Flut von Thränen.
„Und nun – leb’ wohl!“ rief Doktor Ambrosius aufspringend. „Noch darf ich die Hände nicht in den Schoß legen. Es giebt mancherlei Arbeit – und vielleicht einen Kampf!“
„Das verhüte der Himmel!“
„Sei du nur unbesorgt! Dich, mein Herz, bring’ ich in Sicherheit, eh’ noch das erste Gewölk aufzieht. Und so schnell wird’s ja nicht loswettern!“
(Schluß folgt.)
Die Kriegergräber bei Metz. Ein herrlicher Sommertag ist es. Wir stehen auf dem Plateau des Gedenkturmes von Gravelotte und schauen nieder auf die sich vor uns breitenden, in tiefer Ruhe daliegenden Schlachtfelder des 16. und 18. August. „Also hier war es,“ beginnt mit leiser gedrückter Stimme, überwältigt von den über sie hereinstürmenden Eindrücken des Augenblickes, meine Frau, und ihre zitternden Finger umschließen fester meine Hand, „hier war es, wo du zum erstenmal dem Tode gegenüberstandest?“ „Ja, an jenem Grabenrande muß es gewesen sein, wo ich damals den Schuß bekam und für tot, mit dem letzten Gedanken an dich, mein blutjunges Weib, hinter jenen breiten großen Stein sank, der mir bis dahin eine so treffliche sichere Deckung geboten hatte gegen die wie Bienenschwärme einherschwirrenden Kugeln der Rothosen; und hier, an jenem Gebüsch, wo jetzt das große Steinkreuz zu uns herüberschaut, da muß der freundliche Feldscher mich wieder zum Leben erweckt haben, zum frischen, fröhlichen Kriegerleben, denn jene Zuavenkugel hatte mich ja nur die Helmspitze gekostet und der Ruck der Schuppenkette unterm Kinn mir nur vorübergehend Atem und Besinnung genommen.
Wie die Zeit dahingeht – 27 Jahre – fast wie ein Traum ist es nur, daß wir beide, vereint, jetzt auf dem friedlich lachenden Gefilde einhergehen, wo damals der Tod seine überreiche gräßliche Ernte einheimste. Nur die ernsten Kreuze dort, die stillen grünhügeligen Schlummerstätten der Tausende von kräftigen blühenden mutigen Menschen – sie reden von jenen blutigen, schrecklichen Tagen. Wie schön und liebevoll sind diese Gräber gepflegt und geschmückt! Das ist zum großen Teil das Verdienst der ,Vereinigung zur Schmückung der Kriegergräber bei Metz’, welche in unermüdlicher Weise ihres Amtes waltet. Aus ihrem Bericht erzähle ich meiner ganz still gewordenen Frau, daß hier die Gebeine von über 10 000 deutschen und fast ebenso vielen französischen Helden modern. Jene 76 Denkmäler, die sich neben 422 Denksteinen und 1981 Grabkreuzen über das Blachfeld verstreut, sind die Ehrenzeichen für die Unvergessenen. Aber neben den 1485 Hügeln, unter denen man die Gefallenen bestattete, erheben sich noch 994 Gräber, von denen man nicht genau weiß, ob Feind oder Freund in ihnen zum ewigen Schlaf gebettet liegt, und doch zählen die darin Begrabenen wieder nach Tausenden!
Oft ruhen Deutsche und Franzosen friedlich in einem Grabe nebeneinander, so, nach einer darauf befindliche Inschrift, in dem großen Massengrabe Nr. 1–3 bei Vionville 2000–3000 Deutsche und Franzosen. Auf diesem größten Grabe des Metzer Schlachtfeldes soll demnächst durch die „Vereinigung zur Schmückung der Kriegergräber bei Metz“ ein steinernes Denkmal errichtet werden, für andere größere Massengräber wird ein Gleiches kommenden Jahren vorbehalten.
Auch sonst regt sich noch vielerwärts das Interesse für die gefallenen Kameraden. So errichteten die Veteranen des Rheinischen Jägerbataillons Nr. 8 jetzt am Saume der Schlucht von Gravelotte ein schönes Denkmal. Mitten im Waldesgrün steht auf hohem Unterbau die 3 m hohe Bronzefigur eines „achten“ Jägers, mit der Hand nach dem nahen Pachthof St. Hubert zeigend. Zu seinen Füßen im Grunde der Schlucht liegt, friedlich gebettet, ein Jägergrab. In diesem Waldthale ist es, wo alljährlich am 15. August die Gedenkfeier für die Gefallenen abgehalten wird.
Im Oktober d. J. wollen ferner ehemalige Krieger des 8. Westfälischen Infanterieregiments Nr. 57 ein Regimentsdenkmal bei Vionville einweihen, weitere Denkmäler werden im Jahre 1900 von ehemaligen Angehörigen des 3. Garderegiments zu Fuß bei St. Privat und von alten Kameraden des 3. Ostpreußischen Grenadierregiments Nr. 4 bei Lauvallières (Colombey) errichtet werden.
Im Jahre 1900 werden wohl nochmals wie an den 25jährigen Gedenktagen Tausende von Veteranen die zahllosen Grabsteine ihrer gefallenen Kameraden besuchen. Nach der Entschließung des Kaisers sollen alle Kriegergräber auch fernerhin erhalten bleiben und Aufhebungen und Zusammenlegungen, wie sie vor mehreren Jahren begonnen wurden, nicht mehr stattfinden. Die „Vereinigung zur Schmückung der Kriegergräber“ findet so auch in Zukunft ein reiches Feld der Thätigkeit. Alle die genannten 2479 Grabstellen werden im August jeden Jahres mit neuem Schmuck versehen. Keins der in 104 verschiedenen Gemarkungen oft weit versteckt in Wald und Feld gelegenen Gräber bleibt vergessen, und Freund und Feind werden bei dieser schönen Aufgabe gleich liebevoll bedacht. Aus allen Gauen Deutschlands fließen noch immer Gaben für dieses Werk der Dankbarkeit, das allen Vaterlandsfreunden zur Unterstützung warm empfohlen sei.
„Und wohin sind die Gaben zu richten?“ fragt meine Frau.
„Auch hierüber giebt der Bericht Auskunft. Kranzspenden möge man an den Vorsitzenden der Vereinigung, Herrn Fischer in Metz, Geldspenden an den Schatzmeister derselben, Herrn Jonas in Metz, senden. Für jeden Geldbeitrag erfolgt dankbar Quittung durch Brief und öffentlich durch den Jahresbericht, welcher umsonst an die Spender verteilt wird und außerdem gegen Einsendung von 50 Pfennig vom Vorstand der erwähnten Vereinigung bezogen werden kann.“
Daß meine Frau, nach Hause zurückgekehrt, einen tüchtigen Griff in ihre Sparkasse that und bald einen Geldbrief nach Metz absandte, habe ich, obwohl es in aller Stille geschah, wohl bemerkt und mich herzlich darüber gefreut.
Unterstand. (Zu dem Bilde S. 600 und 601.) Ein Wetter, schon auf halber Höhe des Aufstiegs zum „Kellerjoch“, den nach langem Zaudern und Ueberlegen endlich heute die Mutigen der Fremdenpension unternahmen – unbegreiflich, unerlaubt nach dem Barometerstand von gestern Abend! Die Wetterkundigen der Gesellschaft, der Herr Professor und der englische Reverend, waren einig über die vorzügliche Aussicht nach längerer Regenzeit, man brach um fünf Uhr morgens drunten im Zillerthal auf, die Damen stiegen ausgezeichnet, es herrschte eitel Lust und Freudigkeit über die herrliche Partie. Aber um acht Uhr schon – o weh! – kamen die bekannten Vorboten: der starke Südwind, die Tintenbläue der Berge, die rasch aufschießenden „Windbäume“ am Himmel. Und nun: dunkles Grau überall, Blitze und rollender Donner! Man muß noch Gott danken für den trockenen Unterstand in der Almhütte hier, den sich auch andere Bergkraxler, Holzknechte, Jäger und Boten zu nutze machten, welche breit und bequem ihren Platz am Tisch behaupteten und mit einem gewissen humoristischen Behagen das mißgestimmte „Stadtvolk“ an der Thür dort betrachten. Der Sennerin pressiert es nicht mit dem Kaffeekochen, sie überläßt das ruhig dem Führer, der ihr alle die „Herrischen“ da hereinbrachte; sie ist noch weit [612] entfernt von der industriellen Ausbeutung derartiger Schicksalsfälle und wird das Nachlassen des Wetters mit ebensoviel Erleichterung begrüßen wie die verunglückten Bergwanderer selbst. Eine nur unter diesen betrachtet das unliebsame Intermezzo als Gewinn: die lebhafte Schriftstellerin, welche die Gelegenheit zum Studium des tiroler Gebirgsvolks nicht unbenutzt vorüber lassen will, aber auf ihre vielen Fragen die zweideutig schlauen Antworten erhält, deren verborgener Sinn die große Heiterkeit der zuhorchenden Bauerngemüter erregt. Eine Ahnung davon scheint ihrer schweigenden Nachbarin aufzugehen, während die männlichen Geistesgrößen der Gesellschaft sich von den Vorgängen in der Hütte ganz abkehren und nicht nur den Wiederabstieg ins Thal, sondern, an der Hand des Taschenfahrplanes, den Rückzug überhaupt besprechen. Sie haben es satt, gründlich satt, das ewige Regenwetter, sie werden diesem allzu grünen Zillerthal den Rücken wenden und nach ihren Städten zurückkehren, wo es sich auch im Regen angenehm und bequem lebt. Und ihre Damen sind, wie immer, ganz derselben Meinung.
Das alles liest man mit stiller Belustigung aus dem Bild des Meisters, der uns schon so viel prächtige Schilderungen aus Tirol malte und hoffentlich noch viel weitere schenken wird! Bn.
Hans Ferdinand Maßmann. Trübe Zeiten herrschten in Deutschland nach den glorreich ausgefochtenen Befreiungskriegen. Napoleons Macht war gebrochen, das Joch der Fremdherrschaft abgeschüttelt, aber diejenigen, die das deutsche Volkstum geweckt und zum Kampf gegen die äußere Vergewaltigung aufgerufen hatten, sahen sich in ihren schönsten Hoffnungen getäuscht. Dem Gedanken der Einigung und freien Ausgestaltung Deutschlands war in der Reaktion ein neuer Feind erstanden. Damals, im Jahre 1819, mußte auch einer der eifrigsten Jünger des Turnvaters Jahn den Druck der Verfolgung fühlen. Es war der zweiundzwanzigjährige Hans Ferdinand Maßmann. Aus Erlangen, wo er Naturwissenschaften studieren wollte, wurde er ausgewiesen und in Eisenach, wo er nach einem angestrengten Marsche ausruhen wollte, ihm das Rasten verboten. So zog er weiter und auf dem Wege zwischen Eisenach und Jena dichtete er das herrliche Lied: „Ich hab’ mich ergeben“.
Das Lied wurde volkstümlich wie wenige andere und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt hat es in den Herzen der heranwachsenden Jugend die Liebe zum Vaterlande gestärkt. Es genügte schon allein Maßmann ein treues Andenken im Herzen des deutschen Volkes zu sichern, aber auch ohne dieses dichterische Vermächtnis bleibt Maßmann als einer der eifrigsten Streiter für das Deutschtum für uns unvergeßlich.
Vor hundert Jahren, am 15. August 1797, erblickte er als Sohn eines Berliner Uhrmachers das Licht der Welt. Frühzeitig wurde er mit Jahn bekannt und zählte bald zu seinen eifrigsten Schülern. Vor allem zeichnete er sich durch Abhärtung und Bedürfnislosigkeit aus, zwei Eigenschaften, die er sich für sein ganzes Leben bewahrt hatte. „Maßmann wandert auf Hunger und Durst“ hat einmal Jahn im Scherze gesagt. 1815 nahm Maßmann am Feldzuge teil, studierte dann, nach Berlin zurückgekehrt, Philologie und wirkte mit Jahn und Eiselen an der Ausgestaltung der deutschen Turnkunst. Er ging auch nach Jena, um an der burschenschaftlichen Bewegung teilzunehmen, wurde hier zu einem der Urheber des im Jahre 1817 abgehaltenen Wartburgfestes und setzte die Aufsehen erregende Verbrennung von Büchern „vaterlandsschänderischer“ Schriftsteller (Kotzebue, Haller u. a.) auf dem Wartenberg in Scene. Damit hatte er sich den Haß der Reaktion zugezogen, die staatliche Laufbahn als Lehrer schien ihm verschlossen, und so wandte er sich Privatstudien zu, wobei er häufig seinen Wohnsitz wechselte.
Gleich Jahn widmete sich Maßmann eifrig dem Erforschen der ältesten Denkmäler der deutschen Sprache und trat eine Reise durch Deutschland an, um in Bibliotheken mittelalterliche Handschriften zu prüfen. So kam er auch nach München, wo er einen ihm zusagenden Wirkungskreis fand. König Ludwig I war dem Turnen freundlicher gesinnt als andere deutsche Fürsten. Maßmann leitete in München den Turnunterricht am königlichen Kadettenkorps, wurde Turnlehrer der königlichen Prinzen Max und Otto und wurde auch zum Professor an der Universität ernannt.
Als man zu Anfang der vierziger Jahre das Turnen auch in Preußen wieder aufnahm, wurde Maßmann von der preußischen Regierung nach Berlin berufen. Er erhielt zwar eine feste Anstellung, aber es ergaben sich zwischen ihm und den leitenden Kreisen Meinungsverschiedenheiten über die Neugestaltung des Turnwesens. 1852 wurde er zur Disposition gestellt und konnte nunmehr seinen litterarischen Arbeiten leben. Im Jahre 1860 wurde er von einem Schlaganfall getroffen und verfiel allmählich in ein langwieriges Siechtum. Er starb am 3. August 1874 in Muskau. In seinem Nachlaß fand sich noch eine Anzahl unbekannt gebliebener Turn- und Vaterlandslieder vor, die demnächst veröffentlicht werden sollen.*
Der König der amerikanischen Berge. (Mit Abbildungen.) In Argentinien, hart an der chilenischen Grenze, erhebt der Aconcagua sein mit ewigem Schnee bedecktes Haupt 6970 m über den Meeresspiegel. Er ist der höchste gemessene Berg Amerikas und bildete seit lange das Ziel vieler Forschungsreisenden. Erst zu Anfang dieses Jahres gelang jedoch seine Besteigung einer Expedition, die der Engländer E. A. Fitzgerald ausgerüstet hatte, und zwar war ein Deutsch-Schweizer Matthias Zurbrüggen der Führer jener Expedition, der erste, der am 14. Januar seinen Fuß auf die höchste Zinne der Neuen Welt setzte. Schon im Jahre 1883 hatte ein deutscher Gelehrter, Prof. Dr. Paul Güßfeldt, Forschungsreisen im Gebiete des Aconcagua unternommen und den Berg bis zu einer Höhe von 6400 m erstiegen. Er hat die Ergebnisse seiner Reisen in einem anziehenden Werke „Reise in den Andes“ (Berlin, Verlag von Gebrüder Paetel, 1888) niedergelegt. Demselben hat er auch ein Album trefflicher Ansichten des Aconcagua nach photographischen Aufnahmen beigegeben. Die erste unserer Abbildungen zeigt uns eine dieser Aufnahmen. Wir blicken in das über 3000 m hoch gelegene Valle Penitente, das Büßerthal, das, von hohen Bergen eingerahmt, einem Fjorde ähnlich sieht. Im Hintergrunde dieser majestätischen Hochgebirgslandschaft erhebt sich das schneeige Haupt des Aconcagua. Das Büßerthal hat seinen Namen von eigenartigen Schneebildungen erhalten, die unsere zweite Abbildung zeigt und die von den Eingeborenen Nieve penitente, d. h. Büßerschnee, genannt werden. Wind und Sonne bringen diese eigenartigen Bildungen zu stande. Der Wind furcht zunächst die Oberfläche des Schnees, indem er ihn wie den Dünensand zu welligen Hügeln auftürmt. Auf diese Leisten und Vertiefungen wirkt die südliche Sonne mit voller Kraft ein und ihre schmelzenden Strahlen bearbeiten die vergletschernden Schneeblöcke wie der Bildhauermeißel den Stein. So entstehen ausgezackte Figuren, die oft Gestalten von Menschen vortäuschen und der Phantasie den weitesten Spielraum lassen. *
Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 36/1897 ]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.