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Die Gartenlaube (1897)/Heft 2

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[21]

Nr. 2.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Trotzige Herzen.

Roman von W. Heimburg.

(1. Fortsetzung.)


Aenne kam just zum Mittagsbrot wieder zu Hause an. Der Vater stand bereits, die Hände auf dem Rücken, am Kachelofen der sogenannten Eßstube, die, nach dem Garten hinaus gelegen, im Sommer von grünlichem, geheimnisvollem Lichte erfüllt war, welches die beiden alten Birnbäume draußen vor den Fenstern verursachten, im Winter jedoch licht und freundlich von den Strahlen der Mittagssonne erhellt wurde. In der Mitte des mäßig großen Raumes stand der Klapptisch aus Birkenholz, mit Wachstuch überzogen, jetzt von einem blendend weißen Drelltuch bedeckt, die Ecke hinter dem Ofen war von dem Sofa eingenommen, dessen Lederbezug schon Brüche und Risse aufwies - es hatte noch immer nicht zu einem neuen gelangt – davor ein kleiner Tisch. Den gegenüberliegenden Winkel füllte der das Buffett vertretende Eckschrank, in welchem das Speisegeschirr, die Tassen, Zucker und Theekekse sowie ein Magenbitter aufbewahrt wurden, und an der Wand zwischen den Fenstern stand die Kommode mit einem Spiegelchen darüber. Alles aus Birkenholz, nur die Nähmaschine am Fenster rechts war echtes Mahagoni und erzählte in ihrer leuchtenden Politur, daß sie eine Ehrenstellung einnehme im Hause.

Heute herrschte neben dem Geruch von Weißkraut und Hammelfleisch noch ein starker Bügeldunst, die Frau Rätin hatte eigenhändig das helle Batistkleid ihres Töchterleins zur abendlichen Toilette geplättet. Daß auch noch ein wenig Benzingeruch von gewaschenen Handschuhen sich hineinmischte – Tante Emilie hatte dies Geschäft besorgt, und zwar ebenfalls in der Eßstube, die in ihrer isolierten Lage nach hinten hinaus sich vorzüglich für solche Arbeiten eignete – machte die Atmosphäre noch ein wenig pikanter.

Aenne riß also gleich das Fenster auf und bekam dafür von allen Seiten Vorwürfe. Der Papa deckte schleunigst sein rotes Schnupftuch über den glänzenden kahlen Scheitel, Tante Emilie schrie nach einem Shawl und die vom Kochen und Plätten echauffierte Hausfrau rief. „Wirst du wohl das Fenster zumachen, Aenne! Denkst du, daß es mir egal ist, ob ich meine Kopfkolik heute abend bekomme, oder nicht.“

Gehorsam schloß das junge Mädchen das Fenster, trat an den Tisch, wo die andern bereits hinter ihren Stühlen standen, und sprach das Tischgebet. Dann aß sie mit dem besten Appetit der Welt, hatte für alle ein freundliches Wort, lachte, neckte ihre Tante, erzählte, daß dieselbe beim gestrigen Spaziergange gestreikt und sie mit Heinz von Kerkow nahe am Ziele, am Borkenhüttchen verlassen habe, angeblich weil sie einen Krampf im Fuß bekommen könnte, wenn


Schloß Meersburg am Bodensee,
Wohnsitz der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff in ihrer letzten Lebenszeit.

[22] sie nicht schleunigst umwende und sich beeile, den Stiefel auszuziehen. Von dem Sonnenuntergang, von dem Heimweg auf dunklen Waldpfaden sprach Aenne freilich kein Wort, nur in ihren leuchtenden Augen stand sie, die Geschichte ihrer jungen Liebe, aber diese Schrift konnte keines von den dreien lesen.

Sie sprudelte über vor lauter innerer Glückseligkeit; es war ja auch zu wundervoll, daß sie ihn heute früh schon gesehen hatte! Und nun heute abend – wie wollte sie das Lied singen, das Lied von der Abendsonne! Sie wußte, wie alles kommen würde: in irgend einem Fenstereckchen des großen Saales würden sie sitzen, nachdem er ein wenig kaltes Fleisch und Salat und ein paar Gläser Champagner vom Büfett geholt, so allein, so einsam zu zweien, wie drüben im Walde, der Heinz Kerkow und sie, der Heinz Kerkow, der wilde prächtige lustige Heinz, den sie liebgewonnen, so über alles lieb!

Aenne May fiel es vorläufig gar nicht ein, weiter zu denken; sie war sich gestern ihrer Liebe bewußt geworden, und die war aufgeblüht wie eine Rose mit hundert Blättern. Wie es weiter kommen würde, das kümmerte sie nicht, sie sog das Glück der Gegenwart in vollen Zügen ein.

Beim Ankleiden zur Soiree auf dem Schloß trieb sie tausend Possen. Natürlich ging dieser feierliche Akt wieder in der Eßstube vor sich, Mama frisierte ihr schönes Töchterlein vor dem Spiegel, der über der Kommode hing; von der Petroleumlampe war die Glocke genommen, damit sie heller leuchte, und Tante Emilie, die als Landfremde nicht hoffähig war, half wie eine perfekte Kammerjunger. Ueberall lagen Sachen umher, das unsterbliche schwarze Seidendamastkleid der Rätin baumelte am Thürpfosten und der etwas verflüchtigte Geruch des Mittags war noch mit dem Duft von Kölnischem Wasser und Mandelseife versetzt.

„Nee – reizend!“ erklärte Tante, als Aenne fertig dastand. „Wenn du 'mal eine Excellenz bekommst, trautstes Herzchen, werde ich mich nicht wundern.“

„Was soll ich mit einer Excellenz, Tante,“ antwortete das Mädchen und knöpfte die gewaschenen Handschuhe zu, „ich will keinen Alten.“

Die Rätin lächelte. Sie war auch wirklich reizend, die Aenne, und wenn sie ebenso vernünftig wäre wie hübsch, könnte sie bald versorgt sein! Der Oberförster nebenan bemühte sich auffällig um sie, ein guter stattlicher Mann. Aber Aenne that ja, als sei sie in diesem Punkte taub und blind.

„Höre, Engelsköpfchen, wird heute getanzt?“ erkundigte sich Tante Emilie.

„Hoffentlich, Tante!“

„Na, da wird wohl der Kerkow Matador sein?“

„Er wird ja vermutlich Sorge tragen, daß ich nicht ganz sitzen bleibe.“

„Wenn er's nur könnte, er tanzte den ganzen Abend mit dir, wie Hans mit Grete,“ nickte die Tante.

„Ich denke, der Kerkow wird genug zu thun haben mit den fünf Asselbach’schen Komtessen, der Toni Ribbeneck und den andern vom hohen Adel; bezweifle, daß er sich viel um Aenne kümmern kann,“ meinte die Mutter und bohrte eine Granatnadel in das Blondenhäubchen auf ihrem Scheitel.

Aenne warf ihrer Mutter einen mitleidig drolligen Blick zu. „Meinst du, Mama. O weh! – Da setze dich nur nicht in den Tanzsaal, ich fürchte, ich werde furchtbar schimmeln.“ Dabei aber strahlte ihr Gesichtchen von Siegesgewißheit.

Die ahnten ja samt und sonders nichts von alle dem Herrlichen, was sie wußte!




„Ich bleibe heute nacht auf, ich muß doch erst hören, wie ihr euch amüsiert habt,“ erklärte Tante Emilie beim Abschied, „ich stell' mir Thee in die Röhre und leg' Patience.“ Und so that die alte Dame, zuweilen auch trat sie ans Fenster und schaute zum Schlosse empor, in dem die langen Fensterreihen des Mittelstockes rötlich in den Oktoberabend hinausleuchteten. Die alte seelensgute Frau, die das Kind ihres Bruders abgöttisch liebte, malte sich aus, wie Aenne an den Flügel treten und singen würde, wie sie, zur Herzogin beschieden, der hohen Frau die Hand küßte und wie sie dann mit dem Kerkow im Walzer dahin flog. Sie hatte es gemerkt, längst gemerkt, daß sich die beiden mächtig anzogen, und deshalb hatte sie Mitleid gespürt und die jungen Leute gestern allein gelassen, mitten im Walde, natürlich in der Meinung, daß sie als Brautleute nach Hause kommen würden.

Das war nun nicht geschehen, die Jugend war eben anders heute, gar nicht mehr so ideal, so stürmisch. Von dem Kerkow hatte sie anderes erwartet. Hätte jemand ihr gesagt. Tante Emilie, die Jugend ist noch ebenso, ebenso stürmisch, so heiß, so begeistert, nur die Welt, die Verhältnisse sind anders geworden, sie hätte es nicht geglaubt. – Aber diesen Jemand gab es nicht. Tante Emilie hatte eben in den denkbar zurückgezogensten Verhältnissen gelebt und war drauf und dran, sich in der naivsten Weise der Welt bei Aenne und Kerkow den Kuppelpelz zu verdienen.

Sie legte sich alle möglichen Patiencen – wird er sich heute abend erklären? Keine ging auf. Sie fieberte vor Ungeduld, Aenne wiederzusehen, sie würde es ihr auf den ersten Blick anmerken, ob das große Ereignis eingetreten sei, wie sie es gestern abend gemerkt, daß sich das junge Paar um einen großen Schritt näher gekommen sein müsse, denn die Aenne war ins Zimmer getreten, so eigen, so rosig, so, als sei noch was an ihr hängen geblieben von der Glut der Abendsonne. Es war kein Zweifel, heute mußte sich etwas ereignen!

Die Stunde bis zwölf Uhr, wo die Schloßfeste, dem hohen Alter der Herzogin zulieb, ihren Schluß fanden, verging, Tante Emilie, die ein klein wenig eingenickt war in der Sofaecke, hörte die Hausthür aufschließen wischte den Schlaf aus den Augenn und sah den Eintretenden entgegen, ihre Blicke suchten natürlich Aenne. Ein blasses müdes Antlitz blickte an ihr vorüber.

„Engelchen, bist du krank?“ rief sie.

„Nein, nur müde,“ war die tonlose Antwort. Dann ein flüchtiges Kopfnicken zur Tante hinüber, ein ebenso tonloses „Gute Nacht!“ und sie war verschwunden.

„Was ist's denn mit der Aenne?“ fragte die Erschreckte die Eltern.

„Sie hat sich vielleicht beim Singen zu sehr angegriffen,“ meinte der Herr Rat und gähnte.

„Gott bewahre! Als ob sie das spürte! Nein sie hat vielleicht zu viel getanzt!“

„Ach, du liebe Zeit,“ sagte die kleine dicke Rätin, „einmal mit Günther, dem Oberförster, die Polonaise, und eine Extratour mit Kerkow, sonst habe ich sie nicht gesehen. Es wimmelte so von Damen, und die paar Herren hatten genug zu thun, die Komtessen herum zu schwenken, die vollzählig angelangt waren.“

„Aber Kerkow konnte doch –“ ereiferte sich die Tante, „der konnte doch öfter mit ihr tanzen, wo er jede Woche ein paarmal hier an unserm Tische sitzt!“

„Ei, der hatte genug mit der Ribbeneck zu thun,“ lachte gutmütig die Frau Rätin, der es endlich gelungen war, sich aus ihren Mänteln und Tüchern herauszuschälen, und die jetzt ihrem Gatten half. „Aber nun wollen wir schlafen, gelt, May. Wer weiß, ob die Herzogin dich nicht noch herausklingeln läßt! Daß du nicht vergißt, die fünfundsiebzig Pfennige, die du im Whist gewonnen hast, in die Sparbüchse zu thun – Aenne braucht notwendig um Weihnacht ein neues Gesellschaftskleid.“

Der Rat nickte. Ihm war von dem langen Stehen an der Saalwand während des Konzertes, des Singsangs und Klaviergetrommels, wie er es nannte, schon ganz elend geworden. Die Hummermayonnaise sowie die Kaviarsemmeln des Büffetts hatten auch nicht gewartet, bis an ihn die Reihe kam, er hatte mit ein wenig kaltem Rehbraten und Heringssalat vorlieb nehmen müssen. Letzterer aber war nicht nach seinem Geschmack gewesen, den konnte nur Eine genießbar zubereiten und das war seine Frau. Dann, wie ärgerlich, das Whist mit dem Oberamtmann, dem Hofprediger und dem Oberförster! Die Herren wollten partout den Point zu einem Groschen spielen, er setzte es aber durch, daß er nur einen Pfennig galt. Er verlor sonst immer, und nun heute gewann er! Das hätte sieben Mark und fünfzig Pfennig betragen – na, es war nicht mehr zu ändern!

Mit einem halb gähnenden „Gute Nacht“ zur Schwester zog er ab in Begleitung seiner Frau. Tante Emilie blieb zurück, packte die Karten zusammen, schloß die Läden und schlich auf ihren Filzpantoffeln nach oben in ihr Stübchen, das im Giebel neben dem Aennes lag, nur durch eine kleine Tapetenthür getrennt, die aber auf Aennes Seite mit einem Kleiderschrank versetzt [23] war. Die alte Frau tastete sich hinüber zu diesem Thürchen und horchte, es war ihr auch, als hörte sie das Mädchen gehen. Sie rief also: „Engelchen, Goldköpfchen, bist du noch wach? Kann ich noch 'mal zu dir kommen?“

Keine Antwort.

Seufzend kleidete sie sich aus und suchte ihr Bett auf. Was konnte es nur sein? Sollte sie sich zu Herzen genommen haben, daß der Kerkow nur einmal mit ihr getanzt hatte? „Lieber Gott, na ja, man ist so thöricht, wenn man jung und verliebt ist. Na, das ist wie Regenschauer im April – sie wird wohl schlafen, das Kind, und morgen ist’s wieder anders mit ihm!“

Es mochte gegen drei Uhr sein, da erwachte die alte Frau. Es war ihr, als habe jemand gerufen, und als sie sich aufrichtete vom Lager, da hörte sie ein ganz unvernünftiges wildes Schluchzen, das kam von jenseit der Wand, wo Aennes Bett stand.

„Aenne!“ rief sie und pochte mit den geballten Händen gegen die Wand, „Goldherzchen, Kind, was fehlt dir?“

Da ward es still, und wieder keine Antwort. Das war kein Aprilregen, das war der Sturm, der Blumen vernichtet und Bäume entwurzelt, das war die Todesstunde von Aenne Mays junger Liebe. – – –

Und drüben im dritten Stockwerk des Schlosses ging nach Schluß der Soiree Heinz von Kerkow in seinen beiden Zimmern auf und ab. Weinen thut kein Mann um so etwas, aber weh war es ihm doch ums Herz, bitter weh! Er konnte das bleiche Gesicht, die starren fragenden Augen nicht vergessen, mit denen sie ihn angeschaut ob seines unbegreiflichen Wesens. Während sie sang, hatte er sich in einem Nebenzimmer aufhalten wollen, aber wie von Ketten gehalten war er geblieben. Und wie hatte sie gesungen!

     „O, du purpurner Glanz der sinkenden Sonne –“

Diese Sehnsucht in der Stimme, diese Freude auf dem reizenden Gesicht! Sie hatte ihn nicht angesehen dabei, keine Spur von Koketterie war in diesem Mädchen, aber er wußte ja, daß jedes Wort ihm galt. Und wie lieb sah sie aus in dem weißen Kleide, wie sicher und anmutig war ihr Auftreten, die tiefe Verneigung vor der Herzogin! Die ganze andere Bande, wie er sich respektlos ausdrückte, war nichts gegen sie, trotz Grafen und Freiherrenkronen. Wie das Souper begann, wie sie lächelnd dastand, um ihn zu erwarten, laut ihrem Versprechen von heute morgen, wie er dann zu ihr kam mit dem Imbiß und seine Rolle zu spielen begann, formell, verstimmt, wie er von der Hitze im Saale erzählte und daß er froh sei, wenn die Sache vorüber wäre, daß er überhaupt das Leben hier satt habe und alles daran setzen wolle, um ein Kommando nach Berlin zu bekommen, etwa an die Centralturnanstalt, denn es sei ja in diesem Wurstnest einfach zum Rasen langweilig, da hatte sie ihn angestarrt, als fürchtete sie, er sei wahnsinnig geworden.

„Sagen Sie doch selbst, Fräulein May“ –Fräulein May hatte er sie genannt - „ob es nicht wahr ist! Na ja, die Gegend – die Gegend ist ganz nett, aber diese ewige Natursimpelei! Und dann die schrecklich spießbürgerlichen Verhältnisse überall! Im übrigen fühle er, daß er sie ermüde mit seiner Unterhaltung, auch müsse er sich einmal um die Ribbeneck bekümmern und um seine Tante.

Damit hatte er sie verlassen, wobei er verstand, sie nicht anzusehen, und hatte sich mit krampfhafter Ausdauer der Toni Ribbeneck gewidmet. Aber einmal sah er doch zu ihr hinüber, es war, als zöge etwas seine Blicke dahin. Sie saß auf einem der mit rotem Seidendamast bezogenen Stühle im Empirestil, an der weißen mit Goldornamenten geschmückten Wand des kleinen Tanzsaales, und da wollte sich ihm beinahe das Herz umdrehen. Das Gesicht weiß wie die Wand, die Augen verständnislos, groß und flehend zu ihm hinüber gerichtet, um den Mund ein Zucken wie von verhaltenem Weinen – – das würde er nie wieder vergessen, nie! So ähnlich war ihm zu Mute gewesen, als er sein erstes Reh erlegte. Er hatte das Tier nur krank geschossen und fand es nicht weit von der Schußstelle im Verenden, das hatte ihn angesehen mit dem nämlichen Blick wie Aenne. Scheußlich, scheußlich kam er sich vor – lieber Himmel, wenn man nur einen Ausweg wüßte! Aber wie denn, wo denn – Nein – lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende – er durfte sich ihr nicht nähern!

Aber alle diese gewaltsamen Versuche, sich Vernunft einzureden, vermochten es doch nicht zu hindern, daß er in Träumereien sich verlor, in süße und hoffnungsreiche Träume, wie die nie zu entmutigende Jugend sie träumt. Ach, vielleicht – vielleicht ginge es doch noch, wenn sie warteten. Vielleicht gewinnt er das große Los – vielleicht findet sich ein Erbonkel – vielleicht – –. Heute früh hatte er es noch nicht so klar, so deutlich gefühlt wie jetzt, wo er der Unmöglichkeit ihres Besitzes gegenüberstand, wie sehr, wie tief er sie liebte!

Aenne! Aenne, ich kann dich nicht lassen! klang es in ihm, ich will dich nicht lassen!

Er fuhr empor aus seinem Brüten, draußen hatte es geklopft. Auf sein „Herein!“ trat einer der herzoglichen Lakaien ins Zimmer und bestellte eine Empfehlung von Frau von Gruber, und wenn der Herr Lieutenant noch nicht zu müde wäre, würde sie sich freuen, ihn heute abend noch sprechen zu können.

Er warf einen verwunderten Blick auf die Uhr – es war ein Viertel vor Eins. Dann sagte er, er werde kommen, knöpfte die aufgerissene Uniform wieder zu und stieg die Treppe zum zweiten Stock hinunter, wo, just unter seinen Zimmern, die Appartements der Hofdamen lagen.

Frau von Gruber, eine Cousine seines Vaters, war bereits im bequemen Hauskleide, eine alte Dame von sechzig Jahren, die ein wenig vornübergebeugt ging und für gewöhnlich einen ziemlich hochmütigen Ausdruck zur Schau trug, der aber in Anbetracht ihrer Stellung als Oberhofmeisterin Ihrer Durchlaucht wahrscheinlich notwendig war. Sie mußte ehemals sehr schön gewesen sein, hatte noch heute eine kerzenschlanke Gestalt, ein feines Gesicht, von grauen Haaren umrahmt, die zu dem frischen Teint gut kleideten, der etwas künstlich aufgebessert schien. Sie hatte eine stürmische Ehe hinter sich, ihr Mann war der unverbesserlichste Spieler gewesen. Von seinem großen Vermögen, von den prachtvollen Besitzungen ihres Gatten – er übernahm drei Rittergüter beim Tode seines Vaters – war nichts geblieben. Als der Krach kam, war sie einige vierzig Jahre alt und noch sehr schön, und nach dem Tode ihres Gatten, der plötzlich nach dem Zusammenbruch erfolgte – er starb in Monaco – trat sie die Stelle der Oberhofmeisterin bei der verwitweten Herzogin an, der sie nun seit zwanzig Jahren treu und tadellos vorstand. Kinder besaß sie nicht, interessierte sich aber aufrichtig für diejenigen, die in ihrer Verwandtschaft emporwuchsen und nicht eben das kleinste Interesse hegte sie für Heinz von Kerkow. Am liebsten stiftete sie, die doch so unglücklich in ihrer eigenen Ehe gewesen, Heiraten, und auf Heinz hatte sie es in dieser Beziehung schon lange abgesehen. Bis jetzt freilich waren ihm noch keinerlei derartige Bestrebungen von ihrer Seite aufgefallen, sie bekümmerte sich bisher nur insofern um ihn, als sie es gern sah, wenn er zuweilen in ihren dienstfreien Stunden zu ihr kam und etwas mit ihr „klatschte“. Er war dabei unendlich drollig, ging mit Feuereifer auf jedes angeregte Thema ein und band seiner verehrten Tante Christiane unglaubliche Dinge auf mit dem ehrlichsten Gesicht von der Welt. Zuweilen, wenn die Rede auf seine Mutter und die beiden verblühenden Schwestern kam, auf die ganze trostlose Misere seiner Lage, wurde er elegisch, und das war jedesmal der Zeitpunkt, wo sie sagte: „Junge, du mußt eine gute Partie zu machen suchen, weiter kann ich dir keinen Rat geben! Wenn ich nur eine wüßte, die reich und gut genug für dich wäre, aber heutzutage sterben die Erbinnen aus.

„Ich muß unter die Semiten gehen, Tante,“ antwortete er dann regelmäßig, „und ich bin überzeugt, du wirst, wenn sie einmal meine Frau ist, das ‚Veilchen‘ oder ‚Rebbeckchen‘ liebgewinnen.“

„Rede nicht so gottlos, Heinz! Das wäre das letzte!“

„Ach, teuerste Tante, in der Not frißt der Lieutenant – Fliegen.“

Heute abend, als sie ihn mit einem Scherze empfing, vermochte er nicht darauf einzugehen, merkte auch nicht, daß das Lächeln auf ihren Lippen nicht ganz ungezwungen war. Er küßte zwar aufmerksam die noch immer hübsche Hand, machte es sich in einem Fauteuil des ungemein herrlich ausstatteten Zimmers bequem und nahm ein Glas Schlummerpunsch aus ihren Händen entgegen, aber er blieb stumm.

„Was stimmt dich denn so schweigsam, Heinz,“ erkundigte sie sich, ihn etwas unruhig beobachtend.

[24]

Der Schuß auf den Wal.
Nach einer Originalzeichnung von F. Lindner.

[25] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [26] „Ach Gott, na, man ist eben 'mal einen Tag nicht so wie den andern,“ lautete die nicht sehr zuvorkommende Antwort.

„Aber du warst so strahlend lustig beim Tanz vorhin, Toni Ribbeneck sagte noch – –“

Er machte ein Gesicht, als ob er sich vor einer mißliebigen Speise ekelte. „Was will sie denn von mir?“ erkundigte er sich mit einem Ausdruck als wollte er sagen „Sie soll mich doch um Gottes willen zufrieden lassen!“

„Gott behüte! Sie will gar nichts, sie freute sich nur, daß wir für unseren langweiligen Winter an dir einen so netten Kavalier gewonnen haben. Du weißt ja, Heinz, daß wir daran keinen Ueberfluß besitzen.“

„So. Na, Tantchen, nimm's schon nicht übel, ich habe ganz und gar keinen Mumm, den Winter über hier in eurem verwunschenen Schloß zu versauern.“

„Aber Heinz!“ Tante Gruber entfiel der Löffel, mit dem sie ihren gar nicht schwachen Punsch rührte.

„Nun ja, ich will versuchen, daß ich fortkomme, Tante – es gefällt mir nicht mehr hier.“

„Du bist ja ein ganz undankbarer Mensch, oder läßt du dich durch die Geschichte so furchtbar herunterdrücken, daß – –“

„Herunterdrücken? Welche Geschichte meinst du?“ fuhr er auf.

„Na – deine Mutter, meine ich, und das mit Ottilie. Hab’ doch Vertrauen zu mir, Heinz, ich weiß es ja natürlich schon.“

Er sah sie verständnislos an.

„Solltest du wirklich noch nichts wissen?“ fragte sie erschreckt. „Das thut mir leid, armes Kerlchen. Morgen früh wirst du den Brief wohl bekommen, oder – er liegt auf deinem Schreibtisch und du hast ihn übersehen. Ich dachte, deine finstere Laune komme daher; Gott, wie ungeschickt von mir!“

„Ich muß dich schon bitten, liebe Tante, nach diesen Aeußerungen, die mich begreiflicherweise in Besorgnis versetzt haben, weiter zu berichten und mich nicht bis morgen früh, wie einen aufgespießten Schmetterling, weiter zappeln zu lassen.“

„Ich will’s dir mitteilen, natürlich, Heinz, aber die Nachtruhe wird's dir nicht bessern.“

„Auch eine Logik!“ brummte er.

„Sei nicht so schrecklich unangenehm, Heinz! Also, nun du es hören willst – Ottilie ist krank aus ihrer Stellung zurückgekehrt!“

Er atmete auf – es war da noch etwas, das sich wenden konnte; er hatte Schlimmeres gedacht. „Was fehlt ihr denn?“ fragte er, „weißt du es?“

Sie schüttelte den Kopf, aber ihre sonst so kalten Augen hatten sich mit Thränen gefüllt.

„Also etwas Ernstliches, Tante. Nur zu, sag's doch! Typhus? – oder – oder Herrgott, spanne mich doch nicht auf die Folter, Tante!“

„Man mußte sie in eine Anstalt – in eine – weißt du, Heinz, – ihre Nerven – eine, ja in das –“

„Irrenhaus,“ ergänzte er dumpf. Er saß plötzlich da wie gebrochen.

Die alte Dame schwieg. Sie hielt ihre Hände im Schoß gefaltet und schluckte an emporquellenden Thränen. Der Junge that ihr so leid, so furchtbar leid!

„Und Mutter“ fuhr er endlich auf. „Mein Gott, wie wird sie den Schlag überstehen – und was wird das kosten! Was soll überhaupt –“

Sie nickte. „Ja, das ist's eben!“ Dann erhob sie sich, schritt zum Glockenzug und befahl dem eintretenden Lakaien, die für den Herrn Lieutenant eingegangenen Postsachen aus seinem Zimmer herunter zu holen. „Da du es nun doch schon weißt, und ich begierig bin, Näheres zu erfahren“ setzte sie hinzu.

Nach ein paar Minuten hielt er den Brief in der Hand. „Von Mutter“ murmelte er, „ach nein, von Hede,“ verbesserte er sich. Er drehte das Schreiben hin und her und schob es dann ungelesen in den Aermelaufschlag seiner Uniform und saß noch ein Weilchen, mit fest zusammengekniffenen Lippen ins Leere starrend. Endlich stand er auf. „Das ist schon ein großes Unglück, wenn es reiche Leute trifft, Tante, aber hier hier – Ottilie hat Mutter immer unterstützt. Ich weiß nicht, wie es werden soll – – armes Mädel! Arme Mama!“

„Wir Kerkows haben alle kein Glück, mein Junge – wenn man so denkt, wie es manchem in den Schoß fällt! Ich muß immer Toni Ribbeneck ansehen und mich dabei fragen, wie der eigentlich jetzt zu Mute sein mag, nachdem sie vorgestern die Nachricht bekam, daß ihr Onkel gestorben und sie nun Herrin eines netten Vermögens geworden ist – so jung noch, höchstens siebenundzwanzig Jahre. Es giebt ein so sicheres Gefühl in der Welt, weißt du,“ fuhr sie fort, „natürlich! Findest du nicht, Heinz, daß sie jetzt eine sehr distinguierte Sicherheit zur Schau trägt, diese kleine Person? Woran denkst du, Heinz,“ fragte sie ungeduldig den vor ihr Stehenden, und als er wie aus schweren Gedanken auffuhr, sagte sie, „ich sprach von Toni Ribbeneck.“

„So – ja – was sagtest du doch – daß sie geerbt habe – Kann froh sein, ohne Geld geht's eben nicht. Gute Nacht, Tante, den Brief lese ich oben, ich kann ja augenblicklich doch nichts thun. Habe Dank für deine Teilnahme!“

In seinem Zimmer droben warf er sich auf's Sofa und stöhnte auf wie unter körperlichen Schmerzen. Vor seinen Augen stand so deutlich das Bild seiner Angehörigen weit von hier in der kleinen märkischen Stadt; die Wohnung in der öden Gasse, bestehend aus drei Stuben, Küche und Vordiele im einstöckigen Hause des Krämers Busch, dessen Laden die Zimmer ausgiebig mit den Gerüchen des Materialgeschäftes versorgte. Die Wände des Fachwerkbaues etwas schief, die Tapeten billigster Sorte, alt, rissig und geschmacklos, und darin die erblindeten Mahagonimöbel. Im Salon ein verschossener großblumiger Teppich, im Wohnzimmer der Maltisch seiner jüngsten Schwester, die Luft erfüllt von dem Duft des Terpentins, dessen sie zur Porzellanmalerei bedurfte, am andern Fenster der Lehnstuhl der Mutter vor dem Nähtisch, auf dem bunte Wolle liegt und eine angefangene Arbeit, denn wie Hede für Geld malt, so stickt die Mutter für Geld.

Lieber Gott, wie mochte es da aussehen seufzte er. Was mochte geschehen sein? Ottilie, die blasse, stille, vernünftige Schwester. die für jeden einen guten Rat gehabt, für jeden von ihnen Hilfe und Trost, Ottilie wahnsinnig!

Er nahm den Brief, öffnete ihn und rückte die Lampe näher. Es war Hede, die schrieb, ganz zitterig die Hand und Thränenspuren auf dem Papier.

     „Lieber Heinz!

Uns hat Schweres betroffen! Wenn Du diesen Brief erhältst, weißt Du es schon, denn ich bat Doktor Allers, es Tante mitzuteilen, damit sie Dich vorbereite auf das Traurige. Die Details sind so schrecklich, Heinz, ich kann Dir nicht beschreiben, wie Ottilie aussah, als sie unser Zimmer vor vier Tagen betrat, so unerwartet, so unkennbar. Ihre Briefe waren bisher ganz vernünftig gewesen, es fiel uns zwar auf, daß sie stets darin von einem großen Glück erzählte, das sie erwarte. Wir fragten aber nicht, was es sei, gaben uns vielmehr der Hoffnung hin, daß sie sich vielleicht verloben würde. Sie hatte vor zwei Jahren einmal die Andeutung gemacht, als interessiere sich der Bruder der Frau Hennigs, bei der sie bis jetzt Gesellschafterin war, für sie, derselbe ist Bankier in Berlin und soll sehr reich sein. Es wäre ja ein großes Glück für uns gewesen.

Nun, denke Dir unsern Schrecken, tritt sie am Dienstag plötzlich ins Zimmer, wo wir sie doch in Berlin glaubten, in einem ganz unmöglichen Rembrandthut, blaß wie der Tod, mit flackernden Augen und sagt, als ob wir sie erst gestern gesehen hätten ihr Bräutigam käme gleich nach, um sich das Jawort der Mutter zu holen, und in acht Tagen sei die Hochzeit, wir sollten ein Souper besorgen und den Champagner nicht vergessen. Dann wirft sie den Hut auf den Tisch, geht zu Mutters Servante und holt Tassen und Teller heraus, und wie Mutter, zitternd vor Entsetzen, ihr wehren will, wird sie wütend und zertrümmert die Scheiben des Schrankes, wirft alles vom Tisch und tobt, daß wir unsere Wirtsleute zu Hilfe rufen müssen – der Mann hielt sie fest, bis Doktor Allers kam; der eine Wärterin holen ließ und – – –

Ach, Heinz, wie grauenhaft! – Vor zwei Stunden ist sie nach Halle übergeführt. Man redete ihr vor, sie solle nach Berlin reisen, wo ihr Bräutigam sie erwarte. Sie ging willig mit, sie sagte uns zärtlich, glückstrahlend Adieu, und wir sollten sie bald besuchen.

Mama liegt im Fieber zu Bett vor Erschütterung, ich mußte Ottilie allein Fremden überlassen auf der entsetzlichen Reise, Mama ist so gebrochen, ich konnte nicht von ihr gehen.

Heinz, was muß ihr angethan sein, daß sie so wurde? Wird es sich je aufklären?

[27] Ein Brief von der Dame, bei der sie in Stellung war, teilt mit, daß sie heimlich davonging und in letzter Zeit bereits ein paarmal ganz ohne Grund in Wut geraten sei.

Und nun, Heinz, sei nicht böse! Die Oktoberzulage kann Dir Mama nicht schicken, wir haben schon unsere Gelder auf der Sparkasse angreifen müssen. Ob Mama sie Dir im November wieder wird geben können, ob überhaupt? – Wir wollen alles thun, daß es möglich werde, aber bitte, behilf Dich vorläufig! Wenn wir eine Freistelle für Ottilie in Halle erlangen können, geht es vielleicht. – Mir ist der Kopf so schwer. – Schreibe ein paar freundliche Worte an Mama, die sie trösten, sie beruhigen! Wegen des Zuschusses sage ihr, daß Du ihn nicht so notwendig brauchst – auch wenn’s nicht wahr ist, ich weiß ja, daß Du darauf wartest … aber – ach, es ist schrecklich! Ich grüße Dich herzlich.     In Trauer Deine Schwester Hede.“

Der junge Mann löschte plötzlich die Lampe aus; totenstill und dunkel ward es im Zimmer, nichts als ein unheimliches Sausen, ein schrilles Pfeifen draußen im Wald. Das war der Herbststurm, der sich aufgemacht hatte, und nun klatschten die Regenstrahlen gegen die Fenster, ein Wetter, wie es der wilde Jäger mit sich bringt, wenn er durch die Lüfte jagt. Und Heinz Kerkow lachte plötzlich auf, kurz, höhnisch.

Kannst dir gratulieren, Aenne, daß du den Kerl mit den leeren Taschen los bist! Heute mittag hing’s an einem Haare, und er hätte dir den Schwur der Liebe von den Lippen geküßt – –. Aenne, reizende kleine Aenne, du wirst ihn bald vergessen haben und er – heiratet eine andere, was bleibt ihm denn sonst übrig! Man will doch nicht verhungern, man kann doch seine Familie nicht verkommen lassen! Ja, wenn man arbeiten könnte mit den zwei starken Armen, wie ein Knecht wollte ich leben, um zu sparen für dich, Aenne, und die anderen; das wäre doch noch etwas, aber so! Die alte Frau stürbe, zöge ich den bunten Rock aus; und wenn auch nicht – bis ich sie ernähren kann als verabschiedeter Offizier, bis dahin wäre sie verhungert, und die Schwester mit, und du, kleine sonnige Aenne, wärst alt, grau und verbittert geworden. Also vorwärts! Leb’ wohl, Aenne, vielleicht dereinst erfährst du noch ’mal, daß ich dich sehr, sehr lieb gehabt habe!

Und jetzt lachte er nicht mehr. Er hatte den Kopf mit dem Kraushaar auf seinen Arm gelegt und – gottlob, daß es dunkel war und daß der Sturm so heulte. Heinz von Kerkow wollte doch selbst nicht hören und sehen, daß er weinte, bitterlich weinte um die Misere seines Lebens, um seine verlorene Liebe.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Streit um die Stunde.
Nachdruck verboten.  
Alle Rechte vorbehalten.
Eine Zeitbetrachtung von Dr. H. J. Klein.


Nach einer Entschließung des Ministers Van den Peereboom soll mit dem 1. Mai des laufenden Jahres bei allen Post-, Eisenbahn-, Telegraphen- und Telephonämtern Belgiens das System der fortlaufenden Zählung der Stunden von 1 bis 24, beginnend mit Mitternacht, eintreten. Damit ist Belgien dem Wunsche der Internationalen Konferenz zur Einführung eines einheitlichen Meridians, welche 1884 zu Washington tagte, nachgekommen, einem Wunsche, welcher im vergangenen Jahre auf dem Eisenbahn-Kongreß zu London abermals ausgesprochen wurde. Fortlaufende Stundenzählung von 1 bis 24 hatten bis jetzt Italien, Canada und Britisch-Indien; die Astronomen befolgen die gleiche Zählungsweise, doch beginnen sie, wie schon der alte Ptolemäus that, den Tag nicht mit der Mitternachtsstunde, sondern mit dem Augenblicke des oberen Meridiandurchganges der Sonne, d. h. des Mittags. Sie werden auch hiervon so leicht nicht abgehen, denn der Umstand, welcher für das bürgerliche Leben den Datumwechsel auf Mitternacht verlegen ließ, nämlich die relative Ruhe im Drange der Arbeit, ist auch für sie maßgebend, da ihre Hauptbeobachtungsthätigkeit in die Nachtstunden fällt.

Bei den Babyloniern, den Syriern und Persern hub der Tag mit Sonnenaufgang an, während bei den Juden, den alten Athenern, den Chinesen und andern Völkern der bürgerliche Tag mit dem Untergange der Sonne begann. Daß diese beiden Zählungsweisen nur in Zeiten der Unwissenheit aufkommen und sich erhalten konnten, ist von selbst klar; weniger deutlich erscheint es dagegen, warum bei der Stundenzählung die Einteilung in 12 resp. 24 Zeitabschnitte üblich ist, während doch unsere ganze Arithmetik sich auf dem Dezimalsystem aufbaut.

Jedenfalls ist jene Einteilung uralt, auch wenn sich der Zeitpunkt ihres Ursprungs nicht mehr nachweisen läßt. Sie stammt wahrscheinlich aus Babylonien und bildet ein Ueberbleibsel uralter, längst verschollener Civilisation, welche sich, Staaten und Nationen überdauernd, bis heute erhalten hat. Wie sind aber, kann man fragen, die alten Babylonier zu der Zahl 12 als Grundeinheit der Stundenteilung gekommen? Diese Frage hat Houzeau, der verstorbene Direktor der Brüsseler Sternwarte, beantwortet. Die alten Babylonier hatten beobachtet, daß im Laufe eines Jahres ungefähr 12 Mondwechsel d. h. Mondumläufe stattfinden. Sie teilten deshalb den Weg der Sonne am Umfang der Himmelssphäre in 12 Teile oder Häuser und in jedem derselben fand sich die Sonne mit dem Monde zusammen. Während der Nacht sah man von diesen Himmelsteilen diejenigen, von denen die Sonne entfernt war, und man merkte sich die hauptsächlichsten Gestirne derselben. Auf diese Weise entstanden längs des Weges der Sonne am Himmel die 12 Konstellationen des Tierkreises. In jeder derselben wurde ein bestimmter Stern als Haupt oder Leiter angesehen, und sein Aufgang bezeichnete den Anfang der entsprechenden Stunde, die durchs Ausrufer verkündigt wurde. Man fand allmählich indessen, daß 12 Abschnitte für die tägliche Periode etwas lange dauern, und teilte schließlich jeden in zwei gleiche Teile, womit man bei der 24stündigen Einteilung angelangt war. In einem aus dem 13. Jahrh. v. Chr. stammenden egyptischen Königsgrabe sieht man an der Decke 12 Sterne eingemeißelt, deren Aufgang über dem Horizont von Theben den Beginn jeder der 12 Nachtstunden von der Abenddämmerung bis zur Morgenröte anzeigt.

Die Zwölfteilung, welche ursprünglich bei den Babyloniern entstanden und von den Egyptern angenommen worden ist, breitete sich später zu den Griechen aus und kam von diesen zu den Römern und in die abendländische Kultur. Allgemeingültigkeit aber hat sie niemals gehabt; die Chinesen huldigten dem Dezimalsystem, andere asiatische Völker teilten den Tag in 60, die alten Mexikaner dagegen in 8 Teile.

Die alte Einteilung des Tages in zweimal 12 Stunden hängt aufs innigste mit der Art und Weise zusammen, wie die Stunde ermittelt wurde, ehe es mechanische Uhren gab. Der Himmel war damals das einzige Zifferblatt, welches man ablesen konnte. Dieses geschah, wie schon bemerkt, bei Nacht durch Wächter, welche die Stunde ausriefen, sobald der betreffende Stern über den Horizont stieg. Bei Tage aber konnte man die Sterne nicht sehen, statt ihrer beobachtete man deshalb die Bewegung des Schattens an der Sonnenuhr. Die Erfindung der letzteren reicht nämlich ebenfalls bis ins höchste Altertum zurück und ist wahrscheinlich den Babyloniern zuzuschreiben. Jedenfalls waren Sonnenuhren schon den Juden im 8. Jahrhundert v. Chr. bekannt. Die Stundenbestimmung bei Nacht und bei Tage geschah also in jener ältesten Zeit auf ganz verschiedene Art und man zählte deshalb zuletzt die Tagesstunden für sich und ebenso die Nachtstunden, jene begannen mit dem Aufgang der Sonne, diese mit ihrem Untergang. Das ist der Ursprung der doppelten Stundenzählung des Tages, und unsere heutigen Uhren tragen in ihrer Bezifferung noch gegenwärtig die Erinnerung an jene Urzeit der menschlichen Civilisation. Ob diese durch ihr Alter ehrwürdige Einteilung mehr Vorzüge als Nachteile gegenüber der durchlaufenden Stundenzählung von 1 bis 24 hat, ist eine Frage, die sich verschieden beantworten läßt. Houzeau und andere meinen, das Publikum werde sich leicht an die durchlaufende Zählung der Stunden gewöhnen, wenn solche einmal eingeführt wurde, genau so wie die Bewohner von Worsley bei Manchester seit jeher daran gewöhnt sind, ihre öffentliche Uhr um 1 Uhr nachmittags 13 mal schlagen zu hören. Fragt man, sagt er, weshalb wir heute noch im Verlauf eines Tages die Stunden zweimal bis 12 zählen, so kann man darauf keine andere Antwort finden als die: weil man während 4000 Jahren so gezählt hat, wie wir heute zählen.

Gewiß ist die durchlaufende Zählung der Stunden von 1 bis 24 einfacher und im ganzen auch bestimmter als die Zählung von 1 bis 12 mit Unterscheidung von Vor- und Nachmittag, allein ob es sich deshalb empfiehlt, dem Beispiele Italiens etc. und nun auch Belgiens zu folgen, ist nicht so leicht zu entscheiden. Es lassen sich in dieser Beziehung viel Momente für und gegen diese Neuerung anführen, darunter vor allem die Thatsache, daß bei solcher Neuordnung das Duodezimalsystem dennoch statt des sonst allgemein eingeführten Dezimalsystems beibehalten würde. Wollte man aber, was nur konsequent wäre, den Tag nach dem Dezimalsystem einteilen, wie in der That von verschiedenen Seiten vorgeschlagen worden ist, so würde man damit einen wahren Rattenkönig von notwendig werdenden anderweitigen Veränderungen heraufbeschwören. Man müßte dann nämlich auch die Kreisteilung ändern, was wiederum zur Folge haben würde, daß das Gradnetz am Himmel und auf der Erdkugel eine entsprechende Umgestaltung erlitte, die trigonometrischen Tafeln müßten umgerechnet werden und schließlich würden die Anhänger der strengen Konsequenz sich selbstverständlich an die Monatseinteilung des Jahres wagen und die Dezimaleinteilung auch für das Jahr verlangen. Ein greifbarer Nutzen ist aber aus solchen weitschweifigen Aenderungen doch nicht zu ersehen, und zuletzt könnte man nur sagen, daß diese radikalen Umwälzungen notwendig erschienen, weil man dem Publikum eingeredet hatte, es sei überaus unbequem und höchst lästig, der Angabe der Tagesstunden zuweilen das Wort „vormittags“ oder das Wort „nachmittags“ beifügen zu müssen. Denn mit der Zähl- und Rechnungsweise der Fachleute hat das große Publikum ja nichts zu thun. Sonach scheint es am besten, wenn wir zunächst bei der alten Stundeneinteilung des Tages verbleiben.




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Die Sängerin der Heimatliebe.

Ein Besuch der Heimstätten Annettens von Droste-Hülshoff.
Von Victor Schmitt.
Illustriert von Sally Wiest mit Benutzung von Skizzen der älteren Schwester und einer Nichte der Dichterin.

Schloß Hülshoff.

Am 10. Januar 1897 sind hundert Jahre verflossen, seit eine der edelsten und begabtesten deutschen Dichterinnen, Anna Elisabeth von Droste-Hülshoff, das Licht der Welt erblickte. So reich unsere Litteratur an Poeten ist, durch welche die Liebe zur Heimat innigen Ausdruck gefunden hat – in höherem Maße und mit wärmerer Empfindungsglut ist es wohl kaum geschehen wie durch diese Eine, die man mit Recht als die „Sängerin der Heimatliebe“ gefeiert hat.

Wer sich die Eigenart ihres dichterischen Wesens so recht vergegenwärtigen will, muß sie daher im Geiste an den Stätten aufsuchen, die während ihres Lebens ihr vornehmlich die Heimat bildeten; wir können dabei als Führer Ansichten benutzen, die von Künstlerhand zum Teil nach Zeichnungen ausgeführt sind, die bei Lebzeiten der Dichterin entstanden und von der älteren Schwester und einer ihrer Nichten herrühren.

In Westfalen stand ihr die Wiege. Unweit der Hauptstadt des Münsterlandes war ihr Vater auf dem Schlosse Hülshoff ansässig. Sie stammte aus einem altwestfälischen Geschlechte, das im 13. Jahrhundert mit dem Drosten-, d. h. Truchseßamt des Münsterschen Domkapitels belehnt ward. Von alters her ansässig in der Gegend war auch das Geschlecht ihrer Mutter. Die vortreffliche Frau ließ sich die Erziehung der früh kränkelnden, aber auch früh ungemein geistesregen Tochter mit zartem Eingehen auf ihr besonderes Wesen angelegen sein. Mit wie tiefer Verehrung und Dankbarkeit Annette an ihrer Mutter hing, davon zeugen die Verse, die sie ihr gewidmet:

„So gern hätt’ ich ein schönes Lied gemacht
Von deiner Liebe, deiner treuen Weise;
Die Gabe, die für and’re immer wacht,
Hätt’ ich so gern geweckt zu deinem Preise.

Doch wie ich auch gesonnen mehr und mehr,
Und wie ich auch die Reime mochte stellen,
Des Herzens Fluten wallten drüber her,
Zerstörten mir des Liedes zarte Wellen.

So nimm die einfach schlichte Gabe hin,
Von einfach ungeschmücktem Wort getragen,
Und meine ganze Seele nimm darin –
Wo man am meisten fühlt, weiß man nicht viel zu sagen!“

Auf dem Schlosse Hülshoff wuchs Annette auf. Die Türme des Schlosses, die gezackten Giebelwände, Ringmauer und Zugbrücke mit dem steinernen Kreuzritter gehörten zu den ersten äußeren Eindrücken, welche das Auge des Kindes aufnahm und die seine erwachende Phantasie beschäftigten.

Die um zwei Jahre ältere Schwester Jenny, die spätere Gemahlin des Freiherrn Joseph von Laßberg, und zwei jüngere Brüder waren ihre Spielgenossen.

Einer Wasserburg glich das Schloß, Ried- und Sumpfgräser standen im Weiher ringsum, ein größerer Park dehnte sich mit prächtigen Baumgruppen dahinter, manch’ liebe Spielstätte der Kinder bergend. In weiterer Umgebung zeigt die Landschaft den echten Charakter des westfälischen Landes. Heide ringsum mit ihren blühenden Sträuchern, Weiher und Sümpfe mit hohen Gräsern und Schilfkolben, das dunkle Moor mit Wallhecken umzogen, zwischen den Buchenhainen und Wäldern die großen Bauernhöfe. Der Charakter dieser Einförmigkeit und Abgeschlossenheit spiegelt sich auch in der Eigenart der Bewohner, in ihrer Einfachheit, Gutmütigkeit, dem Hang zum Mystischen, in tiefer Religiosität und warmem Naturempfinden.

Annette ist ihrem ganzen Wesen nach eine echte Tochter Westfalens und des Münsterlandes gewesen. Die Eigenart des Landes wie seiner Bewohner findet sich mit wunderbarer Naturtreue dargestellt in ihren Gedichten in ihrem ganzen Gefühlsleben. Und wie am ganzen Westfalenland hing ihr Herz mit zärtlicher Innigkeit an dem Vaterhaus, in dem sie die schönen Jahre ihrer Kinderzeit verbracht hatte. Sie hat es oft in ihren Liedern geschildert, und als sie später in der Fremde weilte, da beschwor ihr das Heimweh – wie oft! – das Bild des alten Wasserschlosses. Ihm widmete sie das tief ergreifende Gedicht „Grüße“ –

Einfahrt zum Schloß Hülshoff. Das Rüschhaus.

Dir, Vaterhaus mit deinen Türmen,
Vom stillen Weiher eingewiegt,
Wo ich in meines Lebens Stürmen
So oft erlegen und gesiegt;

Ihr breiten, laubgewölbten Hallen,
die jung und fröhlich ich gesehn
Wo ewig meine Seufzer wallen
Und meines Fußes Spaten stehn.“

Die empfängliche Kinderseele unserer Dichterin gestaltete ihr die Natur überall zu einem Tempel Gottes. Schon sehr früh fühlte sie sich gedrungen, dies dichterisch auszusprechen. Der Natur der Heimat galten gleich die ersten noch gestammelten Verse. Und so blieb es. Mit ungekünstelter Gemütsinnigkeit reiht sie Bild um Bild aneinander, in der Ausführung manchmal wohl spröd, herb und hart – eben westfälische Art! – aber immer naturgetreu und wahr!

Auch ihr Geist reifte früh. Auf Hülshoff wurden die alten Klassiker gelesen, Geschichte, Gesang und Musik getrieben. Aus [29] dem Kind ward die Jungfrau. „Als reine, ungekünstelte und ungeschminkte Natur hatte das junge Mädchen keine Neigung, in der Gesellschaft zu glänzen und die kleinen Eitelkeiten zu üben, welche darin gebräuchlich sind.“

Annette war wenig zugänglich für andere, ihr Gemüt neigte zu einem stillen, vorwiegend innern, beschaulichen Leben. Abgeschlossenheit und Einsamkeit gewährten ihr reichlich die dazu nötige Sammlung. So waren ihr Wald und Weiher, Ried und Heide zum trauten Aufenthalte geworden. Da konnte sie allein mit ihren Gedanken wandern, ihren Herzensgefühlen unterm weiten blauenden Himmel Ausdruck verleihen oder in mondbeglänzter Nacht mit den Geistern der Luft und des Wassers Zwiesprache halten.

Annette von Droste-Hülshoff in ihrem 32. Lebensjahre.

Im Jahre 1826 starb der Vater und bald darauf auch der von ihr besonders ins Herz geschlossene jüngere Bruder. Das war für ihre zartfühlende Seele ein harter Schlag. Ein Brust- und Herzleiden warf sie selbst aufs Krankenlager und für immer blieb der Krankheitskeim in ihr zurück. Sie konnte sich nie wieder völlig erholen. Wohl suchte man ihr späterhin am sonnigen Rhein – – in Koblenz, Köln und Bonn – Genesung zu verschaffen; doch ging sie gern aus dieser Welt der Zerstreuung und des flutenden Lebens mit ihrer Mutter und älteren Schwester zum Rüschhaus, dem nunmehrigen Witwensitz der Freifrau von Droste.

„So an seiner Jugend scheide
Steht ein Herz voll stolzer Träume,
Blickt in ihre Paradiese
Und der Zukunft öde Räume.

Seine Neigungen, verkümmert,
Seine Hoffnungen, begraben,
Alle stehn am Horizonte,
Wollen ihre Thränen haben.“

Das Rüschhaus lag eine Stunde von Hülshoff; es war kein eigentliches Herrenhaus, mehr einem westfälischen Bauernhofe ähnlich. Aber die neuen Besitzer verstanden es vortrefflich, sich nach ihrem Geschmack darin einzurichten.

Abgelegen von der Landstraße, in stiller Einsamkeit, war es so ganz geschaffen, unserer Dichterin ein trautes Heim zu werden. Die Gemächer lagen im unteren Stockwerk gegen Westen, den Blick in einen weiten Garten gestattend. Das Zimmer Annettens war aufs einfachste ausgerüstet, nur mit den notwendigsten Möbeln aus braunem Eichenholz. Ein Strauß frischer Feldblumen zierte stets das stille Gemach.

Gern und oft streifte die Dichterin in der Umgegend des Rüschhauses. Das war für ihren leidenden Zustand Bedürfnis geworden. Dabei machte sie dem Moor und der Sandheide, dem Weiher und Wald, dem Steinbruch Tag um Tag ihren Besuch. „An einen knorrigen Eichenstamm gelehnt, konnte sie stundenlang sitzen auf ihrem ausgebreiteten Tuch und hinausblicken in die weite lautlose Heide, oder sie lagerte sich an versteckten Waldplätzen neben stillen, tiefen Teichen, bis die Abendnebelschleier die Wasserlilien vor dem Auge verdämmern ließen, und der Mond darüber herauskam.“

Aus dieser Zeit stammt das farbenprächtige Stimmungsbild vom „Weiher“:

„Er liegt so still im Morgenlicht,
So friedlich wie ein fromm’ Gewissen,
Wenn Weste seinen Spiegel küssen,
Des Ufers Blume fühlt es nicht
Libellen zittern über ihn,
Blaugoldne Stäbchen und Karmin,
Und aus des Sonnenbildes Glanz
Die Wasserspinne führt den Tanz.
Schwertlilienkranz am Ufer steht
Und horcht des Schilfes Schlummerliede,
Ein lindes Säuseln kommt und geht,
Als flüstr’ es: Friede! Friede! Friede!“

Glücklich mit sich, reiste Annette auch als Dichterin im stillen. Von besonderem Einfluß auf sie war neben dem Vorbilde Walter Scotts, des großen Schilderers der Naturschönheit seiner schottischen Heimat, der Verkehr mit Katharina Schücking, der ersten Dichterin Westfalens, von welcher Lieder schon im Druck erschienen waren, und mit dem heranwachsenden Sohn derselben, Levin Schücking, der später als Romanschriftsteller zu Ruhm und Ansehen gelangte. Diesen beiden erschloß sie die Welt ihres Dichtens, noch ehe irgend welche Kunde von ihr hinaus in die Welt drang. Denn spät erst trat Annette mit ihren Gedichten an die Oeffentlichkeit. die erste Sammlung erschien 1818 und nannte nur die Anfangsbuchstaben ihres Namens; erst als die

Das Fürstenhäuschen bei Meersburg.

[30] um das Doppelte, u. a. auch durch die stimmungsvollen „Heidebilder“ vermehrte zweite Auflage im Jahr 1844 bei Cotta erschien, fand ihr Talent die allgemeine Beachtung.

Als Levin Schückings Mutter gestorben war, nahm sich Annette liebevoll des jungen reichbegabten Mannes an, der in Münster das Gymnasium besuchte und dann in München studierte, während sie, nach ihrem eigenen Ausdruck, Mutterstelle an ihm vertrat. Die Seelenfreundschaft, welche beide verband und welche das alternde Mädchen für eine Weile in schmerzliche Herzenskämpfe verstrickte, wirkte fördernd auf Beider Talent. In treuer Freundschaft hielt sie zu ihm, bis Schückings veränderte Geistesrichtung zum vollen Bruch führte.

Ein besonders inniges Freundschaftsband umschloß sie mit der Familie des erblindeten Professors Bernhard Schlüter in Münster. Hier hatten sich Gemüter gefunden und verbunden, „welche das Gewöhnlichste wie das Tiefste und Höchste, was ein reingestimmtes, natürliches und gottesfürchtiges Menschenherz bewegen kann, mit einander empfanden und austauschten.“ Liebe Freundinnen wurden ihr Henriette von Hohenhausen und Amalie Hassenpflug, die Tochter des bekannten kurhessischen Ministers. Auch die Schriftstellerin Adele Schopenhauer in Weimar, die Schwester des Philosophen, gehörte in diesen Kreis; sie weilte längere Zeit im Rüschhaus zu Besuch.

Aus dieser Zeit des Rüschhauser Aufenthaltes stammt auch das Bild der Dichterin im 32. Lebensjahre. Man rühmte an ihrem durch geistigten Gesicht eine hohe Stirn und das tiefe, klare Blau ihrer großen Augen.

Vom Rüschhaus reiste Annette 1835 mit ihrer Mutter nach Eppishausen im Thurgau. Das Eppishauser Schloß bewohnte die jetzt an den Freiherrn von Laßberg verheiratete ältere Schwester der Dichterin. Nach Jahresfrist kehrte Annette jedoch wieder allein zurück in ihr geliebtes Münsterland. Es gefiel ihr wenig in der Fremde. Wohl war die Lage des Thurgauer Schlosses eine herrliche, voll ungeahnter Großartigkeit der Natur, im Angesicht der majestätischen Schweizerberge, aber der Abschied von ihrer Heimat war ein zu jäher, zu unvermittelter gewesen. Dazu kam der Mangel höherer geistiger Anregung, wie sie ihrem Geschmack entsprach. Ihr Schwager, der Freiherr von Laßberg, war freilich ein hervorragender Gelehrter, allen Studien zur Erforschung der altdeutschen Litteratur ein begeisterter Förderer, aber seine geistigen Neigungen hatten wenig Berührungspunkte mit den ihrigen. Vor allem aber war es das Heimweh nach den heimischen Verhältnissen, was ihr Gemüt hier bedrückte. Dennoch hatte sie das Schicksal, die letzten Jahre ihres Lebens wiederum in der Fremde verbringen zu müssen und ihr Grab doch nicht, wie sie in manchem wehmütigen Liede erfleht, unter den Eichen der geliebten Heimat finden zu können.

„Wer eine ernste Fahrt beginnt,
Die Mut bedarf und frischen Wind,
Er schaut verlangend in die Weite
Nach eines treuen Auges Brand,
Nach einem warmen Druck der Hand,
Nach einem Wort, das ihn geleite.“

Schwer ward Annetten wieder der Abschied vom Rüschhaus, vom Münsterland, seinen Heiden, Weihern und Hügeln; schwer trennte sie sich von all ihren Lieben, von all dem Liebgewordenen. Sie mochte wohl ahnen, wie bedenklich es mit ihrem Gesundheitszustande aussah; sie hatte auch Angst vor dem Heimweh, das sie damals in Eppishausen so schwer heimgesucht hatte. „Indes,“ schreibt sie vor ihrer Abreise an Schlüter, „werde ich doch keine Viertelstunde allein sein können, ohne daß meine Gedanken im Rüschhaus, Hülshoff, Münster wären.“

Der Eingang zum Schloß in Meersburg.

Es war im Herbste des Jahres 1841, da sie in Begleitung ihrer Schwester nach Schloß Meersburg an den Bodensee reiste.

Wie ein mahnendes Denkmal lang’ vergangener Zeit schaut diese hohe Burg am Schwäbischen Meer in altehrwürdigem Kleid weit hinaus über die Flut und hinüber zu der beschneiten Kette der Alpen; drüben am andern Ufer ragen die Türme des Konstanzer Münsters über den Bodanrück und vor diesem im See schimmert in ihrem freundlichen Schmuck die herrliche Mainau! An ein hängend Schwalbennest gemahnt neben dem alten Schloß die Stadt Meersburg mit ihren pittoresken Felsen, den aufsteigenden Straßen, den rebbelaubten Hügeln. Hoch hebt sich der viereckige Turm der Kirche empor, weiter im Osten ragt das fürstbischöfliche Schloß, und in langer Front grüßen des Seminares Fensterreihen.

Und dort die Zugbrücke, und der gotische Thorbogen mit dem Bild des Gekreuzigten daneben lädt zum Eintritt in einen köstlichen Burgfrieden ein, zur entzückenden Schau auf die herrliche Welt, die sich großartig weithin ausbreitet!

Das war die neue Heimat Annettens, und wie diese Natur und Umgebung auf sie einwirkten, davon geben die besten ihrer Geistesprodukte Zeugnis. Ein gut Teil ihrer Gedichte hat ja seine Entstehung in dem Zimmer gefunden, dessen Fenster aus dem untern runden Turm nach dem See hinaus gehen und das ihr nebst den anstoßenden Gemächern zur Wohnung diente.

„Ich steh’ auf hohem Balkon am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und laß gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!“

„Vollkommen einsam konnte sie hier sein,“ sagt Johannes Claassen in der Biographie Annettens, „kaum das Wellengeplätscher des Sees zu ihren Füßen ließ sich hören; auf dem Balkon davor aber stand sie oft und lange – das Land Westfalen mit der Seele suchend.“

„Der Welle ducken ward ein lächelnd Winken,
An jedem Blatte sah ich Tropfen blinken,
Und jeder Tropfen schien ein Kämmerlein,
Drin flimmerte der Heimatlampe Schein.“

Wie sehr auch der Freiherr von Laßberg sich liebevoll und teilnehmend um seine Schwägerin bemühte, durch seine reichen Sammlungen und die großartige Bibliothek ihr Unterhaltung zu verschaffen, wie sehr auch die Dichterin oft genug geistvolle Unterredungen mit bedeutenden Männern damaliger Zeit, Uhland, Gustav Schwab, Wessenberg, die zu Gast ins Schloß kamen, pflegen konnte: sie suchte doch immer wieder mit großer Vorliebe ihr Turmzimmer auf, den nahen Wald, den einsamen Weg am Seegestade. –

Noch zweimal kam Annette in ihr geliebtes Westfalen, doch immer wieder fühlte sie die Notwendigkeit, ihrer Gesundheit halber die mildere Luft des Südens aufzusuchen. Im Jahre 1843 hatte sie sich in Meersburg ein eigenes Anwesen gekauft, sie hatte es um billigen Preis ersteigert und mit dem Honorar bezahlt, das ihr die Cottasche Buchhandlung für die „Gedichte“ ausgehändigt. Es war das „Fürstenhäuschen“ hoch droben auf einem Rebhügel beim Schloß gelegen, weit über Stadt, Burg, See und Berge hinwegschauend auf den von ihr besungenen Säntis.

Dort hat auch die Zeichnerin unsrer Bilder manch eine Stunde gesessen und mit Bewilligung der Nichten Annettens, der beiden Fräulein von Laßberg, die Kopien ihrer Bilder angefertigt.

[31] Zum letztenmal reiste Annette von einem Besuch in Hülshoff im Herbst 1846 nach Meersburg. Ihr Zustand wurde bedenklicher. Sie konnte ihr Fürstenhäuschen nicht mehr beziehen und mußte sich im Freiherrnschloß einquartieren. Husten und Brustbeklemmungen wurden häufiger und heftiger. Sie fühlte ihren Zustand nur zu sehr. Davon geben die Worte in dem schon einmal citierten Abschiedsgedicht „Grüße“ Zeugnis:

„Ich möcht’ euch alle an mich schließen,
 Ich fühl’ euch alle um mich her!
Ich möchte mich in euch ergießen,
Gleich diesem Bache in das Meer.

O wüßtet ihr, wie krank gerötet,
wie fieberhaft ein Aether brennt,
wo keine Seele für uns betet,
Und keiner uns’re Toten kennt!“

Der Frühling des Jahres 1848 streute die duftenden Lenzesblumen über Anger und Hag, grün wurde der Rebhügel am Fürstenhäuschen, weiß schimmernd überdeckten sich die Bäume mit den Blüten des Mai, in frisches Grün kleidete sich der Wald hinterm Schloß; drüben an den Gehängen des Säntis sank der Schnee herab vom Grat zur Tiefe … Frühlings Auferstehungsfest!

Die Glocken hallen dumpf vom Turm der Kirche. Ein langer Leichenzug geht den Berg hinan. Droben läutet ein Glöcklein von der Gottesackerkapelle – Annette von Droste-Hülshoff wurde hinausgetragen zum Friedhof. Am 24. Mai 1848, des Mittags, war sie an einem Herzschlag verschieden. Sie hatte ihn ausgekämpft, den guten Kampf des Lebens.

An der östlichen Ecke des Kirchhofes haben sie die Dichterin eingebettet zur ewigen Ruhe. Der einfache Grabstein enthält das Wappen und darunter die Worte: „Anna Elisabeth, Freiin von Droste-Hülshoff. Geb. den 10. Januar 1797, gest. den 24. Mai 1848. Ehre dem Herrn.“

Bald ein halb Jahrhundert ist seitdem hingegangen. Die Verehrer der Dichterin suchen ihr Andenken heute aufzufrischen im Gedächtnis unserer schnelllebenden Zeit. Münster hat der Dichterin ein Denkmal gesetzt; Meersburg will nachfolgen, sobald die nötigen Mittel vorhanden sind. Der Verfasser dieses Aufsatzes in Meersburg ist gern bereit, Beiträge dafür in Empfang zu nehmen.

Der Grabstein Annettens von Droste-Hülshoff
auf dem Gottesacker zu Meersburg.

Man muß es unserer Dichterin lassen: so eigenartig die Schöpfungen ihrer Muse oft auch in ihrer herben Form und mystischen Auffassung sind, wir lesen uns doch bald willig ein! Es ist eine merkwürdig selbständige Kraft der dichterischen Aeußerung, die sich darin kundgiebt; hoher humaner Sinn, tiefe Wärme und Empfindung beseelen ihre Lieder. Und so wird wahr bleiben, was sie selbst von den Kindern ihrer Muse gesagt hat:

„Meine Lieder werden leben,
Wenn ich längst entschwand,
Mancher wird vor ihnen beben,
Der gleich mir empfand.

Ob ein andrer sie gegeben
Oder meine Hand
Sieh, die Lieder durften leben,
Aber ich entschwand.“




Die Hansebrüder.
Roman von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).
(1. Fortsetzung.)
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
3.

Es wurden während der nächsten vier Wochen noch mehrere Bowlen in Frau Klämmerleins Wohnstube getrunken, und die Stube selbst nahm ein ganz anderes Aussehen an. Der Ausstattung nach glich sie ja noch immer dem Museumszimmer im Geburtshause irgend eines berühmten Künstlers oder Dichters von bescheiden bürgerlicher Herkunft, aber sie schien jetzt wirklich bewohnt. Zwei kleine geschickte Hände walteten in ihr, die jede allzu symmetrische Anordnung von Frau Margarete Klämmerlein durch irgend einen unmerklichen Kunstgriff in ein Bild der Behaglichkeit umwandelten. Und ungefähr denselben Erfolg hatte Fräulein Emilie Flügge nach wenig Tagen auch in den eigensinnigen Köpfen ihrer vier Hausgenossen erzielt.

Sie war keine große Schönheit und auch kein großes Kirchenlicht, aber nett und frisch an Leib und Seele. Natürlich stand sie an Gelehrtheit weit hinter ihren drei Verehrern. Wenn aber das Wissen danach zu bemessen wäre, wie es einer zu handhaben weiß, so übertraf sie die Herren noch um ein Bedeutendes. Sie wußte nichts von der Syntax in den Werken Alfreds des Großen, über welche Doktor Hans Mohr eine so rühmlich bemerkte Staatsarbeit geliefert hatte, aber vor ihrer Fertigkeit, modernes Englisch und Französisch zu sprechen und auszusprechen mußte er beschämt die Segel streichen, obzwar er von dieser Kunst ungefähr so viel verstand wie seine gelehrten Professoren. Philosophie hatte sie niemals studiert, und dennoch wußte der Philosoph Hans Ritter ihren allgemeinen Bemerkungen selten etwas Triftiges entgegenzusetzen. Vollends in der schwierigsten aller Künste, sich mit Kleinem herzlich zu freuen, stand sie über den drei Herren, die doch schon durch ihr Amtseinkommen darauf angewiesen waren, diese Fähigkeit in ganz anderem Maße auszubilden, als ein Kommerzienrat oder Majoratsherr.

Im Laufe der Zeit that die junge Lehrerin auch manchen Einblick in das wunderliche Leben und Treiben der Hansebrüder, sie fand sich mit gutem Humor darin zurecht und lernte sogar einiges von den Trinkformeln und Ausdrücken des akademischen „Comments“ anzuwenden, ohne ihrer weiblichen Würde etwas zu vergeben. Sie verstand sich ganz wohl mit allen drei Herren, am wenigsten geistige Berührung schien sie aber mit Doktor Bardolf zu finden, trotz der gemeinsamen Liebe zur Sangeskunst, die sie in Einzelvorträgen und auch manchmal im gefühlvollen Vortrag von Duetten bethätigten. Allmählich zeigte sich dies auch in ihrem Verhalten. Den Galanterien Doktor Mohrs begegnete sie nach wie vor mit einer gewissen heiteren Ironie, dem zurückhaltenden Ernste Doktor Ritters entsprach ihrerseits eine stille Freundlichkeit, in der sehr viel Achtung mitzuklingen schien; die treuherzigen Huldigungen des blonden Recken jedoch vermied sie immer sorgfältiger, und Doktor Ritter bemerkte, daß sie auf gemeinsamen Ausflügen der fünf Hausgenossen vor der bloßen Aussicht, einen Augenblick allein neben Bardolf zu gehen, befangen errötete.

Emiliens Ferien gingen eine Woche früher zu Ende als die der beiden Lehrer. Am vorletzten Abend vor ihrer Abreise hatten sich die Frauen, ermüdet von einem langen Spaziergange, frühzeitig zurückgezogen. Doktor Hans Ritter saß allein auf seinem Zimmer, sinnend und – dichtend; die letztere brotlose Beschäftigung trieb er seit einiger Zeit sehr eifrig, ohne übrigens anderen mit ihren Erzeugnissen lästig zu fallen. Da trat Doktor Hans Mohr zu ihm ein, er rauchte eine Cigarette und sah sehr wichtig drein. Nach einigen unwesentlichen Worten setzte er sich rittlings auf die Seitenlehne des Sofas und sagte:

„Hör’ ’mal, Ritter – du könntest mir da einen Rat geben. Du bist ja in diesen Dingen gerade kein Fachmann – aber [32] vielleicht hast du doch schon bemerkt, daß ich – wie soll ich sagen – – na, also daß ich unserer lieben kleinen Hausgenossin nicht gleichgültig bin. Na, und was soll ich es leugnen, die Sache beruht auf Gegenseitigkeit. Ich bin verliebt in das Mädchen – einfach verliebt! Heute, unterwegs, als wir so an dem murmelnden Bach im Walde vorbeischlenderten, fehlte nicht viel, daß ich ihr meinen Antrag gemacht hätte. Aber da riefst du mich beiseite, um über die Einkehr zu beraten, und nachher, den Rest des Weges, blieb sie mit Bardolf zurück, was ihr vermutlich nicht recht war, aber in solchen Dingen hat er nicht gerade das größte Feingefühl. Nun möchte ich nur wissen, hätte ich da einen dummen Streich gemacht oder einen gescheiten? Die Sache ist ja ganz wie es im Gedicht heißt: Sie hat nichts und du desgleichen – und so weiter. Es würde jedenfalls eine lange Wartezeit geben, und, weißt du, poetisch ist so etwas ja, aber – –“

Während dieses Vortrages betrachtete Doktor Mohr abwechselnd seine Cigarette, seine Stiefelspitzen und seine Fingernägel, und so entging es ihm, wie blaß und erregt sein Zuhörer aussah. Uebrigens blieb dem Doktor Ritter die Antwort erspart, denn bei den letzten Worten Mohrs trat Hans Bardolf in großer Erregtheit herein und rief. „Kinder, ich bitte um euren Glückwunsch! Heute nachmittag habe ich mich mit Emilie verlobt! Es ist noch Geheimnis, aber ich kann nicht schlafen gehen, ohne es euch wenigstens gesagt zu haben. Verliebt hatte ich mich ja beim ersten Blick in sie – und nun weiß ich aus ihrem eigenen süßen Munde, daß es ihr nicht anders ergangen war. Und einmal im Zuge, sprudelte er sogleich auch die zweite Neuigkeit hervor: er werde den Schuldienst aufgeben und die ihm von einem Parteiführer seiner Richtung angebotene Stelle als Redakteur einer liberalen Zeitung in einem ziemlich großen Fabrikorte des Westens annehmen. „Ein Lehrer will ich bleiben, aber ein Lehrer des Volkes, ein Prediger alles Idealen und Hohen! – Und sie wird meine Frau Lehrerin,“ setzte er selig hinzu.

Bei den ersten schicksalsschweren Worten Bardolfs war Mohr aufgefahren, aber da begegnete er einem so ernsten, beschwörenden Blicke Ritters, daß ihm das Wort ordentlich versagte. Unter diesem zwingenden Blicke fand er sogar allmählich so viel Fassung, Bardolf glückwünschend die Hand zu schütteln. Dann zog er sich zurück und überließ Ritter völlig hilflos dem jubelnden Redestrom, der jetzt unaufhaltsam den Lippen des glücklichen Bräutigams entfloß.

Doktor Hans Ritter ließ auch diesen Wasserfall nach wenigen herzlichen Worten schweigend über sich ergehen. Er hatte sich eine Cigarre angezündet und schien fast mehr mit ihr als mit dem Geschicke seines verliebten und verlobten Freundes beschäftigt. Allmählich ging dessen Vortrag aus Dur in Moll über. Vermögen besäßen sie ja freilich beide nicht, und die neue Stellung trage für den Anfang nur wenig mehr ein, als er in einigen Jahren auch als Lehrer zu erwarten habe. Sie würden eben entweder beide warten müssen, bis er und sie sich so viel erspart hätten, um sich einrichten zu können – oder aber wie richtige Zigeuner ins Blaue hinein freien. Und am Ende sei das noch am besten – auch um Emiliens willen; denn sie habe ihm bitter geklagt, wie peinlich und demütigend ihr ihre Stellung unter einer habsüchtigen Prinzipalin und neben deren anmaßender Tochter sei und ehe er das geliebte Mädchen noch jahrelang in solchen Stellungen schmachten lasse …

„Aber das wird ja wohl nicht nötig sein,“ unterbrach ihn Doktor Ritter. „Wozu ist denn die Großmutter da? Ihr wißt am Ende beide nicht, daß sie sich schon längst ein Sümmchen von so dreitausend Mark etwa zurückgelegt hat.“

Doktor Bardolf sah groß auf. „Aber Mensch,“ rief er, „das wäre ja ein unerhörter Glücksfall! Dreitausend Mark – damit könnten wir uns ja ein Paradies einrichten! Woher weißt du das denn?“

„Ja,“ sagte Ritter, während er abgewandten Gesichtes in einer dunklen Ecke nach irgend etwas herumsuchte, „sie hat es eben immer sehr geheim gehalten. Ich glaube, ich bin der Einzige, der es weiß. Und weißt du … am Ende ist es auch wohl am besten, wenn ihr es mir überlaßt, ihr die Sache klar zu machen. Morgen ist Sonntag – da werde ich mit ihr sprechen, wenn sie aus ihrer Frühmesse kommt. Du wirst ja wohl schon einen Weg wissen, deiner … deiner Braut nahe zu legen, daß sie so lange schweigt.“

„Natürlich,“ rief Doktor Bardolf. „Es ist merkwürdig, welches Glück du immer bei alten Damen hast! Weißt du noch – schon in unseren Fuchssemestern, da schickten wir dich immer voraus, wenn es galt, unsere Wirtin anzupumpen! Aber daß du das für mich und Emilie thun willst – Mensch, Bruder, das werde ich dir nie vergessen!“ Er stürzte auf den Freund los, und Doktor Ritter mußte es sich nun doch gefallen lassen, daß ihn der andere mit seinen Heldenfäusten zärtlich herumdrehte und ihm ins Gesicht starrte. „Aber, mein Gott, wie siehst du aus?“ fragte Bardolf.

„Ich habe Kopfschmerzen,“ sagte Ritter. „Vielleicht etwas erkältet.“

„Ja,“ meinte Bardolf, „du sprichst auch so heiser! Nimm dich nur in acht! Du kannst auch so wenig Strapazen vertragen. Na, sei nur zufrieden, jetzt wird es bald um so stiller hier im Hause! Nun geh aber zu Bett, und nochmals – tausend, tausend Dank! Ach, werde ich heute nacht süß träumen!“

„Möchte es in Erfüllung gehen,“ erwiderte Ritter und geleitete ihn freundlich zur Thür. Dann saß er noch lange vor seinem Schreibtisch und starrte auf die weißen, mit Versen beschriebenen Blätter. Ein paarmal faßte er sie an, als wollte er sie zerreißen. Zuletzt legte er sie sorgfältig in einen Umschlag, den er im hintersten Gefach des Tisches verbarg.

Am folgenden Morgen hatte er dann ein heimliches Gespräch mit Frau Klämmerlein, aus welchem seine Beredsamkeit nach langem Kampfe als Siegerin hervorging und abends wurde die Verlobung gefeiert. Es war eine stille Feier, die Greisin und Doktor Ritter waren ziemlich schweigsam. Sie schienen es kaum zu bemerken, daß das Brautpaar mehrmals in den dunklen Garten hinaustrat, um den prachtvollen Sternenhimmel zu betrachten, bis es sich endlich von seinem letzten astronomischen Ausgang erst wieder zu ihnen zurückfand, als es für Emilie die höchste Zeit war, zum Bahnhof zu fahren.

Hans Mohr war bei diesem stillen Familienfeste nicht zugegen. Ueber Nacht war ihm plötzlich eingefallen, daß er einem unlängst in die Provinz versetzten Verwandten vom höheren Steuerfach versprochen habe, ihn gegen Schluß der Ferien auf einige Tage zu besuchen. Nach seiner Rückkunft verkehrte er mit Bardolf äußerlich so freundschaftlich wie zuvor. Aber das alte Verhältnis zwischen den drei Hansebrüdern fand sich nicht wieder und es hätte sich wohl auch dann nicht wiedergefunden, wenn Bardolfs Braut den beiden anderen ganz unbekannt und gleichgültig gewesen wäre. Denn ein richtiger Verlobter ist für seine im Junggesellentum verharrenden Freunde immer ein ungeselliges Wesen. Wenn er schweigt, so scheint ihn eine gewisse geheimnisvolle Weihe zu umwittern, welche die anderen zu einer steten unbequemen Vorsicht in der Wahl ihrer Gesprächsstoffe, Scherze und Worte veranlaßt, und wenn er spricht, so ist es zumeist von etwas, das im eigentlichsten Sinne des Wortes nur für den Liebhaber Wert habe, nämlich von seiner Liebsten.

Doktor Hans Bardolf machte keine Ausnahme von dieser Regel. Immerhin trug er sein Glück mit wirklichem Herzenstakt, und es schien, als ob er ganz ernstlich und pflichtbewußt darauf bedacht sei, sich aus der bisherigen burschikosen Gemütlichkeit zu einem würdigen Mitgliede des vornehmsten, meistbietenden und meistfordernden aller Stände, des Ehestandes, heraus zu arbeiten. Durch besondere Fürsprache war es ihm gelungen, sich bereits zum Anfang des Winters einen ehrenvollen Abschied aus dem Staatsdienste zu verschaffen; eifrig bereitete er sich inzwischen auf seinen neuen Beruf vor, in dem er von Neujahr an; die ersten paar Wochen unter Anleitung seines Vorgängers, wirken sollte und den er sich in leuchtenden Farben, mit wahrhaft idealen Versprechungen an die Mitwelt und Anforderungen an sich selbst ausmalte.

Als der erste Schnee fiel, reiste Frau Klämmerlein nach dem künftigen Wohnorte des jungen Paares, um Emilie in der Ausstattung der Wohnung zu unterstützen und eine Woche vor Weihnachten fand die Hochzeit statt, ohne andere Gäste als die beiden Freunde des Bräutigams und eine ältere Kollegin der Braut, ein stilles, verblühtes Jüngferchen in mausgrauer

[33]

’s Ringl.
Nach dem Gemälde von E. v. Müller.

[34] Gewandung, welches während der Trauungspredigt mehrmals errötete und beim Hochzeitsmahl, das in Frau Klämmerleins Museum stattfand, den Doktor Hans Ritter befragte, ob er Goethe oder Schiller für den größeren Dichter halte.

Dann wurde es, wie Hans Bardolf vorausgesagt hatte, sehr still in dem kleinen Hause. In das Zimmer „Bremen“ zog ein Kandidat der Theologie ein, der von der feuchtfröhlichen Vergangenheit seines Reiches nichts wußte und sie auch wohl kaum ganz gebilligt haben würde. Die beiden Freunde fingen an, so ganz allmählich jeder seine eigenen Wege zu wandeln, die äußeren Linien ihres kameradschaftlichen Verkehrs änderten sich noch nicht, aber sie verblaßten allmählich.

Doktor Hans Mohr hielt sich vom Parteileben, das er bisher pflegte, jetzt zurück, er entwickelte einen außerordentlichen Eifer für den pädagogischen Beruf und verfaßte für eine große Tageszeitung über neuerschienene Werke dieses Fachs mehrere lobende Besprechungen, die ihm einen angenehmen und sorgfältig gepflegten Briefwechsel mit den einflußreichen und angesehenen Verfassern eröffneten.

Doktor Hans Ritter war in seiner Weise nicht minder fleißig, seine „Kritische Würdigung der philosophischen Beweise für das Dasein Gottes“ gedieh endlich über die Einleitung hinaus und versprach sich zu einem jener Standwerke deutschen Geistes auszuwachsen, zu deren Durchlesen man ein Jahr und zu deren Abfassung ein Leben braucht. Oefters aber wurde er der Philosophie untreu und lief ihrer leichtfertigen Schwester, der Poesie, zu, die ihm allerhand Verse und Geschichten eingab, Erzeugnisse eines wunderlichen, nach innen gekehrten Humors. Es ging etwas von dem wehmütig süßen Erinnerungsduft des Klämmerleinschen Museums hindurch, in welchem er gar manches Mal stundenlang saß, geduldig die Erzählungen der alten Frau anhörend und sich mit ihr an den Briefen Emiliens erfreuend, aus denen das reinste und tiefste Liebesglück sprach.

Hans Bardolf schrieb seltener, meist nur einige herzliche Zeilen unter den Briefen seiner Frau. Anfangs schickte er sehr häufig Nummern seiner Zeitung, mit irgend einem blau angestrichenen Aufsatz, auf den er sich etwas Besonderes zugute thun mochte. Nach diesen Aufsätzen zu schließen, bearbeitete er für sein Blatt die verschiedensten Gebiete, von der hohen Reichs- und Stadtpolitik bis zur Kritik über eine durchreisende Operettentruppe – und alles, was er schrieb, war gleichmäßig mit einem eigenen, hochstrebenden und weltüberfliegenden Hauche beseelt, der es von dem übrigen Inhalte des Blattes wunderlich unterschied. Denn dieser setzte sich zumeist aus Beiträgen zusammen, die Hans Ritter schon vor Eintreffen der Postsendung ganz ebenso in dem von ihm gehaltenen Blatte der Universitätsstadt und anderen Ortsblättern gleicher Parteirichtung finden konnte, sie waren offenbar in Centralküchen gekocht und erinnerten auch in ihrem Geschmack manchmal an solche Gerichte, die in großen Kesseln für viele zu verschiedenen Tageszeiten speisende Gäste auf Vorrat gekocht und portionsweise aufgewärmt werden. Uebrigens wurden die Kreuzbandsendungen Bardolfs nach kurzem immer seltener.

Darüber war der Winter vergangen, die Veilchen und Kirschbäume hatten geblüht, die Kapuzinerkresse kleidete das altersgraue Gewand der Gartenmauer mit einem überaus bunt geblümten grünen Futter aus, und der wilde Wein stieg dem Häuschen mit üppigen Ranken bis aufs Dach. Seine Blätter wurden mählich rot, auf der feuchten Wiese des Gartens zeigten sich zu Frau Klämmerleins äußerstem Mißfallen wieder einige blasse Herbstzeitlosen; auch ihre Blüten vergingen in Nebel und Reif, und ein klarer Sonnenmorgen nach der ersten richtigen Frostnacht brach sanft und geräuschlos wie mit weichen Mädchenfingern die falben und roten Blätter ab, alle miteinander an einem Tage. Und dann kam mit dem ersten Winterschnee eine kurze Depesche, der ein langer, jubelnder Brief folgte; es war alles gut gegangen, die Mutter den Umständen nach wohl – ein prächtiges Mädchen, und Johanna Margarete sollte es heißen, nach ihren Paten, der Urgroßmutter und dem Doktor Hans Ritter.


4.

Am Jahrestag der Hochzeit ihrer Eltern wurde die kleine Johanna Margarete getauft. Es war wirklich ein sehr kleines Geschöpf für einen so langen Namen; Uneingeweihten erschien es als ein länglich rundes weißes Leinenpaket mit rosa Seidenschleifen und einer Art rötlichem Gesicht, welches nur unvollkommen an ein Menschenantlitz erinnerte, nach Aussage der Urgroßmutter dagegen vollkommen einem Engelsköpfchen glich. Der Doktor Hans Ritter wagte es nicht, irgend einen Zweifel gegen diese Behauptung auszusprechen im stillen that er, was die meisten unverheirateten Herren Paten beim ersten Anblick einer solchen Menschenknospe thun – er versuchte, sich eifrig und erfolglos vorzustellen, daß er auch einmal so ausgesehen habe. Völlig aber wie ein Gebild aus höheren und reineren Reichen erschien ihm die liebliche Gestalt, die sich mit mütterlicher Inbrunst über dieses unvollkommene Wesen beugte und ihm den von fern her angereisten Paten und „Onkel“ mit einem Ernste vorstellte, als wäre es schon imstande, sich sogleich zu erheben, zu knixen und ein „Sehr angenehm“ zu lispeln. Er hatte sie geliebt, mit einer tiefen und keuschen Liebe, von der nur Gott und er wußten, und er hatte dieser Liebe entsagt. Nun wandelten sich Liebe und Entsagung in eine wunschlose Andacht zu der heiligsten irdischen Macht, welche dem in zarter Jugend Verwaisten hier zuerst so vertraut, in so lieblicher und zarter Gestalt entgegentrat – zur Mutter, und es erfüllte und bewegte seine Seele wahrhaft wie ein Gelübde, als er vor ihren Augen das winzige Etwas – ihr Kind, zaghaft auf den Armen hielt und der Geistliche – unter lautem Widerspruch des Täuflings – das kahle Stirnchen benetzte.

Es war ein ganz nettes und trauliches Heim, in dem die kleine Grete das Licht der Welt erblickt hatte und zum Mitglied der christlichen Gemeinschaft geweiht wurde. Freilich waren es nur sechs kleine Räume einschließlich Küche und Mädchenstube; es war schon ein schwieriges Stück, zumal eben jetzt, für einen Logiergast ein Plätzchen frei zu machen, welches Hans Ritter natürlich der alten Dame überließ, während er sich selber in einem benachbarten Wirtshaus unterbrachte. Auch lag die Wohnung im dritten Stock, auf den dunklen und vielgewundenen Treppen duftete es nach mancherlei Hantierungen, und den Laden im Erdgeschoß unten hatte sogar ein sehr bemerkbares Butter- und Käsegeschäft inne. Allerdings versicherte der Doktor Bardolf, bis vor einem Vierteljahr habe dort ein Seifen- und Parfumeriehändler gewohnt und der Mann mit den Käsen werde nach Ablauf eines Mietsjahres sein Geschäft laut Aussage des Hausherrn verlegen. Drinnen aber in den kleinen Zimmern sah es um so einladender aus, die Möbel waren noch neu, sie strahlten von Sauberkeit und verrieten in ihrer Anordnung eine höchst reizvolle Mischung weiblichen Schönheitssinnes und männlicher Genialität. An der einen Wand des einfenstrigen Taschenzimmerchens, welches der Doktor Bardolf seine Studierstube zu nennen beliebte, und wo jetzt einstweilen Frau Klämmerlein schlief, hatte er aus seinem Offiziersdegen, seinem Helm und zwei sorgfältig entladenen Revolvern eine wirksame Trophäe aufgebaut, während an der anderen Wand ein Brett mit sieben langen Pfeifen die Würde und Hoheit des deutschen Mannes mehr von der friedlichen Seite zeigte. Im Wohnzimmer, über dem Sofa, hingen inmitten zahlreicher kleiner Photographien die Porträts von Emiliens Eltern, von Frau Klämmerlein mit Thränen begrüßt; gegenüber aber blickte einer der Engelsknaben von Rafaels Sixtina, mit himmlischer Gelassenheit auf die runden Aermchen gelehnt höchst befriedigt auf ein wirkliches, wohlgestimmtes Klavier.

Es war sehr hübsch, vor diesem Klavier beim freundlichen Lampenschein den Melodien zu lauschen, die Frau Emilie mit sanftem träumerischen Anschlag mehr angab als spielte, indes das ältliche Dienstmädchen, welches sie bereits als Kind in ihrer Eltern Haus gepflegt hatte und auf ihren Ruf aus weiter Ferne zu ihr übergesiedelt war, mit einer bei solchen Wesen höchst ungewöhnlichen Geräuschlosigkeit im Nebenzimmer das Abendbrot rüstete. Es war noch hübscher, wenn dann die vortragende Künstlerin plötzlich, beim ersten Ton eines leisen wimmernden Stimmchens aus dem Schlafzimmer, aufsprang und dorthin eilte, um eines höheren Amtes zu walten, indes die Zurückbleibenden einander mit einem wunderlichen, fröhlichen Lächeln anschauten. Ganz überaus hübsch aber war es, als Frau Emilie im Wohnzimmer den kleinen Weihnachtsbaum aufputzte – bereits „ihren“ [35] zweiten, wie sie mit Stolz erklärte; die anderen mußten derweil im dunklen Eßstübchen warten, nur ihre Tochter durfte dabei sein und „helfen“, bis dann alles fertig war und die kleine Gemeinde hereingelassen wurde, um sich am Glanze der Lichtchen, am Tannenduft zu erquicken und die angeblichen Zeichen einer überaus frühreifen Weihnachtsfreude auf den Zügen des vier Wochen alten Christenfräuleins gebührend zu bestaunen. Für keines fehlte es an überraschenden Geschenken, das eigenartigste aber hatte Frau Klämmerlein dem Urenkelchen mitgebracht – die Flasche Achtzehnhundertelfer, mit ganz vom Alter geschwärztem rotgelbem Siegel und der verblichenen Aufschrift in altmodischer Kanzleischrift: „Meyner lieben Nichte Margarete zum elften Geburtstag, am ersten Denktage der glorreichen Völkerschlacht, auf daß sie sich daran labe, wann es ihr im Leben so recht glückselig und sorgenfrey zu Mute ist.“ Sie hatte nicht allzuviel Tage gehabt, an denen es ihr „so recht glückselig und sorgenfrey“ war, und wann es einmal war, hatte sie an die Flasche Kometenwein nicht gedacht; nun schenkte sie ihn an die Urenkelin mit der gleichen Widmung weiter.

Vater Bardolf meinte, eigentlich würde die Klausel am sichersten erfüllt, wenn Grete den Wein gleich jetzt tränke, und indem er das sagte, lächelte er herber, als es sich zu einem bloßen Scherz paßte. Alsbald aber blickte er wieder mit glückseligem Behagen um sich, und hernach, als man bei Punsch und Kuchen zusammen saß, sprach er Vieles von der Zukunft, mit dem alten hoffnungsseligen Idealismus. Seine jetzige Stellung berührte er nur flüchtig, gleichsam als ein Sprungbrett, von welchem ihm über kurz der Aufsprung zu einer höheren und weit reicher ausgestatteten Stellung an einer der großen Parteizeitungen glücken sollte; und es war aller Ehren wert, was er dann auf jener freieren Warte für das deutsche Volk alles zu thun und zu schreiben gedachte. In dem ehrlichen Kraftton der Ueberzeugung, mit dem er das vortrug, lag auch für andere etwas Ueberzeugendes, zum mindesten Ermutigendes, und wenigstens sein Weib hörte ihm vollkommen gläubig, mit leuchtenden Augen und verschämtem Stolze zu. Denn so groß das eitle Selbstvertrauen eines Mannes sein mag, es wird doch übertroffen und oft genug überdauert von einem ungleich reineren und rührenderen Gefühl, von dem Zuvertrauen des Weibes, das ihn wahrhaft liebt.

Frau Margarete Klämmerlein verstand am wenigsten von den Thatsachen, auf die sich die Zuversicht Bardolfs mit Recht oder Unrecht stützte; immerhin war sie alt genug und hatte genug Luftschlösser aufsteigen und einsinken sehen, um aller Hoffnungsseligkeit mit Mißtrauen zu folgen. Aber stärker als der Zweifel war diesmal in ihr der Wille, sich glücklich und beruhigt zu fühlen. Ihre Enkelin war ein geliebtes und beglücktes Weib, das Kind war ein süßer Engel, und diese beiden Lichter bestrahlten einstweilen alle dunklen Sorgenecken in ihrer sorgenmüden Seele. Als sie am dritten Weihnachtstage mit Hans Ritter wieder heimfuhr und der einzige Mitreisende auf einer kleinen Station den Waggon verlassen hatte, faßte sie die Hand ihres Gefährten und sagte: „Sie haben recht gethan daß Sie mir das Geld gaben, Herr Doktor. Damals hatt’ ich so meine Bedenken und Zweifel. Aber nun ist sie glücklich, und er ist ein so braver lieber Mensch, und an dem Kinde werden wir, so Gott will, noch viel Freude erleben. Sie hatten recht, und ich danke Ihnen nochmals!“

Hans Ritter nickte ihr freundlich zu und blickte in die weite weiße Landschaft hinaus. Er versuchte sich die Oede mit all den lieben und schönen Bildern zu beleben, die in diesen zehn Tagen an ihm vorübergezogen waren und die alle den Worten der alten Frau beistimmten. Aber statt dieser Bilder, die er nun schon drei- und viermal unterwegs in befriedigtem Erinnerungsaustausch mit ihr erneuert hatte, drängte sich immer wieder eines vor seine Seele, von dem er zu niemand gesprochen hatte: ein überheiztes, verräuchertes, schlecht tapeziertes Zimmer, in dem es nach bedrucktem Papier und schlechten Cigarren roch, mit unsaubern Regalen, baufälligen Stühlen und einem großen Doppelschreibtisch ausgestattet. Vor diesem Schreibtisch hatte Hans Bardolf gesessen. als er ihn am zweiten Tage seines Besuchs ohne Verabredung auf seinem Bureau aufsuchte; auf dem Tisch lagen zahlreiche Ausschnitte aus Zeitungen, auch ein paar lange gelbe und weiße Papierbogen, mit hektographierter Schrift, auf einer Seite bedeckt. Alle diese Papierfetzen und Streifen waren an kleine Blätter weißes Papier geklebt, die in Blaustift und Tinte allerhand Vermerke in Bardolfs großzügiger Handschrift trugen. Ein Kleistertopf mit großem Pinsel und eine Schere machten sich neben dem Tintenfaß breit. „Der Herr Doktor ist drinnen, aber er wird wohl wenig Zeit haben, er macht den Stoff für die nächste Nummer zurecht,“ hatte der junge Mann gesagt, der draußen hinter dem Ladentisch mit der Ueberschrift „Annoncen-Expedition“ mit einigen Kunden verhandelte. Und Hans Ritter erinnerte sich der Bestürzung, mit der Bardolf bei seinem Eintritt aufgefahren war und, errötend wie ein Mädchen eine große, vielfach angeschnittene Zeitung über den Tisch gebreitet hatte. er schämte sich seines Handwerks! Dann, während Bardolf mit ihm ein Stelldichein in der nächsten Wirtschaft verabredete, war ohne viel Anklopfen ein Herr im Pelzrock hereingekommen, lang, hager, noch ziemlich jung, mit kalten, scharfen Augen, der eine Zeitung in der behandschuhten Rechten trug und, ohne den Besuch zu beachten, im Flüsterton auf Bardolf einredete. Ritter sah, wie der Freund unter den strengen und bestimmten Vorwürfen des andern nur mühsam seine Fassung bewahrte, und er erkannte auch den Aufsatz, dem dessen Mißfallen zu gelten schien: es war ein von Bardolf verfaßter Leitartikel, in welchem gewisse kürzlich in einer anderen Industriestadt aufgedeckten Fälle rücksichtsloser Ausbeutung der Frauen- und Kinderarbeit besprochen und die Bekämpfung solcher Mißbräuche als eine besondere, naturgemäße Aufgabe des liberal gesinnten Bürgertums gefeiert wurde. Bardolf hatte ihm den Artikel tags zuvor mit großer Genugthuung vorgelesen und sich sehr über sein Lob gefreut. – –

Als er nachher mit dem Freunde durch die Neustadt gegangen war, in welcher weite Fabrikanlagen mit modernen, breiten Villenstraßen abwechselten, hatte Bardolf nach einem besonders protzig angelegten Hause mit dem Kopf hingedeutet: „Das Haus kannst du dir merken, da wohnt einer der größten Schleicher dieses Jahrhunderts. Du hast ihn ja vorhin auf meinem Bureau gesehen!“

Und als Ritter antwortete: „Wie ein Schleicher sah der Mann nun eben nicht aus,“ hatte Bardolf bitter lächelnd hinzugesetzt. „Das hat der Herr Assessor auch vor einem armen Zeitungsschreiber nicht mehr nötig, seit er mitten in unsere Hochfinanz hineingeheiratet hat. Und das schlimmste ist, daß er mit seinem Einfluß wirklich hier am Ort die maßgebende Person für unsere Sache ist. Er klettert auf der Leiter hinauf, aber ohne ihn fällt auch die Leiter um.“

Und dann hatte er Ritter einen Namen genannt, den dieser erst vor einem halben Jahre als Ueberschrift eines reich mit Lob gespickten Artikels in Bardolfs Zeitung gelesen hatte. Der Artikel war von Bardolf verfaßt. „Im Auftrage des Aufsichtsrates, verstehst du! Unsere Zeitung ist auf Aktien gegründet, er besitzt jetzt die Hälfte davon und die Dividende, auf die er rechnet, ist zunächst ein Landtagsmandat und ein Orden. – Ja, siehst du, lieber Freund, wenn man nur für sich zu sorgen hätte. Aber nur Geduld, ich bringe es schon weiter. … Und so lange nur Frau und Kind gesund bleiben und man selber gesund ist. … Denken wir an die Zukunft! …“

Damit war das Gespräch auf lieblichere Dinge gekommen …

Die Erinnerung hieran beschäftigte Ritter, während er mit der alten Frau von der Taufe heimfuhr. Draußen dehnte sich wieder weit und breit das verschneite Ackerland. Hier und da reckten neben dem Bahndamm Fichten und Birken ihre Kronen über den Schnee wie Wegweiser, die von einem überwachsenen, vergessenen Wege übrig geblieben sind. Ein Schwarm Krähen flog auf und strich krächzend in der Richtung nach den Vorbergen hin, die grauweiß am Horizont auftauchten. Die alte Frau war eingeschlafen. Leise legte Ritter ihr seine Reisedecke über die Knie. Sie strich im Halbschlaf mit den Fingern darüber, der weiche wollige Stoff schien ein Traumbild in ihrer Seele zu wecken.

„Das arme süße Kindchen,“ murmelte sie. „Nur immer recht weich betten, recht warm halten!“

(Fortsetzung folgt.)

[36] 0


Blätter und Blüten.


Der Schuß auf den Wal. (Zu dem Bilde S. 24 und 25.) Eine Scene von packendster Wirkung führt uns F. Lindner in seinem Bilde vor. Wir sehen da ein kleineres Segelschiff, das in den Küstengewässern des Nordatlantischen Oceans kreuzt, um auf Wale Jagd zu machen. Es ist mit einem jener Harpunengeschütze ausgerüstet, die vor etwa 30 Jahren von G. Cordes aus Bremerhaven zum erstenmal mit Erfolg in den Walfischfang eingeführt wurden. Dieselben bieten den Vorteil, daß man mit ihnen Wale verschiedener Art und Größe nicht nur „festmachen“, sondern auch sogleich schwer verwunden und töten kann; sie kürzen also den Kampf ab, der bei dem gewöhnlich üblichen Fang mit der von Manneshand geschleuderten Harpune zwischen dem „festgelegten“ Wal und den Harpunierbooten geführt wird. Das Geschoß, das von diesen Geschützen gegen die Riesen des Meeres abgefeuert wird, besteht aus einer schweren schmiedeeisernen Harpune, an der ein starkes Tau befestigt ist; am Schafte der Harpune ist noch zumeist ein besonderer Behälter mit einer Sprengladung angebracht. Wird der Wal von dem Geschoß getroffen so ergreift er die Flucht und zieht dabei die Leine straff an. Dadurch wird in dem Sprengbehälter ein Glas zerbrochen, dessen Inhalt nunmehr die Sprengladung entzündet; es erfolgt eine Explosion, durch die der Wal getötet wird. Nur in den Fällen, wo der Mechanismus versagt, muß der angeschossene Wal nach alter Weise von Harpunierbooten verfolgt werden, bis er nach und nach ermattet und verblutet. – Das Schiff auf unserem Bilde ist in die Nähe eines Wales gekommen, der, hohe Wassergarben aufwerfend, die Flut durchschneidet. Einen Augenblick bietet das Tier seinen mächtigen Rücken als Zielscheibe dar. Nun wird der Schuß krachen und mit höchster Spannung sieht die Schiffsmannschaft der kommenden Wirkung entgegen. Kein Wunder, handelt es sich doch um eine Jagdbeute, deren Erlös an Thran und Fischbein je nach der Größe des Tieres mehrere tausend Mark betragen kann.*     

’s Ringl. (Zu dem Bilde S. 33) Seitdem das Lenerl von ihrem Schatz das goldne Ringl mit den blauen Vergißmeinnichtsteinen geschenkt bekam, ist sie schon wiederholt drauf und dran gewesen, ihn ihrer besten Freundin, der Burgei, zu zeigen. Aber noch muß ihr Verspruch mit dem Jochbauernsepp eine Weile geheim bleiben, bis sich beide Elternpaare bereit fanden, zu dem Bunde ihren Segen zu geben. Der Sepp hat verlangt, daß sie gegen jedermann fein still bleiben soll bis dahin. Als die Len’ aber nun wieder mit der Burgei zusammentrifft, da überkommt sie das Verlangen mit Macht, und hinter einem Heustadel, wo sie sich ganz unbelauscht weiß, weist sie der Freundin verschämt und doch voll Seligkeit den Reif. Keine Silbe kommt dabei über ihre Lippen – ihr Wort will sie halten, das Ringl sagt so genug! Die Burgei aber lächelt verschmitzt, sie ist eine Schlaue und hat längst das Geheimnis der Freundin erraten! Doch auch jetzt will sie warten, bis es der Len’ an der Zeit scheint, sie ganz zur Vertrauten zu machen. „Ja gelt, der ist schön“, sagt sie in neckischem Tone, indem sie aufrichtig bewundernd den Goldreif betrachtet. „Den hast gewiß von Deiner God in Brixlegg bekommen, wie du neuli’ drunt’ bei ihr warst?“ Da wird das Lenerl feuerrot, – ist das Spaß oder Ernst, was die Burgei da sagt? – dann aber hebt sie den Blick treuherzig zu dieser empor und flüstert in reizender Verlegenheit: „Moanst dös wirkli’?“ ...

Die ersten Schritte.
Nach dem Gemälde von A. Jacob.

Staubwirbel und Sandtänze. In wüstenhaften Gegenden mit trockenem Klima und felsiger, sandbedeckter Oberfläche wird nicht selten eine meteorologische Erscheinung beobachtet, welche gewiß zu den seltsamsten unserer Atmosphäre gehört. In Persien, Beludschistan, im Indusgebiet, in Nevada und in einigen anderen Ländern, freilich bei weitem nicht in jeder wüstenartigen Gegend, beobachtet man alsdann bei völliger oder nahezu völliger Windstille, daß sich urplötzlich ein leichter Luftstoß bildet, der eine Handvoll feinen Staubes vom Boden rafft und in die Höhe wirbelt. Ohne äußeres Zuthun, rein aus sich selbst heraus, wächst dann diese kleine Staubsäule an, saugt den gröberen Sand des Bodens sichtlich auf, reckt sich in die Länge und Breite und beginnt zu kreisen. Bald rafft sie Gesträuch, Gras, Kies empor, Steine erheben sich und machen den Wirbel mit, und ringsum herrscht immer noch völlige Windstille und tiefes Schweigen. Die wirbelnde Säule reckt sich bei 8 bis 20 Fuß Durchmesser bis in die Wolken, und endlich setzt sie sich in Bewegung: der „tanzende Riese“ wie man die wunderlichen Gebilde in Nevada nennt, ist fertig. Anfangs langsam eilt er bald mit Windeseile über den dürren Boden hin, gern den Thalzügen folgend und mitunter lange Reisen vollendend, bevor er sich geräuschlos, wie er entstand, auflöst. Der Eindruck der ungeheuren, geisterhaft durch die stille, sonnige, windlose Gegend schreitenden Gebilde auf den Reisenden soll großartig sein, dabei haben sie nichts von der zerstörenden Gewalt der Tromben und auch niemals die trichterförmige Gestalt der Wasser- und Windhosen. Manchmal kann man mehrere solcher Säulen zugleich sehen: Cook zählte in Indien ihrer zwanzig an einem windstillen Tage in dem von hohen Bergen eingeschlossenen Thale Mingochac. Selten richten die wandernden Staubtänzer Unheil an, da ihre Massen gering sind und man ihnen leicht ausweichen kann, dennoch soll es schon vorgekommen sein, daß überraschte Wanderer von ihnen ergriffen und mitgenommen wurden. Die Vorbedingung ihres Entstehens ist ein heißer, trockener Tag mit einer Atmosphäre, die stark von Elektricität erfüllt ist. Wenn beim Schwellen des Indus sein Wasser überzutreten und in den alten Kanal zu fluten beginnt, der zur Bewässerung des oberen Stromgebietes angelegt ist, so pflegt der vorschreitenden Flutwelle auf die Entfernung einiger Kilometer eine solche gewaltige Staubsäule voranzugehen. Vielleicht wird die genauere Erforschung dieser Staubwirbel einst den Schlüssel zur Erklärung der bekannteren Wirbelerscheinungen, wie Tromben, Wasserhosen, Tornados, Cyklonen u. dergl., liefern. Bw.     


Inhalt: Trotzige Herzen. Roman von W. Heimburg (1. Fortsetzung). S. 21. – Der Schuß auf den Wal. Bild. S. 24 und 25. – Ein Streit um die Stunde. Eine Zeitbetrachtung von Dr. H. J. Klein. S. 27. – Die Sängerin der Heimatliebe. Ein Besuch der Heimstätten Annettens von Droste-Hülshoff. Von Victor Schmitt. S. 28 Mit Abbildungen S. 21, 28, 29, 30 und 31. – Die Hansebrüder. Roman von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach) (1. Fortsetzung.) S. 31. – ’s Ringl. Bild. S. 33. – Blätter und Blüten. Der Schuß auf den Wal. S. 36. (zu dem Bilde S. 24 und 25.) – ’s Ringl. S. 36 (Zu dem Bilde S. 33.) – Staubwirbel und Sandtänze. S. 36. – Die ersten Schritte. Bild. S. 36.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.