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Ist das Radfahren gesund?

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Textdaten
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Autor: Johann Nepomuk von Nußbaum
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Titel: Ist das Radfahren gesund?
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 747–751
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
vgl. Johann Nepomuk von Nußbaum, Die Gartenlaube, 1890/11.
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Ist das Radfahren gesund?

Eine kurze Betrachtung von Geheimrath von Nußbaum.

Für jeden denkenden Menschen ist ein äußeres mechanisches Heilmittel vertrauenerweckender als eine geheimnißvolle Arznei, die, in den Magen geschüttet, dort mit dem scharfen, sauren Magensaft vermischt, vielleicht in den Darm hineinfließt, mit Galle vermengt nach und nach aufgesogen wird und nach einer Reihe von Veränderungen in das Blut kommt, vielleicht mit dem Blute im ganzen Körper herumfließt, vielleicht ganz oder theilweise durch die Nieren und Harnwege oder durch den Darm oder durch den Speichel oder die Haut ausgeschieden wird oder auch theilweise im Körper zurückbleibt. Mit einem Worte: bei einem Arzneimittel, welches wir dem Magen einverleiben, giebt es so viele Möglichkeiten, was damit geschehen kann, daß der Zweifel, ob das verordnete Arzneimittel überhaupt mit dem kranken Organ in Berührung kommt, sehr oft gerechtfertigt ist. Ganz wenige Mittel nur sind so studiert und verfolgt, daß man ihre Wege und sicheren Wirkungen kennt. Meistens muß man sich auf die praktische Erfahrung stützen, daß dieses oder jenes Mittel bei dieser oder jener Krankheit schon oft Besserung zur Folge hatte. Ob dies nur ein Zufall oder ob der ursächliche Zusammenhang eine wahre Thatsache ist, das bleibt meist eine unbeantwortete Frage.

Ganz anders ist dies nun bei unseren mechanischen Heilmitteln und bei den neuerdings so beliebten mechanischen Kuren. Mit Recht haben sich diese das Vertrauen der ganzen Welt im Fluge erobert. Ueberall hört man jetzt von den Kuren Oertels, Schweningers, von Terrainkurorten, von aktiver, passiver und - duplizierter Gymnastik, von Maschinengymnastik, bei welcher die Apparate theilweise von Dampfkraft in Bewegung gesetzt werden, von Nervenvibration, von Massage, vom Ergostaten[1], vom Turnen, vom Radfahren etc.

Aber auch solche mechanische Heilmittel wurden anfangs rein auf Grund praktischer Beobachtungen angewandt. Als vor ungefähr 50 Jahren Pfeufer und Henle, die ihrer Zeit vorausgegangen waren, Kranke zum langsamen Besteigen eines Thurmes veranlaßten, hatten sie nur den praktischen Erfolg der Ausdehnung des Rippenkorbes bei tiefem Athmen vor Augen, und die Erfahrung lehrte, daß dadurch die Neigung zur Tuberkulose, welche der krankhaften Engbrüstigkeit eigen ist, beseitigt wird. Aber welche Vorgänge dabei gleichzeitig in den Muskeln zustande kommen, daß dort der Hauptherd für den Stoffumsatz, für die Ernährung ist, wie sich die Ernährung steigern und vermindern läßt, das war damals noch nicht bekannt.

Daß der Mensch in 24 Stunden 9000 Liter Luft aufnimmt, was mit derselben und mit der eingenommenen Nahrung geschieht, wie viel der Mensch an Eiweiß bedarf und daß sich dieses nicht allein im Fleische, sondern auch im Brote findet, alle diese wichtigen Funde verdanken wir erst der bahnbrechenden Arbeit eines Pettenkofer und Voit. Erst hierdurch wurde auf die Wirkung und den Werth unserer mechanischen Heilmittel ein Licht geworfen.

Jedes derselben hat seine Vorzüge und meistens auch seine Nachtheile. Die Massage verreibt und zerdrückt und vertheilt abgelagerte Krankheitserzeugnisse und führt zu ihrer Aufsaugung; oder sie ersetzt in anderen Fällen die Bewegungen der Muskeln; welche dem Kranken nicht möglich sind.

Die mechanische Gymnastik und der Ergostat bringen mehr, oder weniger große Muskelgruppen zur Thätigkeit und steigern dadurch den Stoffumsatz in mächtiger Weise.

In den Terrainkurorten werden die Muskeln des Brustkastens und des Herzens gleichsam trainirt; durch den hervorgebrachten Schweiß wird das der Bewegung hinderliche Fett verringert und durch Flüssigkeitsentziehung der Wassergehalt des Blutes verkleinert, so daß das Herz eine geringere Flüssigkeitssäule zu bewältigen hat.

Einen ganz besondern Werth muß man auf alle jene Einwirkungen legen, welche das Fett vermindern und das Wasser im Körper verringern. Den Herzmuskel von drohender Verfettung zu befreien, ist unendlich werthvoll, denn fettbelastete Muskeln leisten ihre Aufgabe nicht mehr; aber auch die Entfettung des ganzen übrigen Körpers ist von großer Bedeutung. Fette Menschen haben weniger gutes Blut als magere. Blutarme, Menschen sind aber entschieden weniger leistungsfähig und werden schneller müde als andere, sind auch viel mehr Erkrankungen, ausgesetzt als blutreiche.

Bei blutarmen Menschen ist das Mischungsverhältniß des Blutes nicht normal, das Blut ist zu wässerig. Der Wassergehalt aller Organe, auch der Muskeln und Nerven, ist größer, weshalb die Leistungsfähigkeit sehr verringert ist, namentlich die Schnelligkeit bei körperlichen und geistigen Arbeiten. Die Gewebe sind mehr zur Zersetzung geneigt. Leichen der Wassersüchtigen faulen schnell.

Es ist leicht herauszufinden, ob das Blut zu wässerig ist. Wer bei den leichtesten Anstrengungen gleich in Schweiß kommt, hat zu viel Wasser im Blut. Auch die Widerstandsfähigkeit gegen die Kälte ist geringer. Schwitzbäder entwässern die Gewebe rasch und machen augenblicklich viel kräftiger.

Manche meinen, das hohe Alter habe ihnen die Kraft geraubt, während es nur ein stärker Wassergehalt des Blutes ist, was ihnen schnelles Arbeiten unmöglich macht.

Wir können den normalen Wassergehalt des Blutes wieder erreichen, wenn wir oft Bewegungen bis zu starkem Schweißausbruch machen und dann Verkühlung sorgfältig verhindern. Wie ein guter Kutscher die erhitzten Pferde kalt fährt, sollen wir nach starkem Schweißausbruch mit leichteren Bewegungen fortfahren, bis das Schwitzen nachläßt, und dies ist auch die beste Abhärtung.

Wie wir eben anführten, hängt Ueberschuß von Wasser im Blute mit Blutarmuth zusammen und letztere oft mit Fettreichthum? Allerdings kann ich nicht verschweigen, daß ich fette Menschen kenne, die gesund und kräftig sind; allein das sind große Ausnahmen, und meistens besitzen solche Leute dann ein ungewöhnlich festes Fett von normalem Wassergehalt, kein lockeres, wasserreiches, aufgeschwemmtes.

Im Durchschnitt ist bei fetten Menschen der Blutumlauf sehr beeinträchtigt. Das Blut der unteren Körperhälfte kann nur mühsam zum Herzen zurückströmen. Jedes Organ muß bei der Arbeit um 80 Prozent mehr Blut bekommen, als es in der Ruhe hat. Das abgelagerte Fett hindert aber, daß genügend Blut in die arbeitenden Organe einströmt.

[748] Bei Mageren fassen die Lungen dreimal mehr Luft und Blut als bei Fetten. Bei jeder starken Arbeit sollen die Lungen reichlich Luft und Blut bekommen. Wenn alle Organe von Fett umgeben sind und der Blutumlauf dadurch erschwert wird, so geht auch das Athmen schwer und überall entstehen Stauungen: Hämorrhoiden, Krampfadern an den Füßen etc.

Alle mechanischen Heilmittel streben nun fast nach den gleichen Zielen: Kräftigung des Herzmuskels, Bethätigung des Stoffumsatzes und Entfettung. Wer für ein Mittel recht eingenommen ist, sieht aber nur immer die Vortheile desselben, obwohl es wünschenswerth wäre, auch unter diesen mechanischen Heilmitteln recht genau zu unterscheiden, denn man kann sich denken, daß Mittel, welche so große Wirkungen haben, am unrechten Platze angewendet auch schaden können, und daß es ein großer Unterschied ist, ob ein Herzkranker langsam eine Anhöhe hinaufgeht, oder ob er turnt oder radfährt.

Wo die eigene Kraft zur Muskelbewegung nicht mehr ausreicht, ist die Massage aller Muskeln angezeigt.

Heute will ich mich nun ganz allein auf die Frage beschränken, ob das Radfahren gesund ist und was damit erreicht werden kann.

Obenan möchte ich die Behauptung aussprechen, daß das Radfahren ganz zweifellos ein ausgezeichnetes Heilmittel ist, auf ganz richtigen Grundsätzen beruht und daß es durch Bewegung des Körpers und Geistes zustande bringt, was keine andere Kur leistet.

Es ist eine ganz falsche Ansicht, wenn man glaubt, das Radfahren habe nur die Aufgabe, das Körpergewicht zu verringern. Diese Aufgabe hat es gar nicht.

Wir werden eine Summe von Heilwirkungen kennen lernen, welche das Radfahren sehr harmonisch verrichtet. Doch ist dasselbe unpassend für akute Kranke, für Schwerkranke, für solche, die an Klappenfehlern des Herzens leiden, und kann in diesen Fällen sogar recht schädlich wirken. Wer wirklich brustleidend ist, sehr leicht Hustenreiz bekommt, paßt nicht auf das Fahrrad. Es ist zwar möglich, daß er bei sehr langsamem und vorsichtig überwachtem Gebrauch sogar einen Gewinn davon hätte, aber wenn er mit seinen Altersgenossen Schritt halten will, so muß er nicht allein durch die Nase, sondern auch durch den Mund athmen, und das ist, wie ich noch erklären werde, von schlechtester Wirkung, weil er eine kalte und staubige Luft in die Lunge bekommt.

Das Radfahren hat seinen glänzendsten Wirkungskreis als Stärkungsmittel für Schwächlinge. Es paßt namentlich für Menschen, die gesund geboren sind, aber versäumt haben, ihren Körper auszubilden und zu kräftigen.

Für die kleine Mühe beim Radfahren wird oft Gesundheit und Kraft in ungeahntem Grade als Lohn geerntet.

Eine schwache Brust, ein träger Unterleib, schlechtes Athmen, Neigung zur Fettbildung und Blutarmuth, das sind die Krankheitszustände, welche ganz vortrefflich auf das Fahrrad passen. Gehirn, Brust- und Unterleibsorgane können beim Radfahren sehr viel gewinnen und die geistigen Kräfte bleiben auch nicht unbedacht. Einen großen Vorzug des Radfahrens vor andern mechanischen Heilmitteln erkenne ich darin, daß es nicht in engen Zimmern oder staubigen Turnsälen genossen wird, sondern draußen im Freien, auf luftigen Anhöhen, in balsamisch riechenden Wäldern unter Gottes herrlichem Firmament.

Der Radfahrer sitzt ruhig in gewohnter Körperstellung auf seinem stählernen Rosse, ist nicht vorgebeugt wie ein Läufer. Mit den Unterschenkeln, welche er wie die Triebstangen einer Lokomotive bewegt, arbeitet er am meisten. Allein die Ruhe seines übrigen Körpers ist nur eine scheinbare; kleine Bewegungen zu Steuerung sind unerläßlich und der Muskeln des Rumpfes bedarf er, um das Gleichgewicht zu halten, und wenn er auf unebenen Wegen fährt, ist der ganze Rumpf in Thätigkeit, selbst die Nackenmuskeln und der Kopf bleiben nicht frei von Mitarbeit.

Beim Zweiradfahrer, der die Hände an der Leitstange festhält, sind auch die Arme in fortwährender Thätigkeit. Dabei ist aber keine Einschränkung des Schultergürtels zu befürchten, wie dies beim Arbeiten an engen Schreibtischen vorkommt, denn die Hände sind zu weit von einander entfernt.

Die anstrengende Arbeit des Radfahrens erfordert tiefes Athmen, wodurch die Stauungsluft der Lungen entfernt und der Brustkorb energisch ausgeweitet wird, ohne an seiner Elasticität etwas zu verlieren, so daß der mit dem Centimetermaß meßbare Unterschied zwischen Ein- und Ausathmung von Monat zu Monat wächst. Leute, bei denen dieser Unterschied vor 6 Monaten kaum 2 bis 3 Centimeter betrug, zeigen jetzt 8 bis 9 Centimeter.

Es ist ein ganz guter Rath, wenn man sagt, kränkliche Stubensitzer und Comptoiristen sollen sich auf das Fahrrad setzen und gut athmen lernen.

Wie unendlich werthvoll eine solche Ausdehnung des Brustkorbes und der Lunge ist, lehrt die Erfahrung, daß sie der beste Schutz ist gegen die verderblichste Krankheit Europas, gegen Tuberkulose.

Ferner massirt der Radfahrer mit dem hohen Heben der Schenkel gleichsam seinen Unterleib, macht dadurch den Darm thätig, drängt das Zwerchfell nach oben und zwingt sich so zu tiefem Athmen.

Die Anstrengung bringt mit Ausnahme von ganz kurzen und langsamen Fahrten beinahe immer einigen Schweiß, wobei Stoffe ausgeschieden werden, deren Zurückbleiben im Blute den Körper schädigen würde.

In starken Schweiß kommt der Radfahrer sehr selten. Selbst bei anstrengenden langen Touren und beim Rennfahren, was vom ärztlichen Standpunkte aus nicht zu empfehlen ist, kommt keine starke Erhitzung vor, kein übermäßig strömender Schweiß, kein beschleunigter Puls. Nie findet man bei Radfahrern pulsirende Halsvenen, welche bei wenig anderen Körperanstrengungen fehlen.

Durch Haut und Lunge geben wir fortwährend Wärme ab. Ein gelinder Schweißausbruch bringt deshalb oft ein recht wohlthätiges Gefühl. Eine Ueberhitzung, wobei diese Wärmeabgabe von Haut und Lunge nicht mehr ausreicht und Hitzschlag eintritt, wird bei Radfahrern wohl nicht beobachtet.

Die Kräftigung aller Körpermuskeln, welche, wie wir jetzt wissen, der Hauptherd für den Stoffumsatz sind, und die zweckmäßige Ernährung des ganzen Körpers ist die erste Wirkung des Radfahrens.

Die gesteigerte Muskelthäthigkeit verbrennt das überschüssige Fett und der leichte Schweiß hilft mit.

Die Entfettung des Herzens und der großen Adern hat unberechenbaren Werth, denn der Umlauf des Blutes wird dadurch erleichtert.

Aber auch am ganzen übrigen Körper wird das Fett verbrannt und auch dort ist die Entfettung werthvoll, weil das Fett, wie wir bereits besprachen, den Weg für die Adern einengt und dadurch eine unregelmäßige Vertheilung des Bluts bewirkt; zwar in der Ruhe bemerkt man dies wenig, aber schon geringe Anstrengungen machen fetten Leuten ein rothes, Blutandrang verrathendes Gesicht. Schläfrigkeit, Kopfweh, selbst die Neigung zu Schlaganfällen, Hämorrhoiden sind an der Tagesordnung. Ob die Wegsamkeit der Blutbahnen des Kreislaufes namhaft beeinträchtigt ist, erkennen wir, wenn wir starke Bewegungen machen und dabei alsbald Erhitzung eintritt. Je schneller Pulsbeschleunigung kommt, je bälder die Bewegung wegen Uebermüdung und Erhitzung ausgesetzt werden muß, desto enger ist die Bahn für die Blutgefäße. Man kann diese aber durch Uebung erweitern und zuletzt normal machen, wozu das Radfahren recht passend ist.

Dasselbe ist allen anzurathen, welche nicht in ihrem Berufe schon genügende Bewegung haben.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht versäumen, meine Erfahrung hier niederzulegen, daß das Schulturnen, so werthvoll es auch ist, zum Ausgleich für die kopferwärmende Lebensweise unserer geplagten Schulkinder nicht genügt. Es fehlt dabei die frische Luft.

Das Kind sitzt in der Schule täglich bis 5 bis 6 Stunden, sitzt zu Hause bei den Hausaufgaben wieder ein paar Stunden. Das arme kleine Hirn wird beim Lernen mit 80 bis 90 Prozent mehr Blut überschwemmt als in der Ruhe, ferner ist zu Hause wie in der Schule die Luftschicht, welche den Kopf des Kindes umgiebt, viel wärmer als die Luft um die Füße herum.

Höchst segensreich würde daher ein kräftiges mechanisches Heilmittel wirken, welches Blut vom Gehirn auf die Glieder ableiten würde. Ein ungefährliches Dreirad wäre für die ganze Familie genügend.

Wie wir bereits zeigten, wird durch das Radfahren der ganze Organismus zur regeren Thätigkeit gebracht, weshalb man sich nicht wundern darf, wenn die Leistungsfähigkeit größer, Schlaf und Appetit ausgezeichnet werden. In der That sieht man, daß [749] Radfahrer Mahlzeiten einnehmen, welche kein Gesunder sonst vertragen würde.

Bei diesem Wechsel der Anregung, bei diesem Entlasten der inneren Organe und Belasten der Außenseite des Körpers kommt es auch zu Einwirkungen aus die Nerven, wie sie ein anderes Heilmittel selten zustande bringt.

Jene modernen Ueberreizungen, denen kein Stand und kein Alter jetzt entgeht, die Neurasthenie (Nervenschwäche) in allen ihren Formen vertragen sich nicht mit dem Radfahren. Schon nach wenigen Wochen verschwindet eine quälende Krankheitserscheinung nach der andern. Ich kenne Leute, welche in keine Gesellschaft, in der mehr als 10 Menschen beisammen waren mehr gehen konnten. Es befiel sie unerträglicher Schwindel. Andere brachte das grelle Licht eines Kronleuchters zum Weinen, wieder andere konnten nicht mehr Seiten eines Buches ohne Unterbrechung lesen. Ich kenne Maler, die keinen Pinsel mehr in die Hand nehmen konnten; Männer, welche beim Hören von Glockengeläut ganz traurig und still wurden. Diesen allen und vielen anderen war die Ueberreizung nicht allein höchst quälend, sondern oft hing für sie auch die Gefahr daran, das tägliche Brot zu verlieren. Heutzutage versinkt die Mittelmäßigkeit. Nur ausgezeichnete Leute erreichen das ersehnte Ziel und hierzu sind meist Anstrengungen nöthig, welche eine übergroße Anspannung der Nerven erheischen und dann nicht ohne schädliche Folgen bleiben, denn des Schöpfers Wille ist ein solch überreiztes Leben nicht, sonst hätte das Gehirn einen Bau, welcher solche Ueberreizung ohne Schaden ertrüge, gerade so gut wie der Schöpfer das Herz des Pferdes, welches offenbar von ihm selbst zu schnellem Lauf bestimmt ist, durch einen festen Faden vor dem Zerspringen geschützt hat. Die jetzige geistige Hetze wird weder vom Gehirn des Kindes noch von dem des Erwachsenen schadlos ertragen. Solchen Unglücklichen wird nun das Radfahren oft zum Erlöser von ihren Leiden, wenn sie nebenbei der Hetze Einhalt thun.

Das Freiwerden des schweren Kopfes, die Schwitzthätigkeit der Haut, das Strotzen der Muskeln von Blut, der gesteigerte Stoffumsatz, die bessere Blutmischung, die geregelte freiere Blutbewegung, der tiefe Athem mit der vermehrten Sauerstoffaufnahme, das Fortschaffen des hinderlichen überflüssigen Fettes und Wassers, die bessere Ernährung machen den Körper gesund und mit der Gesundheit des Körpers kommt auch die Gesundheit des Geistes. Die Thatkraft kehrt zurück, die Lust zum Leben, die Lust zur Arbeit, der Schaffensdrang und damit der frohe Sinn und die Zufriedenheit. In wenigen Wochen verschwinden die quälenden Reizerscheinungen des Nervensystems.

Wir sehen, das Radfahren ist ein ganz hervorragendes Heilmittel, wenn es sorgfältig und richtig benutzt wird.

Bei Fehlern an den Herzklappen oder wenn der Blutumlauf noch so behindert ist, daß schon bei geringen Anstrengungen der Kopf Blutandrang und Eingenommenheit zeigt, ist langsam und vorsichtig zu [750] beginnen. Uebermäßige Anstrengung, unzweckmäßige Ernährung und Kleidung ruiniren die Nerven und schaden oft sehr, oder verhindern wenigstens den Nutzen.

Die Kleidung des Radfahrers sei weich, warm, leicht und luftig, damit der Austausch zwischen seiner Körperoberfläche und der umgebenden Luft nicht behindert ist.

Die Hemden sollen lang sein, damit sie sich beim Fahren nicht heraufschieben. Die Aermel sollen bis zur Hand vor gehen, um die Arme vor dem Sonnenbrand zu schützen. Wolle mit Baumwolle verwebt ist für Radfahrer der beste Stoff. Reine Wolle macht zu warm, juckt oft zu stark, ist schwer zu reinigen und verfilzt sich oft beim Waschen. Leinwand macht zu kalt, kühlt zu schnell aus.

Durchnäßte Unterkleider sollen alsbald gewechselt werden, da sie die Feuchtigkeit an die Außenluft abgeben und den Körper zu rasch abkühlen. Kurze Tricotunterhosen sind zweckmäßig und sehr zu empfehlen.

Die Beinkleider sind am geeignetsten recht elastisch von Kammgarn gestrickt. Macht sie ein Schneider aus Tuch, so soll er wenigstens alle hervorspringenden Nähte mit einem Streifen Wollstoff übernähen, damit die Haut von den Nähten nicht aufgescheuert wird. Die Beinkleider sollen ein paar Zentimeter über das Knie herabgehen und hier wie oben an der Hüfte mit einem Bunde zugeschnallt werden, den man während der Fahrt lockern kann. Straffe Hosenträger sind schädlich.

Die Strümpfe sollen handbreit über das Knie hinaufgehen und mit Bändern, welche mehrere Knopflöcher zum lockerer machen besitzen, an Knöpfen des Hosenbundes befestigt werden. Als Schuhe empfehlen sich Halbschuhe mit starken Sohlen und niederen Absätzen. Wer im Fußgelenk Neigung zum Umknicken hat, soll ein elastisches Oberleder weiter heraufgehen lassen. Die Schuhe sollen zugeschnürt nicht zugeknöpft werden, Knöpfe thun oft weh. Bei schönem, trocknem Wetter sind Zeugschuhe, die den Fuß gut ausdünsten lassen, sehr angenehm. Hat der Fuß Neigung zu scharfer Absonderung, so stäube man Salicylpulver zwischen die Zehen und auf die Sohle, was den Schweiß mäßigt und den Geruch nimmt.

Die Oberkleider sollen einen recht bequemen Schnitt haben, Brustumfang, Halsöffnung und Armlöcher dürfen ja nicht zu enge sein.

Tricotstoffe sind die passendsten; für den Winter kann man sie mit Flanell füttern lassen. Graumelirt ist die beste Farbe. Hellblau, was viele lieber wählen, macht erfahrungsgemäß so heiß wie Schwarz.

Die Kopfbedeckung soll von hellem Stoffe und luftig sein oder doch wenigstens durch Luftlöcher die Ausdünstung befördern. Ein großer Schirm schütze vor der Sonne, und bei Neigung zu starkem Schweiße kann man den Kopfring mit einer Korkschicht polstern. Bei recht heißer sonniger Zeit läßt man von der Kappe ein Stück Stoff über den Nacken herabhängen, das für gewöhnlich nach oben geknöpft ist. Handschuhe sind räthlich, denn sie schützen vor Sonnenbrand und vor mancher Verletzung. Leder paßt aber nicht hierzu, denn dasselbe bleibt zu lang naß und kalt. Im Sommer ist Baumwolle, im Winter Wolle zu wählen.

Regenröcke von Gummi sind sehr gebräuchlich, aber ich rathe ab von ihnen. Sie bringen durch Störung der Ausdünstung ein ängstigendes Gefühl. Besser ist es, einen kleinen Kragen von Gummi auf die Schultern und eine ebensolche Decke zum Schutze der Schenkel zu wählen.

Bei großen Touren ist auch die Lebensweise recht wichtig und nützt oft mehr als Kraft und Uebung.

Wenn man früh morgens auf das Rad steigt, paßt eine Tasse Kaffee, Thee oder Chokolade mit einem Brote. Nach einer Stunde Fahrzeit soll erst das Hauptfrühstück kommen, das auch ein gutes Stück Fleisch enthalten soll. Mittags während der größten Hitze wird man am besten drei bis vier Stunden ausruhen. Recht ernstlich muß man vom vielen Trinken abrathen. Man lerne den Durst bezähmen. Etwas Wasser mit Cognak bevor man wieder das Rad besteigt, oder Limonade oder Kaffee schützt oft lange vor Durst. Während der Fahrt soll man ein paar grüne bittere Blätter zwischen den Zähnen behalten und den Speichel damit sammeln. Ist die Hitze recht groß, so kann man mit großem Vortheil den Durst lindern, indem man eine dünne Schnitte rohen Rindfleisches gut gesalzen aus der Zunge liegen läßt. Das Rauchen ist nur eine Art Betäubung, welche nachträglich den Durst noch vermehrt, und paßt nicht für den Radsport.

Man soll das Fahren nicht über seine Kräfte beschleunigen. Sehr schnelles Fahren erheischt auch eine besondere Muskelanstrengung und vermehrtes Athmen, so daß das Athmen durch die Nase nicht mehr ausreicht und auch der Mund geöffnet werden muß, was recht schädlich ist. Der weise Schöpfer hat nicht umsonst angeordnet, daß wir die Luft, welche wir in unsere Lungen bringen, vorher in der Nase wärmen und vom Staub reinigen. Mit wunderbarer Vorsehung ist die Nase mit einer Fülle von kleinen Knochenmuscheln ausgestattet welche mit einer gefäßreichen recht blutreichen Schleimhaut überzogen und ganz dazu gemacht sind, ihre Wärme an die durchziehende Luft abzugeben. Die klebrige Feuchtigkeit, welche von der Nasenschleimhaut abgesondert wird, ist sehr geeignet, die durchströmende Luft von Staub zu befreien, so daß nur warme und staubfreie Luft in die Lunge gelangt.

Nach beendeter Tour entledige sich der Radfahrer seiner durchfeuchteten Unterkleider, wasche den ganzen Körper mit kaltem Wasser und reibe ihn trocken ab. Bei größeren Partien lasse man Unterkleider zum Wechseln durch die Post vorausschicken oder doch ein Hemd, in Wachsleinwand verpackt, entweder an die Lenkstange schnallen oder an einem andern Theile der Maschine befestigen.

Größere Touren unternehme man nur in Gesellschaft. Das Sprichwort sagt ganz wahr: „Getheilte Freude, doppelte Freude, geteiltes Leid, halbes Leid!“ Wenn auch im allgemeinen nur kleine Unfälle vorkommen, so ist es doch wünschenswert, dabei nicht allein zu sein. Sobald uns jemand die helfende Hand bietet, erträgt man jeden Unfall leichter.

Der erquickende kühle Luftzug, in welchem sich Radfahrer fortbewegen, ist zweifellos Ursache, daß Uebelsein und Ohnmacht mit Bewußtlosigkeit recht selten vorkommen.

Wenn in einem solchen Zustand auch der Athem stockt, so leite man sofort eine künstliche Athmung ein in der Weise, wie sie die „Gartenlaube“ kürzlich (vgl. Nr. 37) zum Zwecke der Wiederbelebung Ertrunkener beschrieben hat. Man schiebe den Unterkiefer nach vorne, so daß die unteren Zähne weiter vorstehen als die oberen, öffne den Mund und reinige den Schlund und drücke alle drei bis vier Sekunden mit beiden flachen Händen langsam auf die Brust. Dadurch wird die verlebte Luft ausgepreßt; sobald wir dann die Hände wegnehmen, dehnt sich der elastische Rippenkorb wieder aus, wobei die Lunge frische sauerstoffreiche Luft einschlürft. Auch belebende Riechmittel sind zu empfehlen, scharfer Essig, englisches Riechsalz und ähnliche. Ein Schluck frisches Waffer mit etwas Cognak oder ein Glas Wein oder Bier hat oft eine rasche und sehr gute Wirkung.

Wie ich schon angeführt habe, ist der Hitzschlag beim Radfahren gewiß unendlich selten. Sollte er vorkommen, so bringe man den Kranken an einen kühlen Ort, gebe ihm kaltes Wasser mit Cognak oder Wein zu trinken, mache kalte Umschläge und wasche den ganzen Körper kalt.

Kleine Wunden kommen beim Radfahrer vielfach vor, große aber selten. Bei jeder Wunde ist die Blutstillung das erste. Am einfachsten ist es immer, die blutende Stelle mit dem Finger oder mit der Hand zuzuhalten, bis der Arzt kommt und das blutende Gefäß zubindet. Dauert es lange, so kann man den Finger mit einem undurchlässigen Gegenstand vertauschen, den man auf die blutende Stelle bindet, mit einem Geld- oder Korkstück. Ganz außerordentlich praktisch ist ein weicher Tampon, den man sich herstellt, indem man einen Knäuel Watte in Guttaperchapapier wickelt und letzteres mit Chloroform zuklebt. Leichte Blutungen bedürfen nur kalter Wasserumschläge.

Bei einem größeren Unglück ist immer die Hilfe des Arztes zu erwarten. Doch erheischen auch kleine Wunden eine gewisse Sorgfalt, wenn sie keine Gefahren bringen sollen; durch die kleinsten Hautwunden können Zersetzungskeime eindringen und dann eine starke örtliche oder allgemeine Erkrankung herbeiführen. Man befreie die Wunde von allem Schmutz, desinfiziere sie und verbinde sie antiseptisch.

Ein kleiner Eßlöffel voll konzentrirter flüssiger Karbolsäure auf ein Quart Wasser ist eine sehr brauchbare antiseptische Flüssigkeit, mit welcher man die Hände, welche die Wunde berühren sollen, und die Wunde selbst reinigen und desinfizieren kann. Nachdem dies geschehen ist, gießt man einen halben Kaffeelöffel voll der [751] flüssigen konzentrirten Karbolsäure in ein halbes Quart Wasser, befeuchtet hiermit Gaze oder ausgewaschene alte Leinwand, wickelt sie über den verletzten Theil und befestigt mit einer Binde ein Stück Guttaperchapapier darüber, damit die Feuchtigkeit nicht verdunsten kann. Dieser einfache Verband entspricht allen Anforderungen unserer Zeit. Ist ein Fall oder starker Stoß oder die Verdrehung eines Gelenkes vorgekommen, dabei aber die Haut unverletzt geblieben, so ist die Massage und Kälte ein gutes Mittel.

Recht vortheilhaft ist auch ein Umschlag von wässeriger Ichthyollösung, 1 Theil Ichthyol auf 20 Theile Wasser. Schmerz, Schwellung und Mißfarbigkeit werden dadurch ganz gering.

Auch bei Verbrennung paßt diese Ichthyollösung, oder man reinigt den verbrannten Theil mit irgend einer antiseptischen Flüssigkeit, schneidet die Blasen weg, da diese das schadenbringende Secret zurückhalten, dessen Aufsaugung durch die Haut wie eine Vergiftung wirkt. Endlich deckt man die verbrannte Fläche mit einer antiseptischen Gaze. Das wichtigste bei Verbrennungen bleibt, die Kraft des Kranken zu erhalten, das Secret schnell zu entfernen und die Schmerzen zu nehmen.

Es ist sehr grausam und schädlich, einen Verbrannten zu befördern, ehe sein Schmerz gehoben ist, da ihn jeder Tritt und Schritt empfindlich schmerzt. Morphium, innerlich oder unter die Haut gespritzt, ist von guter Wirkung.

Verrenkungen der Gelenke und Brüche der Knochen behandelt man in der Weise, daß man die Glieder durch Ziehen in ihre normale Stellung zu bringen sucht. Ist das bei Verrenkungen gelungen, so ist der Verletzte schon halb geheilt. Bei Beinbrüchen muß man die erlangte gute Stellung durch einen vorläufigen Verband festzuhalten suchen. Stroh, Baumäste, Brettchen, Regenschirme, alles kann man als Schienen benutzen.

Aengstliche Menschen halten den Radsport für ein gefährliches Vergnügen, weil hier und da kleine Unfälle dabei geschehen. Wenn man aber die große Summe von halbkranken und schwer leidenden Menschen zusammenzählt, welche jährlich durch diesen Sport wieder gesund und froh werden, so fallen diese kleinen Unglücksfälle gar nicht in die Wagschale.

Das beste Arzneimittel, am unrechten Ort angewandt, bringt oft Schaden. Alles kann man übertreiben; von der besten Nahrung kann man zu viel genießen und sich schaden. Die Kraftstücke der Gewaltstouren können daher vom ärztlichen Standpunkte nicht gebilligt werden. Da es aber jedem Menschen gesund ist, sich täglich so viel Bewegung zu machen, bis er in leichten Schweiß kommt, so bleibt das Radfahren ein herrliches Vorbeugemittel bei Krankheitsanlagen und für viele Leiden das beste Heilmittel.

Die Beobachtung, daß die Zahl der radfahrenden Aerzte jedes Jahr zunimmt, ist ein Beweis, daß das Radfahren als durchaus nützlich erkannt wird. Für Leute, welche an Hämorrhoiden und Verdauungsbeschwerden, an Kreuzschmerz und schlechtem Athem leiden, für Leute, welche eine schmale Brust und nur wenig verschiedene Ein- und Ausathmungsmaße haben, endlich für solche, die infolge von Fettbildung einen beengten Blutumlauf und eine beeinträchtigte Herzbewegung zeigen, welche blutarm und leistungsunfähig sind, für das große Heer der nervösen Qualen ist das Radfahren ein äußerst lobenswerthes Heilmittel.

Ich kann es nicht unterlassen, bei dieser Gelegenheit auszusprechen, daß das Radfahren für die vielen nervösen Martern, welchen das weibliche Geschlecht ausgesetzt ist und wobei die Theilnahme der Angehörigen leider oft eine sehr geringe ist, dringend zu empfehlen wäre. Ob man auf einem Zweirad oder Dreirad fährt, dürfte für den Erfolg einerlei sein. Das Dreiradfahren kann auch bei Damen niemand unanständig oder zu auffallend nennen, namentlich wenn die Fahrten außerhalb der Stadt gemacht werden. Es soll ja doch dem zarten Geschlecht auch erlaubt sein, jene Heilmittel, welche ihm so gut bekommen wie den Männern, zu benutzen, um das höchste Gut auf Erden zu erringen: Gesundheit und Heiterkeit.



  1. Der „Ergostat“ ist eine von Dr. Gärtner ist Wien erfundene, jetzt viel benutzte Maschine. Dieselbe enthält ein Rad, welches verschieden schwer belastet werden kann und welches der Kranke zur Stärkung seiner Muskeln täglich ein paar hundertmal umtreibt.