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Der Sachsenspiegel und Burg Falkenstein

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Textdaten
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Autor: Gustav Stephani
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Titel: Der Sachsenspiegel und Burg Falkenstein
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 139–141
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Sachsenspiegel und Burg Falkenstein.

Von Gustav Stephani.
Mit drei Ansichten nach Photographien von Fr. Rose in Wernigerode.

Am 26. Oktober vorigen Jahres ist in Leipzig das neue Reichsgerichtsgebäude eingeweiht und damit dem obersten Gerichtshofe des Deutschen Reiches, in welchem die einheitliche Rechtsprechung des wieder geeinten Vaterlandes gleichsam verkörpert ist, ein würdiges Heim geboten worden. Die Einweihung des neuen Reichsgerichtshauses war, da ja das Reichsgericht selbst bereits seit Gründung des Reiches besteht, allerdings ein Akt von mehr äußerlicher Bedeutung und wird irgend welche Veränderung der Rechtsorganisation nicht nach sich ziehen.

Anders steht es mit einem Teile der neuen Reichsgesetzgebung, dem „Bürgerlichen Gesetzbuche für das Deutsche Reich“, dessen Entwurf dem Reichstage in der gegenwärtigen Tagung zur Beschlußfassung vorgelegt worden ist. Das Bürgerliche Gesetzbuch, an dessen Zusammenstellung seit dem 17. September 1874 von zwei besonders dazu berufenen Kommissionen gearbeitet wurde, soll dem schon geschaffenen einheitlichen Civilprozeß, Strafprozeß und Strafgesetzbuche ergänzend zur Seite treten und die letzte noch vorhandene Rechtsverschiedenheit beseitigen. Das ist eine Hoffnung, welche unser Volk auf das neue Bürgerliche Gesetzbuch setzt. Und noch eine zweite Hoffnung gesellt sich zu dieser ersten. Es ist eine alte, allerdings meist nur von „Laien“ angestimmte Klage, daß die in unserem bisherigen bürgerlichen Rechte stark vertretenen römischen Rechtsbegriffe unserem deutschen Rechtsbewußtsein nicht entsprächen und daß diesem letzteren dem römischen Rechte gegenüber zu seiner ihm gebührenden Stellung verholfen werden müsse. Die bevorstehende Ergänzung des Reichsgesetzes, erwartet man, werde in dieser Hinsicht einen Wandel zum Besseren bringen.

Die Mängel, welche dem bisherigen Rechtsbestande anhafteten und deren Abstellung durch den völligen Ausbau des Reichsgesetzes herbeigeführt werden soll, haben zumeist in dem geschichtlichen Entwicklungsgange, den das Recht in deutschen Landen genommen hat, ihren Grund. In Deutschland haben sich erst verhältnismäßig sehr spät feste Rechtsnormen von allgemeinerer Gültigkeit ausgeprägt. Seit Karls des Großen Tagen gab es zwar eine Reichsgesetzgebung, aber dieselbe berücksichtigte nur die großen Interessen des Reiches und hatte zudem in den Sonderinteressen der Reichsfürsten einen stetigen Hemmschuh ihrer Wirksamkeit. Ein Landrecht von allgemeiner Gültigkeit gab es bis zur Hohenstaufenzeit überhaupt nicht und die Rechtsprechung der einzelnen Provinzen, Städte und adligen Gerichtsherren war unter sich höchst verschieden, fußte sie doch zum größten Teile auf dem ungeschriebenen Gewohnheitsrechte, wie sich dieses von den Vätern her durch die Jahrhunderte hin vererbt hatte.

Das erste Rechtsbuch, welches das Landrecht festlegte und im Laufe eines halben Jahrhunderts zu der weitestreichenden Bedeutung gelangte, war der „Sachsenspiegel“. Heute, da das Riesenwerk der Reichsgesetzgebung des neugeeinten Vaterlandes seiner endgültigen Vollendung entgegengeht, ist es von besonderem Interesse, sich des ersten Anfanges zu erinnern, den das bürgerliche Recht in Deutschland genommen hat.

Es war im Anfang des 13. Jahrhunderts, in den ersten Regierungsjahren Kaiser Friedrichs II., der fernab vom Reiche in Unteritalien in einer halb italienischen, halb sarazenischen Umgebung, dem deutschen Wesen gänzlich entfremdet, residierte, als in Deutschland die Rechtsanarchie zur unerträglichen Höhe stieg und die Sehnsucht nach geordneten Rechtsverhältnissen in allen edleren Geistern wach wurde. Damals beauftragte der Graf und Gerichtsherr Hoyer von Falkenstein [140] den Eyke von Repkow, einen rechtsgelehrten Schöffen, mit der Zusammenstellung aller derzeit in Sachsen gültigen, geschriebenen und ungeschriebenen gesetzlichen Bestimmungen. Eyke von Repkow entsprach dem Ansinnen des Grafen von Falkenstein und schrieb unter Weglassung der vielgestaltigen Hof- und Stadtrechte zunächst in lateinischer Sprache das Sächsische Land- und Lehnrecht. Späterhin, 1230, abermals auf Veranlassung des Falkensteiners, übertrug er den lateinischen Grundtext seiner Arbeit in der Absicht, derselben eine größere Verbreitung zu sichern, ins Niederdeutsche und nannte sein Buch den „Sachsenspiegel“, unter welcher Bezeichnung dieses älteste deutsche Rechtshandbuch bis auf den heutigen Tag bekannt ist.

Der Burghof des Falkenstein.

Der Sachsenspiegel, obwohl, wie aus dem Gesagten ersichtlich ist, ursprünglich nicht viel anderes als die Privatarbeit eines Rechtsgelehrten, hat dennoch im Laufe der Zeiten das Ansehen eines offiziellen Gesetzbuches erlangt. Noch vor Ablauf des 13. Jahrhunderts hatte der Sachsenspiegel nicht nur in Mittel- und Süddeutschland, sondern auch in Norddeutschland Anerkennung gewonnen und auf die bedeutendsten Rechtsbücher des Mittelalters, vor allem auf den 1257 zu Augsburg verfaßten „Deutschenspiegel“ und den 1275 vollendeten „Schwabenspiegel“ und andere mehr, einen derartigen Einfluß geübt, daß diese Sammlungen nur wie nachgeborene Geschwister ihres älteren Bruders erscheinen.

Es ist kein Zufall gewesen, daß Eyke von Repkows Werk eine so schnelle und weite Verbreitung fand. Der Sachsenspiegel entsprach dem dringendsten Bedürfnisse der Zeit, welche sich nach einem klaren, übersichtlichen Rechte sehnte, und besaß zudem den höchsten Vorzug, der einem Gesetzbuche eignen kann, die Volkstümlichkeit. Wer den Sachsenspiegel las, mußte die Empfindung haben, daß sein Verfasser die Rechtsgedanken des Volkes gesammelt habe und daß er der Mund gewesen sei, durch welchen sich das deutsche Rechtsbewußtsein hatte hören lassen. In der That mag es wohl kaum ein zweites Gesetzbuch geben, aus welchem der deutsche Geist so herzinnig und urkräftig uns anweht, als dieses Buch des sächsischen Schöffen.

Eyke umgiebt den trockenen Buchstaben des Gesetzes sogar mit dem Schimmer der Poesie und läßt seinen Gesetzesparagraphen eine Vorrede von 280 Versen vorausgehen, in welcher er sich über den Zweck des Buches und seinen persönlichen Anteil daran ausläßt, um am Schlusse seinem vornehmen Auftraggeber die Ehre der intellektuellen Urheberschaft zuzuweisen. Sein Beginnen stellt er unter den Schutz Gottes, daß er ihm zur Ehre und der Welt zum Frommen sein Werk vollbringe, und bittet:

„Des heiligen geistes minne
Di sterke al mine sinne,
Daz ich recht unde unrecht der dütschen lute
nach gotis hulden muz bidute
unde nach der werlde vrumen.“

Inneres der Burgkapelle.

Mit jedem weiteren Blatte des Sachsenspiegels enthüllt sich uns immer sympathischer die liebenswürdige und kernige Gestalt seines Verfassers, der herzliche Bescheidenheit mit männlicher Festigkeit zu verbinden wußte und, gut kaiserlich gesonnen, keine Beschränkung des kaiserlichen Ansehens durch kirchliche Uebergriffe dulden wollte. Bei solcher Stellung des Mannes kann es uns dann freilich nicht wunder nehmen, daß der päpstliche Unwille, welcher über Friedrich II. den Bann aussprach, auch Eyke nicht erspart geblieben ist, wenigstens nicht seinem Werke. Im Jahre 1374 erklärte Gregor XI. vierzehn Artikel des Sachsenspiegels als ketzerisch. Trotzdem haben sich über 200 Handschriften des Sachsenspiegels erhalten, darunter vier kulturhistorisch außerordentlich wichtige Bilderhandschriften und vor allem das auf Burg Falkenstein geschriebene Originalmanuskript Eykes selbst.

Und wie ein günstiges Geschick die altehrwürdige Handschrift Eykes vor dem Untergange bewahrt hat, so hat auch ein gleich günstiger Stern über der Stätte gestanden, da sie verfaßt ward. Burg Falkenstein, obwohl mannigfach verändert, befindet sich doch heute noch in einem bewohnbaren Zustande.

Der Falkenstein, unweit von Ballenstedt am rechten Selkeufer auf steilem Bergkegel gelegen, gehört zu den ältesten Burganlagen Deutschlands überhaupt und dürfte, abgesehen von der Wartburg, die besterhaltene Burg Mitteldeutschlands aus frühmittelalterlicher Zeit sein. Am Ausgange des 11. Jahrhunderts, als Kaiser Heinrich IV. seine blutigen Kämpfe gegen die aufrührerischen Sachsen ausfocht, wurde der Falkenstein erbaut. Aus jener frühen Zeit stammen wohl nur wenige Teile der heutigen Burg, ihre Hauptmasse ist bestimmt um einige Jahrhunderte jünger und der Turm wurde, wie das an seiner Haube zu ersehen ist, in seiner jetzigen Gestalt am Schlusse des 16. Jahrhunderts erbaut.

Beim Gasthause „Zum Falken“, am Ausgange des Selkethales, biegt von der Landstraße der Weg ab, der steil ansteigend [141] in halbstündiger Wanderung nach der Burg führt. Ein nebeliger Frühherbsttag war es, als ich diesen Weg ging. Im Selkethale lagerte dichter Nebel und wie bleifarbene Wettermantel hingen die Wolkenmassen an den Hängen der Berge. Von den Blättern der alten Buchen, welche den Burgberg vom Fuß bis zum Gipfel umschatten, rieselten große Tropfen und sammelten sich zu Rinnsalen, welche den Pfad zerklüfteten. Auf halbem Weg, zerborsten, dem Einsturze nahe, steht ein steinernes Muttergotteshäuschen. Seine Nische ist leer. Eine räuberische Hand hat das Madonnenbild entfernt und längst wird hier kein Kerzlein mehr geopfert, nur die ersterbende Natur hat wie alle Jahre, so auch heuer, einige falbe Blätter als Abschiedsgruß in die leere Nische gestreut. Bald war auch der letzte Anstieg überwunden und fast wider Vermuten sah ich mich vor der Burg.


Die Burg Falkenstein.


Der Graben ist längst ausgefüllt und von den Außenwerken stehen nur noch verwitterte Reste. Durch einen überbauten Gang gelangt man auf den Burghof, ein winzig Flecklein Erde, von den mehrstöckigen Burggebäuden im Dreieck umschlossen (vergl. Abbildung S. 140). Der Palas ist in Fachwerk aufgeführt wie die ältesten Teile der Wartburg und macht mit seinen überragenden Stockwerken und bleigefaßten Butzenscheibenfenstern einen fast düsteren Eindruck. Das Brunnenhäuschen in seiner Mitte, von Haselnußgesträuch anmutig umrahmt, nimmt sich aus wie ein grünumranktes Bildlein in breitem, dunklem Eichenrahmen und mildert gar trefflich den düsteren Eindruck des beschränkten Raumes. Still und tot ist es auf dem Hofe, wie in einem verwunschenen Schlosse. Die Zeiten, da draußen auf dem Zwinger die Sehne der Armbrust klang, wenn die Knappen Arm und Auge übten, und die Rüden anschlugen, wenn der Burgherr zum Pirschgang gerüstet unters Thor trat, sind vorüber. Im Stalle stampft kein Roß das Pflaster in brennender Ungeduld nach dem Herrn, um ihn zum fröhlichen Turnier oder zum bitteren Streit zu tragen. Roß und Reiter sind längst schlafen gegangen; nur ein greises Ehepaar bewohnt noch den Sitz des alten Dynastengeschlechtes, dem jetzigen Schloßherrn das Haus bewahrend und dem Wandersmann die Pforte öffnend.

An der Seite des Pförtners durchwanderte ich das Burginnere. Bis auf die kleine etwas düstere und unfreundliche Burgkapelle (vergl. Abbildung S. 140), in welcher Luther gepredigt haben soll, sind sämtliche Räume der Burg hell und licht und präsentieren sich in unberührter Ursprünglichkeit. Der jetzige Burgherr hat außerdem noch das Seine gethan, diesen Eindruck zu mehren. Hellebarden, Zweihänder und Kettenpanzer gemahnen an die Tage einstiger Ritterherrlichkeit und Saufedern nebst Fangzeug an die Zeit tiefsten Bauernelends. Schmale, halsbrecherische Vorräume vermitteln den Zugang in die Zimmer und enge, winklige Wendeltreppen den Aufstieg in die oberen Stockwerke. Es ist hier alles noch so, wie es zu der Urväter Zeiten gewesen ist.

Und von alten, längstvergangenen Tagen weiß auch mein Führer zu berichten. Er ist ein gelehriger Schüler der Frau Saga, dem sich gut zuhören läßt Gern hätte ich seinen interessanten Erzählungen noch länger gelauscht, doch die Zeit drängte; der Tag ging zur Rüste und ich konnte sie nicht alle hören, die Märlein und Sagen, die wie ein immergrüner Kranz des Falkensteins Mauerstirne umsäumen. Mit dem Wunsche, daß der Schicksalsbecher, an welchen nach des Alten Bericht das Geschick derer von Asseburg und des Falkensteins geknüpft sein soll, noch lange unzerbrochen bleiben möchte, schied ich von dem Braven und seinem Heim.

Draußen dunkelte es bereits, aber der Himmel hatte sich aufgeklärt und die Sterne leuchteten über dem Walde. Beim Abstieg mußte ich an Eyke von Repkow denken, der dort, daher ich eben kam, geweilt, gesonnen, geformt, gedichtet und gebetet hat. Größer als vorher erschien mir seine Person und sein Werk. Ein heller Schein leuchtete auf einer Sekunde Bruchteil durch das dichte Laubdach und das Wort kam mir in den Sinn, welches Goethe seinem Freunde Schiller ins Grab nachgerufen und das wohl jedem Manne, der seinem Volke in dunkler Zeit ein leuchtend Gestirn gewesen, als Grabschrift gesetzt werden könnte:

„Er glänzt uns vor, wie ein Komet entschwindend,
Unendlich Licht mit seinem Licht verbindend.“