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Die Gartenlaube (1896)/Heft 31

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[517]

Nr. 31.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (7. Fortsetzung.)

7.

In der Schmiede klangen die Hammerschläge, rasch und laut. Schorschl stand vor dem Amboß und hämmerte auf ein glühendes Hufeisen los. Als es fertig war, tauchte er das noch rote Eisen in den Kühlbottich, daß zischend der Dampf aufging, und ließ es dann aus der Zange zu Boden fallen, wo schon ein paar Dutzend auf einem Häuflein beisammen lagen.

Nun besann er sich, als wüßte er nicht, was er weiter beginnen sollte. Noch ein Hufeisen schmieden? Aber er mußte die Eisenstangen sparen, gar viele hatte er nicht mehr in der Ecke stehen – und der Vorrat an Hufeisen, der da am Boden lag, war ausreichend für einen Monat und darüber. Früh am Tag hatte er begonnen, hatte Hufeisen um Hufeisen geschmiedet, nur um sich am Amboß festzuhalten, um die Zeit hinzubringen, bis andere Arbeit käme. Aber die ließ noch immer auf sich warten.

Nur der Schneider war gekommen, um seine vierunddreißig Mark zu fordern, und Schorschl hatte all seine Ueberredung aufwenden müssen, um den Ungeduldigen auf ein paar Wochen zu vertrösten. „Herrgott! ’s Bravsein macht ein’ schwitzen!“ brummte er, als der Meister Schneider glücklich wieder zum Thor draußen war.

Dann hatte sich Kinderbesuch eingestellt, und die kleinen Bürschlein, die ihren Freund Schorschl nur vom Bach her kannten und


Die kaiserliche Jacht „Meteor“ im Kieler Hafen.
Nach einem Aquarell von Willy Stöwer.

[518] gewohnt waren, ihn mit Forellen in den freigebigen Händen zu sehen, waren völlig perplex bei dem ungewohnten Anblick: der Daxen-Schorschl im Schurzfell und mit dem Hammer in der Faust.

Auch Erwachsene waren ab und zu unter das Thor getreten und hatten ihm eine Weile ungläubig bei der Arbeit zugesehen, um lachend und mit Kopfschüttelu wieder davonzustapfen. Doch keiner hatte Arbeit in die Schmiede gebracht. Auch der Bauer, dessen Leiterwagen Schorschl tags vorher beschlagen hatte, war ausgeblieben. „Der Tropf! Und so fest hat er mir Arbeit zug’sagt!“

Von Stunde zu Stunde hatte Schorschl’s Laune ein immer bedenklicheres Gesicht geschnitten, in seinen scheltenden Aerger über die „hinterhältischen Leut’“ mischten sich immer wieder die Gedanken an Vroni und der unbehagliche Refrain seines Sorgenliedes: „Jesses! Jesses! Was mach’ ich mit meine Schulden! Wo nimm ich denn ’s Geld her? … Hol’ der Teufel den Zillerlenz und den Berghofbauer mitsamt der Bäckenmahm’!“

Wieder sagte er dieses Sprüchlein her, das er seit dem Morgen schon an die zwanzigmal gebrummt und gemurmelt hatte.

Auf dem Holzblock des Amboß lag noch ein Stücklein Eisenstange, welches knapp für ein Hufeisen reichen konnte. Das nahm er in die Zange. „Machen wir halt noch eins!“ Wütend bohrte er das Eisen in die Essenglut.

Ingrimmig begann er den Blasebalg zu treten aber da lachte er plötzlich und griff in die Hosentasche. Achtsam rollte er ein geschwärztes Stückchen Zeitungspapier auseinander, in welches die dreißig Pfennige eingewickelt waren, die ihm Vroni auf den Amboß gelegt hatte. Immer wieder schob er mit dem rußigen Finger die Nickel durcheinander und blinzelte sie mit vergnügten Augen an. „Die heb’ ich mir auf! … Wart’ nur, Du!“ Mit der gleichen Sorgfalt rollte er das Papierchen wieder zusammen.

Da trat Mathes in die Werkstätte, schwer atmend und wortlos.

Schorschl erkannte ihn nicht gleich; und dann fragte er verwundert: „Du, Mathes? … Was willst denn’?“

„Pressante Arbeit hätt’ ich.“

„Arbeit bringst mir? Da sag’ ich Dir doppelt Grüß Gott!“ Schorschl lachte, daß in seinem rußfleckigen Gesichte die Zähne blinkten. „Gestern d’ Vroni und heut’ schon wieder Du! Ah, da schau an! Jetzt sind gar die Simmerauer Leut’ meine … beste Kundschaft.“ Er hatte „einzige“ sagen wollen, aber das Wort noch zur rechten Zeit verschluckt. Flink nahm er die Zange aus der Esse, warf das glühende Stück Eisen zu Boden und ging mit ausgestreckter Hand auf Mathes zu. Da sah er das bleiche Gesicht des Burschen und fragte: „Mathes? Fehlt Dir was?“

„Warum? Was soll mir denn fehlen?“

„So ausschauen thust halt!“

„Ich schau aus wie allweil!“ sagte Mathes ruhig und trat tiefer in die Werkstätte, so daß der rote Essenschein über sein Gesicht fiel.

„Da muß mich ’s Taglicht unter der Thür ’täuscht heben,“ meinte Schorschl.

„Ja!“

„Weißt, wenn man die ganze Zeit so in die Glut schaut, kommen mir d’ Leut’ völlig blaß vor, wenn s’ von draußen ’reinmarschieren.“

„Ja!“

„Aber sag’, was brauchst denn?“

„Schlaudern … die Schrauben mit recht feste Muttern!“ erwiderte Mathes und nannte die Maße.

„Schlaudern?“ Schorschl erschrak. „Is denn am Häusl was passiert?“

„Ah na!“

„Aber geh, red’ doch ein bißl was! Wie steht’s denn droben?“

„Gut! … Oder doch net schlechter, als wie’s sein kann. Dem Vater z’lieb denk’ ich doch, daß wir uns durchschlagen übern Winter.“

„Aber im Frühjahr?“

„Im Frühjahr! Ja! Wenn ’s Wasser wieder mehrer wird! Da wird er harte Tag’ haben, der Vater! Aber gelt, red’ nix davon, wann zufällig mit ihm z’sammkommst. Und jetzt fang’ lieber d’ Arbeit an! Es pressiert mir!“

Schorschl holte von seinem kleinen Eisenvorrat nach langem Wählen aus der Ecke hervor, was er nötig hatte. Mathes prüfte die Stangen und sagte: „Vergeltsgott! Ich merk’ schon: ’s beste Eisen hast ausg’sucht.“

„Soll ich’s leicht für ein’ andern aufheben?“

Mit rührigem Eifer begann Schorschl die Arbeit, und Mathes, der nicht müßig stehen konnte, half dabei nach Kräften mit.

Während sie, um die Gewinde in die Eisenstangen zu schneiden, am Schraubstock standen, und zu zweit an den langen Hebeln der Schneidkluppe zogen, versuchte Schorschl ein um das andere Mal die Rede auf Vroni zu bringen. Aber dann wußte Mathes, der doch sonst mit den Worten so sparsam war, immer lang und breit von anderen Dingen zu schwatzen. Schließlich stellte Schorschl verdrossen seine Fragen ein und ließ all den heißen Unmut, der in ihm zu rumoren schien, an der Arbeit verdampfen.

Als die Mittagsglocke geläutet wurde, fragte Mathes in schlecht verhehlter Sorge: „Mußt aussetzen und Mahlzeit halten?“

Schorschl schüttelte den Kopf. „Mich hungert net!“

Zwei Stunden später war die Arbeit fertig, und die Schrauben hatten Muttern wie Fäuste so groß.

„Bist z’frieden, Mathes?“

„Ja! Besser und akrater hätt’s keiner g’macht! Wieviel bin ich denn schuldig?“

Schorschl wollte keinen Preis sagen. „Was meinst denn, daß ich verdient hab’?“

„No, mit ’m Eisen, schätz’ ich halt vier, fünf Mark!“

„Sagen wir: drei! Is eh’ schon viel!“

„Geh’, da zahlst ja drauf?“

„Gott bewahr’, da verdien’ ich noch!“

„No also, Vergelt’s Gott halt! Aber zahlen muß ich Dich ein anders Mal. Ich bin so gahlings droben fortg’rennt und hab’ nix bei mir.“

„Macht nix! Bist mir ja gut! Und b’hüt’ Dich Gott!“

„B’hüt’ Dich Gott!“

„Und grüß’ mir …“ Schorschl stockte. „Grüß’ mir Deine Leut’!“

„Ja!“

Mathes lud die schweren Stangen auf seine Schultern und verließ die Werkstätte.

Langsamen Schrittes trat Schorschl unter das Thor und sah ihm nach. „Gleich gar net reden hat er mögen mit mir … von der Vroni!“ murmelte er vor sich. „Schorscherl, Schorscherl! Da schaut’s schlecht aus!“

Mit diesem Stoßseufzer ging er ins Haus, um das versäumte Mittagsmahl nachzuholen. Bei den sorgenvollen Gedanken, die ihm Kopf und Herz durchzogen, hatte er wenig acht auf die Kocherei und ließ den Schmarren anbrennen. Da er ein zweites Mal nicht kochen wollte, mußte er sich mit einem Stück Brot begnügen.

„Wenn net bald Arbeit kommt, muß ich mich eh’ d’ran g’wöhnen, ans Brotbeißen!“ Er kehrte in die Werkstätte zurück. „Herrgott! Herrgott! Wo nimm ich denn ’s Geld her?“

Da schien ihm der Zufall – oder war’s der liebe Gott, den er so unglimpflich angerufen hatte? – einen Fingerzeig zu geben. Denn er hörte Hufschlag, der sich von der Straße näherte, und als er unter das Thor sprang, gewahrte er den Purtscheller, der seinen Traber am Zügel in den Hof der Schmiede führte.

„Der Purtscheller! Meiner Seel’! Den hau’ ich drum an! Und ich glaub’, der giebt mir’s!“

In diese freudige Hoffnung mischte sich bei Schorschl gerechtes Staunen über den Anblick, den Purtscheller mit seinem Traberzeugl bot. Um zehn Uhr vormittags war der flotte Herr gar stolz und hoheitsvoll auf seinem rot lackierten Gig zum Dorf hinausgeradelt – und wie kam er jetzt zurück! Auf Schustersrappen, den Braunen am Zügel führend … Mann, Pferd und Wagen über und über mit grauem Kot bespritzt! Galliger Aerger redete aus Purtschellers dunkelgerötetem Gesicht, während er unter lautem Schelten den Braunen, der nicht mehr gehen wollte, gegen die Schmiede zerrte. Es war ein schönes, edles Tier – aber jetzt ließ es trauernd den Kopf hängen, hinkte mit einem Vorderfuß, und immer wieder schauerte ihm das Fell, dessen brauner Metallglanz unter Kot und eingetrockneten Schaumflocken erloschen war.

Ueber dem Mitleid, welches Schorschl mit dem so übel zugerichteten Tier empfand, vergaß er den Gedanken, der bei Purtschellers Anblick in ihm aufgestiegen war.

„Ja um Gotteswillen? Was is denn? Was hat denn der Bräunl?“

„Hol’s der Teufel, ich weiß selber net!“ schrie Purtscheller.

„Eine halbe Stund’ vorm Ort draußen hat er auf einmal aus’lassen! [519] Alteriert hab’ ich mich, daß mir völlig schlecht is! Bei mir schlagt sich alles gleich auf ’n Magen.“ Er ließ den Zügel fahren, trat einen Schritt zurück und betrachtete das Pferd. „Wenn mir die Lumpen den Gaul ruiniert haben, weiß ich gleich gar nimmer, was ich anfang’. Der Gaul is mir ja lieber wie alles, was ich hab’!“

„Aber Herr Purtscheller! So was sollten S’ doch net sagen!“

„Wenn ’s aber wahr is!“ Wieder musterte Purtscheller das Pferd, das den Kopf immer tiefer sinken ließ, während es am ganzen Leibe zitterte. „Ich kann mir nix anders denken, als daß der Gaul in der Stadt drin vernagelt worden is, wie ich ihn b’schlagen hab’ lassen.“

„In der Stadt waren S’? Mit dem Bräunl? Seit zehne vormittags?“

Trotz Aerger und Sorge erwachte in Purtscheller der Stolz des Sportsmanns. „Ja! Und hab’ mich noch anderthalb Stund’ drin aufg’halten!“

„Sechzig Kilometer bergauf und ab! In dritthalb Stund’! Ja um Gott’swillen …“

Der Vorwurf, der aus Schorschls Worten klang, trieb dem Purtscheller-Toni das Blut noch dunkler ins Gesicht. „Du Narr!“ schrie er. „Was versteht denn so einer wie Du von der Sportssach! Hast denn Du ein’ Idee, was ein richtiger Traber hergeben kann, wenn er in guter Kondizion is? Aber natürlich, wenn der Gaul vernagelt is! Statt daß so dalket daherredst, schau lieber nach, wo der falsche Nagel steckt!“

„Ich mein’, ich weiß schon, wo’s fehlt!“ brummte Schorschl, streichelte das Pferd an den Nüstern und hob ihm den Huf des lahmenden Fußes auf.

Draußen auf der Straße ging der Buchbinder vorüber, der neben seinem Geschäfte auch die Agentur der Lebens- und Feuerversicherung führte. Als er den Purtscheller sah, kam er näher und zog höflich den Hut. „Ein Wörtl, Herr Purtscheller!“

„Was is denn schon wieder? Jetzt hab’ ich kein’ Zeit net!“ fuhr Purtscheller auf. „Ah so, Du? Was willst denn? Hab’ Dir’s doch neulich schon g’sagt: ich laß mein Leben net versichern! So bald denk’ ich noch net ans Sterben!“

„Gott behüt’s! Aber nix für ungut … ich hab’ Ihnen bloß erinnern wollen: am ersten Oktober haben S’ auf d’ Feuerbolizzen vergessen.“

„Was? Ich? Der Purtscheller? Vergessen? Der Purtscheller vergißt nix! Aber z’ dumm wird’s mir endlich! Die ganze Ausrauberei! So viel Jahr zahl’ ich den schauderhaften Brocken hin, und nie hat man was davon!“ Nun schien er doch zu merken, daß er im blinden Zorn ein paar Worte zu viel gesagt hatte. „Meintwegen also … bloß daß ich ein’ Fried’ hab’ … ich schick Dir die Tag’ den Bettel ’nüber! B’hüt Dich Gott!“ Ohne sich weiter um den Mann zu kümmern, wandte sich Purtscheller zu Schorschl. „No also, wo fehlt’s?“

„Der Gaul is in aller Ordnung b’schlagen,“ erwiderte Schorschl, während er sich aufrichtete und dem Pferde mitleidig den Nacken tätschelte. „Aber ich will Ihnen sagen, wo’s fehlt … z’viel verlangt haben S’ vom Bräunl.“

An Purtschellers Schläfen schwollen die Adern und seine Lippen wurden blau. „Du bist wohl verruckt?“

„Na!“ sagte Schorschl ruhig. „Aber ein’ guten Rat will ich Ihnen geben. Schauen S’, daß der arme Gaul heim in’ Stall kommt und in warme Decken! Mir scheint, der is knapp am Lungenschlag vorbeig’rutscht … oder er kriegt noch ein Treff’.“

„Was? Verstehn thust nix! Und verrufen willst mir mein’ Gaul auch noch?“ schrie Purtscheller, und ein wahres Unwetter von Schimpfworten hagelte über den Kopf des Daxen-Schorschl nieder.

Der ließ sich das eine Weile gefallen und suchte den Jähzornigen noch zu beruhigen. Als aber das Geschrei die Leute aus den benachbarten Häusern lockte und Purtscheller die Sache gar zu dick und grob machte, rührte sich in Schorschl doch das Blut.

„Sie, Herr Purtscheller …“ seine Stimme klang noch immer ruhig, aber es blitzte drohend in seinen Augen. „Jetzt hab’ ich’s g’nug! Solche Sachen laß’ ich mir net sagen! Halten S’ ein bißl z’ruck, oder …“

„Oder? Oder was?“

„Oder ich könnt’ mein Hausrecht brauchen.“

Purtscheller bekam bleiche Lippen. „So? So traust Dich Du mit mir z’ reden! Paß auf, Du! Eh’ ich zu Dir noch ein’ Schritt ins Haus mach’, eh’ ich Dir wieder ein’ Arbeit gieb … da kannst Dir d’ Finger abschlecken!“

„Ich dank’ schön! Die sind mir net süß g’nug!“

„So? So? Is schon recht!“ Purtscheller packte den Zaum seines Pferdes. „Komm, Bräunl, oder die Gall’ bringt mich noch um!“

Breitspurig, mit den Fäusten auf dem Rücken, stand Schorschl inmitten seines Hofes und blickte dem Abziehenden nach. Sein Groll über Purtschellers böse Worte war schon wieder verraucht, vergessen über dem Erbarmen, das er für das mühsam dahinschleichende Tier empfand. „Arm’s Rösserl!“ Dann dachte er wieder an sich selbst. „O du heiliger Schnupftabak! Das G’sicht hätt’ ich sehen mögen, wenn ich den jetzt anpumpt hätt’ auch noch!“

Purtscheller war schon um die Ecke verschwunden, aber man hörte noch immer seine scheltende Stimme. Allmählich wurde er stiller und äußerte seinen Aerger nur noch in murmelndem Selbstgespräch, während er den Bräunl, dessen hinkender Gang immer langsamer wurde, am Zügel hinter sich herzog.

„Es is wahr, ein bißl viel hab’ ich verlangt von ihm!“

Bei diesem Zugeständnis erwachte in Purtscheller die Sorge. Seufzend blieb er stehen und betrachtete das Pferd.

„Es is net so arg! Na, na! Ich glaub’s net! So ein kerng’sund’s Roß! Wie sollt’ denn dem was g’schehen können! Ah na! So was giebt’s net!“

Seine Sorge war schon wieder halb beschwichtigt; aber da fiel ihm der Schloßbräu in der Stadt ein, der ihm aus Sportneid die Hypothek gekündigt hatte.

„Wie der lachen möcht’, wenn der Bräunl beim nächsten Rennen net starten könnt’!“

Schmeichelnd legte Purtscheller die Wange an den Kopf des Pferdes.

„Gelt, na, Bräunerl? So was thust Dei’m Herrerl net an!“

Achtsam führte er das Tier auf die bessere Wegseite. „Komm, schauen wir, daß wir ins Stallerl heimfinden! Da sollst es schön warm kriegen! Und ein gut’s Schnapserl aufs Naserl! Ja, Bräunerl! Ja!“ Während des ganzen Weges streichelte und tätschelte er das Tier und redete zu ihm in zärtlichen Worten.

Als er das Pferd mit Ziehen und Zerren endlich in den Hof brachte, mußten die Knechte alle andere Arbeit liegen lassen, um sich dem Bräunl zu widmen.

„Wo bleibt denn der Altknecht?“

Den hätte die Purtschellerin fortgeschickt, hieß es.

„Natürlich! Wieder einmal! So geht’s aber doch allweil! Wenn ich meine Leut’ brauch’, müssen s’ Gott weiß wo umeinanderrennen und Weiberbotschaften austragen.“ Als Purtscheller das sagte, ging Zäzil über den Hof. „He! Zäzil! Komm her und hilf mit, den Bräunl frottieren! Und nur flink jetzt, daß der Gaul unter Dach kommt!“

Getrennt von den anderen Pferden, hatte der Bräunl einen eigenen, sportmäßig eingerichteten Stall, über dessen Raufe auf einem Messingschild der Rennname prangte: „Herzbinkerl.“

Während Zäzil und die Knechte das Frottieren begannen, eilte Purtscheller zum Haus, um für den Bräunl das „Schnapserl“ zu holen. Unter der Thüre trat ihm Karlin’ entgegen, erregt und mit blassem Gesicht.

„Grüß Dich Gott, Toni!“

„Grüß Gott, Linerl!“ Er wollte an ihr vorüber.

Aber sie haschte seine Hand. „Sei mir net bös, Toni, daß ich Dir zur Heimkehr gleich eine recht ungute Nachricht sagen muß! In unserem Wald droben …“

„Jesses! Jesses! Laß mich in Ruh’! Mir brummt eh’ der Schädel!“

„Aber Toni, um Gotteswillen, so hör’ mich doch an!“

„Jetzt hab’ ich kein’ Zeit net! Mein Bräunl hat’ ein’ kalten Schnaufer erwischt … für den muß ich z’ allererst sorgen! Wo is denn die Cognacflaschen? Mach weiter, hol’ mir s’ runter! Flink, flink, flink! Tummel’ Dich!“ Er riß seine Hand los und eilte in den Stall zurück. Schmeichelnd kraute er dem zitternden Pferd die Ohren. „Ja, mein Herzbinkerl, ja, gleich sollst Dein Schnapserl kriegen!“ Als Karlin’ nach einer Minute nicht da war, wurde er ärgerlich. „Wo bleibt denn das Weiberleut?“ Er rannte wieder aus dem Stall.

Aber da kam ihm Karlin’ mit der Flasche schon entgegen, [520] ganz atemlos und nun fiel ihm doch ihr verstörtes Gesicht auf. „Meintwegen, so red’ halt! Was is denn mit ’m Wald droben? Aber g’schwind!“

„Vom Mathes hab’ ich’s g’hört,“ stammelte sie. „Der Berg soll sich wieder g’rührt haben … und da hab’ ich gleich den Altknecht ’naufg’schickt zum Nachschauen …“

„Na also! Da is ja eh’ alles in der Ordnung!“

„Aber Toni! Drei Stund’ … und der Knecht is noch allweil net daheim!“

„Weil er ein alter Trenzer is! Was soll denn passiert sein? Ein paar Bäum’ wird’s halt wieder g’worfen haben. Braucht man s’ grad nimmer umschlagen!“

Purtscheller wollte schon im Stall verschwinden, als ihm Karlin’ zögernd nachrief: „Du, Toni … der alte Rufel is wieder da! Er wartet schon seit Mittag und sagt, Du hättst ihn b’stellt.“

„Was? Mit dem soll ich heut’ auch noch reden? Himmelkreuzteufel, heut’ kommt mir aber schon alles übern Hals! … Warten soll er! Der hat ja Zeit! Oder wenn ihm ’s Hosenschnorren lieber is, als daß er mit mir ein G’schäft macht … meintwegen, so soll er wieder abfahren!“

Purtscheller trat in den Stall, und da ihm Zäzil im Wege stand, schob er sie beiseite und kniff sie dabei so derb in den runden nackten Arm, daß sie kichernd aufkreischte: „Aber Herr! Glauben S’ denn, mein Arm is ein Brotwecken? Lassen S’ mich doch in Ruh’ … zwicken S’ Ihr’ Frau!“

Das hörte Karlin’, und heiße Zornröte flammte über ihre abgehärmten Züge. Sie machte einen Schritt, als wollte sie in den Stall treten – aber dann schüttelte sie den Kopf, strich unter bitterem Lächeln die losen Härchen hinters Ohr und ging ins Haus.

Als sie droben die Wohnstube betrat, hatte sie ihre stille Ruhe wieder gefunden.

Der Tisch war gedeckt, und die offene Weinflasche stand schon bereit. Auf einem Sessel, mitten im Zimmer, saß der alte Rufel, mit dem Hakenstock zwischen den Knieen; aus der einen Tasche seines Rockes, der bis zum Boden reichte, hing ein Zipfel seines roten Sacktuches heraus, aus der anderen die abgegriffene Schlappmütze; seinen Zwerchsack hatte er drunten im Flur unter die Treppe geschoben. Als die junge Frau eintrat, strich er mit der runzligen Hand über sein glattrasiertes Faltengesicht, aus welchem gutmütige Offenheit und mißtrauische Vorsicht, ruhiger Ernst und wachsame Schlauheit in seltsamer Mischung redeten.

„Jetzt is er heimkommen!“ sagte Karlin’, ganz leise, denn im Nebenzimmer hielt der kleine Tonerl sein Mittagsschläfchen.

„Gedulden S’ Ihnen noch ein bißl, er wird gleich da sein.“

„Es eilt nix, meine liebe Frau Purtschellerin.“

Auch in Rufels Art zu reden lag ein Widerspruch; er gab sich merkliche Mühe, den Dialekt der Bauern zu sprechen, doch der jüdische Jargon schlug immer wieder durch.

Karlin’ nahm ihre Häkelarbeit aus der Fensternische und setzte sich an den Tisch. Mit einem scheu bekümmerten Blick streifte sie den Juden, während sie hastig die Nadel rührte. Nach einer Weile fragte sie: „Haben S’ allweil gute G’schäften g’macht in der letzten Zeit?“

„Es geht. Aber ich weiß mir Zeiten, die besser waren. Und nix für ungut … Sie sind e Bäuerin, liebe Frau … aber mit die Bauern is hart ein Geschäft machen!“ Rufel lachte. „Püh! Die fennen schlauer wie der Jud!“

Das hatte er so drollig gesagt, daß auch Karlin’ lächeln mußte. „Aber Rufel! Wenn das die Bauern hören möchten!“

„Hab’ ich ’s ihnen doch schon oft genug ins Gesicht gesagt! Hat der Bauer ein’ Handel gemacht und der Vorteil is auf seiner Seit’, so laßt er den andern reden, was er mag, und lacht ihn aus. Hat aber der arme Jud einmal ein bißl was verdient, und der Bauer merkt’s … nu, so schimpft er: Jud! Jud!“ Rufel wiegte den Kopf und hob die Schultern. „Aber ich sag’, es is mit ihnen auszukommen. Ich geh meinen Weg und laß mir nix verdrießen. In Gottsnamen … sollen sie schimpfen, wenn ich hab’ verdient!“

„Geh, Rufel, Sie können Ihnen doch g’wiß net beklagen. Sie haben ’s richtige Grüßgott noch allweil von jedem ’kriegt … mit Ihnen handelt jeder gern im Ort! G’wiß wahr, ich hab’ im Ernst noch nie ein unb’schaffens Wörtl über Ihnen g’hört!“

Rufel fuhr sich mit dem roten Tuch über das erregte Gesicht Dann sagte er: „Na! Na! … Schauen Se mich an, liebe, gute Frau Purtschellerin … wie ich da weggeh’, weiß ich doch im voraus, daß ich wieder ein’ Sack voll Grobheiten einzustecken bekomm’. Und warum? Weil ich nach Recht und Pflicht e bißl mahnen muß!“

„O mein Gott! Bei wem denn?“

„Beim Herrn Dax’ in der Schmieden! Nu natürlich! Wieder emal!“

„O Jesus, na! Mit dem armen Schorschl is ein Kreuz!“

„Wem sagen Se das! E wahrer Jammer is mit dem Menschen! E Kerl, gewachsen wie e Baum! Gut muß man ihm sein, wenn man ihn anschaut! Könnt drinsitzen in Glück und Wohlstand wie der Kern im Pfersich. Aber nein! Da verjuckt er das schöne Geld, laßt sich die Sonn’ auf ’n Buckel scheinen und macht für die Bauern den meschuggenen Fisch! Es wird e schlecht’s End’ mit ihm nehmen, fürcht’ ich.“

„Aber schauen S’, Rufel! Jetzt is ihm der G’sell davon, wie d’ Leut’ sagen … jetzt thut er sich doppelt hart. Und seit zwei Tag’ hör’ ich ihn allweil fleißig hammern.“ Karlin’ öffnete das Fenster, damit Rufel die Hammerschläge, welche von der Schmiede herüberklangen, besser hören sollte.

„Nu ja! Wenn ich ein’ ernsten Willen bei ihm sehen möcht’, so möcht’ ich ja mit mir reden lassen. Möcht’ ihm noch helfen! Es is mir weiß Gott doch selber lieber, ich krieg’ mein Geld mit gesetzlichen Zinsen zurück, als daß ich den Menschen zu Grund gehen seh’ und daß wieder einer hinter mir herschreit: Jud, Jud! … Aber ich hab’ nix mehr ein’ Glauben auf ihn. Oder es müßt e Wunder geschehen. Aber Wunder sennen e seltene Sach’. Und glauben Se mir, Frau Purtschellerin: wenn der Leichsinn bei de Menschen emal durchgefressen hat durch de Haut, so kann der beste Schneider von der Welt so e Loch nix mehr flicken. Da werden se blind, da graben se Loch in Loch, schieben die Schuld auf alle Sachen, nur nix auf sich selber, machen e groß Maul und schimpfen auf alle Leut’, malträtieren de Menschen, wo se lieb haben und die ’s ehrlich mit ihnen meinen …“ Rufel verstummte und blickte erschrocken auf. „Was haben Se, Frau Purtschellerin?“

Karlin’ hatte sich erhoben; ihre bleichen Lippen zitterten und Thränen standen ihr in den Augen.

„Meine liebe Frau Purtschellerin! Sie haben e zu gut’ Herz! Und in Gottesnamen … wenn Se schon so viel Mitleid haben mit dem Herrn Dax … Ihnen zu lieb thu ich’s … so will ich heut’ nix mehr mahnen gehen zu ihm und will noch e Weilchen zuschauen. Aber nu lachen Se mer wieder!“ Rufel wurde unruhig, als er sah, daß sich die Erregung der jungen Frau durch diese Zusage nicht beschwichtigen wollte. „Um Gotteswillen! Was haben Se, Frau Purtschellerin?“

„Ich glaub’ …“ Karlin’ ließ die Häkelarbeit fallen und klammerte die Hand an die Tischkante, „ich glaub’, ich hab’ drunten den Toni reden hören!“ Unsicher blickte sie in Rufels Gesicht, dann trat sie scheu und hastig auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Rufel! … Ich hätt’ was auf ’m Herzen!“

„Heraus! Mit dem Rufel können Se reden!“

„Ja, gelt? Schauen S’, wir kennen uns doch seit fufzehn Jahr’ schon! Wie ich noch ein kleins Maderl g’wesen bin, sind S’ ja allweil ’naufkommen zu uns und haben dem Vater die Lampelfell’ abg’handelt …“

„Hab’ immer e guts Geschäft mit ihm gemacht! Is e braver Mann gewesen!“

„Und wissen S’ noch? Wenn der Handel fertig war, haben S’ Ihnen allweil aufs Hausbankl g’setzt und haben plauscht mit mir. Schauen S’, Rufel, schon selbigsmal hab’ ich soviel Zutrauen zu Ihnen g’habt … und jetzt hab’ ich’s wieder. Ich weiß ja, Sie sind ein ehrlicher, gradsinniger Mensch …“

„Nu ja!“ Rufel schnitt eine schmerzliche Grimasse, als hätte ihm Karlin’ kein sonderliches Kompliment gesagt. „Drum hab’ ich doch nix … und bin e Schnorrer! … Aber nu regen Se sich nix auf und sagen Se heraus, was los is!“

Sie vermochte kaum zu sprechen. „Rufel! … Ich glaub’, mein Toni hat ein bißl Sorgen!“ Die hellen Thränen kollerten ihr über die Wangen.

Rufel fühlte einen heißen Tropfen auf seiner Hand und zuckte zusammen. Karlin’ halb von sich schiebend, erhob er sich und sagte mit abgewandtem Gesicht: „Machen Se mir nix solche Sachen vor,

[521]

Sammlerfreuden.
Nach dem Gemälde von Aug. Mayer.

[522] Frau Purtschellerin! Ich kann so e junge Frau nix weinen sehen. Und will Ihnen sagen, warum! … Ich hab’ e Tochter gehabt, e brav’ Kind. Is dem Rufel all seine Freud’ gewesen! Und wie sie gehabt hat e paar Jährchen über die zwanzig … da hat sie sterben müssen! Hat nix e Freud’ gehabt in der Welt, nix e Genuß vom Leben … und jung hat se sterben müssen. Mit Geduld hat sie getragen die lange, kranke Zeit … und emal, wie ich vom Dorfgang heimgekommen bin auf ’n Abend, da bin ich wieder zu ihr gegangen ans Bett, hab’ se bei der Hand genommen und hab’ wieder emal gefragt: Veigele, mein Leben, geht’s Dir besser e bißl? … Nix e Wörtl hat se gesagt … hat mir die Hand gedrückt, e so wie Sie jetzt … lassen Se aus, Frau Purtschellerin! … und die Tröpfelche sennen ihr übers Gesicht gelaufen, e so wie Ihnen!“ Er befreite seine Hand, und mit Aerger seine Bewegung verbergend, greinte er: „Machen Se mir nix solche Sachen vor.“

Lautlose Stille war im Zimmer; nur die Wanduhr tickte und vom Hof herauf hörte man undeutlich die scheltende Stimme Purtschellers.

Langsam fuhr sich Rufel mit dem roten Sacktuch rings um den Hals, und bitter den welken Mund verziehend, blickte er von der Seite zu Karlin’ auf.

„Er braucht e Geld?“

Sie brachte kein Wort über die Lippen und schüttelte nur den Kopf.

Rufel hob die Schultern und seufzte. „Ich will Ihnen was sagen, liebe Frau … wie der große Herr Purtscheller mir angethan hat die Ehr’, mich zu bestellen in sein schönes Haus, da hat der Rufel schon mehr gewußt, als der Herr Purtscheller ihm jetzt wird sagen wollen! … Ich denk’ doch, er braucht e Geld!“

„Na! Na!“ stammelte Karlin’, während ihr das Blut in die Stirne schoß. „Aber Sorgen, mein’ ich halt, recht viel Sorgen hat er. Es muß ihm die letzten Jahr’ net ganz so ’nausgangen sein, wie er g’rechnet hat … und …“

„Und was?“

„Und da denk’ ich mir halt, er möcht’ ein’ Rat von Ihnen haben.“

„En Rat?“ Rufel wiegte lächelnd den Kopf. „Nu, den will ich ihm geben als en ehrlicher Mann.“

Karlin’ drückte ihm die Hand. „Vergeltsgott, lieber Rufel! Und …“

„Und was noch?“

„Und ich bitt’ schön, lassen Sie ’s Ihnen net gleich verdrießen, wenn er ein bißl hitzig redt! Schauen S’, er is einwendig doch wirklich ein guter Mensch. Aber so viel gache Hitzen hat er im Blut! Bös meint er ’s ja g’wiß net, aber … aber schreien thut er halt allweil gleich ein bißl!“

Rufel streichelte die Hand der jungen Frau. „Machen Se sich nix e Sorg, Frau Purtschellerin. Soll er schreien! ’s Anschreien is der Rufel gewöhnt. Und nu machen Se e schön’s Gesicht für ihn … da kommt er, ich hör’ ihn auf der Trepp’. Und lassen Se ihn nix merken, daß Se was geredt haben mit ’m Rufel! Ich schweig’ wie e Grab!“ Er schob das rote Tuch in die Tasche, setzte sich und nahm den Hakenstock zwischen die Kniee. (Fortsetzung folgt.)


Ein Reich, ein Recht!

Zur Entstehungsgeschichte des „Bürgerlichen Gesetzbuchs“
Von Ernst Wichert.


Ein Reich, ein Recht!“ So wäre denn auch diese ideale Forderung erfüllt oder wenigstens der Erfüllung einen Riesenschritt näher gebracht: der Reichstag hat das Bürgerliche Gesetzbuch verabschiedet, seinem Vorgang sind die deutschen Regierungen gefolgt, und im Jahre 1900 wird in allen deutschen Gerichtshöfen von der Nord-Ostsee bis zu den Alpen, vom Niemen bis zum Rhein das hier festgesetzte Recht als ein einiges gelten, das Reichsgericht in Leipzig eine volle Wahrheit geworden sein. Fast ein Wunder darf es uns erscheinen!

Die Forderung ist älter als das Reich. Sie geht zurück bis in die Zeit vor achtzig Jahren, als nach den Befreiungskriegen dem deutschen Volke, das die napoleonische Zwingherrschaft abgeworfen hatte, die Hoffnung erwuchs, es werde nun die politische Einigung der deutschen Staaten und Stämme zu einem mächtigen nationalen Körper gewonnen sein. Damals war es ein deutscher Rechtslehrer, Professor Thibaut in Heidelberg, der „die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechtes für Deutschland“ erkannte und es öffentlich aussprach, „daß die Deutschen nicht anders in ihren bürgerlichen Verhältnissen glücklich werden können, als wenn alle deutschen Regierungen mit vereinten Kräften die Abfassung eines, der Willkür der einzelnen Regierungen entzogenen, für ganz Deutschland erlassenen Gesetzbuches zu bewirken suchen“. Sonderbarer Schwärmer! Seine Mahnung wäre überhört worden, auch wenn nicht sein großer Gegner Savigny unserer Zeit den Beruf zur Gesetzgebung abgesprochen hätte. Erst 1848 gelang es, die Allgemeine deutsche Wechselordnung, 1861 das Allgemeine deutsche Handelsgesetzbuch zustande zu bringen und dadurch den schreiendsten Mißständen abzuhelfen. Der Entwurf einer Verfassung des Norddeutschen Bundes (1867) wollte der Gesetzgebung des Bundes nur die gemeinsame Civilprozeßordnung und das gemeinsame Konkursverfahren, Wechsel- und Handelsrecht überweisen; ein Antrag von Miquel, die gemeinsame Gesetzgebung über das bürgerliche Recht, das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren an die Stelle zu setzen, drang nicht durch soweit das bürgerliche Recht in Frage kam, dafür wurde nach Laskers Vorschlag das Obligationenrecht, also nur ein kleiner Teil desselben, eingestellt. Weiter wollte man sich damals noch nicht wagen.

Aber der Antrag Miquel, nun von Lasker selbst aufgenommen, kehrte im Reichstage des Norddeutschen Bundes und dann nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 im Deutschen Reichstage immer wieder und wurde jedesmal mit großer Mehrheit angenommen. Die Regierungen widerstanden nicht länger. Unter dem 20. Dezember 1873 erschien das ewig denkwürdige Gesetz, dessen einziger Paragraph die Verfassung des Deutschen Reiches dahin abänderte, daß zu seiner Kompetenz gehören solle:

„Die gemeinsame Gesetzgebung über das gesamte bürgerliche Recht, das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren.“

Alle partikularistischen Strömungen waren überwunden, alle – immerhin schwerwiegenden – sachverständigen Bedenken gegen die Ausführbarkeit des gewaltigen Werkes beseitigt!

So bestand nun die gesetzliche Möglichkeit, die lange ersehnte deutsche Rechtseinheit zu schaffen. Man ging auch sogleich an die Arbeit. Aber mehr als zwanzig Jahre mußten darüber hingehen, bis sie – ohne jede Verzögerung – in dem Bürgerlichen Gesetzbuch zum vorläufigen Abschluß gebracht werden konnte. Es ist hier nicht der Ort, ins einzelne die unendlichen Mühen der werkthätigen Arbeiter zu schildern. Ein kurzer Hinweis möge genügen! Zunächst wurde eine Vorkommission von fünf hochgestellten Juristen mit der Aufgabe betraut, über Plan und Methode, nach welchen bei Aufstellung des Entwurfes zu verfahren sei, gutachtliche Vorschläge zu machen.

Nach Fertigstellung dieses Gutachtens beauftragte der Bundesrat eine Kommission von neun ausgezeichneten Juristen aus den verschiedenen Rechtsgebieten mit der Ausarbeitung des Entwurfes. Vierzehn Jahre brauchte dieselbe, nach Bewältigung der notwendigen Vorarbeiten den Entwurf fertig zu stellen. Ihre Arbeit wurde darauf der öffentlichen Kritik überwiesen, aber von dieser, bei aller Anerkennung des wissenschaftlichen und praktischen Wertes, doch so vielfach bemängelt, daß 1890 die Einsetzung einer neuen Kommission zum Zwecke einer zweiten Lesung erforderlich erschien. Dieselbe bestand aus 21 Mitgliedern, unter denen außer angesehenen Rechtslehrern und praktischen Juristen auch Vertreter der verschiedenen wirtschaftlichen Interessen sich befanden. Dieser neuen Kommission ist es nach fünf Jahren angestrengtester Thätigkeit gelungen, die wesentlichsten Mängel des Entwurfes zu beseitigen, die Materie zu vereinfachen und die Formulierung gemeinverständlicher zu gestalten. So erhielten endlich Bundesrat und Reichstag eine brauchbare Grundlage für das nunmehr von ihnen endgültig festgestellte Bürgerliche Gesetzbuch, dessen Segnungen wir uns sicher lange Zeit erfreuen werden.

[523] Um einen Begriff davon zu bekommen, was es bedeuten will, daß Deutschland die Rechtsgleichheit gewonnen habe, muß man sich eine Vorstellung von der gegenwärtigen Rechtsungleichheit zu schaffen suchen. Man möchte denken, es könne doch eigentlich nur ein Recht geben, wie verschieden auch die Formen wären, in denen es niedergeschrieben erscheine. Das wäre aber selbst dann ein Irrtum, wenn das Recht überall aus einer philosophischen Konstruktion hergeleitet wäre. Denn es würden sich auch so nicht Regeln festsetzen lassen, die jeder Vernünftige als die unbedingt richtigen anerkennen müßte. Es giebt eine große Zahl von Fällen, in denen berechtigte menschliche Interessen miteinander streiten und immer streiten werden. Hier stellt sich das Gesetz verschieden auf die eine oder andere Seite und nötigt den einen oder anderen Teil zu einer kontraktlichen Vorsorge. So z. B., wenn es sich fragt, ob Kauf Miete brechen solle oder nicht. Die Anschauungen über das, was in Familienverhältnissen oder in Erbfällen für alle billig ist und den Forderungen des gemeinen Besten entspricht, können sehr voneinander abweichen. Positive Vorentscheidungen werden im Gesetz stets gegeben werden müssen und sie können leicht da und dort gegenteilig lauten. Nun darf aber auch nicht vergessen werden, daß das Recht nicht gemacht wird, sondern entsteht. Die Verkehrsverhältnisse der Menschen, die sich zu einer Gemeinschaft zusammengefunden haben, bedingen zu bestimmter Zeit bestimmte ihnen angepaßte Rechtssatzungen. Da diese dauerhafter sind, als jene, so „erben sich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort“, bis es, oft nach schweren Kämpfen und immer nur unvollkommen, wieder gelingt, das geschriebene Recht den gegenwärtigen Bedürfnissen anzupassen. Laufen nun mehrere solche Entwicklungsreihen nebeneinander, so kann man sich sagen, welche Verschiedenheiten sich aus dem geschichtlichen Werden ergeben haben. Schließlich ist jedem mehr oder minder das Gewohnte lieb, worin er aufgewachsen ist; er nimmt allerhand Mißstände geduldig hin und kommt leicht zu der Meinung, daß, wenn schon ein Ausgleich mehrerer Rechtsgebiete angebahnt werden solle, gerade sein Recht den Vorzug vor den anderen Rechten verdiene.

Deutschland hat schon einmal eine Reichseinheit gehabt, nie bisher eine Rechtseinheit. In ältesten Zeiten entschieden Volksgerichte bei Streitigkeiten, ohne sich auf geschriebenes Recht stützen zu können. Im 6. und 7. Jahrhundert wurden für die verschiedenen Stämme deren Gewohnheiten lateinisch aufgeschrieben. So entstanden Gesetze der salischen und ripuarischen Franken, der Bayern, Alemannen, Burgunder, Langobarden, Friesen, Angeln etc., Kapitularien, Formelbücher. Im 13. Jahrhundert wurde im „Sachsenspiegel“ und „Schwabenspiegel“ für die beiden wichtigsten Stammgebiete eine Zusammenfassung der Rechtsnormen mit Erfolg unternommen (vergl. diesen Jahrgang der „Gartenlaube“ S. 139). Später bildeten die bedeutenderen Reichsstädte ihre Stadtrechte aus. Lübesches, Magdeburgisches Recht etc. wurde dann oft bei Gründung neuer Städte verliehen. Allerhand „Weistümer“ enthalten lokale Verordnungen, die aus Abmachungen zwischen den Landesherren und Gemeinden hervorgegangen sind. Ueber alle diese germanistischen Bildungen suchte sich seit dem 13. und 14. Jahrhundert das systematisch durchgebildete römische Recht zu stellen, wie es in Bologna, dann auch auf deutschen Universitäten gelehrt wurde. Bestand doch immer noch die trügerische Anschauung, daß das Römische Reich unter den deutschen Kaisern fortgesetzt werde. Aber wenn schon, namentlich seit Einrichtung des Reichskammergerichts, das römische Recht in allerdings beschränktem Umfange nach und nach in den deutschen Gerichtshöfen Geltung gewann, so fehlte doch allezeit viel daran, daß es das allein mächtige geworden wäre und die Volksrechte ganz verdrängt hätte. In ihm selbst, wie es sich zum sogenannten Gemeinen Rechte verdichtete, blieben viele Streitfragen, die nun wieder durch Spezialverordnungen hier und dort so und anders entschieden wurden. Namentlich in Betreff des ehelichen Güterrechtes und des Erbrechtes gab es überall Sonderbestimmungen, zum Teil aus recht alter Zeit. Nicht einmal die einzelnen deutschen Staaten hatten einheitliches Recht.

In den größeren von ihnen mußte so der Wunsch rege werden, für ihr Gebiet Gesetzbücher hergestellt zu sehen, die das gesamte geltende bürgerliche Recht in sich vereinigen sollten. Nur für Preußen kam gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, natürlich für die damals zur Monarchie gehörigen Landesteile, das Allgemeine Landrecht nach vierzigjährigem, häufig unterbrochenem Arbeiten, zur Publikation. Es sollte an die Stelle des Römischen gemeinen Rechts und aller Sonderrechte treten, so weit diese nicht in die Provinzialgesetze aufgenommen würden. Die Titel über Ehe- und Erbrecht mußten jedoch für die Mark suspendiert werden und blieben suspendiert, so daß die Rechtseinheit sogleich wieder gestört war. Erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts brachte es das Königreich Sachsen zu einem Landrecht. In Bayern und Hessen waren alle Bemühungen vergeblich. Anderseits hatte zu Anfang dieses Jahrhunderts Napoleon auch in den deutschen, zu Frankreich geschlagenen Gebieten den Code civil eingeführt, und sie behielten dieses ihnen lieb gewordene Gesetzbuch auch nach den Befreiungskriegen und bis in die letzte Zeit bei, Baden wieder mit gewissen Modifikationen des ins Deutsche übertragenen Textes.

So herrscht denn gegenwärtig im Osten des Reiches das Preußische Landrecht (für 43 %) und das Sächsische Gesetzbuch (für 7 %), im Westen das Französische Recht (für 17 %) und dazwischen das Gemeine Recht (für 33 % der Bevölkerung) neben Hunderten von Partikularrechten. Nirgends aber sind diese großen Rechtsgebiete fest abgegrenzt, sondern jedes ist von Teilen eines anderen durchsetzt. Es giebt Ortschaften, in denen gewisse Statutarrechte nur für bestimmte räumlich abgegrenzte Teile gelten, andere, in denen nur bestimmte Bevölkerungsklassen ihnen unterworfen sind. Von Deutschen, die vielleicht keine Meile voneinander getrennt wohnen, kann der eine durch einen mündlichen Vertrag gebunden sein, der andere nur durch einen schriftlichen oder gar notariellen; jeder erwirbt und verliert in anderer Weise das Eigentum an Grundstücken. Der eine Ehegatte lebt nach dem Gesetz in Gütergemeinschaft mit seinem Gespons, der andere in Gütertrennung, der dritte in einer Erwerbsgemeinschaft (überall in den verschiedensten Abarten), und es ist überdies streitig, ob das Recht desjenigen Ortes gilt, in welchem die Ehe geschlossen ist, oder des Ortes, an welchem die Eheleute ihren ersten Wohnsitz zu nehmen beabsichtigten, oder des Ortes, an welchem sie ihn wirklich genommen haben. Hier gilt ein privatschriftliches Testament, dort nur ein gerichtlich niedergelegtes! Bald erbt der hinterbliebene Ehegatte, bald nicht. Manchmal reicht der Umzug nach einem Orte in der Nachbarschaft aus, um eine ganz andere Teilung des Nachlasses herbeizuführen, als auf die gerechnet war. Verschieden sind die Rechtsansprüche der Verlobten bei verletztem Ehegelöbnis, verschieden die Ehescheidungsgründe, verschieden die elterlichen Rechte. Das sind nur Beispiele zur Kennzeichnung der Rechtsungleichheit, die leicht vermehrt werden könnten.

Diese Zustände mögen allenfalls erträglich gewesen sein in den Zeiten allgemeiner Seßhaftigkeit und beschränkten Verkehrs. Heute ist es nicht mehr nur der Kaufmann, der Rechtssicherheit verlangen muß über die Grenzen seines Wohnortes und Stammlandes hinaus. Die Bevölkerung in allen Schichten ist in fortwährender Bewegung; längst haben die Eisenbahnen alle Schranken überrannt, die zwischen den deutschen Staaten, zwischen Nord und Süd, Stadt und Stadt, Stadt und Land ausgerichtet waren. Bei voller Freizügigkeit versteht es der Deutsche nicht mehr, daß er sich irgendwo im Reich als ein Fremder im Recht fühlen soll; er versteht es nicht, daß drei Schritte weiter gelten soll, was hier nicht gilt, und umgekehrt. Wäre aber auch der praktische Antheil der Rechtsgleichheit weniger groß, als er in der That für Rechtswissenschaft, Jurisdiktion und rechtsuchendes Publikum ist – nach der politischen Einigung mußte auch die Rechtseinigung als ein nationales Bedürfnis anerkannt werden! Ein gemeinsames bürgerliches Recht, nicht nur für einmal gegeben, sondern auch in seiner einheitlichen Auslegung und Fortbildung gewährleistet durch den gemeinsamen obersten Gerichtshof, ist der festeste Kitt für den dauernden Zusammenhalt aller Reichsteile. Es giebt dem Reich aber auch nach außen hin ein mächtigeres Ansehen, eine größere Würde. Mit gutem Grunde machte der Staatssekretär Nieberding, welcher das Gesetz im Reichstage mit wohlthuender Wärme und mustergültiger Energie vertrat, bei der Einführung an dem Beispiel Frankreichs diesen wichtigen Gesichtspunkt geltend. „Wie hat dieses einheitliche Recht,“ sagte er treffend, „zur Verbreitung französischer Anschauungen und auch französischer Sympathien, zur Hebung des Ansehens der Nation, des Respekts vor der Energie der Volksseele zu Gunsten alles dessen beigetragen, was man im internationalen Leben das Prestige einer Nation nennt. Die Völker stehen sich auch in einem geistigen Kampf gegenüber, und in diesem geistigen Kampf ist dieser unsichtbare, aber täglich wirkende Einfluß der inneren geistigen Macht einer Nation nicht zu unterschätzen!“

[524] Fragt man nun, in welcher Weise die Kommission ihrer schwierigen Aufgabe gerecht zu werden bestrebt gewesen ist, so hat sie gewiß auf allseitige Zustimmung Anspruch, wenn sie dem neuen Gesetzbuch keine von den bestehenden Rechtskodifikationen zu Grunde legte, sondern „das Recht aufbauen wollte nach Gründen der Zweckmäßigkeit, im Anschluß an die Traditionen, die im deutschen Volke vorwiegend walteten, ohne Bruch mit der Vergangenheit, aber auch ohne Liebhaberei für abgestorbene Dinge“. Daß das neue Gesetzbuch alle Wünsche befriedigt, ist unmöglich und wäre in jeder Fassung unmöglich gewesen. In der Wissenschaft stehen die Anforderungen der Anhänger des römischen und des deutschen Rechts einander zu schroff gegenüber; bei den Richtern sind vorgefaßte Meinungen für das so lange in Uebung gewesene System sehr erklärlich; außerdem kann ein das gesamte bürgerliche Leben beeinflussendes Gesetz aus den Verhandlungen und Bestimmungen einer parlamentarischen Körperschaft nicht hervorgehen, ohne durch die verschiedenen Parteistandpunkte berührt und gemodelt zu werden. Schließlich sind hier Kompromisse unvermeidlich, und die Wünsche der extremen Parteien können leicht prinzipiell so weit gehen, daß sie auch teilweise keine Berücksichtigung finden. Vielleicht giebt es daher nur sehr Wenige, denen das neue Gesetzbuch durchweg sympathisch ist. Aber es giebt wahrscheinlich auch nur sehr Wenige, die nicht anerkennen, daß es im ganzen besser ist als irgend eines der bestehenden Gesetzbücher im ganzen, daß es einen wirklichen und erheblichen Fortschritt bedeutet.

Das Gesetz ist in verständlicher Sprache abgefaßt. Damit soll nicht gesagt sein, daß Jeder sich nun mit Leichtigkeit wird daraus unterrichten können, wie er seine geschäftlichen Beziehungen einzurichten habe, ohne bei entstehendem Streit zu unterliegen. Noch ganz abgesehen davon, daß zur richtigen Würdigung des Einzelnen die Fähigkeit gehört, die Gesamtmasse der Vorschriften zu überblicken und das Besondere in Einklang mit dem Allgemeinen zu bringen, so ist auch dem Richter absichtlich ein weiter Spielraum gelassen, überall nach Billigkeit und vernünftigem Ermessen zu verfahren, den guten Glauben obenan zu stellen. Das gerade giebt aber eine gewisse Gewähr dafür, daß überall der rechtschaffen Handelnde auch zu seinem Recht gelangen wird.

Noch bleibt viel zu thun. Das Einführungsgesetz scheidet eine sehr große Zahl von Materien aus, welche den Landesgesetzgebungen vorbehalten bleiben, und es sind darunter einige, für welche ein gemeinsames deutsches Recht dringendstes Bedürfnis ist. Erwähnt seien nur das Verlagsrecht, das Versicherungsrecht, das Wasserrecht. Aber es ist schon jetzt dafür gesorgt, daß in der Gesetzgebung kein Stillstand eintritt. Das Bürgerliche Gesetzbuch schafft eine Grundlage, auf der nach allen Richtungen hin weiter gebaut werden kann und weiter gebaut werden soll. Hoffen wir, daß die Zeit nicht mehr fern ist, in der alle gemeinsamen deutschen Interessen auch ihre gemeinsame rechtliche Regelung gefunden haben werden. Jetzt ist wahrlich diese Hoffnung nicht mehr eitel!


Ragaz und die Taminaschlucht.

Von Dr. Otto Henne am Rhyn.0 Mit Bildern von P. Bauer.

Vorsprung der Grauen Hörner.       Gonzen. Alvier.  Fläscherberg. Luziensteig.       Falknis.      Augstenberg.      Scesaplana.

  Ruine Wartenstein.
Blick auf Ragaz von Wartenstein aus.  

Wer wußte in der großen Welt vor fünfzig Jahren etwas von Ragaz im schweizerischen Kanton St. Gallen? Wenige außerhalb der östlichen Schweiz! Und heute trinken und baden sich dort Könige und Fürsten des Thrones, Könige und Fürsten des Geistes gesund! Ragaz ist durch eine Quellwasserleitung und durch einen sie benutzenden Unternehmergeist ein internationales Stelldichein, ein Weltkurort geworden. Es ist ein Sammelplatz der eleganten Welt zweier Hemisphären.

Wenn an einem schönen Sommertage, namentlich an einem Sonntage, der das obere Rheinthal hinauf fahrende Bahnzug auf der Station Ragaz Halt macht, entströmen ihm ganze Scharen von Vertretern der verschiedensten Nationen und Stände. Eine kleine Völkerwanderung bewegt sich zu Wagen und zu Fuß die eine halbe Stunde lange Straße zum Dorfe Ragaz entlang: vornehme Herrschaften in Equipagen, bequeme Reisende in Gasthofsomnibussen, auf beiden Trottoirs rüstigere Herren und Damen zu Fuß, Landleute der Umgegend in breitspurigem Schritte, darunter Blumenmädchen, sonnengebräunt und mit intelligenten, nicht unschönen Zügen, in der reizlosen Tracht des Landes: grauem Kittel ohne Mieder und weißen bauschigen Aermeln um den Oberarm. Je weiter der Zug schreitet, desto mehr verlieren sich seine Glieder in die anstoßenden Hotels, Restaurationen und Magazine, und schließlich zerstreut sich auch sein Rest auf dem Dorfplatze, bei der altertümlichen, aber mit einem neuen Turm prangenden katholischen Kirche, den hauptsächlichen Gasthöfen und dem geschmackvoll gebauten Dorfbade. Wir können ungestörter weiter wandern, überschreiten die Brücke, unter welcher die wild brausende und schäumende Tamina uns den ersten Gruß aus ihrer Schlucht bringt, und haben uns in wenigen Augenblicken aus der Hitze und dem Staub der Straße in den schattigen Kurpark geflüchtet. Ein wahres Eden, dieser Park, der eine kleine Stadt von imposanten Gebäuden umschließt, ein Zeugnis modernen Schöpfergeistes, der diese Anlage beinahe ganz aus dem Nichts hervorgezaubert hat!

Der „Hof Ragaz“, ihr eigentlicher Kern, war ehedem der Sitz eines Statthalters des Abtes von Pfävers, welchem das ganze Gebiet der heutigen politischen Gemeinden Ragaz und Pfävers als halbsouveränes kleines Fürstentum gehörte.[1] In der Revolutionszeit von 1798 bis 1803, welche die patrizischen und

  1. Man spricht: Ragáz, nicht, wie in Deutschland häufig, Rágaz. – Die Schreibart Pfävers ist die einzig richtige (in den ältesten lateinischen Urkunden Fabarias und Favares). Pfäfers ist falsch und Pfäffers noch falscher! Der Verf. 

[525] geistlichen Herrschaften der Schweiz wegfegte, nahm auch jenes Fürstentümchen ein Ende; aber das Kloster behielt seine Privatgüter, wenn auch ohne Gerichtsbarkeit, bis zum Jahre 1838, in welchem es wegen innerer Zerwürfnisse und ökonomischer Mißwirtschaft aufgelöst wurde. Sein Erbe, der Kanton St. Gallen, übernahm die Klostergebäude, die Klostergüter, das Bad Pfävers und den Hof Ragaz, und seine liberale Regierung führte den genialen Gedanken durch, Bad und Hof durch eine Leitung der Heilquelle und eine Fahrstraße miteinander zu verbinden; denn früher war das Bad in der Taminaschlucht nur auf beschwerlichen Bergpfaden über bedeutende Höhen zu erreichen gewesen. So wurde Ragaz (1841) ein Kurort, der sich durch die Thätigkeit der Pächter des „Hofes“ und der Gastwirte des Dorfes nach und nach vergrößerte und verschönerte. Die heutige Entwicklung aber konnte er nur erreichen, indem er dem privaten Unternehmungsgeiste überlassen wurde. Dies geschah 1868, als die Regierung von St. Gallen den Hof Ragaz und Umgebung dem aus Glarus stammenden, aber in Petersburg reich gewordenen Architekten Bernhard Simon verkaufte und ihm zugleich das Bad Pfävers und dessen Dependenzen (Quelle, Straße, Leitung etc.) auf hundert Jahre konzedierte.

Am Ende der Taminaschlucht vor dem Eingang zur Quelle.

Seitdem hat Simon nicht nur den altertümlichen „Hof“ ins Moderne umgebaut, sondern zunächst auch den mittels Kolonnaden damit zusammenhängenden Quellenhof, ein wahres Palais, und später mehrere Villen, Schweizerhäuschen, Bäder und zuletzt den imposanten Kursaal geschaffen und alles mit herrlichen Promenaden- und Gartenanlagen umgeben, an welche auch die neue protestantische Kirche stößt. Vor 30 bis 40 Jahren weideten hier noch Kühe auf magerem Wiesenboden; jetzt ertönen hier alle Sprachen Europas und erglänzen die Toiletten der neuesten Modejournale. Allerdings, wohnen können in diesem Eden nur Vertreter der „oberen Zehntausend“; aber zum Lustwandeln steht es auch den weniger bemittelten, im Dorfe logierenden Kurgästen, den Reisenden und Besuchern offen. Das Ganze ist wie für eine große Familie eingerichtet. Ob nun die Kurgäste im gemütlichen „Hof Ragaz“ oder im glänzenden „Quellenhof“ oder abgeschlossen für sich in den eleganten Villen wohnen, – die Anlagen, welche einen wohlthätigen Schatten spenden, mit ihren Ruhebänken, die Säulengänge, in welchen wandelnd man das Quellwasser trinkt, die verschiedenen Bäder, zwischen denen man die Wahl hat, die Spielplätze für Croquet und Lawn Tennis, die Teiche, auf denen Gondeln zum Rudern einladen, die Lesezimmer im Kursaal, welche Zeitungen aller Länder darbieten, die Buchhandlung in demselben Bau und die mehrfach vertretenen Kaufläden für alle möglichen Luxusgegenstände führen die verschiedenen Parteien unwillkürlich zusammen. Am meisten gilt dies jedoch von der Kurmusik, die in einem Pavillon gegenüber der antiken, hochragenden Säulenvorhalle des Kursaales spielt, unter und vor welcher sich, besonders an den Abenden, beim Lichte der elektrischen Bogenlampen, die ganze mehr oder weniger elegante Welt des Kurortes ansammelt. Ein besonderer Vorzug des Kurparkes ist aber die Aussicht auf die hochragenden Gebirge der Umgegend. Unten mit dichtem Walde bedeckt, gipfeln diese Höhen in wilden, schroffen Felsen, die bei schöner Witterung jene die Schweizerberge so schön schmückende violette Färbung annehmen.

Ueber die Heilwirkung der Bäder, die namentlich gegen rheumatische Zustände empfohlen werden, können wir uns hier ausführlich nicht verbreiten. Sie werden ohne Ausnahme nicht in Wannen, sondern in Bassins genommen, durch welche das mäßig und wohlig warme Quellwasser fortwährend zu- und abfließt und durch seine spiegelhelle Klarheit einen höchst angenehmen Eindruck hervorbringt. In den Anlagen des Kurparks füllt es sogar ein geräumiges Schwimmbad für rüstigere Kurgäste. Schwache Patienten können sich durch Rollstühle oder Aufzüge in die Bäder befördern lassen und sind durch Gänge, die alle Gebäude verbinden, vor jedem Luftzug geschützt.

Bevor wir von Ragaz scheiden, müssen wir noch einer in [526] ihrer Art einzig dastehenden Merkwürdigkeit gedenken. Es ist das auf dem Kirchhofe errichtete Denkmal des 1854 hier verstorbenen Philosophen Schelling, welches König Maximilian II. von Bayern durch den Bildhauer Ziebland für seinen einstigen Lehrer herstellen ließ. Der selige Dekan Federer (ein feinsinniger[WS 1] Pädagog, in seinen letzten Jahren katholischer Pfarrer von Ragaz) schilderte uns, wie er einst einen Herrn vor dem Denkmale knieen und beten sah. Es war der König selbst. – Weiter ist auch der Kurverein lobend zu erwähnen, welcher bequeme Wege nach dem über dem Dorfe schroff sich aufbäumenden Felsenkopfe Guscha, mit wundervoller Aussicht, sowie nach der unweit nördlich von Ragaz sich erhebenden Ruine Freudenberg schuf und die Straße nach dem Bahnhof mit Bäumen bepflanzte.

Gleich hinter dem „Hof Ragaz“ erhebt sich die mit Buchenwald bedeckte Höhe, auf welcher das ehemalige Kloster Pfävers thront und in deren von der Tamina ausgewaschenem Einschnitte das Bad Pfävers eingebettet liegt. Hier, am Fuße der Anhöhe, steht, einem Miniaturschlößchen ähnlich, die untere Station der Drahtseilbahn, welche von Ragaz, die vielgewundene Bergstraße abkürzend, nach der Höhe am Wartenstein führt. Sanft steigend, wie von unsichtbarer Kraft getrieben, gleitet der Bahnwagen, in der Mitte dem herabrollenden begegnend, in 8 Minuten empor und mündet in der oberen Station, wenige Schritte von der Pension Wartenstein, die aus einem in normannischem Stile erbauten schloßartigen Gasthause und einem mit Denksprüchen gezierten Chalet (Schweizerhaus) besteht. Die Terrassen und vorn offenen Parterreräume des Gasthauses bieten die wundervolle, in dem Bilde auf Seite 524 skizzierte Aussicht dar. Vor sich zur Rechten hat man die Trümmer des einst vom Kloster zu seinem Schutze gegen Raubritter errichteten Schlosses Wartenstein und noch weiter rechts die einsame St. Georgskapelle. Dicht unter sich in schwindelnder Tiefe zu Füßen des Vorsprnngs der „Grauen Hörner“ erblickt man wie auf einer Reliefkarte ganz Ragaz mit seinen beiden Kirchen und den Kuranstalten, sowie die zur Bahnstation und zum Rhein führende Straße. Ueber diesen wölbt sich die gedeckte Eisenbahnbrücke nach Maienfeld am Fuße der Luziensteig mit ihren eidgenössischen Festungswerken. Im Hintergrunde aber türmen sich verschiedene Bergmassen. Rechts auf unserem Bilde, gegenüber der St. Georgskapelle, erblicken wir die Scesaplana und daneben den Augstenberg. Gegenüber der Ruine Wartenstein erhebt sich der Falknis, der durch den genannten Paß, die Luziensteig, vom Fläscherberg getrennt wird. Am jenseitigen Ufer des Rheins tauchen in weiterer Ferne die Bergzüge des St. Galler Oberlandes, gekrönt durch die Gipfel Gonzen und Alvier, empor. Der Ausblick ist überwältigend, zauberhaft schön und großartig. Noch umfassender aber gestaltet er sich von der oberhalb des „Chalets“ aufragenden Anhöhe Tabor.

Die Straße weiter aufwärts verfolgend, erblicken wir bald die alten, weitläufigen und schmucklosen Gebäude des aufgehobenen Klosters Pfävers, in welchen seit 1847 die Irrenanstalt des Kantons St. Gallen untergebracht ist. Nach dem Gründer des Klosters, Pirmin (731), führt sie den besonderen Namen St. Pirminsberg. Ein sonderbarer Zufall wollte, daß im Konventsaale des Klosters das Wappen des letzten Abtes gerade den einzigen, dafür noch übrigen Raum ausfüllte. Schon in den letzten Jahren des Bestandes der Abtei hatte darin ein für Klosterverhältnisse sehr aufgeklärter Geist geherrscht und sich den zahlreichen Zöglingen der Klosterschule mitgeteilt; er war auch neben den schon erwähnten Umständen mit ein Grund zur Auflösung des Stiftes. Immerhin dient die Stiftskirche noch dem Gottesdienste der umliegenden Gemeinde des freilich unansehnlichen Dorfes Pfävers. Dieses liegt übrigens in wunderherrlicher Alpenumrahmung, und dem Bergsteiger muß die Wahl wehe thun, welche der Spitzen, die ihn hier umgeben, er unter seinen derbgenagelten Schuh zwingen will. Links winkt der Pizzalun, einer der Vorberge des gewaltigen Calanda, der seinen jenseitigen Fuß bis nahe an Graubündens Hauptstadt Chur setzt. Rechts gegenüber starrt keck der Vasanenkopf in die Höhe, in der Mitte des Hintergrundes erhebt sich harmonisch der pyramidenförmige Monteluna, und über ihm thront hoch der schneebedeckte Pizol (früher Wohl aus Mißverständnis Piz Sol, Sonnenspitze, genannt), der höchste Gipfel der „Grauen Hörner“ (2847 m über dem Meer). Unterhalb dieser Höhen, beinahe in gleicher Erhebung wie Pfävers, blinken die weißen Häuser und das Kirchlein des lieblichen Alpendorfes Valens herüber, das wie zu einem Bergluftkurorte geschaffen scheint. Zwischen Pfävers und Valens gräbt sich in schauriger Tiefe die Tamina ihr Felsenbett und dort, in enger Schlucht, liegt der letzte und scenisch interessanteste Ort, dessen wir hier zu gedenken haben, das Bad Pfävers. Es läßt sich auf Wegen über die beiden Bergdörfer, zwischen denen es versunken scheint, erreichen; aber empfehlen möchten wir diese Umwege nur leidenschaftlichen Bergsteigern, welche zu jenem Ausfluge Zeit genug haben. Für Kurbedürftige eignet sich ausschließlich die romantische Fahrstraße, die im Thale längs der Tamina von Ragaz nach Bad Pfävers führt.

Wir kehren also nach Ragaz zurück, am besten und bequemsten mit den niedersteigenden Wagen der Drahtseilbahn. Unmittelbar bei der unteren Station vernehmen wir das Brausen der Tamina und folgen ihm, indem wir über eine eiserne Brücke die Schluchtstraße betreten.

Tamina! In wundervoller blaugrünlicher Färbung, mit schneeweißen Schaumkämmen, drängt sich die unbändige Alpentochter durch die Felsen, spritzt hoch empor über die ihr Bett anfüllenden, einst von den Felswänden herabgestürzten Steinblöcke und erfüllt die Schlucht mit ihrem machtvollen Donnergesange. Die schmale, kaum das Ausweichen zweier Einspänner gestattende und daher Zweispännern, Radfahrern und Kinderwagen verwehrte, aber trefflich unterhaltene Schluchtstraße steigt, stets treu von der Leitung des Heilwassers begleitet, allmählich an; größtenteils aber scheint sie eben hinzulaufen. Ihre Länge beträgt nur 3,6 km, ist also bequem in drei Viertelstunden zu Fuß zurückzulegen, während die früher erwähnten Bergwege bis zu ihrem Ende mindestens 2 Stunden in Anspruch nahmen. Während des ganzen Tages liegt reichlich die Hälfte des Weges in angenehmem Schatten, früh morgens und spät abends fast die ganze Strecke. Unablässig türmen sich himmelhoch bald senkrechte Felswände, in deren Spalten Grasbüschel oder Tannenbäumchen haften, bald steil ansteigende bewaldete Hänge zu beiden Seiten empor, so daß die Thalsohle der Tamina von dieser und der Straße völlig ausgefüllt ist. Reichliches Wasser strömt von den Felsen herunter – in der Mitte der Strecke flattert sogar schleierähnlich ein „Staubbach“ im kleinen, der „Schrattenfall“, herab. Zwei Stege über den Fluß weisen auf Bergpfade nach Wartenstein und Dorf Pfävers. Mächtige Felsblöcke zur Seite der Straße und ein kurzer Tunnel, durch den diese hinzieht, gestalten ihre Scenerie abwechslungsreich. Beim Schrattenfall befindet sich auch eine Bude für Erfrischungen. Doch, wir können warten, bis wir im Bade angelangt sind!

Erst hart davor, hinter einem Felsvorsprunge, erblickt man plötzlich die nördliche Schmalseite des klosterähnlichen, aus vier Häusern zusammengesetzten Badekomplexes, der 826 m über dem Meere liegt. Diese Häuser sind derart verbunden, daß man im Innern von ihrer Zusammenfügung nichts bemerkt und stets in demselben Hause zu sein glaubt, indessen da ein solches Labyrinth von Gängen und Treppen bildet, daß der Neuling einige Mühe hat, sich zurechtzufinden. In den Gängen herrscht, im scharfen Gegensatze zu der Sommerhitze im Freien, eine sehr kühle Luft, im Souterrain aber, wo die Bäder sind, jene feucht-laue Atmosphäre, die zum Baden einladet. Wie die Ausländer Ragaz, so ziehen die Schweizer meist Bad Pfävers zur Kur vor. Dort herrscht mehr ein elegantes, hier ein gemütliches Leben, bei dem die Einzelnen sich einander mehr anschließen können, weil alle unter einem Dache wohnen. Der vordere Bau enthält den geschmackvollen Speisesaal erster und den einfacheren zweiter Klasse, der mittlere die beiden Konfessionen dienende Kapelle und einen wohlausgestatteten Bazar, und an den dritten stößt, als vierter, die Trinkhalle, in welcher das Quellwasser, das hier immerhin etwas wärmer ist als in Ragaz, in ein aus Stein gehauenes Becken sprudelt. An das beständige Rauschen und Brausen der zwischen dem Gebäude und den Felsen eingeengten Tamina muß sich der leicht hörende Kurgast erst gewöhnen, ehe es ihm den Schlaf nicht stört. Auch die düsteren Eindrücke des Bädergewölbes und der dahin führenden halbdunklen Treppe dürften noch lange in seinen Träumen eine schreckhafte Rolle spielen. Dagegen hat das Badegebäude und haben seine terrassenförmig an der westlichen Höhe hinaufsteigenden Anlagen mit ihrem Blumenschmuck und ihren heimlichen Gebüschen einen behaglich stimmenden freundlichen Charakter.

Doch der Hauptanziehungspunkt im Bade Pfävers ist die Thermenquelle. Ihr Besuch bietet einen großartigen, [527] überwältigenden, einzig in seiner Art dastehenden Genuß dar. Bevor nämlich die Tamina das Badegebäude erreicht, zwängt sie ihr Gewässer durch eine enge, wohl einige 100 m tiefe und etwa 1 km lange Klamm oder Spalte, und in dieser entspringt die Quelle. Mit einer Eintrittskarte für 1 Franken versehen, die man in dem Bureau löst, das in einer Fensternische des vorderen Ganges eingerichtet ist, verläßt man das Gebäude hart neben der Trinkhalle und überschreitet auf einer Brücke den unbändig grollenden Waldstrom, Nun befindet man sich auf dem hölzernen Steg mit Geländer, der auf Vorsprüngen der Felswand des rechten Ufers angelegt ist und bis zur Quelle führt. Es scheint dem Neuling, als trete er in Dantes Hölle. Scheinbar himmelhoch türmen sich zu beiden Seiten schroffe, nackte, nicht nur senkrechte, sondern überhängende Felswände empor, die sich an einigen Stellen thatsächlich verbinden. Ueber eine derselben, die „Naturbrücke“, führt der Weg vom Bade nach dem Dorfe Pfävers und steigt von dort an auf der schwindelnden „Felsentreppe“ weiter, um auf grünen Matten zu enden. Je tiefer man in die Klamm eindringt, stets auf dem sicheren Galeriestege etwa 3 m über dem Flusse, desto beängstigender wird die Felsenge, desto wilder erschallt das Wallen und Sieden, Brausen und Zischen der eingezwängten Tamina, desto höher scheinen die Wände zu dem nur bisweilen in einem blauen Flecke herniederscheinenden Himmel zu steigen! Aber goldene und grünliche Lichteffekte bezaubern das Auge, von der unsichtbaren Sonne gespendet, die, im Zenith stehend, ihr blendendes Licht in den finsteren Gründen bricht und freundliche Grüße aus der grünen Vegetation der Oberwelt in die Tiefen des Todes herniedersendet. Bald scheinen Felsvorsprünge mit dem Absturz zu drohen, bald vertiefen sich Höhlen in das graue Gestein, und der ohnmächtige Mensch erschauert bei der Wirkung, die alle diese Naturwunder auf ihn hervorbringen. Gespenstig erscheinen die Vor- und Nachwandernden und Begegnenden dem Besucher: wie Schatten tauchen sie auf und verschwinden.

An der Quelle der Tamina.

Tief ergriffen erreichen wir, nach einem Gange von zehn Minuten, eine erhöhte Terrasse, wo Weg und Steg mündet. Hier kann man sich nach dem erschauten Grauen sammeln und fassen. Seitwärts, rechts auf unserem Bilde S. 525, gähnt eine dunkle Pforte, zu welcher ein freundlicher Wärter mit einem Lichte tritt, uns einladet, die Quelle zu besuchen, und uns den in der feuchtkühlen Schlucht notwendigen Ueberzieher abnimmt, weil es nun in den heißen Schoß der Erde hinein geht. Wir folgen ihm in einen gleichmäßig ausgehauenen Stollen, einige zwanzig Schritte weit, während sich das Licht an den feuchten Steinwänden spiegelt und eine warme Luft uns bis ins innerste Mark durchdringt. Wir kommen zu einem Geländer, hinter dem ein schwarzer Schlund gähnt, aus dem Dämpfe emporsteigen – es ist die Quelle, die hier eine Wärme von 37,5° C hat, von mineralischen Bestandteilen beinahe frei ist und im Sommer 4000 bis 5000 Liter in der Minute liefert. Der Wärter schöpft Wasser und bietet jedem Besucher ein gefülltes Glas. Jene junge Dame lacht und meint: „Brauchte man soweit herzukommen, um laues Wasser zu trinken?“ Aber der ältere Herr mit der Brille deutet auf die Felswände und erinnert an die großartige Umgebung, die den Besuch wohl rechtfertigt und unvergeßlich macht. Wieder herausgetreten, kann sich die besuchende Gesellschaft noch nicht so leicht von der kleinen Terrasse trennen und schaut staunend zu den Felsen empor, in welchen merkwürdigerweise mehrere viereckige Löcher zu erblicken sind. Wir haben die Spuren der Balken vor uns, die einst in dieser schauerlichen Tiefe das Badehaus trugen, zu dem die Patienten aus der lichten Höhe an Stricken herabgelassen werden mußten.

Die Quelle wurde nach der Sage von einem Jäger entdeckt, der im elften Jahrhundert eine von Raben verfolgte Taube, das Wappentier und Wahrzeichen des Klosters, retten wollte und auch rettete und seinen Fund dem Abte, seinem Herrn, berichtete. Im Gebrauche steht sie, wie nachgewiesen, erst seit 1242, und erst seit dem 14. Jahrhundert bestand jenes Haus in der furchtbaren Tiefe, nebst einer Kapelle in einer Grotte, in welcher die Ankommenden um Heilung flehten und die Geheilten Gott dankten. Kein Geringerer als der berühmte Arzt, Naturforscher, Mystiker und ruhelose Wanderer Theophrastus Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus, war der erste, der im Auftrage des Abtes 1535 das Bad beschrieb, in welches zu seiner Zeit eine Treppe herabgeführt wurde. Es folgten sich im Laufe der Jahrhunderte mehrere Beschreiber, deren Bücher in der Zahl von anderthalb Dutzend uns vorliegen. Nachdem das alte in der Tiefe schwebende Haus, in welchem auch Ulrich von Hutten, wenn auch vergeblich, Heilung gesucht, wiederholt abgebrannt war, ließ Abt Jodocus im 17. Jahrhundert das Badehaus auf der heutigen Stelle bauen. Im Jahre 1630 wurde die Quelle feierlich herausgeleitet. Um jene Zeit waren die warmen Heilquellen fast überall in Europa zu Vergnügungsstätten geworden, in welchen ein üppiger Luxus entfaltet wurde. Derselbe offenbarte sich nicht nur in den Herbergen, sondern auch in den Badehäusern selbst. Da herrschte ein ausgelassenes Treiben, in das die Badegäste der Neuzeit sich nimmer würden hineinfinden können. Den ganzen Tag hindurch waren die Bassins mit einer frohgelaunten Menge gefüllt, die allerlei Scherze trieb, sang, Reigen aufführte und sogar – zechte, denn mitunter waren im Wasser Tische mit Speisen und Getränken aufgestellt. Der Florentiner Poggio Bracciolini hat dieses Treiben, wie er es in Baden im Aargau kennengelernt, ausführlich geschildert. Genannter Abt Jodocus war bestrebt, dieser Unsitte zu steuern und erließ für Pfävers eine strengere Badeordnung. In derselben werden allerlei Ungehörigkeiten verboten, damit nicht die Alten und Kranken „mit Verdruß im Bade sitzen oder gar daraus weichen müssen“. Es sollte von dem Freibade Pfävers „alle Leichtfertigkeit, Muthwillen, Aergernuß, Raufen und Schlagen . . . alle Sünd und Laster“ ferngehalten werden. Die Sitten besserten sich auch mit der Zeit, die Bäder wurden mehr und mehr zu ruhigen Heilstätten. Pfävers blühte weiter. Seine heutige Gestalt erhielt das Badegebäude, nachdem 1704 Abt Bonifacius den Grundstein dazu gelegt hatte. Seine späteren Schicksale sind schon in unserer Einleitung besprochen.


[528]

Fräulein Nunnemann.

Erzählung aus vergangenen Tagen.0 Von Eva Treu.
1.

Steht auf, ihr kleinen Rekruten,“ sagte der Herr Konrektor Müller zu uns Schülerinnen der zweiten Klasse. Wir standen auf.

Herr Konrektor Müller nannte uns mit einer starrköpfigen Beharrlichkeit, die uns täglich wieder aufs neue beleidigte und empörte, die „kleinen Rekruten“. Es war eine Bezeichnung, deren Angemessenheit uns in keiner Weise einleuchten wollte, gegen die wir uns aber nicht auflehnen durften, weil er der Höchstgebietende in unserer kleinen, von ihm neben seinen eigentlichen Amtsgeschäften geleiteten Töchterschule war, vor dessen Strenge wir eine äußerst heilsame Furcht hatten. So kamen wir denn auch jetzt dem Gebot, uns zu erheben, mit einer Promptheit nach, über die sich der kleine dicke Herr Binte, unser Rechenmeister, dessen Befehle sich nie der geringsten Beachtung erfreuten, höchlichst gewundert haben würde, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, uns in diesem feierlichen Augenblick zu beobachten. Er war aber nicht da, sondern neben Herrn Konrektor Müller stand nur eine Dame, auf die wir Kleinen aus der zweiten Klasse rasch einige verstohlene Seitenblicke warfen, als wir uns erhoben. Vorerst sahen wir in der Geschwindigkeit nur, daß sie klein und dick war wie Herr Binte.

Seit einer Viertelstunde saßen wir bereits in brennender Neugierde und Erwartung auf unseren Plätzen. Wußten wir doch, daß heute unsere neue Lehrerin eingeführt werden sollte, und daß Herr Konrektor Müller eben dabei war, ihr die Großen in der ersten Klasse vorzustellen. Wir hatten eine besonders liebe, in unseren Augen völlig unersetzliche Lehrerin durch ihre Verheiratung verloren und wußten, daß es viel Mühe und Schreiberei verursacht hatte, eine genügende Stellvertreterin zu finden, denn damals, vor mehr als dreißig Jahren, waren die Lehrerinnen in unserer Provinz noch nicht so reichlich gesät wie heute, wurden auch überall angestaunt wie eine Seltenheit, und war eine solche Dame gar im Auslande gewesen, oder eine „Examinierte“, so hatte man gründlichen Respekt vor ihr und ihren Kenntnissen, rechnete sie dann freilich auch erbarmungslos unter die Blaustrümpfe. Sie war dann auch allemal von weit her, denn wir Schleswig-Holsteiner in unserer Unschuld hatten damals noch nichts, was auch nur den allerersten und schüchternsten Anfängen eines Lehrerinnen-Seminars geglichen hätte. Es waren ganz andere Schulzustände als heute!

Eine „Examinierte“ war deshalb die Dame auch keineswegs, die man nach langem Wählen für würdig befunden hatte, fast die ganze Leitung unserer Schule zu übernehmen, da Herr Konrektor Müller dafür nicht mehr die nötige Zeit erübrigen konnte. Aber sie hatte vorzügliche, geradezu ideale Zeugnisse über ihre bisherige Thätigkeit eingesandt, und deshalb sahen die Eltern ihrem Eintreffen äußerst hoffnungsfroh und vertrauensvoll entgegen.

„Dies ist eure neue Lehrerin, Fräulein Nunnemann,“ sagte Herr Konrektor Müller. Die Gesittetsten unter uns, zu denen ich leider nicht gehörte, knixten, und Fräulein Nunnemann knixte ebenfalls.

„Seid fleißig und gehorsam, habt Fräulein Nunnemann lieb und macht ihr Freude, damit sie euch auch lieb haben und euch Freude machen kann“, fuhr Herr Konrektor Müller in seiner knappen Manier fort. „Vor allem macht keinen Unfug in ihren Stunden, damit es euch nicht übel bekomme.“

Fräulein Nunnemann knixte abermals, und die Schuldbewußten unter uns, zu denen ich gehörte, wenn ich meiner zahlreichen Sünden gegen den guten und nachsichtigen und mir sogar persönlich besonders gewogenen Herrn Binte gedachte, wurden rot.

„Ich überlasse also Ihnen, mein wertes Fräulein Nunnemann, diese kleine Rekrutenschar. Es sind gnte, begabte Kinder darunter, freilich auch einige schwarze Schafe, die herauszufinden ich Ihnen selbst überlassen will,“ sagte unser Gestrenger, seine wohlgepflegte Hand dabei, ich weiß nicht, ob mit oder ohne Absicht, auf meine dicken, schwarzen Flechten legend. Nach dieser kurzen und bündigen Einführungsrede verließ er das Klassenzimmer schleunigst, denn er hatte von Zehn bis Elf eine griechische Stunde in der Sekunda des Gymnasiums zu geben.

Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, als Fräulein Nunnemann sich niedersetzte, beide Ellbogen auf den nächsten Schultisch stützte und gemütlich sagte: „Na, Kinnings, nun erzählt mir nur erst mal, wie ihr eigentlich heißt. Könnt euch dabei niedersetzen.“

Die Stimme klang entschieden tröstlich; sie war fett und gutmütig und entbehrte vollständig jedes strengen Klanges. Und darum machten wir kleinen Rekruten in der zweiten Klasse sämtlich „Augen rechts!“ und gestatteten uns, Fräulein Nunnemann neugierig anzusehen, was wir bisher nicht gewagt hatten.

Jetzt, da ich mir ihre Persönlichkeit in die Erinnerung zurückrufe, kommt es mir vor, als müßte Fräulein Natalie Nunnemann etwa acht- oder neununddreißig Jahre alt gewesen sein; damals hatten meine neun Jahre noch nicht Lebensweisheit genug gesammelt, um mir ein auch nur annähernd zutreffendes Urteil zu gestatten. Fräulein Nunnemanns Gesicht erschien meinen Kinderaugen so alt und ihre Kleidung war doch so ausnehmend jugendlich, daß ich diesen Zwiespalt der Natur nicht zu lösen vermochte.

Ihre kleine, aber sehr kräftig entwickelte Figur umschloß ein himmelblaues, sehr faltenreiches Gewand von einem ganz absonderlichen Schnitt, der selbst in unseren jugendlichen Gemütern den Argwohn erweckte, daß die Dame das Kleid mit ihren eigenen schönen Händen zugeschnitten und genäht haben müßte, ohne in die Geheimnisse der Schneiderei völlig eingeweiht zu sein. Dieser Verdacht befestigte sich später erheblich, als wir sahen, daß alle Kleider Fräulein Nunnemanns, die sämtlich in sehr frischen und jugendlichen Farben, besonders immer wieder in Himmelblau, prangten, nach demselben gewiß in seiner Art schönen aber unseren kleinstädtischen Augen etwas ungewöhnlich erscheinendem Schnitt angefertigt waren. Aus Fräulein Nunnemanns ältlichem Gesicht mit dem eigentümlich vorstehenden Unterkiefer leuchtete ein Paar kleiner schwimmender Augen vom echtesten Wasserblau hervor, und das sandblonde Haar war in außerordentlich merkwürdigen und kunstvollen Lockenbüscheln um ihr gelehrtes Haupt frisiert.

Sie nahm die beengenden Armbänder von den sehr rundlichen Handgelenken, öffnete den Knopf ihres Halskragens, um ihrer Kehle mehr Freiheit zu verschaffen, lieh sich von uns ein paar Atlasse, um dieselben zu einem Fußschemel aufeinander zu stapeln, und begann in allergrößter Gemächlichkeit, sich unsere Namen vorsagen zu lassen, wobei jede einzelne einen genauen Bericht über Eltern, Geschwister, Stand und Wohnort des Vaters, Familiengewohnheiten und Verwandtschaften abzulegen hatte, der jedesmal geraume Zeit in Anspruch nahm. Zuerst saßen diejenigen, die sich nicht gerade im Verhör befanden, ganz respektvoll und wohlerzogen still, dann, als wir bemerkten, daß Fräulein Nunnemann uns durchaus keine Beachtung schenkte, wurde uns die Sache langweilig. Wir zogen Märchenbücher aus den Schulmappen, zeichneten Karikaturen auf unsere Schiefertafeln oder unterhielten uns im Flüsterton, bis die Schuluhr auf dem Flur mit lautem Schlage den Schluß der Stunde verkündete. Da hatte Fräulein Nunnemann eben auch ihre notwendigen Erkundigungen beendet, stand auf, knöpfte ihren Halskragen wieder zu, nickte uns gemütlich einen Gruß und verschwand vom Schauplatz.

Uebrigens schien sie einen sonderlichen Gewinn aus den ihr zu teil gewordenen Belehrungen nicht gezogen zu haben, denn noch nach acht Tagen nannte sie uns nicht mit unseren Namen, sondern nur: „Du da mit dem roten Haar,“ – oder „Du da mit den Sommersprossen,“ oder „Du mit der kleinen Nase,“ bis „die mit dem roten Haar“ endlich in ein nicht zu stillendes Schluchzen der Kränkung und des Zornes ausbrach, über welches Fränlein Nunnemann ebenso verblüfft wie betrübt war, da sie zuerst gar nicht begreifen konnte, worüber das Kind eigentlich weinte. Dann erst fing sie an, sich unsere Namen und nicht bloß unsere Unschönheiten zu merken.

Außer diesen Thränen aber sind bei uns herzlich wenige vergossen worden, an denen Fräulein Nunnemann die Schuld getragen hätte. Die Großen in der ersten Klasse ließen sich schon nach wenigen Tagen herab, sich mit uns Kleinen darüber völlig einig zu erklären, daß eine wahrhaft herrliche Zeit für uns

[529]

Vor dem Kursaal in Ragaz.
Nach dem Leben gezeichnet von P. Bauer.

[530] angebrochen sei. Wir thaten einfach, was uns beliebte, und daß es uns nicht beliebte, übermäßig zu arbeiten, ist vielleicht begreiflich.

Wären nicht Herr Konrektor Müller und ein paar Hilfslehrer gewesen, wir hätten gewiß gar nichts gelernt.

Zur ersten Morgenstunde pflegte Fräulein Nunnemann – das war ein für allemal feststehende Regel – stets etwa dreißig Minuten zu spät zu erscheinen und die nächsten zehn Minuten mit lebhaften Scheltworten über ihre Hauswirtin auszufüllen, welche sie „wieder einmal nicht rechtzeitig geweckt hatte, die abscheuliche Person“. Dann begann sie, ihre Toilette während des Unterrichts zu vervollständigen. Zuerst wurden die blonden Haarstränge von großen Papierpapilloten abgelöst und über einen Lockenstock gewickelt, eine Manipulation, die uns anfangs mit dem maßlosesten Staunen erfüllte, da keine von uns etwas Aehnliches je gesehen oder auch nur geahnt hatte, die uns aber bald völlig gleichgültig ließ und gewohnheitsmäßig gar nicht weiter beachtet worden wäre, wenn nicht Fräulein Nunnemann dann und wann selbst ganz ungeniert gerufen hätte: „Seht, Kinnings“ – sie war Mecklenburgerin – „so drehe ich meine Locken!“

War die Frisur beendet, so wurde die himmelblaue Taille, die bis dahin ein barmherziger Seelenwärmer bedeckt hatte, nicht ohne Mühe geschlossen, wobei gelegentlich ein Knopf ab und weit in die Stube hineinsprang. Zwischendurch überhörte sie uns pflichtschuldigst unsere englischen Vokabeln oder unsere Geschichtstabellen, doch nahm sie es, gutmütig wie sie war, nicht eben genau damit; und war die umständliche Toilette mit Hilfe eines kleinen Handspiegels beendet, so schlug es auch allemal schon neun auf dem Flur. Dann erhob sich Fräulein Nunnemann fröhlich und jugendschön, und es konnte geschehen, daß sie aus der Wärme ihres guten Herzens heraus ganz glücklich rief: „So, Kinnings – wer will mir nu mal ’n Kuß geben?“ Eine Aufforderung, der, soviel ich weiß, nur ein einziges Mal eine barmherzige kleine Seele aus Mitleid entsprach, da sich niemand sonst melden wollte.

Konnte Fräulein Nunnemann einmal durchaus nicht vermeiden, eine von uns zu bestrafen, so geschah dies nie, ohne daß sie mit Thränen in den Augen versichert hätte, es thäte ihr selbst unendlich leid, aber diesmal könnte sie wirklich nicht anders.

Kurz, sie war, wie man sieht, eine wirklich grundgute Person.

Eine kindliche und uns höchst erfreuliche Vorliebe legte sie für eine Verlängerung der Frühstückspause an den Tag. Um dieselbe würdig und in passender Weise auszufüllen, brachte sie regelmäßig eine Ledertasche mit in die Schule, aus welcher sich am gehörigen Ort und zur rechten Zeit eine umfangreiche Flasche mit kaltem Milchkaffee, drei große Buttersemmeln und eine Tüte mit Streuzucker entpuppten. Den süßen Inhalt der letzteren schüttete sie sich nach und nach in kleinen Portionen direkt in den Mund. Die Buttersemmel zerpflückte sie in kleine Fetzen und schleuderte dieselben – ich weiß keine andere Bezeichnung dafür – dem Zucker und dem Kaffee nach. Außerdem war Fräulein Nunnemann in des Wortes verwegenster Bedeutung empfänglich für jede Art von Obst, mochte sich ihr dasselbe auch nur in Gestalt eines einzigen Apfels darbieten, und wir hatten deshalb unter uns ein wohlgeordnetes System eingerichtet, nach welchem die tägliche Obstlieferung von uns abwechselnd zum allgemeinen Nutzen besorgt wurde.

Freilich, diese Liebhaberei für Früchte wurde uns eines schönen Tages schmerzlich verhängnisvoll. Wir waren sämtlich zu einer Kindergesellschaft eingeladen, und auch Fräulein Nunnemann hatte sich, ich habe vergessen, ob auf den Wunsch der Gastgeber oder aus freiem Antriebe, eingefunden. Gegen Abend wurde eine große Schale mit wunderschönem Obst gebracht, welche für uns alle auszureichen bestimmt war. Natürlich trug die liebenswürdige Hausfrau dieselbe zuerst zu Fräulein Nunnemann, als zu einer Respektsperson.

„Nehmen Sie, liebes Fräulein, bitte!“

„Aber das ist ja reizend!“ rief Fräulein Nunnemann, kindlich in die Hände klatschend. „Die prachtvollen Früchte sind für mich? Es ist zu viel! Sie sind gar zu freundlich!“ Und ehe wir noch recht begriffen hatten, was sie eigentlich meinte, hatte sie ihren riesigen Handarbeitsbeutel geöffnet, und der ganze Inhalt der Schale, auf die wir schon lange lüsterne Blicke geworfen hatten, verschwand in seinen dunklen Tiefen.

Wir konnten Fräulein Nunnemann manches verzeihen, weil wir in der Schule jetzt ein gar so vergnügliches Leben führten – dies aber konnten wir ihr lange nicht vergessen. Freilich, sie vergaß es auch uns lange nicht, daß wir sie, trotz ihrer vorhergegangenen sehr deutlichen Anspielungen, weder zum Geburtstage, noch zum Weihnachtsfeste beschenkten. Als wir diese beiden Feste hatten vorübergehen lassen, ohne ihr ein Angebinde zu bringen, weil das überhaupt in unserer Schule nie Sitte gewesen war, kühlte sich ihre innige Liebe zu uns merklich ab, und sie nahm sogar keinen Anstand, in öffentlicher Klasse zu erklären, welche Familien sie für wohlhabend genug hielte, um der geliebten Lehrerin ihrer Kinder gelegentlich ein hübsches Geschenk zu machen.

Fühlten wir uns nachmittags für die Schule nicht aufgelegt – dergleichen kann ja vorkommen – so erlaubten wir uns allerlei niedliche Scherze, um eine Lehrstunde zu vereiteln. Unsere Klassenzimmer befanden sich in einem herrlichen, uralten ehemaligen Kloster mit einer Menge von Schlupfwinkeln und so dicken Wänden, daß ich mir damals einbildete, dickere könnte es auf der ganzen Welt nicht geben. Erschien nun Fräulein Nunnemann pflichtgemäß zur gewohnten Lektion, so fand sie das Zimmer anscheinend leer. Wir hatten uns sämtlich irgendwo verkrochen, und Fräulein Natalie mußte uns einzeln aus den unmöglichsten Winkeln hervorsuchen, was sie stets mit viel Vergnügen und in der besten Laune so langsam that, daß, wenn sie uns endlich alle beisammen hatte, es nicht der Mühe wert war, noch mit dem Unterricht zu beginnen.

Oder wir spannten alle unsere nassen Regenschirme auf, befestigten sie mit vieler Mühe an einem großen Lampenhaken in der Mitte der Zimmerdecke und setzten uns, Fräulein Nunnemann erwartend, sittsam auf unsere Plätze.

„Aber Kinnings!“ rief die liebe Dame natürlich beim Eintreten, die dicken kleinen Hände zusammenschlagend, „was habt ihr aufgestellt?“

„Wieso, Fräulein Nunnemann?“

„Was habt ihr mit den Schirmen gemacht?“

„Wir haben sie nur zum Abtropfen ein bißchen aufgehängt, Fräulein Nunnemann!“ riefen wir einstimmig.

„Aber das geht doch nicht, Kinnings! Gleich nehmt sie herunter.“ Damit setzte sich Fräulein Nunnemann bequem zurecht, stützte die Ellbogen auf den Tisch und sah lächelnd zu, wie wir, der wilden Jagd gleich, über Tische und Bänke kletterten, um ihrer Weisung nachzukommen, worüber natürlich abermals viel Zeit verging.

Oder wir zogen im Winter, wenn Schnee lag, mit unseren sämtlichen Schlitten vor Fräulein Nunnemanns Haus, um sie zur Schule abzuholen. Freudig überrascht ob solcher liebenswürdigen Aufmerksamkeit, setzte sie sich in das erste Gefährt, vor welches sich zwei von uns als Pferde spannten, während zwei andere nachschoben – denn leicht zu fahren war Fräulein Nunnemann nicht. Alle anderen Schlitten folgten, und mit Jauchzen und Geschrei fuhren wir – nicht etwa zur Schule, das würde unserem Zwecke wenig entsprochen haben, sondern kreuz und quer durch die ganze kleine Stadt, nicht eher in den Klosterhof einbiegend, als bis wir wußten, daß es gleich voll schlagen müßte.

Für solche kleinen Scherze hatte Fräulein Nunnemann stets ein wohlwollendes Verständnis, und wenn unser Höchstgebietender, der Herr Konrektor, sich bei ihr nach unserem Betragen erkundigte, so erklärte sie uns stets aus innigster Ueberzeugung für „liebe, fleißige Kinder“, stellte uns auch Zeugnisse aus, welche zu Hause wegen ihrer wahrhaft unerhörten Vortrefflichkeit geradezu Sensation erregten.

Ueberhaupt, ein weiches Herz hatte sie! Ein niedliches „Kindting“, welches ihr auf der Straße begegnete, ein „süßer kleiner Polli“, der vor einer Hausthüre saß, verursachte stets und unfehlbar, daß Fräulein Nunnemann mit lauten Ausrufen des Entzückens auf offener Straße bei dem Gegenstande ihres Wohlgefallens niederkniete, wobei das himmelblaue Kleid oft recht innige Bekanntschaft mit wenig erfreulichen Dingen machte.

Am allerliebevollsten aber schlug Fräulein Nunnemanns sanftes Herz für den Herrn Kandidaten Beseler. Dieser Herr, ein ältlicher Junggeselle von keineswegs bestrickender Schönheit, den wir Kleinen „gräßlich langweilig“ fanden, für den aber die erste Klasse in Ermangelung eines würdigeren Gegenstandes schwärmte, und der auch in der That alle Hochachtung verdiente, war unser Religionslehrer. Seine Stunden lagen so, daß sie auf diejenigen von Fräulein Nunnemann folgten. Nun war es uns Mädchen sehr ergötzlich, zu beobachten, wie Fräulein Nunnemann stets an solchen Tagen, an welchen Herr Beseler erschien, irgend eine selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnliche und abenteuerliche Schleife oder Spitzenkrause anzulegen pflegte und während ihrer ganzen Unterrichtsstunde sich in freudiger und ungeduldiger Erwartung befand.

[531] Schlug es dann voll, so machte Fräulein Nunnemann wohl ihr Buch zu, aber es traf sich dann jedesmal so, daß sie noch an ihrem Pulte zu thun hatte. Sie klappte den Deckel in die Höhe, so daß ihre kleine Gestalt völlig dahinter verschwand, und begann in dem Innenraum zu kramen mit einem Eifer, der sie das Läuten der Hausthürglocke, das Oeffnen der Stubenthür und das einstimmige „Guten Morgen, Herr Beseler!“ der ganzen Klasse völlig überhören ließ. Und erst wenn Herr Beseler mit seinem geschäftsmäßig raschen Schritt an das Pult trat, schnellte plötzlich Fräulein Nunnemann wie ein Geist aus der Unterwelt dahinter hervor, errötete lieblich, stammelte eine Entschuldigung, sie hätte hier noch zu thun gehabt und des Herrn Kandidaten Kommen gänzlich überhört, und zog sich knixend zurück, nachdem Herr Beseler pflichtschuldigst einige höfliche Worte mit ihr gewechselt hatte.

Zuerst nahm der gute Herr Beseler, der in solchen Dingen arglos war wie ein Kind, das ganz bescheiden für Zufall. Nach und nach aber, als die himmelblaue Taille jedesmal hinter der Pultklappe aufleuchtete, wenn er eintrat, befiel ihn eine gewisse Befangenheit und schließlich geradezu Angst. Er kürzte die Unterhaltung, die er zuerst in freundlich harmloser Weise geführt hatte, täglich mehr und mehr ab und kam von Woche zu Woche später in die Stunde, so daß Fräulein Nunnemann endlich doch die Absicht merken mußte. Sie war aber eine zu gute Seele und zu liebevoller Natur, um verstimmt zu werden. Zwar verließ sie die Klasse mit dem Glockenschlage, so daß Herr Beseler bald wieder Mut schöpfte und mit altgewohnter Pünktlichkeit erschien, aber schon nach wenigen Tagen hatte sie ein neues Mittel der Annäherung gefunden.

War nämlich die Stunde etwa halb beendet, so ertönte plötzlich ein leises, zaghaftes Pochen an der Stubenthür. Auf Herrn Beselers „Herein!“ erschien dann Fräulein Nunnemann errötend und verlegen auf der Schwelle.

„Stör’ ich auch?“

„Bitte, bitte,“ sagte der höfliche Herr Beseler, einen Seufzer unterdrückend, „durchaus nicht. Wünschten Sie etwas?“

„Ich muß meinen Bleistift hier vergessen haben – ich brauche ihn notwendig – erlauben Sie vielleicht –“

„Gewiß; gestatten Sie, daß ich suchen helfe,“ entgegnete Herr Beseler gottergeben. Der Bleistift, die Taschenuhr, oder was es sonst gerade sein mochte, fand sich denn auch jedesmal nach einiger Mühe, Fräulein Nunnemann knixte dankend hinaus, und der Unterricht konnte seinen Fortgang nehmen.

Herr Beseler aber ergab sich in sein Schicksal; Fräulein Nunnemann war offenbar zu klug für ihn. Er sah kein Mittel, ihr zu entrinnen, und ertrug die unvermeidlichen Störungen schließlich mit einem Gleichmut, der uns ausnehmend verdroß, denn nun, da er nicht mehr ärgerlich errötete, nicht mehr ungeduldig seufzte, auch nicht mehr ingrimmig die Stirn runzelte, wenn seine beharrliche Verehrerin das Zimmer verlassen hatte, war ja durchaus gar kein Spaß mehr an der ganzen Sache.

Wie es überhaupt möglich war, daß sich Fräulein Nunnemann volle zwölf Monate an unserer Schule behauptete, erklärt sich einzig und allein aus der Thatsache, daß der sonst so kluge und vorsichtige Herr Konrektor Müller sich auf ihren dringenden Wunsch und verführt durch die ungewöhnliche Vorzüglichkeit ihrer Empfehlungen kontraktlich verpflichtet hatte, sie vorläufig auf ein Jahr anzustellen. Kaum aber war diese Frist abgelaufen, so verschwand das kurzweilige Fräulein Natalie ganz plötzlich aus unserem Kreise. Ich schäme mich beinahe, zu gestehen, daß keine ihrer Schülerinnen ihr eine Thräne nachweinte. Aber wir waren, uns selbst unbewußt, der Mißwirtschaft in der Schule eigentlich längst überdrüssig und sehnten uns nach einer festen, liebevollen Hand, die uns sicherer führte, als es im letzten Jahre geschehen war. Fräulein Nunnemann entschwand aus unserem Gesichtskreise vollständig. Keines von uns Kindern, keine der Familien, bei welchen sie Gastfreundschaft genossen hatte, erhielt je einen Brief von ihr. Sie war für uns wie vom Erdboden verschwunden. – –

Und die Jahre vergingen. Aus uns kleinen Rekruten wurden große Mädchen der ersten Klasse, ohne daß uns die feste, liebevolle Hand geworden wäre, die uns hätte leiten sollen. Herr Konrektor Müller wurde versetzt, Herr Beseler erlag einem Magenleiden, und unsere kleine Familienschule hatte wahrhaft abenteuerliche Schicksale der seltsamsten Art. Zuweilen waren wir höheren Töchter längere Zeit ganz ohne irgend welchen Unterricht, verwilderten stark und waren in Gefahr, das Bißchen, was wir bis dahin gelernt hatten, völlig zu vergessen. Aber eine vergnügliche Kindheit hatten wir auf diese Weise, und frisch und gesund blieben wir dabei. Das Wort „Arbeitsüberbürdung“ war uns ein leerer Schall. Ich wurde konfirmiert, wurde, wie es sich nun einmal gehörte, fortgeschickt, „um Haushaltung zu lernen“, besuchte das Lehrerinnen-Seminar – es war bereits ein schleswig-holsteinisches – wunderte mich, daß ich mit anderen, besser vorbereiteten Schülerinnen Schritt halten konnte, und war endlich beinahe achtzehn Jahre alt und nach meiner eigenen damaligen Ansicht äußerst ernsthaft, gereift und verständig geworden, als das drohende Gespenst der „Prüfung für höhere Töchterschulen“ mir von Tag zu Tag mit unheimlicher, geradezu beängstigender Schnelligkeit immer näher rückte.

Ich hatte in den letzten Jahren manchmal im innersten Herzensschrein den vermessenen Gedanken gehegt, ziemlich viel zu wissen und meinen Mitschülerinnen wenigstens in einigen Fächern erheblich überlegen zu sein; jetzt, da ich die Tage bis zum Examen an den Fingern bequem abzählen konnte, wurde es mir auf einmal mit gräßlicher Gewißheit klar, daß ich eigentlich überhaupt gar nichts wüßte und jedenfalls von allen Examinandinnen die unfähigste wäre. Ein unsinniger Eifer erfaßte mich, noch alles zu lernen, was ich nicht wußte, und ein paar Tage lang arbeitete ich, als wenn es um mein Leben ginge.

Dann sah ich plötzlich ein, daß es verlorene Liebesmühe sei, die gähnenden Abgründe meiner bodenlosen Unwissenheit jetzt auf einmal noch ausfüllen zu wollen, und ich arbeitete gar nichts mehr, was vielleicht das Beste war, was ich thun konnte. Hatte ich früher gehofft, eine Eins zu erreichen, so beschloß ich jetzt kleinlaut, zufrieden zu sein, wenn ich nur nicht durchfiele, und mich über eine Drei noch zu freuen. Ich schrieb nach Hause, man möchte dort, bitte, auf das Entsetzlichste gefaßt sein, und benahm mich mit einem Worte, wie es achtzehnjährige Mädchen, die vor der Lehrerinnenprüfung stehen, vermutlich noch heute thun.

Und der mit schaudernder Sehnsucht erwartete Tag der Prüfung kam heran.

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten.

Das Jung-Bismarck-Denkmal auf der Rudelsburg. (Zu dem Bilde S. 532.) Die deutschen Corpsstudenten haben die Rudelsburg an der Saale hellem Strande zum Standort patriotischer Denkmäler gewählt. Dort errichteten sie ein Kriegerdenkmal zum Andenken an ihre im Kriege um Deutschlands Einheit gefallenen Kommilitonen; dort verherrlichten sie durch einen Obelisk Kaiser Wilhelm I., und nun ist auf der Höhe der Rudelsburg am 23. Mai die Hülle von einem dritten Denkmal gefallen, durch das die deutschen Corps ihrer Liebe und Verehrung für den Fürsten Bismarck einen beredten Ausdruck verliehen haben. Es ist ja bekannt, daß die deutschen Corps in Fürst Bismarck nicht nur den großen Staatsmann, den Einiger Deutschlands feiern, sondern auch ihn als den größten unter den alten deutschen Corpsstudenten ganz besonders in ihr Herz schließen. Hat doch Bismarck, der alte Bursch des Corps Hannovera zu Göttingen, niemals die Sympathien für seine Kommilitonen verleugnet. Dementsprechend nimmt auch das Bismarck-Denkmal auf der Rudelsburg in der großen Zahl der Denkmäler des Fürsten eine ganz eigenartige Stelle ein. Wir sehen auf ihm nicht den eisernen Kanzler, nicht den markigen Mann der vollbrachten That, sondern Jung-Bismarck, den schneidigen Bursch. Norbert Pfretzschner, auch ein alter Corpsbursche, hat das Denkmal in Bronze und Granit trefflich ausgeführt. Frisch und markig ist die Gestalt Jung-Bismarcks, der mit übergeschlagenem Bein, den Schläger in der Rechten, dasitzt und frohen Muts in die Welt hinausschaut. Sie ist in doppelter Lebensgröße in Erz gegossen. Den oberen Teil des granitnen Sockels umschließt ein Kranz aus Eichenlaub und auf dem Unterbau ist außer einigen studentischen Emblemen die aus Bismarcks Studentenzeit bekannte Dogge Ariel angebracht. Die Vorderseite des Sockels zeigt ein gleichfalls von Pfretzschner modelliertes Reliefbild des greisen Reichskanzlers, während die auf unserer Abbildung dem Beschauer zugewandte Seite folgende von Dr. Hans v. Hopfen, dem verdienstvollen Vorsitzenden des Gesamtausschusses des Verbands alter Corpsstudenten, gedichtete Widmung trägt:

„Das deutsche Volk in Einigkeit,
Ein neues Reich in neuer Zeit,
Millionen haben darüber gedacht,
Aber nur Einer hat’s fertig gebracht.
Einer der Unsern in Lieb und Zorn,
Ein Bursch von echtem Schrot und Korn,
Ein alter deutscher Corpsstudent,
Den alle Welt Fürst Bismarck nennt.
Dies Bild stellt ihn als Jungbursch dar,
Dankt Gott, daß er der Unsere war.“

*      

[532] Die Kaiserjacht „Meteor“ im Kieler Hafen. (Zu dem Bilde S. 517.) Schon am frühen Morgen des 19. Juni war es im Kieler Hafen lebendig. Sollte doch an jenem Tage die neue stolze Jacht Kaiser Wilhelms II., die sich bereits beim Wettsegeln im Auslande als der schnellste Kutter der Welt bewährt hatte, zum erstenmal auf heimischen Wellen ihre Riesensegel entfalten.

Es ist bekannt, wie sehr Kaiser Wilhelm II. bestrebt ist, im deutschen Volke das Interesse für die Marine zu wecken und auch alle Leibesübungen zu Wasser, das Schwimmen, Rudern, Segeln zu fördern. Der Kaiser selbst bethätigt sich praktisch auf diesem Gebiete; namentlich im Segeln gilt er als ausgezeichneter Fachmann, und es ist ihm in der That gelungen, in letzter Zeit selbst die im Wassersport so bewanderten Engländer zu schlagen. Zu diesem Erfolge verhalf gerade die neue Jacht „Meteor“. Sie wurde zwar in England gebaut; ihre Konstruktion wurde aber in wesentlichen Teilen nach den Angaben Kaiser Wilhelms ausgeführt. Am 13. Mai d. J. hatte man den „Meteor“ vom Stapel gelassen und schon Anfang Juni trat er zuerst bei der Gravesend-Regatta des „Royal London- Yacht-Club“ zum erstenmal in die Schranken. Unter seinen Rivalen befand sich auch die Jacht „Britannia“ des Prinzen von Wales, die bis dahin als der schnellste Kutter der Welt galt. Es gelang dem „Meteor“ mit Leichtigkeit, seine Partner zu schlagen, und er errang auch am folgenden Tage bei einer Wettfahrt von der Mündung der Themse nach Dover einen neuen Sieg.

Auf dieser in Sportkreisen so rasch berühmt gewordenen Jacht sollte nun der Deutsche Kaiser am 19. Juni in Kiel die erste Regatta in Deutschland mitsegeln. Der Jubel, mit dem der „Meteor“ bei seinem Erscheinen in der blauen Föhrde begrüßt wurde, ist darum leicht erklärlich. In der That machte er einen ausgezeichneten Eindruck. – Die gesamte Fläche seiner riesigen Segel beträgt etwa 12270 Quadratfuß, die Länge in der Wasserlinie 27 m und über Deck 39 m, die Breite am Deck 7,5 m. Der Mast ist etwa 30 m lang. Die Besatzung besteht aus 40 Mann.

Der „Meteor“ hat bei seinem Erscheinen auf der Kieler Regatta bereits fünf in England gewonnene Siegesflaggen geführt, die Zahl derselben ist inzwischen durch neue Erfolge vermehrt worden. Der Ruf des „Meteors“ als schnellste Segeljacht erscheint somit immer begründeter. *  

Das Jung-Bismarck-Denkmal auf der Rudelsburg.

Sammlerfreuden. (Zu dem Bilde S. 521.) Jubelnd war der Hans von dem Ausflug in Feld und Wald heimgekehrt und trug eine Cigarrenschachtel so stolz und fest, als ob ein wichtiger Schatz sich in ihr befände! „Hurra!“ rief er seinen Geschwistern entgegen, „ich hab’s, ich habe es, das längst Gesuchte, das Pfauenauge!“ Wer da weiß, wie brennend die Sehnsucht des Sammlers sein kann und wie groß die Freude über einen neuen längst begehrten Erwerb zu sein pflegt, der begreift die Stimmung des Knaben. Seine Augen können sich kaum satt sehen an der Farbenpracht des endlich erbeuteten Schmetterlings und seine Freude wird durch die rege Teilnahme der Familienmitglieder gesteigert. In alt und jung hat ja Hans ein dankbares Publikum, das seiner neuesten Errungenschaft Bewunderung zollt. Das erhöht dem jungen Sammler die Weihe des Augenblicks. *  

Deutsche Singvögel in Amerika. Als Kolumbus im Jahre 1493 seine zweite Reise nach der Neuen Welt antrat, führte er auf seinen Schiffen allerlei Haustiere und Kulturpflanzen der Alten Welt mit sich. Amerika sandte uns später dafür den Tabak und die Kartoffel. Dieser Austausch zwischen der Flora und Fauna der beiden Welten ist noch nicht gänzlich abgeschlossen, obwohl er heute hauptsächlich nur noch der Liebhaberei des Blumen- oder Tierfreundes dient.

Namentlich den Deutschen in Nordamerika fehlt so vieles, was sie in der alten Heimat liebgewonnen haben. So vermissen sie auch den melodischen Gesang der deutschen Vögel, der Nachtigall Klage, der Lerche Jubeltriller, der Amsel Flötentöne, des Schwarzplättchens Liebeslied und des Buchfinken Schlag, und so suchen sie seit Jahr und Tag deutsche Singvögel in Amerika heimisch zu machen. Dies gelingt aber schwerer, als man glaubt. Namentlich die Zugvögel können sich in die neuen Verhältnisse nicht immer finden. Es ist bis jetzt nur gelungen, den Stieglitz in Boston und New York und an einigen Orten auch die Lerche einzubürgern. Günstiger fiel der Einbürgerungsversuch in Portland im Staate Oregon, also westlich vom Felsengebirge, aus. Wie H. Nehrling in seinem Prachtwerke „Die Nordamerikanische Vogelwelt“ berichtet, ist das dortige Klima ungemein mild. Im Frühling 1889 wurden von dem „Verein zur Einführung nützlicher deutscher Singvögel in Oregon“ etwa dreihundert Pärchen deutscher Singvögel importiert und freigelassen.

Man hat diese Versuche fortgesetzt und wiederholt eine größere Anzahl deutscher Vögel angesiedelt. Mögen sie dort gedeihen und durch ihren Gesang in Garten und Hag die Deutschen jenseit des Oceans erfreuen und in ihnen Erinnerungen an die alte Heimat wecken! C. F.     

Blühende Rosen. (Zu unserer Kunstbeilage.) Von allen Blumen der Welt hat keine so viel Ruhm und Preis erfahren wie die Rose. Als Königin im Reich der Blumen feiert sie die Poesie der alten und neuen Zeit. Als Symbol der Jugend und ihrer Lust hat sie Anakreon wie Hafis verherrlicht und vom zarten Moosröschen bis zur purpurleuchtenden Edelrose ist die farbenreiche Fülle ihrer Arten zu Vergleichen benutzt worden, welche die Liebe für Mädchenanmut und Frauenschönheit ersann. Ihre feurige Farbenpracht und ihr berauschender Duft leuchtet und haucht durch Tausende von Liedern. Keusche Minne wie verzehrende Leidenschaft findet unter den Rosen noch immer die geeignetsten Vermittler, um bildlich anzudeuten, was die Lippe noch nicht zu gestehen wagt. Aber wo immer Rosen blühen, fürchtet man auch den Dorn, der am Stiel unter ihren Kelchen droht, den Dorn, mit dem auch das bescheidene „Röslein auf der Heiden“ sich wehrt, wenn kecke Hand allzu eifrig sich müht, es zu brechen. Da macht erst Erfahrung klug.

Das anmutige Bild von E. von Blaas, das dieser Nummer beiliegt, ruft mit seinem herrlichen prangenden Rosenflor und der schönen Südländerin, die ihn erntet, in dem Beschauer die ganze Poesie wach, welche der Atem blühender Rosen beseelt. Welche Fülle von duftigen Blüten hat die verschwenderische Gunst des Südens über das Säulengerüst dieser Pergola ausgeschüttet! Und als ob sie wüßten, daß ihr schönster Beruf ist, Mädchen- und Frauenstirnen zu krönen, neigen sich die Rosen zu dem dunkeläugigen jungen Weibe geschmeidig und gefällig herab, um sich mit Lust von ihm pflücken zu lassen. Blühende Rosen! Um den Mund der Schönen spielt ein seliges Lächeln – denkt sie der Stunde, da auch ihr eine Rose verkündete, daß sie geliebt sei, geht ihr durch den Sinn eins der Lieder, welche die Wonne in die Welt hinausjubeln, daß noch „die Tage der Rosen“ sind? Der Gefahr, sich an Dornen zu ritzen, beugt sie klug vor, indem sie sich einer Schere bedient. Als sie jünger war, fehlte ihr diese Geduld und da hat auch sie die Schärfe des Dorns gekostet, die für den kleinen Buben zu ihren Füßen das Spiel mit den Rosen zu einem gefährlichen macht. P.      


manicula Hierzu die Kunstbeilage IX: „Blühende Rosen.“ Von E. von Blaas.

Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (7. Fortsetzung). S. 617. – Die kaiserliche Jacht „Meteor“ im Kieler Hafen. Bild. S. 517. – Sammlerfreuden. Bild. S. 521. – Ein Reich, ein Recht! Zur Entstehuugsgeschichte des „Bürgerlichen Gesetzbuchs“. Von Ernst Wichert. S. 522. – Ragaz und die Taminaschlucht. Von Dr. Otto Henne am Rhyn. S. 524. Mit Abbildungen S. 524, 525, 527 und 529. – Fräulein Nunnemann. Erzählung von Eva Treu. S. 528. – Blätter und Blüten: Das Jung-Bismarck-Denkmal auf der Rudelsburg. S. 531. Mit Abbildung S. 532. – Die Kaiserjacht „Meteor“ im Kieler Hafen. S 532 (Zu dem Bilde S. 517.) – Sammlerfreuden. S. 532. (Zu dem Bilde S. 521.) – Deutsche Singvögel in Amerika. – Blühende Rosen. S. 532. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 31. 1896.


Zwei Künstler von echt deutscher Eiqenart, der Berliner Bildhauer Erdmann Encke und der Frankfurter Maler Eugen Klimsch, sind in der zweiten Juliwoche dieses Jahres vom Tode hingerafft worden. Beide standen noch in bestem Mannesalter. – Erdmann Encke, der am 26. Januar 1843 in Berlin geboren war, wo er auch die Akademie besuchte und dann Atelierschüler Albert Wolffs wurde, hat in seiner 1880 enthüllten Statue der Königin Luise im Berliner Tiergarten, in den Sarkophagen des Kaisers Wilhelm I. und der Kaiserin Augusta im Charlottenburger Mausoleum Werke hinterlassen, die seinem Namen bleibende Dauer sichern. Feines künstlerisches Empfinden, edle Natürlichkeit in der sorgfältigen Technik bringen diese durch die Bedeutung ihres Gegenstandes doppelt wertvollen Werke zum Ausdruck. Auch sonst ist die Arbeit seines schaffensfreudigen Lebens hauptsächlich der Reichshauptstadt und ihrer Umgebung zu gute gekommen.

Eugen Klimsch.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph Prof. E. Hanfstaengl in Frankfurt a. M.

Erdmann Encke.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph J. Baruch in Berlin.

Sein erstes größeres Werk, das Denkmal des Turnvaters Jahn, steht auf der Hasenheide. Der künstlerische Ausschmuck des Berliner Rathauses enthält auf der Vorderfront die Bronzestatue des ersten brandenburgischen Kurfürsten, die Herrscherhalle im Zeughaus die Kolossalgestalten des Großen Kurfürsten und Friedrichs des Großen von ihm. In Spandau befindet sich sein Standbild Joachims II. Die ungemein anmutende Gruppe, welche die Kurfürstin Elisabeth ihren Sohn in der Religion unterrichtend darstellt, fand Aufnahme in der Nationalgalerie. Das schleichende Lungenleiden, dem Encke am 8. Juli in seiner Villa in Neu-Babelsberg erlag, entriß ihn einer Welt noch unausgeführter Entwürfe. – Der Maler Eugen Klimsch, der am 9. Juli in seiner Vaterstadt Frankfurt a. M. in einem Anfall von geistiger Umnachtung aus dem Leben schied, hat nicht in Kolossalwerken wie Encke, vielmehr in Werken kleinsten Umfangs sein bestes Können offenbart, aber er vertrat als Künstler dieselbe ideale Richtung wie jener. Er war am 29. November 1839 als Sohn eines Lithographen geboren, der sich als Illustrator bereits besonderen Ansehens erfreute. Von diesem empfing er seine erste künstlerische Ausbildung, vor allem eine ausgezeichnete technische Schulung als Zeichner. In München war er dann längere Zeit Atelierschüler bei Professor Andreas Müller. 1865 begründete er das eigene Atelier in seiner Vaterstadt. Als phantasievoller Illustrator namentlich auf dem Gebiete der Darstellung fröhlichen Kinderlebens errang sich Eugen Klimsch früh einen Namen; aber auch seine farbenfrischen Gemälde, die in kleinen Formaten poetische Scenen idyllischen Liebesglücks und verwandte Stoffe darstellen, fanden, wo sie auf größeren Ausstellungen erschienen, allgemeinen Beifall. Am eigentümlichsten und reizvollsten hat sich Klimschs liebenswürdiges Talent jedoch in den zierlichen Miniaturen ausgesprochen, die er für Ehrenurkunden und ähnliche Zwecke in Gouache und Aquarell in sauberster Ausführung malte. Seine leichtbeschwingte kräftiggestaltende Phantasie und zeichnerische Kunstfertigkeit vereinigten sich hier zur Hervorbringung kleiner Meisterwerke von hohem künstlerischen Zauber. Eugen Klimsch, dessen Söhne sich gleichfalls der Kunst gewidmet haben, war erst neuerdings als Nachfolger Frank Kirchbachs Professor am Städelschen Kunstinstitut geworden.

Die goldene Hochzeitsreise aufs Wetterhorn. In den Junitagen dieses Jahres wurde in Grindelwald eine goldene Hochzeit gefeiert, die einzig in ihrer Art dasteht; denn das greise Jubelpaar hat zur Verherrlichung seines Festtages das Wetterhorn bestiegen und somit eine Tour ausgeführt, vor der Tausende Neuvermählte in der Vollkraft der Jugend sicher zurückschrecken würden. Die ungewöhnliche goldene Hochzeitsreise erscheint jedoch durchaus natürlich, wenn wir erfahren, daß der Jubilar als einer der bewährtesten Führer in den Alpen weit und breit berühmt ist. Christian Almer aus Grindelwald hat seit mehr als vierzig Jahren als Führer gewirkt und zahlreiche Berggipfel bestiegen – vom Montblanc bis zu den Dolomitzacken in Südtirol. Er steht bereits im 72. Lebensjahre, und seine Frau, das „Schlunegger-Gritli“, ist um ein Jahr älter. Fürwahr, das greise Jubelpaar muß sich eiserner Gesundheit und unverwüstlicher Kraft erfreuen, daß es eine derartige Vergnügungstour unternehmen und glücklich ausführen konnte! Bei schlechtem Wetter, unter strömendem Regen trat es den Weg an, und Frau Almer sah in ihrem weißen Schleier und grauen Filzhütchen recht frisch und munter, beinahe jugendlich aus. Den Jubilaren schlossen sich zwei Söhne und eine Tochter Almers an. Trotz des schlechten Wetters wurde die Klubhütte beim Gleckstein glücklich erreicht, und hier verbrachte die Gesellschaft im warmen Sonnenschein einen fröhlichen Tag. In der Frühe des 22. Juni ging es weiter bergauf, und morgens 61/2 Uhr war der Berggipfel erreicht, den Almer vor 42 Jahren mit einem jungen Tannenbaum geschmückt hatte. Der Abstieg wurde rüstig vollzogen, und abends 7 Uhr war das Jubelpaar wieder in Grindelwald angelangt. Es war noch so kräftig und munter, daß es an dem Feste teilnehmen konnte, welches zu seinen Ehren im Hotel Adler begangen wurde. – Mögen den braven Alten noch viele glückliche Jahre in ihrer herrlichen Alpenheimat beschieden sein!

Der Bergführer Christian Almer aus Grindelwald und seine Frau am Tage ihrer goldenen Hochzeit.
Nach einer Photographie von J. Moegle in Thun.

„Für den häuslichen Herd“ nennt sich eine in Stuttgart bei J. Roth erschienene Sammlung von Plaudereien, Skizzen, Briefen und Lebensbildern aus dem Frauenleben, deren Inhalt für junge Frauen in unterhaltender Form viele gute Ratschläge giebt. Nicht nur für den Herd im eigentlichen Sinne, sondern für alle Schwierigkeiten des modernen Haushalts, wo die stilvolle Einrichtung so oft außer Verhältnis zu den kleinen Mitteln steht und wo ein ungeschultes Mädchen für alles um geringen Lohn perfekte Dienste leisten soll. Das hübsche Büchlein weist in reichhaltigen Kapiteln über der Geselligkeit gebrachte Opfer, Dienstbotenangelegenheiten, schriftstellernde Frauen, praktische und unpraktische Naturen, Detailfragen der Küche und Flickstube, Sparsamkeit und wirtschaftliche Einteilung etc. immer wieder auf das eine, was not thut: die zielbewußte organisierende Thätigkeit der gebildeten Hausfrau, hin. Wenn sich in einem Schlußkapitel noch der Blick über die eigenen Wände hinaus nach der sozialen Hilfsthätigkeit richtete, welche sich ja sehr wohl auch mit der gewissenhaftesten Hausthätigkeit vereinigen läßt, so würde das Büchlein sich durch eine neue Seite aus der Reihe ähnlich verdienstvoller Schriften herausheben. Vielleicht finden wir dieses Kapitel künftig in einer zweiten Auflage! Einstweilen empfehlen wir es gerne unseren Leserinnen.

Das Land der Haselnüsse könnte man die türkischen Uferlandschaften des Schwarzen Meeres rings um die alte Stadt Trapezunt nennen. Dort ist die Haselnuß eine der wichtigsten Früchte und ihre Kultur ernährt zahlreiche Menschen. Das beweist die Statistik. Der Wert der alljährlich von dem Hafen von Trapezunt ausgeführten Haselnüsse beträgt im Durchschnitt fast zwei Millionen Mark! Im Jahre 1891 wurden dort allein 17½ Millionen Kilo entschälter Haselnußkerne verfrachtet und zumeist nach den westlichen Häfen des Mittelmeers versendet. Die Kultur der Haselnuß findet gegenwärtig auch in Deutschland größere Beachtung. Der Strauch liefert in fünf bis sechs Jahren sehr gute Erträge.

[532 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: feinsinnniger