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Die Gartenlaube (1897)/Heft 16

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[261]

Nr. 16.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Trotzige Herzen.

Roman von W. Heimburg.

(15. Fortsetzung)


Einer nach dem andern,“ sagten die Leute in Breitenfels; „von der alten Garde oben im Schloß ist nächstens keiner mehr da!“

Nun war auch der alte Medizinalrat an die Reihe gekommen.

In der Adventszeit hatte er die müden Augen geschlossen. „Ein schöner Tod!“ sagten die Leute auch. Der alte Herr war vormittags noch auf dem Schlosse gewesen bei dem kleinen Kerkow, hatte sich nach dem Mittagsessen auf das Sofa gelegt, und als er gar so lange geschlafen, war die Frau Medizinalrat hinübergekommen, um ihn zu wecken. Aber er schlief so fest, der wackere Mann, daß ihn weder der thränenlose Schrei der Frau, noch der Jammer der jungen Magd aufzuwecken vermochte.

Ein Kollege hatte an die Kinder telegraphiert, und Hede Kerkow war heruntergekommen vom Schloß und die Nacht über bei der ganz gebrochenen alten Frau geblieben. Ob sie denn abkommen könne, hatte der Oberförster sie gefragt, der am andern Morgen erschien, um sich zu erkundigen, ob er irgend etwas thun könne für die alte Frau, und um sich zu entschuldigen, daß er nicht gestern bereits gekommen, er habe jedoch erst heute die Trauerkunde erfahren, da er gestern nicht daheim gewesen sei.

„O ja!“ hatte Hede geantwortet, gleichgültig und kurz.

Sie sahen sich seit langer Zeit zum erstenmal wieder, es war in der Eßstube der Frau Rat, die wie ein Steinbild im Lehnstuhl saß und nur von Zeit zu Zeit fragte. „Wie

Von der Hundertjahrfeier in Berlin: die Germania im Bürgerfestzuge.
Nach dem Leben gezeichnet von W. Pape.

[262] spät ist es denn?“ Aenne sollte um zwei Uhr auf der Station eintreffen.

Der Oberförster sah Hede Kerkow scheu von der Seite an. Das trübe Licht des Dezembertages zeigte ihm ein ganz verändertes, vergrämtes Gesicht, die heitere wohlthuende Ruhe war verschwunden, es lag etwas Gespanntes darin; auch die Bewegung der Hand – sie strich wie gedankenlos die Rechte der alten Frau, die schlaff über die Lehne des Stuhles hing – war nervös.

In diesem Augenblick erschien das Mädchen und meldete, es könne keinen Wagen auftreiben, um das Fräulein abzuholen; alles sei zur Holzauktion und die feinen Kaleschen hätten Ballfuhren auf den Abend.

„Ich werde es Heinz sagen, Frau Rätin, sein Wagen kann fahren,“ erklärte Hede Kerkow.

„Ach Gott,“ jammerte die alte Frau, „giebt es denn keinen, der sich erbarmt und sie darauf vorbereitet, daß ihr Vater schon tot ist? Sie weiß ja nur, daß er schwer erkrankte!“

„Doch, Frau Rätin, ich will mitfahren,“ Hede nahm ihren Mantel wieder um und ging. –

Heinz lehnte im Sofa und las ein Aktenstück, das Erkenntnis des Gerichtes – seine Ehe war geschieden! Heini, der einen größeren Fahrstuhl bekommen hatte, saß, von Polstern unterstützt, aufrecht und malte mit der linken Hand Buchstaben auf eine Schreibtafel, die rechte konnte der kleine Kerl nicht gebrauchen. Hede trug kurz ihre Bitte vor, und der Bruder bestellte sofort das Anspannen.

„Möchtest du das arme Mädchen nicht abholen?“ fragte Hede, nachdem der Diener gegangen war, „ich fühle mich so abgespannt,“ setzte sie zögernd hinzu. In Wahrheit wollte sie ihn aufrütteln aus seiner Lethargie.

„Fräulein May abholen? Ich? – Nein! eine Frau versteht es besser, derartige Mitteilungen zu machen. – Ich – ich bitte dich, verlange das nicht!“ antwortete er.

Er starrte sein Aktenstück wieder an, verschloß es dann in seinen Schreibtisch, ergriff eine Zeitung und begann zu lesen. So that er immer, wenn er allein zu sein wünschte.

„Verzeih’ mir!“ murmelte sie, strich noch einmal über Heinis Blondhaar und verließ das Zimmer.

Heinz sah sie abfahren vom Fenster aus, aber er dachte kaum noch an den traurigen Zweck dieser Fahrt. Er war ein ganz gebrochener, fast stumpfsinniger Mensch geworden – und das wußte er selbst am besten, er – für den es nur noch ein Lebenswertes auf der Welt gab, das Kind. Von heute an war er ein freier Mann, aber er wußte nichts mehr anzufangen mit dieser Freiheit. Und wenn er auch die Energie noch gehabt hätte – das Kind durfte er doch nicht mit hinausnehmen in das ungewisse Leben, in die weite Welt, wo er einen Platz sich erst suchen mußte, der seinen Neigungen entsprach, aber auch seinen Kräften, seinem Können. Es ist heutzutage wahrhaftig nicht leicht, etwas zu finden, und er hatte ja auch in diesem erzwungenen Müßiggang die Kräfte erlahmen lassen.

Das Kind würde nie gesunden, aber Doktor May hatte noch bei seinem letzten Besuche gestern gesagt, er habe eine Rassekonstitution, der Kleine, er werde leben bleiben, und vielleicht, wenn die chronische Entzündung vorüber, könne man es versuchen, ihn das Gehen an Krücken zu lehren. Und dann hatte er Heinz auf die Schulter geklopft und hinzugefügt. „Er kann Ihnen auch so Freude und Ehre machen, er hat Kopf, er denkt. – Man muß immer auf Ueberraschungen gefaßt sein im Leben. Hätt’ ’s auch nicht geglaubt von meiner Aenne, daß sie ’mal – na – – guten Morgen Herr von Kerkow!“

Heute lag der gute alte Mann dort unten starr und kalt! – Und Aenne kam nach Hause, an sein Totenbett, Aenne, die es zu etwas gebracht hatte im Leben. Heinz aber las, seitdem ihr Name in den Blättern genannt wurde, nie mehr die Rubrik „Kunst und Wissenschaft“ in der Zeitung. Dies junge zarte Mädchen hatte ihn beschämt, aus eigner Kraft hatte sie sich losgerissen von einem Mann, den sie nicht liebte, hatte sich trotzig auf ihre kleinen Füße gestellt mit einer Sicherheit, die staunenswert war. Ebenso arm und aussichtslos wie er, hatte sie es gewagt, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen und – hatte gesiegt; er war tot, lebendig tot! Und dazu bemächtigte sich seiner in dieser Einsamkeit zu zweien – er und das kranke Kind – eine unheimliche Angst. Er dachte beständig an die Schwester im Irrenhause, und dann kamen Stunden, furchtbare Stunden, die er mit sich allein durchkämpfte, denn Hedwig mochte er nicht ängstigen durch den Gedanken, daß auch er –?

Das Mädchen that ihm so leid, aber er verstand sie nicht mehr, und sie nicht ihn. Sie war womöglich noch niedergedrückter als er. Im Anfange hatte sie noch versucht, ihn zu ermuntern, hatte dies und jenes ihm vorgeschlagen. Ohne es zu wissen, bereitete sie ihm damit nur eine unerträgliche Pein. So knüpfte sie einmal ihre Ratschläge an seine dichterischen Neigungen, denen er sich bereits als Kadett hingegeben hatte. Ob er die Verse noch habe, die er zuweilen heimgeschickt, fragte sie ihn. Sie bewahre mehrere davon auf, ob sie es einmal an ein litterarisches Blatt senden dürfe? Sie sei überzeugt, es werde reüssieren.

Er hatte darauf gelacht wie toll, so toll, daß ihm die Thränen in die Augen getreten waren, hatte sie auf die Schulter geklopft und gesagt. „Guter Kerl, gieb dir keine Mühe!“

„Wenn du die Verse gleich illustriertest,“ war ihre schüchterne Einwendung gewesen.

„Weiter nichts? Na, laß nur gut sein, mir thut der Kopf weh vom Lachen!“ Und er sah sie an mit einem Blick, in dem so viel Schmerz und Pein lag, daß sie erschrocken schwieg.

Ach, diese Oede! Diese Wüste, die vor ihm lag, vor ihm, dem Schloßhauptmann von Kerkow! Wenn endlich die Zeit um sein würde und seine Kräfte verbraucht, dann pensionierte man ihn wahrscheinlich mit dreihundert Thalern. – Das einzige, was ihn noch retten könnte, war ein Krieg, aber trotz all dem Revanchegeschrei von drüben und aller sonstigen drohenden Anzeichen – es blieb Friede.

Gott sei Dank, mochte er bleiben! Um einer verpfuschten Existenz aufzuhelfen, dazu waren doch schließlich die Kriege nicht da! Und dann das Kind, und wieder das Kind! Hede besaß solch’ komische Art, mit dem kleinen Menschen umzugehen, der die ganze verbitterte, gleichgültig ironische Art des Vaters angenommen hatte, sie wollte ihn behandeln wie die pausbackigen Oberförsterkinder, die noch an Märchen glaubten. Heini liebte die Märchen nicht, „denn ich weiß besser, daß es keine Zauberer giebt, es geht alles natürlich zu,“ erklärte das fünfjährige Kind. „Es giebt auch keine guten Feen, denn wenn’s solche gäbe, hätte Papa eine zu mir geschickt, die mich gesund machen könnte. Er wollte von Tante Hede „wirkliche Geschichten“, und die Qualen, die der Dauphin von Frankreich erlitten, konnte er immer wieder hören. „Seinen Papa hat man geköpft,“ sagte er, „ich habe meinen Papa, der kleine Ludwig war viel schlimmer dran als ich, Tante Hede, und war doch ein Prinz!“

Die Tante, die aus der gesunden Kinderstube des Oberförsters kam, fror es in dieser Atmosphäre von Krankheit, Resignation und Altklugheit. Und doch, das Kind hatte so rührende Züge! Um seinen Vater nicht zu stören, konnte es stundenlang Schmerzen erleiden, ohne zu klagen, konnte ein Uebelbefinden geradezu verheimlichen. Seitdem Heinz Kerkow von seiner Frau verlassen war und sich gewöhnt hatte, stundenlang in dumpfem Brüten zu verharren, eine Cigarre nach der anderen dabei rauchend, hatte das Kind eine zärtliche Rücksicht für ihn, so, als sei der große Mann der Kranke, der gepflegt und geschont werden müßte.

Warum hast du die Dame nicht abgeholt, Papa?“ fragte er jetzt plötzlich, „und was ist denn das für eine traurige Mitteilung, die du ihr nicht machen willst?“

Heinz kam zu seinem Sohn herüber und faßte dessen Hand. „Mein Junge, du mußt es ja auch wissen,“ sagte er, „dein guter Onkel Doktor ist gestorben. Er war alt und müde und ruht nun aus – das ist der Lauf der Dinge.“

„Der Lauf der Dinge“, sprach Heini nach. „Als Großtante Gruber starb, sagtest du das auch.“

„Ja, Heini, das Leben macht müde; das Alter ist der Abend, und wenn die Nacht kommt, schlafen wir.“

Heini nickte. „Ich bin sehr traurig, Papa, ich hatte ihn lieb.“

[263] „Ich auch, Heini, sehr lieb, und nun kommt seine Tochter, und Tante Hede sagt’s ihr, daß ihr alter Papa schläft.“

„Kennst du die Tochter, Papa?“

Heinz streichelte das Blondköpfchen: „Ja, mein Junge, und du kennst sie auch.“

„Nein, Papa!“

„Doch, Heini!“ Sie hielt im Sommer das Glas Milch, damit du trinken solltest – erinnerst du dich?“

„Ja! Nun wird sie wieder weinen; du hättest hinfahren sollen, Papa.“

„Nein, Heini, ich mag nicht sehen, wenn sie weint.“

„Kannst du sie denn nicht leiden?“

Heinz blieb die Antwort schuldig. – Nach Tische, als der Kleine schlief, stand er wieder am Fenster und wartete auf die Rückkehr des Wagens. Er hatte auch den Schloßgärtner holen lassen und ein paar Palmenzweige bestellt, so schön sie da waren. Dann fiel ihm ein, daß er zum Begräbnis gehen müsse – Begräbnisse boten jetzt die einzige Abwechslung in seinem Leben – und da würde er Aenne sehen. Vielleicht schloß er sich auch erst auf dem Kirchhofe an, vielleicht auch vermißte man ihn gar nicht!

Endlich sah er den Wagen heraufkommen längs der Parkmauer, sah ihn über den Schloßplatz rollen und vor dem Hause des Medizinalrats halten. Eine Gestalt stieg aus und verschwand in der Hausthür, der Wagen wandte um und fuhr langsam den letzten steilen Weg hinan.

Aenne war heimgekommen! Arme Aenne, sie hatte den alten Mann so kindlich geliebt und verehrt!

Hede trat bald darauf in das Zimmer, sie hatte verweinte Augen und gab ihm stumm die Hand.

„Sie läßt dir danken für den Wagen,“ sagte sie endlich. „Wie ist es euch ergangen unterdes? War der Tisch ordentlich besorgt?“

„Ich glaube – ja – es war alles in Ordnung.“

„Dann auf Wiedersehen beim Thee, ich will ein wenig ruhen. Sie ging in ihr Zimmer.

Sie war Aenne zum erstenmal begegnet, und die Erscheinung des jungen Mädchens, der Zauber ihres Wesens hatte sie gleich gefangen genommen wie die angstvolle Frage in den großen feuchten Augen, als sie ihr entgegentrat, wie die schlichte, gefaßte Art, mit der sie die bittere Nachricht aufnahm.

„Meine arme Mutter,“ hatte sie gesagt mit einem Aufschluchzen und dann mit ihrer halb heiseren Stimme zum Kutscher: „Nicht wahr, Sie fahren recht schnell?“ Und während des ganzen Weges nur noch einmal. „Haben Sie meine Mutter gesehen? Bekümmert sich denn jemand um sie? Ach, wäre ich erst daheim!“

„Günther befand sich bei ihr, als ich sie verließ, hatte Hede erwidert, aber sehr gepreßt.

„Ach, das ist gut, das ist gut!“ war die Antwort gewesen, und erst dann kamen die Thränen geflossen.

Ja, was war sie neben diesem Mädchen, sie, die arme Hede Kerkow mit ihren fünfunddreißig Jahren? Er hatte jene geliebt, er liebte sie noch, und sie wunderte sich, daß er andere nicht bemerkte!

Es war etwas wie Ruhe über sie gekommen, die Ruhe, die man einer unabänderlichen Thatsache gegenüber empfindet, ein Strich unter alle ihre thörichten Wünsche und Hoffnungen, die sie sich selbst kaum eingestehen mochte. Nur eines sollte die Vorsehung ihr gewähren – daß sie Heinz dem Leben wieder gewinnen könne.


Den alten Herrn hatte man zur Ruhe bestattet. Schon acht Tage waren seitdem vergangen, die Kinder waren noch vollzählig versammelt um die Mutter, die sich in ihrem Jammer nicht zu finden vermochte in das Leben einer Witwe. Der Lieutenant und der Referendar wollten noch über das Weihnachtsfest bleiben, und es gab ja auch noch manches zu besprechen mit der alten Frau, wozu sich bis jetzt der passende Augenblick nicht gefunden hatte. Angenehmes war es natürlich keineswegs. Tante Emilie, die zwölf Stunden später als Aenne in Breitenfels eintraf, gerade noch recht zum Begräbnis – sie hatte doch die kleine Wohnung erst versorgen müssen auf längeres Fernbleiben – war mit Rat und That um die ganz aus den Fugen gekommene Schwägerin bemüht, trotzdem ihr selbst das Herz um den Goldbruder recht weh that. Die alte Frau klammerte sich krampfhaft an ihre Tochter, und Aenne war so mild und geduldig, so tröstend, wie nur sie sein konnte. Sie schlief neben der Mutter, sie hörte das nächtelange Weinen und Jammern und nahm klaglos die Vorwürfe hin, daß sie gefühllos sei, wenn der Jugendschlaf sie überwältigte unter dem Stöhnen der alten Frau.

Heute fühlte sie sich, die allezeit Aufrechte, die ja doch selber so heißen Schmerz um den Vater empfand, nach einer ganz durchwachten Nacht aber so müde und ruhebedürftig, daß sie hinausschlich in ihr kleines Stübchen und es Tante und Brüdern überließ, mit der Mutter auf ein paar Stunden allein fertig zu werden. Frau Rat war jetzt in ein neues Stadium, in das der Bitterkeit, geraten. „Wär’ ich nur gleich gestorben,“ klagte sie wieder und wieder, „läg’ ich auch nur gleich da drunten, dann hätten meine Kinder doch die große Last nicht, die so ein armes, verlassenes, altes Tier verursacht wie ich es bin!“

Der Lieutenant, der etwas von ihrem Temperament besaß, legte das Wochenblättchen hin, in dem er gelesen, und nervös mit dem Finger seinen Halskragen lockernd, sagte er. „Von uns hat sich noch keiner beklagt, Mutter, noch keiner gesagt, daß du eine Last bist. „Du mußt in deinem Schmerz auch nicht ungerecht werden.“

Es war so in der Dämmerung zwischen vier und sechs Uhr, eine Lampe brannte noch nicht, draußen stöberte der Schnee.

„Hat einer von euch gefragt, Mutter, wo wirst du dein Haupt hinlegen? antwortete sie grollend aus ihrem Lehnstuhl am Ofen. Keiner hat das gethan. Ihr lebt hier so hin, als wäre gar nichts passiert.“

„Wenn wir das thaten,“ lautete die gereizte Antwort, „so geschah es überhaupt nur aus Zartgefühl – wir ehrten deine Trauer. Da du nun aber von selbst darauf zu sprechen kommst, Mama, so können wir das Thema gleich erörtern. Wo ist denn Aenne?“

„Oben!“ antwortete Tante Emilie, „sie schläft ein bißchen, laßt sie doch!“ Aber in diesem Augenblicke klinkte die Stubenthür und die schlanke dunkle Gestalt des jungen Mädchens glitt wie ein Schatten in das Zimmer.

„Na, da bist du.ja!“ sagte der Lieutenant, „wir wollten dich eben rufen; man muß doch ’mal darüber reden, was nun werden soll.“

„Ist Mutter hier?“ fragte sie, „in der Dunkelheit kann ich gar nichts sehen.“

„Wo soll ich denn anders sein?“ stöhnte die alte Frau aus ihrer Ecke heraus.

„Setze dich nur, Aenne,“ eröffnete der Lieutenant die Unterredung, „wir brauchen kein Licht. Es ist eben von Mutter die Frage aufgeworfen worden, was nun werden soll mit euch. In diesem Hause werdet ihr ja leider nicht bleiben können, aber in der Nähe, dächte ich, müßte es doch Wohnungen geben?“

Die Witwe begann bitterlich zu schluchzen.

„Weine doch nicht, Muttel“, tröstete Aenne. „Ein Vierteljahr bleibst du jedenfalls noch hier wohnen, und nachher kommst du selbstverständlich zu mir.“

„Das heißt – du kommst zu Mutter,“ erklärte der Referendar, der bis jetzt geschwiegen hatte.

Aenne antwortete nicht.

„Oder willst du etwa, daß sich Mutter noch auf ihre alten Tage an eine Großstadt und eine vier Treppen hoch gelegene Wohnung gewöhnen soll?“

„Dann nur lieber gleich tot!“ erklärte Frau Rat. „Ach, hätte der Vater mich doch mitgenommen!“

„Aber, Mutter“, bat Aenne, „werde doch nur erst ruhiger, es ist ja doch heute noch nicht nötig, einen Beschluß zu fassen!“

„Ja, ja, ich habe alles vorher gewußt! Selbst die einzige Tochter!“ rief sie laut weinend.

„Mutter,“ sagte jetzt das Mädchen mit fester Stimme, „wenn ich nun verheiratet wäre, würdest du dann auch verlangen, ich sollte hierher nach Breitenfels kommen? Nicht wahr – dann kämest du doch zu mir, ganz selbstverständlich zu mir.“

[264]

Die Enthüllung des Nationaldenkmals in Berlin am 22. März 1897.
Nach einer photographischen Aufnahme von Dr. Adolf Hesekiel & Co. in Berlin.

[265] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [266] Die alte Frau hörte einen Augenblick zu weinen auf. „Du bist aber doch noch nicht verheiratet!“ warf sie ein wie ein eigensinniges Kind.

„Aber ich habe meinen Beruf, Mutter, einen Beruf, dem ich Jahre meines Lebens opferte, der mich ernährt und beglückt, an den ich gebunden bin wie an einen Mann.

„Ach so – das geht natürlich vor!“ klang es bitter.

„Aber würdest du denn von Robert oder Walter verlangen, daß sie ihren Beruf aufgeben und hier bei dir bleiben?“

„Blech!“ scholl die Stimme des Referendars aus dem Winkel. Der Lieutenant räusperte sich. „So bist du also auch eine von den Frauenrechtlerinnen geworden, die unser Familienleben verderben?“ sagte er gereizt. „Der Beruf der Frau liegt innerhalb der Familie – die Tochter gehört zur Mutter!“

„Habe ich das bestritten? fragte Aenne. „Bis zu meinem letzten Hauch werde ich ihr gehören, ich kenne keine heiligere Pflicht. Und in dem letzten Brief, den der Vater an mich schrieb, vielleicht unter der Ahnung seines Todes, da steht: ’Nicht wahr, Aenne, du bleibst mit Mutter zusammen?’ Er hätte die Mahnung nicht nötig gehabt, auch ohne sie würde meine Kindesliebe wissen, was sie zu thun hat. Aber ich meine doch, daß diejenige von uns, die nur noch ausruht vom Leben, der andern, die mitten darin steht, wirkt und schafft, die da kämpft um ihre Existenz, sich fügen würde.

„Na also, geh’ doch nur,“ lamentierte die alte Frau, „kannst ja gleich gehen, ich habe es dir sofort angemerkt, daß dir der Boden hier unter den Füßen brennt.“

„Lieber Gott, ich kann doch nichts dafür, daß der Vater uns keine Reichtümer hinterlassen hat,“ sagte das Mädchen.

„Ja, wenn ich recht reich hinterblieben wäre, dann würdest du wohl stillsitzen bei der alten Mutter, aber so ein altes Bettelweib mit fünfhundert Mark Pension – das mag doch allein zusehen, wie es fertig wird!“

„Du hast ganz recht,“ sagte Aenne fest, aber merklich heiser, „eben weil wir arm sind, muß ich hinaus und darf deine fünfhundert Mark nicht noch mit aufessen, sie werden ohnehin kaum für dich langen. Die Stimme erstickte ihr vor Aufregung und sie ging schnell hinaus.

Tante Emiliens zur höchsten Empörung gereiztes Organ scholl hinter ihr her. „Seid ihr denn nur alle ganz von Gott verlassen?“ rief die alte Dame. „Ist denn ein Mädchen, weil es nicht geheiratet hat, gerade nur gut genug, um dahin gestoßen und geschubbt zu werden, wohin es die eigensinnige Frau Mutter und die freundlichen Herren Brüder für gut befinden? Hat sie sich dafür gequält mit ihren Studien, Tag und Nacht, um fortan hier in Breitenfels zu versauern? Glaubt ihr denn nicht, daß sie an ihrem Beruf hängt, oder habt ihr so wenig Verständnis, so wenig Achtung vor der Kunst? Glaubt ihr denn, ihr Egoisten, ihr werdet sie vor Armut und Not bewahren können, wenn sie ihre Kräfte jetzt nicht nutzt – ihr beiden armen Teufel, die ihr selbst nichts habt – die ihr nie gegeben, nur immer genommen habt, auch die sauer verdienten Groschen des armen Mädchens!“

„Bitte, ereifere dich nicht,“ unterbrach der Lieutenant sie kühl, „und werde nicht ausfallend! Wer spricht denn davon, daß Aenne ihr Gelerntes und ihre Kunst nicht ferner verwerten soll? Ihre Konzertreisen kann sie doch von hier aus ebenso gut machen wie von Dresden aus, das ist meine Meinung. „Das kann sie nicht!“ schrie Tante Emilie mit einer Stimme, wie man sie ihr nie zugetraut hätte, „sie muß in der Kunst leben, sie muß Musik hören, gute Musik; sie will weiter streben, weiter lernen, das geht nicht hier, und kurz und gut, ich habe das Kind ausbilden lassen und habe infolgedessen auch ein Wort mitzureden! Aenne geht zurück nach Dresden, und wenn die Mutter vernünftig ist, so folgt sie ihr – wenn nicht, dann bleibt sie allein hier, oder einer von euch quittiert und zieht zu ihr, denn ihr seid ihre Kinder so gut wie Aenne – das habe ich gesagt!“

Frau Rat war still vor Entsetzen, auch die beiden Söhne schwiegen; Walter, der Referendar, murmelte nach einem Weilchen: „Verrückte Weiberwirtschaft!“ Als aber plötzlich das Weinen der Mutter aufs neue begann, da kam er leise herüber zu seinem Bruder und flüsterte ihm zu. „Du, laß uns nur ’mal fortgehen, ich schnappe hier über! Und so konzentrierten sie sich beide rückwärts und gelangten unbemerkt auf die Straße.

Als Frau Rat aus ihrem Weinanfall wieder zu sich kam, stand Aenne neben ihr. „Bitte, Mama, setze dich an den Tisch, es ist ein Brief gekommen – Tante bringt gleich die Lampe“. Und sie nahm freundlich die Hand der Mutter und leitete sie zum Sofa. „Mein gutes, altes Muttel“, sagte sie leise und küßte sie. Aber Frau Rat fand sich zu schwer gekränkk, sie erwiderte den Kuß ihres Kindes nicht.

Ein paar Minuten später war das Zimmer erleuchtet und die alte Frau las den Brief mit dick verweinten Augen. Es war ein Schreiben aus der Herzoglichen Kammer, wonach der Witwe des verstorbenen Medizinalrats May das unentgeltliche Wohnungsrecht in dem Hause, das sie bisher mit ihrem Manne inne gehabt habe, durch des Herzogs Gnade bis an ihr Lebensende verliehen sei.

„Doch einer, der Mitgefühl hat,“ sagte sie, „doch einer!“

Aenne rührte sich nicht. Sie hatte eine Handarbeit genommen und nähte. Nun war ihre Sache ganz verloren, das fühlte sie.

„Ihr freut euch wohl gar nicht?“ fragte die Mutter scharf.

„Ach, Mama,“ antwortete Aenne, „ich kann mir ja denken, wie schwer es sein muß, von einem Ort fortzugehen an dem man so lange Jahre glücklich war! Jetzt – freilich – wirst du hier bleiben?“

„Und du also zu mir kommen?“

Aenne sah sie nur groß an, und plötzlich mußte die Mutter den Blick senken vor diesen stillen, ernsten Mädchenaugen. „Es ist deine Pflicht“, murmelte sie verlegen.

„Ja, Mutter, und sie wird mir leicht werden, denn ich habe dich sehr lieb,“ sagte Aenne herzlich.

„Ich habe keine Kinder gehabt,“ brummte Tante Emilie, „aber so viel verstehe ich denn doch davon, daß Pflichten immer gegenseitig sind.“

„Tante!“ bat Aenne.

„Was hat sie gesagt?“ forschte Frau Rat mißtrauisch.

Das Klingeln der Hausthür enthob Aenne einer Antwort, dann brachte das Dienstmädchen eine Visitenkarte herein. ,Dr. med. Lehmann, praktischer Arzt’, stand darauf.

Frau Rat wußte von ihm nur, daß er sich vor einiger Zeit im Städtchen niedergelassen hatte. Sie sagte dem Mädchen, sie lasse den Herrn Doktor bitten, einzutreten.

Aenne erhob sich, um hinauszugehen, aber die Mutter rief ihr ungeduldig zu, sie solle bleiben. Tante Emilie ließ sich indes nicht halten. Doktor Lehmann trat herein, ein junger, etwas untersetzter Herr, dem die Mensurschramme über der linken Wange gut zu der frischen Art seines Auftretens stand und dem es sichtlich schwer fiel, seinen offenen lebenslustigen Zügen den von der Situation geforderten Ernst zu geben. Nach mehreren Höflichkeiten über den Tod des verehrten Herrn Kollegen rückte er heraus mit dem, was er wollte. Er habe gestern abend vom Rentmeister gehört, daß die verehrte Frau Rat hier wohnen bleibe. Nun komme er, zu fragen, ob vielleicht Frau Rat geneigt sei, ein paar Zimmer an ihn zu vermieten. Sie möge ja entschuldigen, daß er schon jetzt, während der tiefen Trauer, danach frage, indessen der nahe Kündigungstermin treibe ihn dazu, und in der untern Stadt seien bereits mehrere Kollegen ansässig, und Frau Rat wisse auch wohl, daß es einem Anfänger immer recht schwer gemacht werde, und so hoffe er –

Aenne stand plötzlich auf und ging hinaus. Es war ihr peinlich, zu hören, wie seine Bitte abgelehnt wurde, und daß die Mutter ablehnen würde, glaubte sie bestimmt. Sie setzte sich, in ihren Schmerz versunken, in der Küche auf den Stuhl am Herd, auf dem sie schon als kleines Mädchen so gern gesessen hatte, um in die zuckenden, spielenden Flammen zu schauen sie hatte so oft in Dresden von diesem traulichen Plätzchen geträumt. Heute wanderten ihre Gedanken von hier nach Dresden, in ihr liebes kleines Heim unterm Dach, wo sie so viel gelernt hatte, unter anderem auch, wie man sein thörichtes, sehnsüchtiges Herz bezwingt, wie man zufrieden wird. – Fahr’ wohl, du schönes Leben voll Arbeit und frischer Schaffenskraft! Was wird ihre Lehrerin sagen? Was alle die Konzertunternehmer, denen sie sich verpflichtet hatte auf ein Jahr hinaus? Ein Weilchen würde es ja gehen von hier aus, aber dann – dann würde es heißen die May schreitet nicht mehr vorwärts, dann wird sie so langsam verschwinden aus dem Gedächtnis der Arrangeure und des Publikums, und dann [267] fängt die große Oede und Einsamkeit an. Sie würde dann hier Gesangstunden geben, den Töchtern der Oekonomen aus der untern Stadt und von den umliegenden Gütern, die wollen dann Lieder von Abt singen und werden Brahms scheußlich finden und wenn’s Glück gut ist, darf sie bei ein paar Konzerten in der Kreisstadt mitwirken.

Tante Emilie trat zu ihr. „Verliere den Mut nicht, Kind! Man ißt nichts so heiß, wie es gekocht wird.“

Aenne nickte. „Ich hab’ ’s dem Vater versprochen, Tante, und Mutter kann auch nicht immer allein sein, ich dachte nur, sie hätte mich so lieb, daß sie – – aber es ist wahr, es ist ein unbilliges Verlangen von mir gewesen.“

„Laß nur,“ tröstete die Tante, „ich bin alt und bleibe bei ihr, und du bist ein verständiges Kind, du gehst allein ins Leben hinaus. Sie werden sich das alles noch überlegen, die Mutter und die dummen Jungen dazu, die haben’s doch gern genommen, wenn du ihnen was schicktest, und werden’s vermissen.

Aenne schüttelte den Kopf. Nein, Tante, ich will der Mutter den Lebensabend nicht verbittern, es war ja nie nach ihrem Sinn, daß ich hinausging, sie hat immer Kummer um mich gehabt.

„Natürlich, du solltest heiraten und thatest es nicht.“

Aenne seufzte. „Reden wir nicht mehr davon, Tante!“ bat sie.

Nun hörten sie, wie die Stubenthür ging und wie die Mutter den Gast hinausbegleitete. Nach einem Weilchen trat sie in die Küche, es lag auf ihrem Gesicht zum erstenmal wieder ein Ausdruck, der an die thätige wirtschaftliche Frau von früher gemahnte.

„Ich habe die Zimmer vom Vater vermietet,“ sagte sie, „Neujahr zieht er ein, natürlich – vorbehaltlich der Genehmigung der Herzoglichen Kammer.

Aenne erbleichte. „Vaters Zimmer – vermietet?“ stotterte sie, „Vaters Zimmer?“

„Mit den Möbeln – was soll man machen, um durchzukommen?“

Keine der beiden Ueberraschten antwortete; Aenne verstand ihre Mutter nicht. Eben noch der Kampf um ihr Dasein, jetzt das schnelle Preisgeben der Wohnräume des Verstorbenen an einen Fremden – –

„Es ist doch besser, ich habe einen Schutz im Hause,“ fuhr die Rätin fort,„als wenn wir Frauensleute so allein wohnen – und sie schalt zum erstenmal wieder auf das kleine Dienstmädchen, weil der Wasserkessel beinahe leer auf dem Feuer stand. In ihrem Herzen war wieder eine Hoffnung aufgegangen – der Doktor hatte Aenne so bewundernd nachgeblickt, als sie hinausging.

Aenne aber stieg hinauf in ihr Stübchen; sie lehnte die Stirn an die Scheibe und Thränen flossen ihr aus den Augen, so daß das einsame Licht in dem Erkerfenster des Schlosses droben zu allerlei Gestalten verschwamm vor ihren Blicken. Und der dort bei dem Lichte saß – der war noch unglücklicher als sie.

Und auf einmal erfaßte sie ein thörichtes, riesengroßes Verlangen, neben ihm zu sitzen, den Kopf gegen seine Schulter zu legen und unter Thränen zu sagen: „Ach, wir beide, Heinz, wir beide – was ist aus uns geworden!“ Aber dann würde er sie ansehen, so gleichgültig und kalt und fremd wie am Begräbnistage.

Es fror sie plötzlich, die kleine Aenne May, und sie schlich hinunter in die Wohnstube zu Mutter und Geschwistern und saß da mit wehem Kopf und hörte, wie die Brüder es sehr vernünftig fanden, daß Mutter den Doktor als Mieter angenommen hatte.

Und in dieser Nacht weinte die alte Frau nicht, zum erstenmal nicht seit dem Tode ihres Mannes, sie schlief.

(Fortsetzung folgt.)




Stärkungsmittel.
Ein Beitrag zur Hygieine der Arbeit.

Gar viele seufzen im Leben unter einer Arbeitslast, die zu schwer ist für ihre Schultern. Die einen zwingt die Not und Ungunst der Zeiten zu einer übermäßigen Anstrengung, andere bürden sich aus Ehrgeiz oder der Sucht, reich zu werden, mehr auf, als sie tragen können, andere wieder mühen sich zu ihrem Vergnügen ab, irgend ein Ziel zu erreichen. In diesem notgedrungenen oder freiwilligen Hasten und Jagen ermatten täglich Millionen Menschen und schauen sich nach einem Stärkungsmittel um, das die schwindenden Kräfte neu beleben soll.

Der Handarbeiter, der vorwiegend seine Muskeln anstrengt, und der geistige Arbeiter, der sein Gehirn und seine Nerven in rastloser Thätigkeit erhält, befinden sich in gleicher Lage, wie verschieden ihre Arbeit erscheint, beide werden in gleichem Maße müde, oft ehe sie ihr Tagewerk vollbracht, und die wenigsten mögen ausspannen, um in der Erholung die naturgemäße Neubelebung der Kräfte zu finden.

Darum sind Stärkungsmittel vielbegehrt und in manchen Lebenslagen auch wertvoll und notwendig. Dem Müden werden sie in Hülle und Fülle geboten aber wie nicht alles Gold ist, was da glänzt, so verdient nicht alles als Stärkungsmittel geschätzt zu werden, was unter diesem Name segelt. Schon das verbreitetste und bekannteste aller Stärkungsmittel, der Alkohol, der in Bier, Wein oder Branntwein genossen wird, ist in seiner Wirkung auf die Arbeitsleistung des Menschen wenig ersprießlich. Sein mäßiger Genuß nach vollbrachtem Tagewerk mag diesem und jenem förderlich sein, indem dadurch die Thätigkeit des Herzens und der Verdauung angeregt wird, inmitten einer schwierigen Arbeit aber erweist er sich nicht als ein Mittel, das die Kräfte derart belebt, daß mit ihnen eine erhöhte Leistung vollbracht werden kann. Im Gegenteil, die Erfahrung hat vielfach gelehrt, daß unter solchen Umständen der Genuß geistiger Getränke verderblich zu wirken vermag.

Wahrnehmungen dieser Art gaben den Anlaß, den Alkohol aus der Feldflasche des Soldaten bei anstrengenden Märschen zu verbannen. Leider aber wird diese Lehre in der breite Masse des Volkes wenig gewürdigt, nach wie vor suchen die meisten Arbeiter ihre Kräfte durch einen stärkenden Schluck zu beleben. Darum ist eine stets erneute Belehrung über die Wirkung des Alkohols bei praktischer Arbeit dringend notwendig.

In jüngster Zeit sind interessante Erhebungen nach dieser Richtung hin veranstaltet worden, und von diesen wollen wir nur zwei mitteilen. Die eine betrifft den Einfluß des Alkohols auf die Verrichtung rein physischen die andere die Beeinflussung einer mehr geistige Anstrengung erfordernden Arbeit.

In der Zeitschrift Mitteilungen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins hat Ende vorigen Jahres Dr. Otto Snell eine Aufforderung an die Bergsteiger gerichtet, sie möchten ihm die gemachten Erfahrungen über den Nutzen und Schaden des Alkoholgenusses bei anstrengenden Bergbesteigungen mitteilen. Infolgedessen sind bei dem Fragesteller 60 Erklärungen eingegangen, die auf praktischer, oft langjähriger Erfahrung beruhen und darum von besonderem Wert sein dürfte.

Wie nun Dr. Otto Snell in Nr. 3 des laufenden Jahrgangs der genannten Zeitschrift mitteilt, haben sich 38 Zuschriften, also 62%, oder die überwiegende Mehrheit, dahin ausgesprochen, daß alle geistigen Getränke während anstrengender Bergbesteigungen gänzlich vermieden werden sollen. Einige gehen so weit, daß sie nicht nur am Tage einer anstrengenden Tour sondern auch schon am Abend vorher die größte Mäßigkeit empfehlen; andere halten Mitnahme von Bier und Schnaps für ein Verbrechen, das Mitschleifen von leichtem Wein immerhin noch für ein Vergehen. Zwölf Stimmen haben sich für den mäßigen Genuß von Wein während der Wanderung erklärt, verwerfen aber Branntwein und Bier. Drei andere Zuschriften sprechen sich dahin aus, daß man Cognac oder eine andere Branntweinart mitnehmen, aber sie nur unter besonderen Verhältnissen, gewissermaßen als Arznei, genießen solle. Nur fünf Bergsteiger halten den Genuß verschiedener geistiger Getränke in mäßiger Menge während der Tour für empfehlenswert oder unschädlich.

Diese Erhebungen zeigen unzweideutig, daß der Genuß von Alkohol bei einer mit starker körperlicher Anstrengung verbundenen Arbeit, wie die der Bergsteiger, sich als zuverlässiges Stärkungsmittel nicht bewährt.

[268] Einen weiteren Beitrag zu dieser wichtigen Frage bildet eine Mitteilung über „Praktische Arbeit unter Alkoholwirkung“, die Dr. Gustav Aschaffenburg in der von Prof. Emil Kräpelin herausgegebenen Zeitschrift „Psychologische Arbeiten“ (Leipzig, Wilhelm Engelmann) veröffentlicht hat. Den Anstoß zu diesen Untersuchungen gab ein Diskussionsabend des Heidelberger Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, in dessen Verlauf die Erschwerung der Arbeit schon durch Einnehmen kleinerer Alkoholmengen besprochen wurde. Aschaffenburg stellte nun mit einigen Setzern eines Heidelberger Lokalblattes eine Reihe von Versuchen an, durch welche ihre Leistungsfähigkeit ohne und unter Genuß von Alkohol ermittelt wurde. Die Setzer arbeiteten unter Verhältnissen, an die sie gewöhnt waren. Um die Gefahr zu vermeiden, daß durch die größere oder geringere Lesbarkeit der Manuskripte Fehler entstanden, wurde in den Versuchsstunden nur nach gedrucktem Material gesetzt. An bestimmten Versuchstagen erhielten die Setzer nach der 1. Viertelstunde je 200 g eines etwa 18% Alkohol enthaltenden griechische Weines aus der Apotheke des Akademischen Krankenhauses. Das Ergebnis der Versuche war, daß durch die Wirkung jener mäßigen Alkoholgaben die Leistungsfähigkeit der Arbeiter herabgesetzt wurde. Diese Schädigung der Leistungsfähigkeit blieb unter 8 Versuchen nur einmal aus, sie betrug in den anderen Versuchen 10 bis 19 % der Leistung, welche ohne Ermüdung und ohne Uebungsverlust hätte erwartet werden können.

Wir ersehen also daraus, daß geistige Getränke selbst in mäßigen Gaben eine Arbeit nicht zu fordern imstande sind, bei der es weniger auf körperliche Anstrengung als vielmehr auf Anspannung der Aufmerksamkeit ankommt.

Seit langer Zeit sucht man, den Alkoholgenuß durch Anpreisung anderer anregender Genußmittel zu verdrängen. In dieser Hinsicht stehen Kaffee und Thee im Vordergrunde. Die Wirkung dieser Aufgüsse auf den menschlichen Organismus ist in letzter Zeit wiederholt der Gegenstand eingehender Untersuchungen gewesen. In denselben sind verschiedene Stoffe enthalten, die besondere Wirkungen hervorrufen. Wir finden zunächst im Thee und im Kaffee ein Alkaloid, das Koffein, und ferner ätherische Oele, die den Getränken ihr Aroma verleihen. Man hat beide Stoffe voneinander getrennt und sie gesondert Versuchspersonen genießen lassen. Es hat sich dabei herausgestellt daß die ätherischen Oele auf das Gehirn und das Nervensystem zuerst anregend, dann aber in größeren Mengen namentlich narkotisch oder betäubend wirken. Das Koffein übt dagegen gerade auf die Muskeln einen entschiedenen Einfluß aus. Nach dem Genuß desselben wuchs die Leistung der Muskelarbeit zusehends und ihre Zunahme betrug in verschiedenen Fällen 10 bis 20 %. Somit wäre in dem Koffein wirklich ein Mittel geboten, das den erschöpften Körper mit neuer Kraft beleben kann. Wo es sich darum handelt, für kurze Zeit die Leistungsfähigkeit des Körpers zu steigern, wäre sein Genuß angebracht. Man darf aber dabei nicht vergessen, daß auch das Koffein ein Gift ist, daß sein übermäßiger Gebrauch Muskelzittern und Herzschwäche zur Folge hat.

Immerhin ist ein mäßiger Genuß von Kaffee und Thee nicht im entferntesten so schädlich wie der Gebrauch von Alkohol. Man kann darum Thee und Kaffee wohl als Stärkungsmittel empfehlen. Wer aber von ihnen Nutzen ziehen will, sollte in ihrer Verwendung mit der nötigen Vorsicht verfahren. Vor allen Dingen sollte er zu Zeiten, wo er einer Anregung nicht bedarf, auf den Genuß dieser Stärkungsmittel verzichten oder ihn wenigstens bedeutend einschränken, wenig und leichteren Thee oder Kaffee trinken.

Von den Negern Afrikas haben die Europäer in letzter Zeit ein neues Stärkungsmittel kennengelernt. In Westafrika werden die nuß- oder kastanienartigen Früchte des Kolabaumes von den Eingeborenen gekaut, und es wird ihnen nachgerühmt, daß sie die Müdigkeit verscheuchen. Diese Nüsse werden in Europa zu Pastille, Chokolade und dergl. verarbeitet und erlangen namentlich in Kreisen der Radfahrer, Bergsteiger und Sportleute immer weitere Verbreitung. Die Kolanüsse enthalten gleichfalls Koffein und haben darum eine anregende und stärkende Wirkung, vor ihrem Mißbrauch muß natürlich ebenso gewarnt werden wie vor dem von Kaffee und Thee.

Als ein gutes Stärkungsmittel auf anstrengenden Märschen und bei Bergbesteigungen wird neuerdings der Zucker gerühmt. In den Alpenländern ist er als ein solches längst bekannt. Jäger pflegen dort für ihre weiten Touren Zucker und Speck mitzunehmen. Die Wirkung des Zuckers ist leicht erklärlich: bei schwerer Muskelarbeit verbrennt der in Körpersäften aufgespeicherte Zucker und durch Einverleibung neuer Mengen wird dem Körper sozusagen neuer Brennstoff zugeführt. Der Zuckergenuß verhütet also die Erschöpfung aus Mangel an Nährstoff.

Aber die Ermüdung wird nicht allein durch Aufzehren der Nährstoffe herbeigeführt. Während der Arbeit erzeugen Muskeln und Gehirn neue Stoffe, die für den Körper unnütz sind, da sie eine bereits verbrauchte Substanz sind. Ja, diese Stoffe wirken auf den Körper giftig, lähmend. Sie rufen die Ermüdung hervor und müssen ausgeschieden werden, wenn Muskel und Nerven zu neuer Thätigkeit befähigt werden sollen. Endlich muß der Muskel- und Nervenzelle Zeit gegönnt werden, die während der Arbeit aufgezehrten Bestandteile aus den Nahrungsstoffen wieder aufzubauen Das alles kann sie aber nur während völliger Ruhe besorgen. Eine wirkliche Stärkung, Neubelebung der ermüdeten Nerven-oder Gehirnzelle kann vollends nur im Schlaf erfolgen. Darum sind entsprechende Ruhepausen in der Arbeit und genügender Schlaf bei zweckmäßiger Nahrungsaufnahme die natürlichen und besten Stärkungsmittel. Nur in der äußersten Zwangslage, wenn wirklich Wichtiges und Großes auf dem Spiele steht und die Arbeit unaufschiebbar drängt, sollte man ausnahmsweise zu den künstlichen Stärkungsmitteln greifen. Wer aber sonst im gewöhnlichen Laufe des Lebens die gebotenen Ruhepausen, Sonntage und Ferien zur wirklichen Erholung weise ausnutzt und den Nachtschlaf nicht unnötigerweise verkürzt wird ohne Stärkungsmittel arbeitsfrisch und leistungsfähig bleiben und mehr leisten als die anderen, die durch planlose Ueberanstrengung und allerlei Gifte ihren Körper zerrütten. M. Hagenau.     


Die Hundertjahrfeier in Berlin.

Von G. Klitscher. Mit Illustrationen von W. Pape.

Der Festjubel ist verrauscht. Die deutschen Fürsten haben die Reichshauptstadt wieder verlassen und die Hunderttausende, welche fröhlich und feiernd durch die Straßen zogen, sind zu ihrem Alltagswerk zurückgekehrt. Die letzten Fahnen hat man wieder eingezogen, die Obelisken und Guirlanden und all der andere glänzende Schmuck sind verschwunden. Berlin zeigt wieder sein gewohntes Aussehen. Aber gegenüber dem alten Königsschloß an der Spree ragt, für Zeit und Ewigkeit errichtet, das Denkmal des ersten Deutschen Kaisers auf, zu dessen Gedächtnis die glänzenden Feste veranstaltet wurden. Es waren schöne Tage und all die Verehrung, die der greise Held im Herzen seines Volkes erweckt hatte, brach noch einmal bei jung und alt, bei arm und reich, bei niedrig und hoch in lauter, froher Begeisterung hervor. Es ist ein köstlich Ding um die Liebe, die nimmer aufhört und auch über das Grab hinaus noch Treue hält!

Der Anfang der Feier fiel auf einen Sonntag – fast genau neun Jahre waren vergangen seit jenem Morgen da man den toten Kaiser, der keine Zeit gehabt hatte müde zu sein, zur letzten wohlverdienten Ruhe unter den alten schwarzen Tannen im Mausoleum des Charlottenburger Schloßgartens beigesetzt hatte. Damals hatte noch bitterkalter Winter sein Recht behauptet, jetzt wehten feuchte, nebelschwere Frühlingswinde durch das Land, ohne freilich den Festen allzusehr Abbruch thun zu können. Die Auffahrt der Fürstlichkeiten in den alten historischen Karossen unter Entfaltung des höchsten höfischen Prunks zum Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche bot ein eigenartiges, farbenprächtiges Schauspiel. Nach der kirchlichen Feier folgte ein Akt sinniger Pietät. Der kaiserliche Enkel ließ unter seiner eigenen Führung die Fahnen der Berliner Garnison für die Dauer der Feste in jenes Zimmer des großväterlichen Palais bringen, wo sie zu [269] Lebzeiten des alten Herrn so manches Jahr gestanden hatten, und aus dem man sie geholt hatte, wenn sie in Not und Sieg dem preußischen Heere voranflattern sollten. Dichte Menschenmassen säumten den Weg vom Potsdamer Bahnhof bis zum Denkmal Friedrichs des Großen und harrten geduldig, bis endlich die schmetternden Fanfaren der alten Militärmärsche das Nahen des Zuges verkündeten. Hinter den Spielleuten ritt der Kaiser in großer Generalsuniform, ernst, fast finster blickend, als bewegte mehr die Erinnerung an den teuren Toten denn die Freude über den festlichen Tag sein Herz, ihm folgten die Fahnen und Standarten, mit Lorbeerbüschen geschmückt, von einer Ehrenkompagnie des ersten Garderegiments und einer Schwadron der Gardekürassiere geleitet. Die Feldzeichen wurden in das stille Haus gebracht, aus dessen historischem „Eckfenster“ im Erdgeschosse so oft das freundliche Greisenantlitz mit mildem Lächeln geblickt hatte, am nächsten Tage sollten sie den früheren Kriegsherrn im Bilde wenigstens wieder grüßen.

Die Veteranen im Bürgerfestzuge.

Es war der Tag der Denkmalsenthüllung. Von frühem Morgen ab durchtönten Trommelwirbel und Janitscharenmusik die Straßen Berlins. Von allen Seiten zogen die Regimenter, Infanterie, Kavallerie, Artillerie und Train, nach den „Linden.“ Hierher war die gesamte Garnison der Hauptstadt, sowie Abteilungen einzelner Potsdamer und Spandauer Regimenter zur Parade befohlen.

Während sich die Truppen aufstellten, begann sich auch auf dem eigentlichen Festplatz ein reges Leben zu entwickeln. Vor dem purpurgeschmückten Kaiserzelt, welches gegenüber dem Denkmal in das Eosandersche Portal des Schlosses hineingebaut war und auf unserem obenstehenden Bilde zur Darstellung gelangt ist, versammelten sich die Staatsbehörden, der Reichskanzler, die Ministerien, die höheren Officiere, darunter auch viele ausländische, die Staatsbehörden, der Reichskanzler, die Reichstagsabgeordneten und sonstige Würdenträger. Reinhold Vegas, der Schöpfer des Monuments, war einer der wenigen gewöhnlichen Sterblichen in Frack und Cylinder, die sich in dieser Menge von gold- und silberglitzernden Uniformen gar bescheiden ausnahmen. Die großen rot ausgeschlagenen Tribünen, die sich die Westseite des Schlosses entlang zogen und auf der andern Seite das Denkmal in erweitertem Halbkreis umgaben, waren von einem zahlreichen geladenen Publikum besetzt. Alle warteten auf den feierlichen Augenblick, wo die graue, mit einem großen Reichsadler geschmückte Leinwandhülle, welche von hohen Masten herabhängend das Denkmal umgab, sich senken würde, um das Standbild den Blicken der staunenden Welt preiszugeben.

Die Ehrenjungfrauen im Bürgerfestzuge.

Allmählich versammelten sich in dem Kaiserzelt die Kaiserin mit den jüngeren Prinzen und die anwesenden deutschen Fürsten, dann verkündeten laute Hurrarufe, die Klänge des Parademarsches und das Wehen von Taschentüchern von den „Linden“ her, das Nahen des Kaisers. Dieser hatte inzwischen die Parade über die Treppen abgenommen, jetzt führte er die Fahnen persönlich auf den Festplatz. Weithin leuchtete das Weiß seiner Gardeducorps-Uniform, über welcher er den schwarzen Panzer trug, und der silberne Adler auf seinem Helm. Der Kaiser begrüßte zunächst seine fürstlichen Gäste mit militärischem Gruß, dann wandte er seinen Braunen und nahm dem Denkmal gegenüber Aufstellung. Die Truppen formierten ein offenes Karree und ein Bläserchor spielte eine feierliche Melodie, bis Generalsuperintendent Dr. Faber vortrat und mit klarer, deutlich über den Festplatz hallender Stimme ein zu Herzen gehendes Weihegebet sprach, in welchem er den Segen des Höchsten auf das Vaterland und auf das neue Werk herabflehte. Nachdem der Geistliche geendet hatte, kommandierte der Kaiser mit hellem, scharfem Ton: „Abschlagen“ die Trommler rührten die Trommeln, die Spielleute bliesen, dann folgte das Kommando: „Stillgestanden, Gewehr über!“

[270] Nunmehr erging an die Matrosen, welche am Fuße des Denkmals schon bereit standen, das Geheiß, die schützende Hülle herunterzuholen, und langsam erschien das eherne Bild. Im Lustgarten donnerten die Kanonen, die Musikcorps spielten die Nationalhymne, von allen Kirchtürmen Berlins grüßten die Glocken und im leicht gedämpften Licht der Märzsonne stand endlich der alte Kaiser vor uns, von Künstlerhand ähnlich und vertraut gebildet, daß manchem eine Thräne wehmütigen Erinnerns das Auge netzte unter dem zwingenden Eindruck des schönen Moments. Jetzt begaben sich die Kaiserin und die Fürsten zum Denkmal hinüber, besichtigten es und legten Kränze nieder. Auch drei Deputationen russischer Regimenter spendeten einen goldenen und zwei silberne Kränze.

Allgemein war nach dem Streit der Meinungen in den letzten Jahren die Freude, daß das Standbild doch einen sehr, sehr schönen Eindruck macht. 20 m hoch erhebt sich auf dem Bronzepostament die Reiterfigur über das Straßenniveau. Das Postament ruht auf einem Unterbau von rotem poliertem Granit, dem sich die vier diagonal vorspringenden Löwengruppen angliedern. Die Reiterfigur allein ist 9 m hoch. Der Kaiser sitzt auf einem stolz ausschreitenden Pferde, er trägt die preußische Generalsuniform, der vorn offene Mantel weht in weiten Falten herab, das Haupt deckt der Helm ohne Federbusch. Das Gesicht ist ein wenig nach links gewandt, mild und freundlich blickt das teure Antlitz nach dem Lustgarten hinüber, wo das Denkmal Friedrich Wilhelms III. steht. Zur Seite des Kaisers, das Pferd am Zügel führend, schreitet ein Genius, eine wunderliebliche Mädchengestalt. In der Linken hält sie eine Palme, Lorbeerreiser schmücken ihr Haar; das antike Gewand, das im Winde flattert, läßt Schultern und Beine zum Teil frei. Den Hauptschmuck des Postaments bilden an den Seiten die Reliefdarstellungen des Krieges und des Friedens. Unter der einen liegt auf den Stufen des Sockels die Figur des Krieges – das Haupt mit den energischen Zügen deckt der Helm, mit sicherem Blick späht sie nach dem Feinde, während die Faust kampfbereit das Schwert umspannt –, unter der anderen erblicken wir die Figur des Friedens, eine edle, sinnige Jünglingsgestalt. Eine Kappe bedeckt ihm das Haupt, unter der das Haar hervorquillt. Der linke Arm stützt sich auf den Januskopf, dessen Kriegsantlitz verhüllt ist, die rechte Hand hält einen Zweig mit schweren Früchten. An den vier Ecken des Postaments befinden sich vier geflügelte, auf Kugeln stehende Viktorien. Auf den Stufen der Rückseite liegen Embleme, welche das alte Faustrecht andeuten: Streitaxt, Kettenhemd und Turnierhelm; an der Vorderseite sieht man die Verfassungsurkunde unter dem Schutz der Kaiserkrone. Vorn lautet die Inschrift. „Wilhelm der Große, Deutscher Kaiser, König von Preußen 1861–1888“, hinten: „In Dankbarkeit und treuer Liebe das Deutsche Volk.“ Die vier Löwen stehen, jeder anders aufgefaßt, über einer Sammlung von Trophäen. Sie haben dreifache Lebensgröße. Das Denkmal ist im Halbkreis von einer Säulenhalle aus Sandstein umrahmt, deren Endpunkte zwei mit Triumphgespannen gekrönte Pavillons bilden. Weibliche Siegesgestalten tragen auf ihnen flatternde Fahnen. Allegorische Gruppen zieren die Attika der Halle. Auf der Innenseite bestehen dieselben in dekorativen Darstellungen der vier deutschen Königreiche. Die beiden mittleren, die Sachsen und Bayern gewidmet sind, werden von kupfernen Adlern überragt, während über den äußeren, auf Preußen und Württemberg sich beziehenden Kronen angebracht sind. Die Halle ist ein Werk des schwäbischen Architekten Gustav Halmhuber.

Die Beleuchtung des königlichen Schlosses in Berlin.
Nach einer photographischen Aufnahme von Hugo Rudolphy in Berlin.

Nachdem die Besichtigung des Denkmals durch die Kaiserin und die übrigen Fürstlichkeiten beendet war, folgte ein glänzender Parademarsch der gesamten Berliner Garnison. Während dieser Zeit wurde das Momentbild aufgenommen, das wir im Holzschnitt auf S. 264 und 265 wiedergeben. Es ist der Augenblick vor dem Vorbeimarsch der Truppen, welchen die Aufnahme darstellt. Nach dem Vorbeimarsch schüttelte der Kaiser im Fortreiten Meister Begas kräftig die Hand und die Enthüllungsfeier war zu Ende. Sie war mit größter militärischer Macht- und Prachtentfaltung vollzogen worden. Mit Einbruch der Dunkelheit begann die Festbeleuchtung, deren Großartigkeit sich kaum beschreiben läßt. Berlin war in ein Meer von Licht getaucht. Den Mittelpunkt dieses Glanzes bildete das Königliche Schloß. Tausende von Lichtern flimmerten in seinen Fenstern, 8000 elektrische Birnen markierten die Architektur der Portalbauten, zahlreiche Flambeaux entsandten sprühende Feuergarben gegen den Himmel, während von dem Dache elektrische Scheinwerfer das Denkmal selbst mit einer Flut von Licht übergossen.

Am nächsten Tag fand die einfachere, aber nicht weniger herzliche Ehrung statt, welche die Bürgerschaft Berlins den Manen des toten Kaisers in einem Festzuge darbrachte. Wieder waren die Tribünen auf dem Festplatz dicht gefüllt, aber nicht wie am Tage vorher überwogen die Uniformen, im Gegenteil, sie verschwanden. Nur auf den Stufen des Kaiserzeltes, das die Insassen diesmal nicht verließen, hatten sich wieder zahlreiche Offiziere eingefunden. Als der Hof erschienen war, begann der Vorbeimarsch in tadelloser Ordnung. Darauf kam ein berittenes Bläsercorps [271] in altdeutscher Tracht, dann folgte das Komitee und hinter diesem eine Schar von silbergepanzerten Reitern. Hierauf erschien der Prunkwagen, der die Germania trug. Als dieser vor dem Kaiserzelt angelangt war, machte er Halt und Germania gelobte in poetischen Worten aufs neue dem Hohenzollernhause die Treue der deutschen Lande. Nachdem das Kaiserhoch und die Nationalhymne verklungen waren, kam der eigentliche Vorbeimarsch, zu dem ungezählte Musikkapellen in rascher Aufeinanderfolge patriotische Märsche und Lieder spielten. Es war ein erhebender Anblick und ein rührender zugleich, diese Tausende von alten Kriegern in strammem Schritt unter dem Denkmal des toten Kaisers vorbeiziehen zu sehen, dem sie einst mit ihrem Blute auf den Schlachtfeldern geholfen hatten, das Deutsche Reich zu erkämpfen. Die Inhaber militärischer Auszeichnungen eröffneten diese Gruppe und wurden von Ehrenjungfrauen geleitet, die in weißen Kleidern mit Kornblumenschmuck eine liebliche Erscheinung boten. Den Kriegervereinen folgten die Innungen, die Schlächter nach Berliner altem Brauch zu Pferde in stattlichem Aufgebot. Hinter ihnen marschierten die Vertreter von Handel und Industrie, die Gastwirtsvereine zeichneten sich besonders durch die große Fülle ihrer Fahnen und Banner aus, obwohl an solchen im Zuge überhaupt kein Mangel war. Daß sie sich auch einen veritablen Bierwagen mit kornblumengeschmückten Fässern geleistet hatten, erregte allgemein beifällige Heiterkeit. Die Künstlervereine stellten eine sehr schöne, in den Trachten durchaus echt wirkende Truppe von Landsknechten, mit Kanonen und allem Zubehör, selbst die Wagen mit dem fahrenden Volk zum Schluß fehlten nicht. Die Beamten der Reichspost wie die der preußischen Staatsbahnen erschienen in ihren Dienstuniformen. Besonders hübsch wirkten die Sportvereine, die Turner in flotter Haltung, die Ruderer mit ihren Abzeichen und endlich die Radfahrer, welche ihre Maschinen durch Blumengewinde zum Teil wunderhübsch herausgeputzt hatten. Zuletzt kamen die Wagen mit den Chargierten und den Fahnen der Studenten. Sie waren mit Blumen in den Farben der einzelnen Korporationen aufs reizendste geschmückt und bildeten einen würdigen Abschluß. 22 000 Menschen waren im Zeitraum von einer Stunde vorbeigezogen in musterhafter Ordnung. –

Die Festfreude ist verrauscht, die Illumination ist erloschen. Nicht erlöschen aber wird in den Herzen aller derer, die das Fest mitfeiern durften, die Erinnerung an die schönen Festtage, und nicht erlöschen wird im Herzen des deutschen Volkes die Erinnerung an seinen ersten Hohenzollernkaiser, dessen Denkmal jetzt hoch ragend steht auf der Schloßfreiheit in Berlin.


Eine Anklage gegen die Wiesenblumen.

Wiesenblumen sind uns ans Herz gewachsen, und oft bereitet uns ein auf blumiger Au gepflücktes Sträußchen mehr Freude als die herrlichsten Bommels, die uns die Gärtnerkunst zu liefern vermag. Kein Wunder! Die ersten Freuden im Genuß der freien Natur pflegen ja den Kindern auf Wiese und Anger zu teil zu werden, unauslöschlich prägt sich da in unsre Erinnerung das fröhliche Bild des blühenden Lenzes ein; nach langer, öder Winterzeit ein grüner Wiesenteppich, mit gelben und weißen, roten und blauen Blümlein gestielt! Herrlich ist ein solches Gefilde anzuschauen und in der Kindheit lernen wir auch die nützliche Seite der Blüten kennen und schätzen, um die taufrischen Kelche summen die fleißigen Bienen und tragen tagaus tagein die süße Honigtracht in ihren Bau.

Tausende und aber Tausende bleiben ihr ganzes Leben hindurch warmherzige Freunde der blumigen Wiese, bei vielen aber weicht in späteren Jahren die schönheitstrunkene Anschauung einer praktischen Einsicht. Landwirte, Wiesenbesitzer sind es gerade, die eine solche Wandlung durchmachen. In ihren Augen werden Blumen, die der Städter bewundert, zum Unkraut, und sie lassen sich keine Mühe verdrießen, das Unkraut auszurotten. Und diese Blumenfeinde haben schon recht, denn die Wiesen sind dazu da, um saftige Weiden abzugeben um nahrhaftes Heu und gute Grummeternten zu liefern. Diesem Zwecke entsprechen aber nur die Gräser, und von den bunt blühenden Pflanzen sind nur einige wenige als Viehfutter brauchbar oder erwünscht. Das gilt von verschiedenen Kleearten und von dem aromatischen Kümmel, von den schönsten und dem Naturfreunde beliebtesten Wiesenblumen sind aber die meisten dem Vieh unnütz oder schädlich und ausrottungswürdig schon darum, weil sie dem nützlichen Grase auf dem Wiesenplane Nahrung und den nötigen Raum zur Entwicklung entziehen.

Erst neuerdings hat ein sachverständiger Forscher, Professor Dr. R. Braungart-München eine Anklageschrift gegen das blühende Unkraut erlassen. Die lehrreiche Broschüre ist unter dem Titel „Ueber den fehlerhaften Pflanzenbestand der Heu- und Grummetwiesen in Deutschland und Oesterreich (Leipzig, Hugo Voigt.) erschienen, und wir folgen den in ihr niedergelegten Aeußerungen, indem wir den Wert der Wiesenkräuter, die im Frühling unsere Augen entzücken, vom prosaischen Nützlichkeitsstandpunkte beleuchten.

Es ist April und frisches Treiben und Sprießen durchdringt die Natur. Auch das Grün der Wiesen hat frische saftige Farbe erhalten. Da erheben auf vielen Wiesen die Schlüsselblumen in ihren verschiedenen Abarten die Blütenköpfe über das niedrige Gras und in herrlichem Goldgelb prangt die Wiese auf grünem Grunde. Die Schlüsselblume, die uns als ein Sinnbild des Lenzes so lieb ist, muß kein schlechtes Futter sein, denn die weidenden Tiere verschmähen durchaus nicht die großen Blüten aber auf Mähewiesen ist sie völlig wertlos, denn bis zur Heuernte ist sie völlig verwelkt und während ihres Daseins hat sie nur Gräser verdrängt, welche bei der Ernte Futter liefern könnten.

Noch ehe die Schlüsselblume abgeblüht ist, beginnen die Wiesen sich weiß oder rötlichweiß zu färben. In Massen schießt jetzt die Blüte der Gemeinen Wiesenkresse oder des Wiesenschaumkrautes empor. Das Urteil der Sachverständigen über den Wert dieser Pflanze lautet sehr ungünstig. „Das Schaumkraut ist eine unerwünschte Wiesenpflanze; es ist sehr scharf, im hohen Grade giftverdächtig, es ist eine sehr schlechte Heilpflanze und als Grünfutter sollte man ein damit durchsetztes Gras wegen seiner Ungesundheit nicht verwenden. In derselben Zeit erscheinen auf dem Wiesenplane die zarten weißrötlichen Blüten des Buschwind- oder Hainröschens, die blaue Leberblume und die Gemeine Küchenschelle. Das Vieh läßt diese Pflanzen auf der Weide stehen und sie erzeugen in der That allerlei Erkrankungen, Magen- und Darmentzündungen, wenn sie in frisch gemähtem Grünfutter an Tiere verfüttert werden.

Im beginnenden Mai färben sich die Wiesen wieder lebhaft gelb, denn da rückt der Löwenzahn oder die Ringelblume mit der wuchtigen Blütenmasse vor. Hier und dort hat man behauptet, daß der Genuß dieser Pflanze die Milchergiebigkeit der Kühe steigere, aber als man die Sache prüfte, hat man diese Legende nicht bestätigen können. In dem dürren Jahre 1893 hat der Löwenzahn dank seiner tiefgehenden Pfahlwurzel, die Trockenheit überdauert, und während die Gräser zu Grunde gingen, hat er sich auf zahlreichen Wiesen in unglaublichen Massen vermehrt. Da konnte man die Kühe mit Löwenzahn füttern, aber die Milchergiebigkeit ging bei diesem Futter zurück. Wo der Löwenzahn stärker auftritt, ist er eine wahre Landplage, denn er ist zum Heumachen ungeeignet und verdrängt in hohem Maße den Graswuchs.

Von Mitte Mai ab wird das Gelb auf unseren Wiesen durch die Schar der Ranunkelblüten verstärkt. Die Ranunkeln sind durchweg böse Gesellen, je nach der Art mehr oder weniger giftig und in der Blütezeit am gefährlichsten. Verfüttert man den scharfen Hahnenfuß in größeren Massen in frischgemähtem Zustande, so ruft er schwere Erkrankungen und selbst den Tod der Tiere hervor. Leider haben sich auf manchen Wiesen die Hahnenfußgewächse derart angesiedelt, daß sie ein Viertel des Gesamtbestandes der Wiesenpflanzen ausmachen.

In das Gelb der Ranunkelblüten drängen sich häufig weiße Flächen hinein, die inselförmig die Wiesen bedecken und von den weißen Blüten verschiedener Doldengewächse gebildet werden. Da kommt zunächst der Wiesenkerbel oder der große Kerbel in Betracht. Er ist zwar nicht giftig, aber bildet holzige Stengel, die von dem Vieh ungern gefressen oder in der Krippe liegen gelassen werden. Den größten Schaden richtet er aber durch seine jeden anderen Pflanzenwuchs verdrängende Wirkung an.

Ende Mai und Anfang Juni belebt sich der Wiesenplan mit neuen bunten Farben. Da hüllen die Blüten der Kuckucks-Lichtnelke ganze Wiesenflächen in Purpurfarben da erheben sich die ziegelroten Blütenstengel des Großen Sauerampfers und nun sprießen auch in leuchtenden Farben die Knabenkräuter oder Orchideen hervor, der Landschaft einen originellen, oft entzückenden Schmuck verleihend. Dem Landwirt sind sie alle nicht erwünscht. Die Lichtnelke ist zwar unschädlich, aber als Futter geringwertig, der Sauerampfer besitzt durch seinen Gehalt an oxalsauren Salzen entschieden giftige Eigenschaften, und was die Orchideen anbelangt, so sind sie mindestens verdächtig. Keine ihrer Arten wird auf der Weide von den Tieren angerührt, was doch offenbar seine triftigen Gründe haben muß.

Diese Beispiele mögen genügen, um den Wert der blumigen Wiesen zu kennzeichnen. Aehnlich gestalten sich die Verhältnisse zur Zeit der Grummeternte, wo anderes Unkraut schädigend sich breit macht. Der Schaden, der dem Landwirte dadurch verursacht wird, ist doppelt, erstens liefern ihm solche verwilderte Wiesen ein geringwertigeres, an Nahrungsstoffen ärmeres Heu, zweitens bilden die Giftpflanzen im Futter häufig die Ursache von lästigen oder gefährlichen Erkrankungen der Nutztiere, die namentlich beim Beginn der Grünfütterung im Frühjahr sich einzustellen pflegen. Die Verbreitung des Unkrauts auf manchen Wiesen ist so groß, daß, wie die Zählung der Pflanzenarten ergab, nur 20% des Wiesenertrages aus Grasarten bestand. Es fehlt glücklicherweise nicht an Mitteln, diesen Uebelständen abzuhelfen, der Kampf gegen die Wiesenunkräuter wird wohl bald in größerem Maßstabe aufgenommen werden, nachdem deren Schädlichkeit einmal festgestellt worden ist.

Der Naturfreund braucht darum nicht zu verzweifeln, das Unkraut ist zähe, und es werden für ihn auch künftig Wiesenblumen in Hülle und Fülle sprießen und blühen. J.     

[272]

Einmal zur rechten Zeit.

Erzählung von Luise Westkirch.

Ein flacher Sandweg, der Wind fährt ungebrochen drüber hin. Eintönig rauschen die Wellen der Ostsee gegen den Strand, der platt und öde und kahl hier in die Flut fällt. Aber ringsum von hohen Ufern schauen in grünem Kranz üppige Buchenwälder in das blaue Becken der Kieler Föhrde. Mit gerader Linie einschneidend streckt ein Wasserarm sich tief hinein in das wellige Land, dem seine üppigen „Knicke“ – die hohen mit Haselnußstauden bepflanzten Erdwälle, die jede einzelne Koppel umranden – das eigenartige Gepräge einer australischen Buschlandschaft verleihen. Der Kanal, der alte Eiderkanal ist’s mit seiner hochgelegenen Sohle und seinem engen Bett. Aber nur wenig weiter den Strand hinab erhebt sich, fast vollendet, ein Cyklopenwerk, hoch in die Lüfte, bohrt sich tief ein in den Schoß der Erde, ein Gigantenbau, ein Wunder der Welt, die Schleuse des neuen Nordostseekanals. Nicht menschliche Hände scheinen ihre ungeheueren Sandsteinquader getürmt zu haben, nicht Menschenkraft scheint hier dem Element Gesetze vorschreiben zu wollen. Noch liegt ihr ungeheueres Becken trocken. Der Blick kann schwindelnd die Höhe der Wassertürme, die Tiefe der Sohle ermessen, auf der ein Schienengewirr sich hinzieht wie ein Netz, ausgeworfen, um die Naturkraft einzufangen. Dort schlagen noch drei Trockenbagger keuchend ihre Reihen Eisenzähne in das widerstrebende Erdreich, nagen es heraus und speien die ausgebaggerten Massen zum Takt der rasselnden Ketten in die bereitstehenden Wagen, die eine kleine fauchende Lokomotive, ungeduldig zur Abfahrt, den immer neu mit Erde gefüllten Riesenrachen unterschiebt.

Aber die Uhr in dem Türmchen der langen Holzbaracke hoch auf dem Ufer hebt zum Schlage aus. Mittag! – Von den Treppen, den Gerüsten die in dreifachem Gürtel den Schleusenraum durchziehen, klettern die Arbeiter, ein Ameisengewimmel. Mittag! In der Kantine steht das Essen fertig für die, die seiner begehren. Einige führen auch eigene Küche, kochen wunderliche Nationalgerichte auf noch unverwendeten Granitquadern, über die der Wind die rote Flamme weht wie einen glutgewobenen Schleier. Ein buntscheckiges Gewirr von Menschen und Trachten! –

Dort braten drei Italiener ihre Maccaroni, die farbigen Zipfelmützen auf dem Kopf, auf der braunen Brust, die das wollene Hemd freiläßt, das Amulett, das die Mutter bei der Firmelung ihnen umgehängt hat – lang’ ist’s her! in einem Felsen-und Räubernest irgendwo in den Bergen. Dort handelt der Kroat in haarlos gewordenem Schafpelz mit einem beweglichen Polacken in schmutzglänzender Schnürenjacke um eine Versteinerung, die jener beim Baggern gefunden hat. Langsam, mit wuchtigem Schritt wandelt der blonde Schwede durch das Gewirr zur Kantine. Er ist an gute Kost gewöhnt, an bessere als der Wasserpolack aus Schlesien, der seine Pellkartoffeln mit Branntwein anfeuchtet und seinen Lohn spart, um im Winter in der Heimat drei Monate lang ein Herrenleben zu führen. Und dem Schweden schließt der Holsteiner sich an, die Militärmütze schief über dem offenen, frohen Gesicht, stampft er dahin. Er gehört zu den Wenigen hier, die keine Vergangenheit haben, aber wohl eine Zukunft. Der nachgeborene Sohn eines Hofes ist’s. Erdarbeit war seine Bestimmung von der Wiege an. Der Staat bezahlt mehr als der Bauer, mehr als der Gutsherr, also arbeitet er für den Staat. Er läßt sich nichts abgehen, denn er braucht gute Nahrung, seine Muskeln sind sein Vermögen. Gleichwohl hat er ein wenig zurückgelegt. Ein paar hundert Mark wird sein ältester Bruder ihm als Abfindung herauszahlen: eine Muhme, deren Liebling der blauäugige Bursch von Kindesbeinen an gewesen ist, verwahrt für ihn im Bettstroh ein Sparkassenbüchlein. Rafft er all diese Habe zusammen, mag es ihm wohl gelingen eine Hufe Erde zu kaufen, ein Fleckchen Gartenland nahe bei einer großen Stadt, deren Markt er mit Gemüse und Obst, Geflügel, Eiern, Butter beschicken kann. Von solchem Unternehmen träumt er über seiner Arbeit. Eine Frau freilich gehört dazu, eine Frau mit verständigem Sinn und starken Armen, die den Handschlag nicht zählt und wägt, deren Arbeitskraft mit der sinkenden Sonne noch nicht niedersinkt.

Solche Frauen giebt’s in Schleswig und Holstein, diesseit und jenseit des Kanals. Ei ja, gewiß, gerad’solch eine Frau wie er sie braucht, kräftig, gesund und hübsch und lustig dazu!

Er lächelt, während er die Leiter hinaufklettert aus dem tiefen Schlund der Schleuse. Und dann hält er die Hand vor die Augen und steht verdutzt. Wer wandelt denn dort drüben den Sandweg entlang, zwischen den sparsam verstreuten Häusern? O, er kennt das Flattern dieses gestreiften Rockes mit dem breiten Sammetsaum, das Wiegen der Gestalt in dem knappen schwarzen Sammetmieder! Jedes windzerzauste Härchen kennt er, das unter dem weißen Vierländerinnenhäubchen um das rosige Gesicht weht. Die drallen Arme halten nachlässig ein leeres Servierbrett. Sie hat dem Ingenieur Morungen, der drüben in dem roten Hause wohnt, das Mittagsbrot gebracht, die Doris aus dem Schleusenkrug. Nun schlendert sie nach Holtenau zurück.

Der Anblick macht Wilm Lorensen das Herz warm. Sein Gesicht leuchtet. Er will hin zu ihr. Da plötzlich erblaßt er und seine Stirne kraust sich. Klettert da nicht schon der Peretti, der Italiener, den Damm hinauf? Daß er doch wie ein Faß in die Tiefe rollte! Was braucht der ausländische Wicht deutschen Mädchen die Köpfe zu verdrehen? Niemand weiß, wo er herkommt, was er etwa daheim auf dem Kerbholz hat! Aber mit seinen unvernünftig großen, pechschwarzen Zigeuneraugen funkelt er die Weiber an, bis sie die Besinnung verlieren, und obgleich er eine Sprache radebrecht, über die jeder Schulmeister die Hände ringen müßte. Sie lauschen wie behext dem Kauderwelsch, wenn er ihnen erzählt von den nackten Felsen seiner Heimat, die, umkreist von Adlern und Geiern, rot und weiß in die Wolken ragen, von Olivenhainen und Myrtenhecken, von goldstrotzenden Kapellen über blauen Seen, in denen Mädchen mit Spitzenmantillen und Fächern beten, vor denen Mädchen und Burschen am Marienfeste tanzen, in Holzschuhen, aber von anderer Form als die nordischen Holzschuhe mit ihren wärmenden Strohwischen, in Schuhen mit hohen, bunten Absätzen und an den Spitzen offen, so daß zierlich die nackten Zehen hervorleuchten.

Und mit einem Fluch ließ Lorensen sein Mittagsessen im Stich und beeilte sich, dem Italiener zuvorzukommen. Dabei sah er, daß noch ein Dritter, im Uferschilf stehend, dem Mädchen sehnsüchtig nachschaute, doch ohne sich zu rühren. Das war Peter Svensen, sein Landsmann aus Kappeln, ein schwerfälliger Bursche. Ei was – den wollte er schon ausstechen! … Doch diesen Peretti? Jetzt war er wirklich schon auf der Straße und jetzt bei dem Mädchen! Als Lorensen keuchend das Paar erreichte, war das Gespräch zwischen beiden im besten Gange.

„Mahlzeit, Fräul’n Doris. Is es woll erlaubt, daß ich ein büschen mit Sie da lang gehe? Ich – ich wollt’ auch ’mal nach Holtenau – .“

„Eh, Kamerad,“ knurrte der Italiener, „hat sich Signora schon Kavalier. Mach’ dich dünn! Pascholl –“

„Das werd’ ich thun, wenn Doris mich das selbsten sagt.“

Die Maid wirbelte zwischen den vollen Lippen eine Ringelblume und blickte schelmisch von einem ihrer Verehrer zum andern.

„Je, Herrens, so viel ich davon weiß, is der Weg für alle Menschens.“

„Das is er, bestätigte Lorensen grimmig. „Bloß, es is schade, daß er das is.“

Carambo“, sagte der Italiener, „deutsches Bär! – Peretti nix streiten vor der Signora. O, ich wollt, Sie könnt’ kommen in mein Land – Sie würd’ nix verlang’ zurück.

„Ankucken möcht’ ich mich das gans gern ’mal, Herr Perdü,“ versicherte Doris. „Ich mein’ man, es würd mich da ein büschen zu warm sein.“

„Sonnenschein! Sonnenschein! – Und abends tanzen, tanzen! die Mädchen mit Kastagnetten und Korallen – Korallen so dick! am Hals, an den Händen, in den Ohren! Korallen, überall Korallen!

„Korallens mag ich leiden,“ gestand Doris. „Auf ’n Kieler Umschlag war Ein, der hat ’n gansen Kasten voll.“

[273]

Günstige Kritik.
Nach einem Aquarell von Hans G. Jentzsch.

[274] „Haus un Hof is besser als Korallens,“ erklärte Lorensen.

Peretti lachte. „Haus! Hof! Gut für Land mit acht Monat Winter, mit berghoch Schnee. Bei uns Haus der ganz Himmel. Hof ein Gebüsch von Kamelias all in Blüten, ein Wald von Oliven –“

„Hören Sie auf,“ sagte der Holsteiner. „Eine einzige richtige Ostseebuche is mich lieber als zehn so ’n krümperige Olivenstümpe.“ Er hatte Oliven nie mit Augen geschaut, sein gekränkter Nationalstolz machte ihn hellsehend.

Aber Doris war nachdenklich geworden. „Das sagen Sie nich, Lorensen. Wenn der Oelbaum so hoch aus die Sündflut hervorstechen that, daß die Taube da ein Blatt von abpicken konnt, dann muß ihm doch ein gansen ansehnlichen Baum sein.“

„Ich begreife man bloß nich“, stichelte Lorensen, „warum die Italieners in so’n wunderschönes Land gar nich in bleiben.“

„Ein Sach’ aber hab’ die Deutsche so gut wie wir,“ fuhr Peretti fort, „die Frauen. Nein, besser! Frauen mit Haare wie reife Aehren, Frauen wie Mondschein, wie die klaren Bäche in Deutschland! Die italienische Frauen sind zu wild, zu hart, und hart zu hart giebt schlechte Musik – Aber die deutsche Frau, ah! sanft und klug und besonnen. Ich verehr’ die deutsche Frauen. – –“

Lorensen fing wütend an, den Dessauer Marsch zu pfeifen.

„Lorensen! Kamerad“, sagte der Italiener zu dem Pfeifenden, „wenn ich dich langweil’, du weißt, wir brauchen dir nix – die Signora und ich – eh? nich wahr?“

Doris machte eine Bewegung. „Lorensen will doch zu mein Kaptän. Wie können wir ihn das woll wehren? – Un kuck ’mal! Da sind wir ja all’. Gar nich lang is mich der Weg vorgekommen. Adjüs auch, Herr Perdü.“ Sie sah den Italiener lächelnd an. „Un weil Sie so bannig schön snaken können – da!“ Sie nahm die Ringelblume aus dem Mund und reichte sie ihm. „Aus gutem Herzen! Ich hab’ nix Besseres. Myrten un Chamäleons wachsen ja nich in unsern Boden.“

Vor den Dreien lag der Schleusenkrug auf hoher Warft, eng zusammengekauert über dem Wasserarm. Das neue Kanalbett schnitt ihm einen Teil seines Grund und Bodens weg, nur ein schmales Dreieck blieb, Platz für das Haus mit seinen blank glänzenden Fenstern und drei eng zusammenstehende Buchen, unter denen Tische und Bänke sich zusammendrängten wie eine Schafherde beim Gewitter. Ein ehemaliger Schiffskapitän hielt hier Ausschank und machte gute Geschäfte.

Während der Italiener unter einer Flut von Beteuerungen in seiner Muttersprache die Blume mit Küssen bedeckte, traten Doris und Lorensen in den schmalen Hausgang. Dem Burschen saß der Zorn würgend in der Kehle und zitterte in seinen geballten Fäusten. Er stampfte über die sandbestreuten Fliesen hin, stumm, ohne aufzusehen immer weiter, der Thür zu, die auf der Rückseite des Gebäudes wieder ins Freie führte.

„Je, Lorensen“, erkundigte sich Doris, „willst denn nich zu mein Kaptän?“

Er biß die Zähne zusammen „Ich will fort.“

„Fort?“

„Ja, von dir, du slechte Dirn’.“

Doris stieß das Tablett auf einen Tisch und ging dem Vorauschreitenden nach.

„Worüm bist mit eins so falsch, Lorensen? Weil ich den Musje Perdü hab’ snaken lassen?“

„Wenn du den swarzen Tater leiden magst, denn brauchst du das man bloß zu sagen. Es giebt noch Deerns genug im Lande. Da is kein Mangel an.“

Sie standen in dem engbrüstigen Gärtchen unter den drei Buchen. Doris betrachtete ihn kopfschüttelnd.

„Lorensen, du bist wirklich zu dumm!“

„Aber blind bin ich nich, entgegnete er. „Hast du den ungewaschenen Kerl nich angeklappert mit deine Augens den ganzen Weg lang un dich ’was vorklönen lassen von Korallens un ein Haus mit den freien Himmel als Dach! Un am Ende hast ihm gar die Blume geschenkt, dem Hanswurst! Du!- du! –“

„Un warum hab’ ich all’das gethan?“ verteidigte sich Doris, vor Lorensen hintretend. „Warum mußt’ ich all’ das thun? – Doch man bloß, weil du gegen ihn wie so ’n rechten Bullrian un Dreschflegel losgezogen bist. Wenn die Jalousie dir packt, Lorensen, denn is das gerad’ wie wenn ein kalkuttschen Hahn auf ’nen roten Tuch losgeht, denn hörst un siehst nix.“

„Da brauchst du dich nich um zu kümmern, ob ich so ’n Kunden grob oder fein traktier’.“

Doris hob die Augen anklagend ob solcher Einfalt zum Himmel.

„So? Das soll mich denn woll auch egal sein, ob sie dir mit ’n Messerstich in ’n Rücken hinter ’n Knick auflesen? Die Italieners sind ’ne slimme Sorte, sagt mein Kaptän. Un ein slimmen Hund wirft man ein extra großen Brocken hin.“

„Ja snaken kannst gut,“ erwiderte Lorensen grimmig. „Den Svensen, den armen Narren, hast auch den Kopf verdreht.

Doris mußte lächeln. „Gott bewahr’ mich! Bist auf Svensen auch jalou?“

„Alle Mannsleut führst am Narrenband,“ beschuldigte er heftig weiter.

„Ja, freundlich bin ich mit sie alle,“ gestand Doris zu. „Adjüs also! –“

„Aber“ – ihre Augen, blau und feucht wie die Wellen draußen, blitzten ihn schelmisch an – „aber – lieb hab’ ich man Ein.“ –

Er wollte gekränkt vorüberschreiten, aber sein Empfinden überwältigte ihn. Es war immer der gleiche Kreislauf, erst eifersüchtige Wut, dann weiche Schwermut.

„Doris, ein einfachen Menschen bin ich man, un – Korallens kann ich dich kein kaufen, aber ich hatt’ mich das so schön gedacht, wenn du un ich – un ich un du – Ich mein’, nachdem sie mit ’n Kanal zu Gange sind, so in ein, zwei Jahren – nee, ich hatt’ mich das wunderschön gedacht.“

„Ich auch, Lorensen – Un um Korallens, weißt, da geb ich nix um.“

„Wirklich nich?“ Er packte ihre Schultern, er sah ihr fest in die Augen. Die Gewalt der Neigung, die in ihm rang und kämpfte, machte seine Lippen zittern. „Un süh – snaken kann ich auch nich. Ich kann nich, Deern! un wenn mich’s inwendig alles um und um reißt. Wie so ’n richtigen Klotz liegt mich die Zung’ in ’n Munde.

„Um ’s Snaken geb’ ich auch nix, Lorensen. Das is wie Musje Perdü sein Haus von Luft mit ’n Himmel als Dach drauf. Für ’n fixe holsteinsche Deern is das ’n zu windigen Aufenthalt.“

„Du glaubst ihn also nich?“ jauchzte er. „Du magst ihm nich leiden?“

„Den gelbswarzen Lügenbüdel? – Der is ja wie so ’n richtigen Giftschwamm!“

„Deern! Deern!“

Lorensen riß sie in seine Arme, preßte sie leidenschaftlich an sich.

„Bist nu zufrieden?“ fragte sie.

„Ja, gansen zufrieden.“

„Denn segel’ man fix ab, du große, dumme Jung’ du“

„Doris! Doris! soll ich denn nich ’n Augenblick – man ein kleinen Augenblick –“

„Nee, nee, ich hab’ zu thun. Un denn, was sollt’ woll der Perdü denken, wenn er uns was aufpaßt?“

„Doris – wenn du es doch ehrlich mit mich meinst –“

„Denn brauch’ ich das noch lang’ nich an die große Glocke zu hängen, damit daß all die slechten Kerls dich aufsässig werden. Mach, daß du aus ’n Haus kommst!“

Er zögerte noch.

„Wenn du abers magst, kannst nach Schummern ’mal hintern neuen Leuchtturm gucken.“

„Hintern Leuchtturm?“

„Kann sein, der Kaptän schickt mir nach Friedrichsort.“

„So spät am Abend?“

„Kann sein, ich mach’ den Weg gans gern. Es is man einmal schön un still hinterm Leuchtturm.“

„Ich komm’, Doris! Ich komm’ gewiß!“

Der Weg zu den Baracken schien völlig menschenleer, als Lorensen aus der Krugthür trat. Aber hinter Stein- und Kohlengerümpel am Kanal verborgen lauerte Peretti, sah seinen Rivalen mit hochgehobenem Kopf, mit blitzenden Augen, über den Sand schreiten. Und er ballte die Fäuste und knirschte einen Fluch. –

[275] Ein Uhr! Der Klang der Glocke rief zur Arbeit. Aus der Kantine, von den Betten der Baracken, von luftigeren Lagerstätten auf Bretterstapeln und auf verwildertem Gras stürmten die Kanalarbeiter zum Werk. Stöhnend keuchten die Lokomotiven drunten auf der Sohle und hoch oben am Schleusenrand, schleppten die ausgebaggerten Erdmassen weit hinaus ins Land, schleppten von der Landungsbrücke heran die mächtigen Blöcke, die aus fernen Steinbrüchen stammten oder von hart arbeitenden Männern gefischt waren auf dem Grund des Meers, das sie in Winterstürmen von Felsenküsten riß und südwärts wälzte in gewaltigen Armen. Menschenkunst hatte die vielgestaltigen in starre Würfelform gebracht, um aus dem Raub des Meeres selbst die Zwingburg aufzutürmen gegen die begehrlich züngelnden, um sich greifenden Wellen. Da wo ein sinnreich gefügtes Rad künftig die Wasser zwingen sollte, selbstthätig die gewaltigen Schleusenthore zu regieren, wurden eben die letzten Sandsteinquader eingemauert. Die Einsetzung jeder einzelnen war ein kleines Drama, ein Triumph des menschlichen Geistes über die lastende Wucht der Materie. Sorglich auf Stroh gebettet, kam der Riesenblock auf der Sohle langsam herangerückt. Mit angespannten Muskeln hoben und drehten vier Männer ihn keuchend in die Drahtseile, hängten sich an das Ende des Flaschenzugs, von dem gehoben der Koloß langsam, langsam emporschwebte über ihren Häuptern bis zum ersten Gerüst. Droben dieselbe Arbeit, erschwert durch die Enge des Stützpunkts, der drei geländerlosen Bretter haushoch in freier Luft. Und wieder der Eingriff des Flaschenzugs. Empor fuhr der Baustein zum zweitem zum dritten Stockwerk, hinauf in Turmeshöhe, wo der Meister mit seinen Gesellen ihn einreihte in die glatte Stirn der Schleusenwand, daß er auch nicht um Haaresbreite aus dem Lot fiel, daß die wohlcementierte Fuge auch nicht dem fast körperlosen Tropfen das Durchsickern gestattete. Harte Arbeit war dies Steinaufwinden, besonders mit leerem Magen, Lorensen empfand’s. Oefter als sonst seine Art war, griff er zur Schluckflasche.

„Ich mein’, die da später ’mal mit Schiffens durchfahren werden sich nich vermuten sein, was für’n Schinderei so ein einzigster Stein ein Menschen doch macht. Oha! Warm is’s!- Sluck haben, Svensen?“

Mit einer Karre voll Bauschutt kam Svensen auf dem schmalen Gerüstweg daher, den Kopf mit dem braunen Haarschopf über der Stirn traumverloren gesenkt. Er antwortete nicht.

„He, Svensen!“

„Ja, die Sonn’ scheint ein büschen warm. Macht nix.“

„Ob du Schluck willst, frägt Lorensen,“ sagte ein langer, sehniger Mann, den sie den Hamburger nannten. Seinen Eigennamen hatte der Kanal ihm abgestreift wie vielen anderen.

„Wie denn?“

Der Hamburger wies auf die Flasche.

„Snaps? – nee, ich nich! heut’ nich.“

Er schob vorüber, keuchend, schwerfällig, versonnen. Ab und zu hielt er einen Augenblick an, atmete laut und sah in die Tiefe, die wie der Schlund einer ungeheueren Cisterne ihm entgegengähnte. Dann löste er die rechte Hand von dem Griff der Schiebkarre, bewegte sie abwägend in der Luft und murmelte Unhörbares.

„Svensen! – Dunderkiel noch ein! Wird das nu bald?“ schrie ein Aufseher vom andern Ufer herüber, wo der Schuttwagen bespannt auf die letzte Schiebkarre wartete.

„Der wird auch alle Tage dösiger,“ brummte der Hamburger, dem Kameraden nachsehend.

Ein rothaariger Junge mit offenem Hemd, der wie ein Affe an einer der Leitern herumturnte, schrie „Ich weiß, warum! Svensen ist verliebt.“

Darüber brüllten die Arbeiter vor Lachen. Einer wehrte, noch sich schüttelnd vor Vergnügen, „Grashopper! Laß du alte Leute zufrieden.“

„Nee,“ verteidigte sich der Junge, „der Danziger, der mit in sein Bett släft, sagt, Svensen bürstet alle Sonnabend sein Hut, un denn hat er ein Ratgeber für Liebende unter sein Kopfkissen liegen.“

Neuer Jubel brach los. Der Hamburger schlug sich die Seiten vor Lachen „Bist ’n Baas, Jung! Bist ’n Baas!“

Und „He? was?“ sagte ein Berliner verlorenes Kind und puffte seinen Nachbar in die Rippen, „den Svensen, den koofen wir uns bei’t Vespern. Er muß uns det Mächen nennen. Denn jehn wir für ihn auf die Freite.“

Aber Lorensen, der an die starre Gestalt im Kanalschilf dachte, war nicht behaglich bei dieser Aussicht. Er spuckte rasch in die Hände und ergriff das Tau des Flaschenzuges.

„O – ha –! Up!“

In diesem Augenblick fuhr das Rad einer Schiebkarre dem Arbeiter so ungeschickt gegen die Kniekehle, daß er taumelte und um ein Haar rückwärts in den Abgrund gestürzt wäre.

„Schafskopp!“ schalt er, sich mühsam haltend. „Kannst nich dein Augens aufknöpfen?“

Da schaute er herumfahrend in Perettis Bronzegesicht und verstummte in peinlichem Schreck. Doris’ Reden gingen ihm durch den Kopf. War der Stoß – Absicht gewesen?

Der Hamburger und der Berliner überhäuften den Italiener mit Vorwürfen. Er sah sie gar nicht an. Fest richteten seine brennenden Augen sich auf Lorensen.

„Warum läuft das Kerl mir in Weg? Eh? – Er soll Platz machen! Platz! Platz!“

„Dessentwegen bringt man doch keinen Menschen um“, verwiesen die Arbeiter.

Carambo!“ beteuerte Peretti. „Hab’ ich Menschen umgebracht? Ich muß schieben meine Zahl Karren, cospetto! Mensch, Klotz, Stein – was is – auf Weg! – Oder geh zu Teufel!“- Nachdem er diese Worte mit wild rollenden Augen hervorgesprudelt hatte, wandte er den ihn mit gehobenen Fäusten bedrohenden deutschen Arbeitern den Rücken und steuerte seine Schiebkarre weiter über den schmalen Brettersteg hoch in den Lüften.

Aber eilig, daß die leere Karre auf den schwanken Brettern rumpelte und hüpfte, schnaufend und prustend platzte vom andern Ende der Schleuse Svensen in die Gruppe.

„Man bloß – ich wollt dir festhalten, Lorensen, damit daß du nich abstürztest. Abers nu is das woll nich mehr nötig?“

Wie er dastand, mit der über die Stirn hängenden Haarflocke, in den gutherzigen verträumten Augen Verblüffung und etwas wie Bedauern, daß der, den er zu retten kam, schon ohne ihn wieder sicher auf den Füßen stand, löste sich die schwüle Spannung des Zornes in all diesen Männern in herzhaftem Lachen.

„Da hätt’st dir ein büschen besser ’ran halten müssen,“ meinte Lorensen.

Und der rothaarige Bengel auf der Leiter schrie: „Lorensen is doch kein Uhl’, daß er in der Luft hängen bleibt, bis du ranpaddeln wirst“. .

„Es is wahr, ich komm’ ein büschen spät,“ gab Svensen zerknirscht zu.

„Das thust du immer, Svensen.“

„Ja, das thu ich oft.“

„Immer Svensen!“

„Es is wahr. Ich weiß nich, wie es zugeht. Aber ich hoff’ doch, daß ich einmal in mein’ Leben noch zur rechten Zeit komm’. Ja, das hoff’ ich.“

„Denn mußt aber viel forscher zupacken, Svensen.“

„Ja, das soll woll sein.“

„Besonders bei die Deerns.

„Thu’ ich, Hamburger. Ja, das thu ich!“

„Ohne langes Besinnen“

„Nee, ich besinn’ mich nu wirklich auch nich ’n büschen mehr!“ Er sah ordentlich unternehmend aus. Seine Augen blickten ganz wach. Eilig lief er mit seiner Karre weiter.

„Bei’t Vespern muß er uns beichten“, entschied der Berliner. „Kinders, das giebt ’nen Hauptjux!“

Aber zur Vesperzeit war Svensen nirgends auf dem Bau zu finden. Sobald die Uhr zum Schlage aushob, hatte er sich aus dem Kanalbett geschlichen, hastig kreuzte er das sandige Plateau und ließ sich über den alten Kanal setzen. Bei der Ueberfahrt wusch er sich sorglich Hände und Gesicht, knüpfte sein Halstuch neu und fragte den erstaunten Fährjungen. „Sitzt das nu woll so ’n büschen akkurat und reputierlich?“

Den Hut schlug er am Bootsrand rein von Kalk und Staub, und so schritt er den Sandweg hinaus nach Holtenau, unterwegs sich immer wiederholend „Ich besinn’ mich nu nich mehr – nee! immer forsch zupacken! forsch zupacken! Das muß Ein! Ja, das is so.“

(Schluß folgt.)

[276] 0


Blätter und Blüten.

Die äußere Ausstattung des Schulmädchens. Des Hauses Herzblättchen soll nach dem Osterfest der Schule übergeben werden. Die ganze Familie beschäftigt sich in Ernst und Scherz mit diesem ersten Schritt ihres Lieblings ins Leben. Natürlich bewegt dies Ereignis am meisten die sorgenden Gedanken der treuen Hausmutter. Nach Frauenart zieht sie dabei die äußere Ausrüstung des kleinen Schulmädchens in liebevolle Erwägung. Vielleicht ist ihr dazu von berufener Seite ein Rat nicht unwillkommen. –

Schon seit Weihnachten harrt in vielen Familien das Schultornisterchen seiner Bestimmung. Es soll aus Rücksicht auf die gerade Haltung des Schulkindes stets auf dem Rücken getragen werden. Darum wähle die Mutter das Frühjahrsmäntelchen für die kleine Schülerin ohne Rücksicht auf die herrschende Mode so, daß dies auch möglich sei. Soll es durchaus einen Kragen haben, so sei er zum Abknöpfen eingerichtet, sonst entsteht aus der kleinen zierlichen Gestalt eine kleine Karikatur, deren Anblick unwiderstehlich zum Lachen reizt. Das Schulkleid soll zweckmäßig und bequem sein. Die geschickte Mutter wird Zierlichkeit und modernen Schnitt mit der nötigen Länge und Weite vereinen können. Aus Anstands- und Gesundheitsrücksichten sollen die Kleider der Kleinen nicht zu kurz sein; denn gerade bei diesen schiebt der unruhige Körper das kurze Röckchen in die Höhe und berührt dann die kalte Bank. Eine bequem zu erreichende Tasche ist für das kleine Mädchen, welches nun nicht mehr bei der Mutter Hilfe suchen kann, unerläßlich. Die Weite ist besonders bei den Aermeln zu beachten. Ein zu enger Aermel hemmt die Bewegung und zerreißt sehr schnell. Ein zur Aufnahme des Frühstücks bestimmtes Körbchen, welches mit Band oder Riemen umzuhängen ist, vervollständigt die Ausstattung des Schulkindes.

Bei allen Anschaffungen für Schulkinder lasse sich die verständige Mutter nicht nur durch die Mode bestimmen, sondern denke erst gesund und zweckmäßig, dann modern! M. Sch.     

Deutschlands merkwürdige Bäume: Die umgewehte Tanne im Forstenrieder Park.

Deutschlands merkwürdige Bäume: Umgewehte Tanne im Forstenrieder Park. (Mit Abbildung.) Aus dem Norden Deutschlands stammte der letzte merkwürdige Baum, den wir auf S. 164 des laufenden Jahrgangs der „Gartenlaube“ abgebildet haben, die „Riesenschlangenkiefer“ bei Bendestorf in Hannover. Heute führen wir unsern Lesern eine eigenartig gestaltete Tanne aus Bayern vor. Sie steht im Forstenrieder Park, unweit der Landstraße nach Starnberg, auf ziemlich einsamer Heide. Vor Jahren wurde sie vom Sturm umgeweht, aber die starken Aeste schützten sie vorm gänzlichen Falle. Ein Teil der freigelegten Wurzeln bohrte sich im nächsten Frühling wieder in das Erdreich ein und außerdem verwandelten sich die stärkeren dem Boden zugekehrten Aeste in neue Wurzeln – ein Vorgang, den man an umgestürzten Bäumen oft beobachten kann. So erhielt der Baum reichliche Nahrung und seine dem Boden abgekehrten Aeste konnten sich kräftig entwickeln. Heute bilden sie aus dem Mutterstamm eine Reihe armdicker, regelrecht gewachsener Tannen. Aber auch die Kronenzweige des gefallenen Stammes streben zum Lichte empor, daß die Spitze des Baumes eine Biegung nach oben machte. So ist dieses merkwürdige Naturspiel ein schönes Sinnbild der zähen Lebenskraft, die unsern Waldbäumen innewohnt. *      

Günstige Kritik. (Zu dem Bilde S. 273) Wie angenehm hatte es doch die Künstlerin der „guten alten Zeit“! Ohne Furcht vor Konkurrenz und öffentlicher Kritik, eine interessante Ausnahme ihres Geschlechtes, saß sie vor der Staffelei und erregte, wie die junge Malerin unseres Bildes, mit ihren harmlosen Kunstwerken einen ganz außerordentlichen Enthusiasmus. Wirkte doch auch ihre ganze Art und Umgebung zu dieser Stimmung mit; das als Atelier dienende freundliche helle Mädchenstübchen mit dem Fenster voll Blumen über dem geöffneten Spinett mit dem kleinen Bücherbrett seitlich davon, das ein paar abgegriffene Lieblingsdichter trägt, die ganze echt weibliche Atmosphäre des Raumes, in welchem die Künstlerin liebevoll die morgens im Hausgarten gepflückten Blumen auf die Leinwand bringt. Da ist es denn kein Wunder, wenn ihrem jungen Kritiker die kühle Objektivität abhanden kommt. Stände ein alter mit ebenso entzückter Gebärde hinter ihrem Sessel, so wäre es vielleicht hoffnungsvoller für ihre künstlerische Zukunft. Aber wer weiß, ob diese nicht bald untergeht in dem Frauenglück an der Seite des hübschen dunkeläugigen Mannes, der gar nicht aussieht, als ob er sich ein besonderes Gewissen daraus machen würde, seiner bewunderten Freundin einen solchen Tausch vorzuschlagen! Bn.     

Radfahrerin. (Zu unserer Kunstbeilage.) Das Fahrrad hat sich die Welt erobert. Man radelt in allen Weltteilen; und in den Vereinigten Staaten von Nordamerika allein wurde im Jahre 1896 gegen eine Million Fahrräder fabriziert. Niemand kann heute bestreiten, daß das Radfahren, wenn es nicht übertrieben wird, eine gesunde, Leib und Seele erfrischende Uebung ist. Diesen Standpunkt hat in der „Gartenlaube“ bereits im Jahre 1889 kein geringerer als der berühmte verstorbene Münchener Professor J. Nußbaum vertreten. Und wie nützlich es im Verkehr sich erweist, davon zeugen die zahllosen radelnden Geschäftsleute, die Fahrraddienstmänner und die Fahrraddroschken. Lange Zeit hielt sich die Frauenwelt dem Radfahren fern, aber nun hat das Fahrrad auch in dieser Hinsicht sich Bahn gebrochen. In Deutschland wird die Zahl der Radfahrerinnen täglich größer. Die Radfahrerin bildet in vielen unserer Städte keine Seltenheit mehr, sondern ist vielfach zu einer typischen Erscheinung geworden. – Eine gar schmucke Radfahrerin führt uns unser Holzschnitt nach einem Bilde von Professor Franz Simm vor. Das Originalgemälde wurde im vorigen Jahre im Glaspalast zu München ausgestellt, wo es großen Beifall fand. Es hat auch einer Freundin des Radfahrens, Nina Güthner, Anregung zu einem kleinen Gedicht gegeben, das den Radfahrerinnen aus der Seele gesprochen sein dürfte, weshalb wir es hier folgen lassen:

Grüß Gott! Du holde Radlerin,
Mit deinem lust’gen Rädchen,
So lang’ ich schon auf Erden bin
Sah ich kein nett’res Mädchen.

5
Du bist der lieben Unschuld Bild,

Und gute Menschen segnen
Dich sicher, wenn sie im Gefild
Dir, wie dem Lenz, begegnen.
Ließ dich das Rad so schön und stark

10
In Jugendpracht gedeihen?

Könnt’ es dir Kraft bis in das Mark
Und Rosenblut verleihen?
So fliege wie ein Vögelein
Durch Wald und Feld und Auen

15
Und werd’ im goldenen Sonnenschein

Die prächtigste der Frauen!


manicula      Hierzu Kunstbeilage IX: „Radfahrerin.“ Von F. Simm.

Inhalt: Trotzige Herzen. Roman von W. Heimburg (15. Fortsetzung). S. 261. – Stärkungsmittel. Ein Beitrag zur Hygieine der Arbeit. Von M. Hagenau. S. 267. – Die Hundertjahrfeier in Berlin. Von G. Klitscher. S. 268. Mit Abbildungen S. 261, 264 und 265, 269 und 270. – Eine Anklage gegen die Wiesenblumen. S. 271. – Einmal zur rechten Zeit. Erzählung von Luise Westkirch. S. 272. – Günstige Kritik. Bild. S. 273. – Blätter und Blüten: Die äußere Ausstattung des Schulmädchens. S. 276. – Deutschlands merkwürdige Bäume: Umgewehte Tanne im Forstenrieder Park. (Mit Abbildung.) S. 276. – Günstige Kritik. S. 276. (Zu dem Bilde S. 273.) – Radfahrerin. S. 276. (Zu unserer Kunstbeilage.)



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.