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Die Gartenlaube (1896)/Heft 22

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[357]

Nr. 22.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (21. Fortsetzung.)

In der Veranda des Seehotels, die sich an die Terrasse anschloß, standen Sonneck und Elsa im Gespräch mit einem Manne in Schiffertracht. Es mußte wohl irgend etwas Besonderes sein, was sie hier draußen in der halboffenen Halle festhielt, wo Wind und Regen hereinschlugen. Die junge Frau hatte zum Schutze dagegen ihr Plaid umgeworfen und sie blieb an der Seite ihres Gatten, der mit besorgter Miene unverwandt durch das Fernglas blickte.

Der See bot jetzt ein Bild entfesselter Wildheit, der Sturm wühlte ihn auf in all seinen Tiefen. Die Bergeskette drüben war völlig unsichtbar geworden, und die nahen Villen und Ortschaften lagen kaum erkennbar im Regenschleier. Unaufhörlich stürmten die Wogen gegen die hochgelegene Terrasse, schlugen über die Brüstung und zerrannen zischend auf den Steinfliesen.

„Sie müssen die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt haben,“ sagte Sonneck soeben, „oder sie hofften, die Rückfahrt noch erzwingen zu können. Glauben Sie wirklich, daß es das Boot des Mister Hartley ist?“

Der Mann, an den die letzten Worte gerichtet waren, nickte bestätigend. Es war der Schiffsmeister, der die Aufsicht über die Boote führte, die an der Landungsstelle für die Ausflüge der Fremden bereit lagen.

„Es ist das Boot von Malsburg, ich kenn’ es gut. Vor zwei Stunden erst ist es hier vorbeigesegelt, ehe das Wetter heraufkam.“

„Er hat recht,“ sagte Lothar, indem er seiner Frau das Fernglas reichte. „Ich sehe die englische Flagge am Mast. Das Schiff kämpft furchtbar mit den Wellen, es versucht, ans Land zu kommen, wird aber immer wieder zurückgeworfen.“

„Die kommen überhaupt nicht mehr an Land, die sind zu weit draußen,“ erklärte der Schiffer mit voller Bestimmtheit. „Das Steuer muß ihnen gebrochen sein, denn sie halten ja gar keine Richtung mehr ein.“

„Aber läßt sich denn da keine Hilfe bringen?“ fragte Elsa, der das Fernglas jetzt auch die Gefahr des Schiffes zeigte. „Es muß doch möglich sein!“

„Nein, gnädige Frau, das ist nicht möglich. Sie sehen es ja, nicht einmal der Dampfer wagt sich hinaus. Der liegt fest am Ufer und rührt sich nicht, und ein kleines Boot – ich möchte den sehen, der sein Leben damit wagte, ich thät’ es nicht.“

„Es würde auch nichts nützen,“ meinte Sonneck kopfschüttelnd. „Das englische Boot ist jedenfalls fester gebaut und hält mehr aus als die kleinen Fahrzeuge da unten. Sie haben es vorhin gesehen, als es vorübersegelte? Wer war darin?“

„Der Besitzer von Malsburg war es und der englische Lord, der jetzt bei ihm ist. Ich kenne sie alle beide, sie sind ja täglich auf dem See, sind auch tüchtige Segler, aber das hilft ihnen nichts bei solchem Wetter.“

Ilse.
Nach einem Gemälde von H. Schmiechen.
Photographie im Verlag der Photographischen Union in München.

[358] Das Wetter wurde in der That immer schlimmer, aber die Not des Schiffes, des einzigen, das sich jetzt noch auf dem See befand, war nicht unbemerkt geblieben. Der Kapitän des Dampfers stand mit der ganzen Bemannung auf Deck und am Ufer drängte sich, trotz des strömenden Regens, eine Menge von Leuten zusammen, meist Schiffer, die die Fahrzeuge, welche sonst unten am Strande lagen, höher hinaufgezogen und vor der anstürmenden Flut geborgen hatten. Man rief und schrie einander zu und aller Augen waren auf das gefährdete Boot gerichtet; aber niemand traf Anstalt zu einer Hilfe, die nicht möglich zu sein schien.

Da trat Ehrwald ein, der seinen Freund in dessen Zimmer gesucht hatte und offenbar überrascht war, ihn hier zu finden, wo man kaum vor dem Wetter geschützt war. Sonneck wandte sich rasch zu ihm.

„Du kommst von Zenaide? Sie ließ Dich ja rufen; hast Du endlich erfahren, was in Malsburg vorgefallen ist?“

„Ja, ich werde es Dir später erzählen,“ entgegnete Reinhart ausweichend, während er langsam näher trat.

„Und wie geht es Zenaide?“ fragte Elsa besorgt. „Jetzt endlich darf ich doch zu ihr? Ich will sofort –“

„Bleiben Sie, gnädige Frau, ich bitte darum,“ unterbrach sie Reinhart. „Lady Marwood ist sehr angegriffen und ich glaube, in ihrer jetzigen Stimmung ist das Alleinsein eine Notwendigkeit für sie.“

Er dachte an das Geständnis, das er vorhin ausgesprochen und wie Zenaide es aufgenommen hatte; jetzt wenigstens mußte ihr der Anblick Elsas erspart bleiben! Die junge Frau sah betroffen und enttäuscht aus, aber ihr Gatte hielt sie gleichfalls zurück.

„Bleib’, Elsa, wir müssen erst abwarten, was die nächste Stunde bringt, sie kann alles ändern. Siehst Du das Boot da draußen, Reinhart?“

„Ein Boot auf dem See, bei diesem Sturme? Nun, dem gnade Gott!“ rief Ehrwald. „Ganz recht, ich sehe es deutlich, es scheint in der äußersten Gefahr zu sein.“

„Jawohl, es ist das Malsburger Schiff und Marwood und Hartley sind darin, da ist kein Zweifel mehr.“

In äußerster Betroffenheit nahm Ehrwald das Fernglas, das der Freund ihm reichte, und gab es nach einigen Minuten schweigend zurück. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich und in ihren Zügen stand der gleiche Gedanke. Das konnte freilich alles ändern, das Schicksal selbst schien hier einzugreifen; aber so sehr die beiden auch gegen Marwood eingenommen waren, in diesem Augenblick war er ihnen doch nur ein Mensch, der da draußen mit den Wogen um sein Leben kämpfte. Elsa blickte stumm und angstvoll hinaus, während die beiden Herren halblaute Bemerkungen austauschten und der Schiffsmeister hin und wieder eine Erläuterung dazu gab.

„Das Wetter muß doch endlich ein Ende nehmen,“ sagte Sonneck, „vielleicht halten sie es so lange aus.“

„Vielleicht! Ich glaub’s nicht,“ brummte der Schiffer. „Es ist ja ein Unwetter, wie wir es seit Jahren nicht erlebt haben, und was der See da hat, das giebt er nicht wieder her.“

„Hoffentlich sind die beiden Engländer als Sportsleute auch gute Schwimmer,“ warf Ehrwald hin. „Das bleibt ihre einzige Rettung, wenn das Boot kentert, und das steht jeden Augenblick zu befürchten.“

Der Schiffsmeister zuckte die Achseln.

„Nun, viel hilft ihnen das auch nicht bei dem Wellengang, wenn keine Hilfe in der Nähe ist, und dann haben sie ja auch das Kind bei sich.“

Die drei Zuhörer wandten sich gleichzeitig mit einem Ausruf des Schreckens um.

„Das Kind? – Um Gotteswillen! Der Knabe ist mit im Boote?“

„Jawohl, der kleine Lord. Ich sah ihn deutlich, als sie hier vorüberkamen, er saß neben seinem Vater am Steuer.“ Der Schiffer unterbrach sich plötzlich, legte die Hand über die Angen und lugte scharf hinaus.

„Da bricht der Mast und reißt das ganze Takelwerk mit herunter! Wenn’s nur wenigstens über Bord geht! Sonst legt sich das Schiff auf die Seite und dann ist’s aus.“

Die Herren überzeugten sich bald genug, daß der Mann recht hatte. Elsa blickte zu den Fenstern empor.

„Wenn Zenaide das wüßte! Sie hat keine Ahnung von der Gefahr, in der ihr Kind schwebt.“

„Sie darf auch nichts davon erfahren,“ fiel Sonneck ein.

„Die Angst wenigstens muß ihr erspart bleiben. Zum Glück ist sie in ihrem Zimmer eingeschlossen und sieht und hört nichts von dem, was draußen vorgeht. Komm, Elsa, Du wirst hier ja ganz durchnäßt, der Wind treibt den Regen gerade herein. Drüben ist es trocken und Du hast auch dort den ganzen Ueberblick.“

Er führte sie nach der anderen Seite der Veranda, die allerdings geschützter war, und kehrte nach Verlauf von einigen Minuten zu Ehrwald zurück. Dieser hatte vorhin keine Silbe gesprochen und verhandelte jetzt leise und angelegentlich mit dem Schiffsmeister, der sah ihn jedoch mit dem Ausdruck des vollsten Entsetzens an und sagte halblaut: „Nein, Herr! Bieten Sie mir, was Sie wollen, aber das thu’ ich nicht. Das heißt ja Gott versuchen!“

„Was giebt es? Was hast Du vor?“ fragte Lothar, der eben herantrat und die Worte hörte.

„Ich will hinaus!“ sagte Reinhart kurz, indem er auf den See wies.

„Bei diesem Sturme? Ich bitte Dich, das ist ja heller Wahnsinn!“

„Das habe ich dem Herrn auch gesagt,“ fiel der Schiffer ein, „aber der Herr will ja nicht hören, er will mitten hinein in das Höllemwetter.“

„Nimm Vernunft an, Reinhart,“ mahnte Sonneck. „Es geht nicht. Wenn das große feste Boot es nicht aushält, werden die kleinen Nußschalen da unten zerschmettert von den Wellen, und Dein Leben ist denn doch mehr wert als das eines Marwood.“

„Marwood mag sich selbst helfen, wenn er kann, aber Du hörst es ja, das Kind ist im Boote, Zenaidens einziger Sohn, und der muß ihr gerettet werden, es muß wenigstens versucht werden. – Sie wollen also nicht mit?“ wandte er sich an den Schiffer. „Nun, so schaffen Sie mir einen Ihrer Kameraden her! Er soll fordern, was er will, ich zahle es ihm.“

Der Mann sah ihn noch immer an, als zweifelte er an seinem gesunden Verstande.

„Das glaube ich schon,“ entgegnete er endlich, „aber Sie finden doch keinen, da ist das Fragen ganz umsonst! Und wenn Sie den Leuten eine Tonne Goldes böten, ihr Leben ist ihnen doch lieber und das ist hin, wenn sie jetzt hinausfahren, wir kennen unsern See.“

Ehrwald stampfte in aufbrechender Heftigkeit mit dem Fuße.

„Nun denn, so fahre ich allein! Lassen Sie ein Boot fertig machen, das beste und stärkste von denen da unten, aber schnell, schnell! Es ist die höchste Zeit!“

Der Schiffer schüttelte den Kopf, aber er gehorchte und ging zu den Booten hinunter.

„Du siehst, es findet sich keiner,“ sagte Lothar ernst, „und man kann es den Leuten nicht verdenken, denn es geht um das Leben bei solcher Fahrt. Bleib, Reinhart! Du allein hältst das Boot nicht bei dem Sturme, kannst es nicht halten, das geht über Menschenkräfte. Willst Du Dich denn nutzlos aufopfern?“

Reinhart machte eine Bewegung der äußersten Ungeduld.

„Predige mir jetzt nicht Vernunft, ich kann nicht darauf hören! Ich habe ja so oft schon erzwungen, was anderen unmöglich schien, vielleicht glückt es auch diesmal und bei Zenaide habe ich noch eine alte Schuld einzulösen. Sie soll jetzt bezahlt werden, und wenn es mit meinem Leben ist. Ich muß fort. Leb’ wohl!“

Er wollte gehen, aber Sonneck legte die Hand auf seinen Arm und hielt ihn zurück.

„Nun denn, wenn es durchaus nicht anders geht – so nimm mich mit!“

Ehrwald blieb stehen und blickte ihn betroffen an.

„Dich, Lothar? Nein, nein, das nicht!“

„Weshalb nicht? Wir sind ja so oft zusammen in die Gefahr gegangen und haben sie Seite an Seite bestanden, wir thun das heute noch einmal.“

„Aber Du bist noch nicht völlig genesen, Du hast nicht mehr die alte Kraft und dann – Deine junge Frau!“

Sonneck richtete sich empor und sein ganzes Wesen schien aufzuflammen in der einstigen Energie.

„Meine Elsa soll sehen, daß sie keinen bloßen Siechling zum Manne hat, und für eine Stunde wird die alte Kraft wohl [359] noch ausreichen. Keine Einwendung, Reinhart! Einer ist verloren bei solcher Fahrt, zwei haben wenigstens die Möglichkeit des Gelingens, also muß ich der Zweite sein.“

Ehrwald zögerte noch einen Augenblick, dann streckte er ihm die Hand hin. „Nun, wenn Du willst – ich lasse das Boot fertig machen.“

„Ich folge Dir sogleich, ich will nur noch meiner Frau Lebewohl sagen. Geh voran!“

Sie wechselten noch einen kurzen festen Händedruck, dann eilte Reinhart nach dem Landungsplatz hinunter und Lothar ging zu seiner Frau, die ihm entgegenkam und hastig fragte: „Nun, wie steht es? Glaubt Ihr, daß das Boot verloren ist?“

„Noch nicht,“ erwiderte er ruhig. „Man wird versuchen, ihm zu Hilfe zu kommen.“

Elsa erbleichte, sie hatte vorhin den Händedruck gesehen, den die beiden Männer tauschten, jetzt erblickte sie Ehrwald unten bei den Booten und verstand nun alles.

„Lothar, Du willst –?“

„Ja, es giebt kein andres Mittel. Sei mutig, Kind! Es ist ja nicht die erste Gefahr, die ich bestehe – Elsa, ängstigst Du Dich so um mich?“

Die letzten Worte klangen in stürmisch aufwogender Freude. Er sah die Todesangst in dem Gesicht seines jungen Weibes und die mußte ihm doch gelten, ihm allein, er hatte ja gar nicht von einem Gefährten gesprochen. Elsas Auge irrte über die tobende schäumende Flut und kehrte dann zu dem Landungsplatze zurück, wo man eben das Boot herabzog an den Strand. Sie machte keinen Versuch, ihren Gatten zurückzuhalten, aber ihre Stimme klang halb erstickt, als sie fragte: „Lothar – muß es sein?“

„Ja, es muß sein!“ entgegnete er ernst. „Es gilt drei Menschenleben. Reinhart wollte es allein unternehmen, aber das ist unmöglich, also gehe ich mit ihm, und meine Elsa wird nun zeigen, daß sie die Frau eines Weltfahrers ist, und nicht mehr bangen, als nötig ist. Versprich mir das!“

Er schloß sie in die Arme; eine Gefahr bedeutete allerdings nicht viel für Lothar Sonneck, aber als er jetzt seine junge Gattin zum Abschied küßte, wurden ihm doch die Augen feucht, er riß sich schnell los.

„Leb’ wohl – sei tapfer, meine Elsa! – Auf Wiedersehen!“

Inzwischen stand Ehrwald unten bei den Booten, umgeben von den Schiffern und einer Menge von Leuten, die herbeigeeilt waren, als sie hörten, um was es sich handelte, und nun mit Warnungen und Abmahnungen auf ihn eindrangen. Es war ja die bare Tollheit, jetzt hinauszufahren auf den tobenden See. Keiner von ihnen hätte das gewagt, und sie verstanden doch ihr Handwerk, und nun wollte es der fremde Herr wagen! Das Boot da draußen war verloren, das stand fest, und ein kleines Schiff, das ihm zu Hilfe kommen wollte, war es erst recht!

Der Herr solle doch Vernunft annehmen und nicht blindlings in das Verderben gehen, das dürfe man ja gar nicht zulassen!

Reinhart hörte das alles ruhig mit an, während er die Instandsetzung des Bootes überwachte, und zuckte höchstens von Zeit zu Zeit die Achseln. Als jedoch der Schiffsmeister sagte: „So, jetzt wären wir fertig. Aber ich sage es Ihnen noch einmal, Herr, lassen Sie es bleiben, Sie kommen nicht lebendig zurück“ – da fuhr er auf: „Hört endlich auf mit eurem Geschwätz und laßt mich in Ruhe! Wenn euch euer bißchen Leben so kostbar ist, ich habe es wohl schon um Geringeres in die Schanze geschlagen. Wir haben die Stromschnellen des Kongo gezwungen, da werden wir wohl auch euren See noch meistern. – Ist das Steuer in Ordnung? – Gut!“

Die Leute schwiegen ganz verdutzt und schauten den fremden Mann an, der so verächtlich von dem Leben sprach und ihren See meistern wollte, aber er imponierte ihnen doch, und sie wagten keine Einwendung mehr.

„Das Segel auf!“ befahl Ehrwald. „Es wird zwar nicht lange halten bei dem Sturme, aber es muß uns helfen, schnell vorwärts zu kommen, sonst wird es zu spät. Und nun vorwärts!“ schloß er, den heraneilenden Lothar schweigend begrüßend.

Er sprang in das Boot, Sonneck folgte ihm auf dem Fuße. Die Blicke der beiden Männer flogen noch einmal zurück und mit ihnen ein letzter Gruß zu der jungen blonden Frau, die dort oben stand; dann hieß es, Auge und Sinn von allem anderen losreißen und nur auf die Fahrt richten. Das Boot war kaum abgestoßen, da erfaßten es auch schon die Wellen und rissen es hinaus. Es erschien plötzlich hoch oben auf dem Wogenkamme und glitt dann wieder hinab in die Tiefe, das Segel blähte sich und flatterte im Sturme, und als habe er es auf seine Schwingen genommen, so schoß das kleine Fahrzeug dahin.

Elsa stand noch am Ausgange der Veranda, weit vorgebeugt. Sie weinte nicht und regte sich kaum. Ihr war es nun einmal nicht gegeben, wie Zenaide Schmerz und Qual in leidenschaftlichen Ausbrüchen auszuströmen, aber sie litt vielleicht mehr unter dieser stummen Todesangst, die sich nicht einmal in Thränen Luft machen konnte. Nur ihre Augen waren mit einem unsagbaren Ausdruck auf das gebrechliche kleine Fahrzeug gerichtet, das ihren Gatten hinaustrug auf die tobende Flut, ihn – und noch einen andern!

Der Regen hatte für den Augenblick aufgehört, so daß es klarer wurde; man sah es jetzt auch mit bloßem Auge, daß das Boot da draußen wie ein Ball umhergeschleudert wurde, von einem Lenken, einer Richtung war keine Rede mehr und der Sturm schien an Heftigkeit noch zuzunehmen. Immer höher schlugen die Wellen über das Ufer, der See selbst war nur noch eine wild gärende Masse von dunkler Flut und spritzendem weißen Gischt und darüber hing schwarzgraues Gewölk, aus dem Blitz auf Blitz niederzuckte, während der Donner rollend in hundertfachem Echo von den Bergen zurückkam. Die ganze Natur war im Aufruhr.

Das kleine Schiff hielt doch besser aus, als man gedacht hatte. Wie ein Sturmvogel schoß es durch die schäumenden Wellen, verschwand in ihnen und kam immer wieder zum Vorschein, und immer näher kam es dem gefährdeten Boote, das schon fast ganz auf der Seite lag. Die Insassen bemühten sich offenbar, es von den Trümmern des Mastes und des Takelwerkes zu befreien, die es in die Tiefe zu ziehen drohten. Das gelang ihnen auch endlich; doch die Gewalt des Stoßes, mit der die ganze Masse über Bord ging, wurde verhängnisvoll. Man sah auf einmal nur hochaufspritzenden Schaum und dann nichts mehr an der Stelle, wo eben noch das Boot sichtbar gewesen war. Als es nach einigen Minuten wieder auftauchte, trieb es – den Kiel nach oben – dahin.

Da war aber auch schon das kleine Schiff herangekommen und einer von den beiden Männern, die es führten, stand oben auf der Ruderbank. Es war der größere, der jüngere, er hatte den Rock abgeworfen und stürzte sich nun plötzlich mitten hinein in das Flutgebraus. Da entlud sich wieder das tief niederhängende Regengewölk mit voller Macht und in den stürzenden Wassermassen und dem jagenden Nebel verschwand für die Augen der bang am Ufer Harrenden alles andere. – – –

Als Lady Marwood durch eine Seitenthür das Hans verließ, war das Unwetter teilweise vorüber. Der Regen hatte nachgelassen, der Donner grollte fern und dumpf und durch das sich lichtende Gewölk zuckte nur noch hin und wieder ein Blitz. Aber der See tobte noch mit derselben Wildheit wie vorhin, wenn auch der Sturm bedeutend abgenommen hatte, und am Ufer befand sich eine Menge von Leuten, die hin und her liefen und einander zuschrieen. Zenaide achtete nicht darauf, es war nicht ihre Absicht gewesen, ihr Vorhaben in der Nähe des Hotels auszuführen, wo man es zu früh entdecken und dann verhindern konnte. Eine Strecke seitwärts lag ein kleines Gehölz, das sich dicht am Ufer hinzog; dort war sie sicher vor fremden Augen, und langsam wandte sie sich jener Richtung zu.

Der hochgelegene Strandweg war sonst noch eine ganze Strecke vom See entfernt, jetzt schäumte die Flut bis unmittelbar an den Rand. Wie ein Heer von sich bäumenden, zischenden Schlangen kamen die Wogen heran und stürzten sich auf alles, was sie erreichen konnten. Ein Gebüsch, das sie entwurzelt hatten, wurde in einem Augenblick hinausgerissen und verschwand in dem Strudel. Zenaidens Blick folgte ihm mit düsterer Befriedigung. Es war die rechte Stunde; ein kurzer Anlauf dort hinter den Bäumen und es war geschehen!

Da hörte sie hinter sich ihren Namen rufen, eine Frauengestalt eilte ihr nach und dann sah sie Elsa neben sich und hörte deren Stimme: „Zenaide, um Gotteswillen, wie hast Du es erfahren? Wir wollten es Dir ja verschweigen, um Dir die Angst zu ersparen! Hat ein Zufall es Dir verraten?“

Zenaide war stehen geblieben und sah sie groß und starr an. Sie verstand die Worte nicht, sie fühlte nur, daß sie aufgehalten wurde, aber in ihrem Gesichte lag etwas, was Elsa erschreckte, so daß sie beide Arme um die bleiche Frau schlang.

[360]

Gebirgswald mit Gummilianen im Togolande.
Nach einer Originalzeichnung von F. Leuschner.

[361] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [362] „So fasse Dich doch! Die Gefahr ist ja vorüber, das Boot kommt zurück und Dein Kind ist gerettet. Hast Du es denn nicht gesehen, wie Ehrwald sich ihm nachwarf in die Flut?“

Zenaide blickte sie noch immer an, als redete Elsa in einer fremden Sprache.

„Mein Kind?“ wiederholte sie mechanisch. „Percy? Wo ist er?“

„Er war ja in dem sinkenden Boote, mit seinem Vater! Hast Du denn das nicht gewußt? Mein Gott, Zenaide, was wolltest Du denn hier am Strande?“

Zenaide gab keine Antwort, aber sie fing allmählich an, zu begreifen. Percy war auf dem See gewesen in dem Sturme und in derselben Stunde, wo sie sich den Wellen zum Opfer hinwerfen wollte, hatte man ihnen ihr Kind entrissen. Das durchzuckte sie wie eine furchtbare Mahnung und brach die starre tote Ruhe, die ihr ganzes Wesen gefangen hielt. Sie fuhr empor und wandte sich mit einem Aufschrei dem Boote zu, das dort herankam.

Das kleine Fahrzeug hatte wacker ausgehalten, wenn auch sein Segel zerfetzt am Maste hing. Es hatte jetzt, wo der Wind ihm entgegenstand, schwere Mühe, vorwärts zu kommen, doch jetzt waren es drei Männer, die sich in die Arbeit teilten. Man mußte die beiden Frauen am Strande bemerkt haben; es war noch zu weit, um einen Ruf hinüberzuschicken, aber Ehrwald stand aufrecht im Boote und hielt mit beiden Armen den kleinen Percy empor, um ihn der Mutter zu zeigen.

Noch eine bange Viertelstunde verging, dann wurde den Nahenden vom Ufer ein Tau entgegengeworfen, Reinhart fing es auf und befestigte es an dem Boote, das nun rasch ans Land gezogen wurde. Sonneck saß am Steuer, auf seinem Antlitz lag eine stolze, freudige Genugthuung: die letzte Stunde hatte ihm gezeigt, daß es mit seiner Kraft doch nicht so ganz zu Ende war, sie hatte diesmal noch völlig Stich gehalten. Es war keine Kleinigkeit, das Schiff zu führen bei solcher Fahrt, jetzt brachte er es glücklich zurück und dort am Strande stand sein junges Weib und harrte seiner.

Da auf einmal erlosch der freudige Ausdruck in seinen Zügen und seine Hand glitt langsam von dem Steuer nieder. Er sah es deutlich, Elsas Augen suchten nicht ihn, sondern einen anderen, der hochaufgerichtet im Boote stand. Ihm galt der leuchtende Strahl des Glückes, der aus ihren Augen hervorbrach, ihm die Bewegung, mit der sie den Landenden entgegenstürzen wollte, um dann plötzlich wie gefesselt stehen zu bleiben, und auch sein Blick flog zu ihr hinüber, mit einem stummen und doch so leidenschaftlichen Gruße. Es war ja nur eine Sekunde, in der die Blicke der beiden sich suchten und fanden, aber sie verriet alles.

Reinhart stieg zuerst aus, mit dem kleinen Percy im Arm; er hatte ihn den Wogen entrissen, er legte ihn auch jetzt in die Arme der Mutter.

„Ich war Ihnen ein Leben schuldig, Zenaide hier ist es!“ sagte er leise. „Hier ist Ihr Kind!“

Der Knabe war noch halb betäubt vor Schreck und Todesangst. Er war so lange da draußen umhergeschleudert worden zwischen Leben und Tod; er hatte den Vater und Hartley vor seinen Augen versinken sehen, während er selbst, an das Boot geklammert, noch einige Minuten lang oben blieb; dann hatte ihn auch die Flut verschlungen und er war erst wieder in dem anderen Schiffe erwacht. Nun ging es wieder durch Sturm und Wogendrang und die schwer arbeitenden Männer hatten nicht viel Zeit, das Kind zu trösten und zu beschwichtigen, das zitternd zwischen ihnen am Boden kauerte. Auch jetzt noch floß das Wasser aus seinen Kleidern, das schwarze Haar fiel in nassen Strähnen über sein totenbleiches Gesichtchen und seine großen dunklen Augen irrten verstört umher. Erst als die Arme der Mutter den Knaben umschlangen, als er ihre heißen Küsse auf seinen eiskalten Lippen und Wangen fühlte, erst da schien es ihm zum Bewußtsein zu kommen, daß er in Sicherheit sei. Er umklammerte krampfhaft ihren Hals, schmiegte sich fest an sie, als wollte er Schutz bei ihr suchen, und rief mit einem lauten Aufweinen: „Mama! Mama!“

Ein halbunterdrückter Ausruf des Jubels brach von den Lippen Zenaidens bei dieser ersten unbewußten Regung der Zärtlichkeit; von neuem überströmte sie ihr Kind mit leidenschaftlichen Liebkosungen und richtete sich dann erst empor, um den Rettern zu danken. Da gewahrte sie Hartley, der neben Ehrwald stand, ihn allein, und da zuckte eine Ahnung der Wahrheit in ihr auf.

„Sie sind es, Mister Hartley?“ fragte sie mit stockendem Atem. „Und – und Percys Vater?“

Hartley gab keine Antwort, er sah düster zu Boden, auch Reinhart schwieg – da trat Sonneck heran. Er war sehr bleich und auf seinem Antlitz lag es wie ein schwerer Schatten, aber seine Stimme klang ruhig und fest, als er mit tiefem Ernste sagte: „Lord Marwood ist tot – Sie sind Witwe, Zenaide!“ – –




Es war Abend geworden, das Wetter hatte ausgetobt und klar und leuchtend lag der Sternenhimmel über dem See, der noch unruhig wogte, aber doch bereits in seine alten Grenzen zurückgekehrt war. In Malsburg lag das Opfer, das er gefordert hatte. Als der Sturm und damit die Gefahr vorüber war, hatte man sich aufgemacht, um die Leiche Francis Marwoods zu suchen, und sie denn auch gefunden.

Der Lord war, ebenso wie sein Freund, ein guter Schwimmer gewesen, aller Wahrscheinlichkeit nach hatte ihn bei dem plötzlichen Untergange des Bootes ein Schlag desselben oder des stürzenden Mastes getroffen und betäubt, denn er kam nicht wieder zum Vorschein, während Hartley sofort wieder auftauchte und schwimmend das andere Schiff erreichte. Ehrwald, der den kleinen Percy versinken sah, war ihm sofort nachgesprungen und hatte sich mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft zu dem Kinde hingearbeitet, das er denn auch glücklich erreichte und an Bord brachte.

Das Boot war trotz der augenscheinlichen Gefahr noch eine Weile kreuzend an der Unglücksstelle geblieben, um vielleicht dem Lord Marwood noch Hilfe zu bringen; aber dieser war und blieb verschwunden, man konnte nicht mehr zweifeln an seinem Untergang. Bei der Rückfahrt hatte sich die Wut des Sturmes bereits gebrochen, es war noch immer ein hartes Stück Arbeit gewesen, doch Hartley, der sich sofort erholte, half wacker mit. Die kühne Fahrt hatte wenigstens zwei Menschenleben dem Tode entrissen.

In den Zimmern, die Zenaide bewohnte, schimmerte noch Licht, sie wachte am Bett ihres Knaben, der, erschöpft von der ausgestandenen Angst, in den Armen der Mutter eingeschlafen war. Elsa befand sich bei ihr und Ehrwald war noch in Malsburg, wohin er die Leiche Marwoods geleitet hatte.

Am Rande jenes kleinen Gehölzes, das sich dicht am Ufer hinzog, stand Sonneck, der so spät noch einen Gang in das Freie unternommen hatte. Die letzten Stunden waren so unruhevoll gewesen. Die Sorge für das Kind, das fast erstarrt war in den nassen Kleidern, die Anstalten zur Auffindung des Toten und der Zustand Zenaidens, die furchtbar erschüttert war, als Lothar ihr den Bericht darüber brachte, hatten ihn nicht zum Nachdenken kommen lassen. Er hatte sie auch gefürchtet, diese erste Stunde ruhigen Nachdenkens, nun war sie da und nun hieß es, der Wahrheit ins Auge sehen.

Jener unselige Argwohn hatte ja schon seit Wochen in seinem Innern genagt und gewühlt, allein es war doch immer noch keine Gewißheit gewesen, und immer wieder flüsterte die Hoffnung, daß der sterbende Helmreich sich getäuscht habe, daß er gar nicht mehr bei klarer Besinnung gewesen sei, als er die Warnung aussprach; sie wurde ja durch nichts bestätigt. Da kam das Wiedersehen nach der überstandenen Todesgefahr und riß den Schleier von den Empfindungen der beiden. Lothar wußte es jetzt, wem die Liebe seines Weibes galt, und er wußte es nun auch, wen Reinhart liebte.

Ja, es war ein verhängnisvoller Irrtum gewesen, die eben erst erblühende Jugend an sein Alter zu fesseln, und das rächte sich schnell genug. Freilich, damals war Elsa ein ernstes stilles Mädchen gewesen, dessen wahre Natur wie in einem Bann gefangen lag; da erschien Reinhart, in seiner vollen stürmischen Lebens- und Jugendkraft, da wachte sie auf aus dem langen Traume und es war gekommen, was kommen mußte, die beiden waren ja geschaffen füreinander.

Was nun? Es lag keine einzige Regung von niedriger und gemeiner Eifersucht in der Seele des Mannes, der in dieser Stunde sein ganzes Glück begrub. Er wußte es ja, er hatte keinen Treubruch zu fürchten von dem Freunde oder von seinem Weibe. Reinhart ging fort, schon in den nächsten Tagen, und er kam nicht wieder, so lange noch ein Funke dieser Leidenschaft in ihm war, dessen war er sicher. Und Elsa blieb an seiner Seite als eine pflichtgetreue Gattin. Die beiden würden sich nie wiedersehen und stumm und tapfer das Elend eines ganzen Lebens tragen – um [363] seinetwillen! Sonnecks Hand krampfte sich zusammen in wildem Schmerz. Nein, nein, das nicht! Dies Bewußtsein ertrug er nicht.

Gab es denn keinen Ausweg? Eine Scheidung vielleicht? – Thorheit! Reinhart würde eher sterben, als sein Glück aus der Hand des Freundes nehmen, wenn er wußte, daß diesem das Herz darüber brach, und Elsa hing fest an ihrem katholischen Glauben. Ihr war die Ehe ein Sakrament, das kein weltlicher Richterspruch löste; das löste nur der Tod!

Lothar blickte hinab zu der dunklen wogenden Flut und dann hinauf zu den Sternen, die so klar, so friedvoll leuchteten, und halblaut wiederholte er den letzten Gedanken: „Der Tod! – Nun, wir wollen es überlegen!“

(Fortsetzung folgt.)




In der Heimat der Gummiliane.

(Zu dem Bilde auf S. 360 und 361.)

Das Elfenbein Afrikas geht zur Neige, in absehbarer Zeit wird eine wichtige Quelle des afrikanischen Handels versiegen. Aber wenn das zu Grunde geht, was jahrtausendelang das Ziel so vieler Karawanen bildete, so weiß der Mensch frühzeitig dafür Ersatz zu schaffen. In den Urwäldern Afrikas entdeckt er neue Handelsartikel und einer der wichtigsten ist der Kautschuk. Die civilisierte Welt braucht ihn weit mehr als das Elfenbein, von dem Knaben, der mit dem Gummiball spielt, bis zu dem hochgelehrten Chemiker, der mit Gummiröhren seine Retorten verbindet. Fast jeder von uns trägt etwas von Gummi tagtäglich und wenn es nur elastische Hosenträger oder das Bändchen an der Krawatte sein sollten. Wenn die Gummieinfuhr aufhören müßte, wir würden alle ihr Ausbleiben sehr schmerzlich vermissen. Und der Kautschuk hat eine Zukunft; die Industrie, die ihn verarbeitet, ist ja noch so jung im Vergleich zu anderen Gewerben.

Das elastische Gummi war unseren Vorfahren nicht bekannt. Erst im Jahre 1756 brachte der französische Akademiker La Condamine die erste Nachricht von einem seltsamen Harze nach Europa, welches die Eingeborenen am Amazonas Cachuchu nannten.

„Wenn es frisch ist,“ schrieb La Condamine, „giebt man ihm mittels gewisser Formen eine solche Gestalt wie man will. Der Regen kann durch dasselbe nicht dringen; allein dasjenige, was es am merkwürdigsten macht, ist seine große elastische Kraft. Man macht daraus Flaschen, welche nicht zerbrechlich sind, hohle Kugeln, welche platt werden, wenn man sie drückt, und welche, sobald man sie los läßt, wieder ihre Gestalt annehmen. Die Portugiesen zu Para haben von den Omaguas gelernt, aus eben dem Stoffe Pumpen oder Spritzen zu machen, welche keines Pumpenstockes bedürfen. Sie sehen wie hohle Birnen aus und haben an dem Ende ein kleines Loch. Man füllt sie mit Wasser, und wenn man sie alsdann drückt, so thun sie die Wirkung einer gewöhnlichen Spritze.“

Und ein Genosse La Condamines, der dieselben Kautschukgeräte in Guayana fand, brachte unter den Kupfern seines Berichtes auch Abbildungen von den „Ballonen der Wilden“.

Das waren die ersten Nachrichten vom Kautschuk! Man ahmte den Wilden nach und machte aus ihm Bälle und ähnliches Spielzeug. Nur der große Chemiker Priestley wußte dem neuen Stoffe eine praktische Seite abzugewinnen. Auf sein Anraten benutzte man den Kautschuk zum Ausreiben der Bleistiftstriche. Damals, um das Jahr 1770, war auch der Kautschuk in Europa noch sehr teuer. Ein kleiner 12 mm großer Würfel kostete etwa 3 Mark. Was ist inzwischen im Laufe eines Jahrhunderts aus dem Kautschuk geworden!

Das elastische Gummi ist in dem Pflanzenreiche weit verbreitet; wir finden es in dem Milchsafte unserer Pflanzen, wie z. B. der Wolfsmilcharten; aber in den Gewächsen des Nordens tritt es nur in geringen Mengen auf; dagegen strotzen von ihm viele Bäume und Schlinggewächse der südlichen Länder, die um den Aequator gelegen sind. Das beste Gummi liefert Südamerika; in Brasilien allein arbeiten an seiner Gewinnung gegen 10 000 Menschen und der Wert der brasilianischen Kautschukausfuhr schwankte in den letzten Jahren zwischen 90 und 60 Millionen Mark. In Afrika begann man erst vor etwa 30 Jahren Kautschuk zu gewinnen. Mosambique und Madagaskar im Osten, Angola, Gabun und Sierra-Leone im Westen waren die vornehmlichsten Ausfuhrplätze, als die afrikanische Kolonialära begann. In den deutschen Kolonien, oder besser gesagt in den Gebieten, von welchen die Deutschen Besitz ergriffen, war die Gewinnung des Kautschuks nur ganz unbedeutend oder völlig unbekannt, wie z. B. in Kamerun.

In Brasilien liefert ein starker Baum, die Hevea brasiliensis, den Kautschuk. Auch in Afrika giebt es Bäume, welche kautschukhaltige Milch haben, wie z. B. einige Euphorbiaceen und Ficusarten, aber sie alle spielen in dieser Hinsicht eine unbedeutende Rolle im Vergleich zu den immergrünen Kautschuklianen, welche neben der Oelpalme das wichtigste wilde Gewächs des westafrikanischen Gebietes bilden. Als die beste unter ihnen gilt die Landolphia florida. Ihre doldenähnlich beisammenstehenden orangenähnlich riechenden weißen Blüten verbreiten einen betäubenden Duft; ihre Früchte gleichen Orangen, enthalten aber sehr große, mit scharf säuerlich schmeckendem Fruchtfleisch umgebene Kerne. Schneidet man die Rinde des Stammes an, so rinnt die rosigweiße Milch aus der Wunde mehrere Stunden lang, und zwar reichlicher in der Regen- als in der Trockenzeit.

Die Verbreitung dieser Liane ist sehr groß. Man hat sie in Kamerun und in Togo gefunden. In der ersteren Kolonie wurde die Kautschukgewinnung durch die Schweden Knutson und Waldau eingeführt, die auf den Flanken des Götterberges sich als wahre Pioniere der Kultur niedergelassen hatten. Die Liane erreicht hier eine gewaltige Höhe. Bernhard Schwarz fand sie, stark wie ein Arm und hoch wie ein Turm, auf den Abhängen des Gebirges und in den Urwäldern von Ikatta und dem Gebiet der Bafarami. Am besten eignet sie sich für den in Frage kommenden Zweck, wenn sie etwa 150 bis 200 Fuß aufgeschossen ist. Die Eingeborenen sammeln hier den Kautschuk, indem sie mit einem Faschinenmesser Einschnitte in die Rinde des Baumes machen und am Fuße desselben Gefäße niedersetzen, um die austretende Milch aufzufangen. Diese läßt man nun bei mäßigem Feuer kochen, damit der reichliche Wassergehalt verdampfe. Der Rückstand wird darauf in Stücken von der Größe etwa einer kurzen dicken Gurke mit weißgrauer Färbung an die Faktoreien der Weißen abgeliefert.

In Deutsch-Ostafrika wird gleichfalls Gummi gewonnen. Schon vor der Besitzergreifung des Landes durch die Deutschen brachten Karawanen, die aus dem Innern kamen, diesen Handelsartikel nach den südlichen Häfen des Schutzgebietes. Später wurden auch im Norden die Kautschuklianen entdeckt und man lehrte die Eingeborenen das Gummi zu gewinnen. In nicht unbedeutender Weise hat sich diese Ausbeutung der Naturschätze des Landes in dem fruchtbaren Usambara gestaltet. Dort, wo neben Zuckerrohr und Tabaksfeldern die ersten größeren Kaffeepflanzungen entstanden, gedeihen auch die Landolphien in den dichten Urwäldern und in der Baumsavanne und werden namentlich in der Landschaft von Tanga durch die Eingeborenen verwertet.

Als weitere Quelle des Kautschuk in Deutsch-Afrika ist das Togoland an der Sklavenküste zu nennen. Hinter dem schmalen nehrungsartigen Küstenstreifen steigt dort das Land wellenförmig zu einem Gebirge an, das, wo reichlichere Wassermassen vorhanden sind, mit üppigerem Pflanzenwuchs und selbst mit Urwäldern bedeckt ist. Hier gedeiht die Kautschukliane in ansehnlichen Mengen und wird seit einigen Jahren von den Eingeborenen ausgebeutet. Unsere Illustration zeigt uns einen solchen Gebirgswald, zu dessen charakteristischen Gewächsen auch die Landolphia zählt.

Mächtige Baumriesen, namentlich die Wollbäume mit ihren gewaltigen Strebepfeilern, bilden den Hauptbestandteil dieses Waldes; dazwischen stehen hohe Palmen, Mahagoni-, Ebenholz u. dergl. Das alles ist aber mit einem unentwirrbaren Netz von Schlingpflanzen durchzogen, die in verschiedener Stärke von den Wurzeln der Bäume bis in deren höchste Kronen aufsteigen oder von Baum zu Baum wie Guirlanden herüberreichen.

Wir befinden uns im Gebirge; kahle riesengroße Felsmassen liegen zerstreut in der Waldung umher, und da sie nicht mit Moos bewachsen sind, treten sie überall scharf hervor und geben dem Ganzen noch etwas Groteskes und Wildes. Und doch promeniert man durch diesen Gebirgswald wie in einem Park; denn der Weg durch denselben ist vielbenutzt von Karawanen, welche vom Inneren nach der Küste ziehen, und daher sehr gut ausgetreten. Ab und zu kommt dann auch eine Lichtung, welche durch den Sturz eines abgestorbenen Waldriesen entstanden ist. Dieselbe wird in der Regel zu einem Lagerplatz von den Karawanen benutzt. Wie herrlich und großartig auch im allgemeinen solch ein Marsch durch diesen Gebirgswald ist, so anstrengend ist er an einzelnen Strecken, namentlich wo der Gebirgsrücken steil abfällt und ansteigt. An solchen Stellen kommt häufig der Lehmboden zu Tage und durch die sich fortwährend im Boden haltende Feuchtigkeit ist derselbe so schlüpfrig und glatt, daß man nur mit äußerster Vorsicht vorwärts gelangen kann. Dann stürzt wohl alle Augenblicke einer der Träger und ein Stück des Gepäcks wird unfreiwillig hinabgefördert. Doch trotzdem sind auch diese so schwer zu passierenden Stellen von großem Reiz, denn man hat ja oft Gelegenheit, durch die hier spärlicher auftretenden Bäume seinen Blick über die üppig bewachsenen Seitenthäler und die herrlichen Waldungen hinweggleiten zu lassen, und so spürt man kaum die Strapazen und Mühen der Reise. Hunger und Durst ist vergessen, man schwelgt nur im Anschauen all dieser großartigen, herrlichen Naturschönheiten und ein Zug durch solch ein Paradies wiegt hundert der mühevollsten und anstrengendsten Märsche auf.

Die Gewinnung des Kautschuks ist in Togo anders als in Kamerun. Die Liane wird unten aufgeritzt und der dann langsam hervorquellende zähe Saft auf ein Stäbchen so lange gewickelt, bis eine Kugel von der Größe eines Kinderkopfes zusammengerollt ist. In dieser Gestalt (man bezeichnet sie mit dem Ausdruck „Negerkopf“) kommt dann der Kautschuk in den Handel.

Ueberall in Afrika wiederholt sich bei der Einführung der Kautschukgewinnung dasselbe Schauspiel. Kaum hat der Neger in Erfahrung gebracht, daß in der Liane ein Schatz liegt, so beginnt er ihn rücksichtslos auszubeuten. In manchen Distrikten, wie an der Loangoküste, sind infolge der Raubwirtschaft die Landolphien selten geworden, und es wird schwierig sein, hier geordnete Zustände zu schaffen; denn die Spenderinnen des Kautschuks sind Kinder der Wildnis, sie meiden zumeist die Nähe der menschlichen Wohnungen, der Urwald ist ihre Heimat. Und doch wird der wachsende Bedarf der Kulturwelt an Kautschuk die Schonung der gummihaltigen Lianen gebieterisch fordern. Eine regelrechte Forstwirtschaft wird dann auch in den tropischen Gebieten Platz greifen müssen. Vielleicht aber wird es auch gelingen, die Lianen in besonderen Pflanzungen zu hegen und zu pflegen und so an Stelle des Raubbaus einen geordneten Wirtschaftsbetrieb zu schaffen. Wie schwierig auch ein solches Unternehmen erscheinen mag, so wäre ein Versuch keineswegs aussichtslos. Ist es doch den Menschen gelungen, die Cinchonabäume, die das kostbare heilkräftige Chinin liefern und einst nur in den Urwäldern Perus wuchsen, nach Ostindien zu verpflanzen und in großartigen Waldungen anzubauen. M. Hagenau.     




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Die Wiener Kongreßausstellung.

Von Ludwig Hevesi.

Napoleons des Ersten Macht war gebrochen. Bedingungslos mußte er abdanken und saß, von vierhundert seiner Gardisten umgeben, ein Scheinsouverän auf der Insel Elba. Europa atmete auf und die Mächte, die den unruhigen Korsen bekriegt hatten, traten in Wien zu einem Kongreß zusammen, der über die künftige politische Gestaltung Europas entscheiden sollte. Vom September 1814 bis zum Juni 1815 dauerten die Verhandlungen, deren Ergebnis in der „Wiener Schlußakte“ ihren Ausdruck fand. Für Jahrzehnte wurde die Neugestaltung Europas in Grundzügen festgelegt und später durch die „heilige Allianz“ besiegelt.

In der Kongreßzeit war Wien der Sammelpunkt der hervorragendsten Männer und Frauen Europas; dank der freigebigen Gastfreundschaft des österreichischen Kaisers wurden die glänzendsten Feste veranstaltet und auf dem Wiener Kongreß spiegelte sich infolgedessen nicht nur das politische, sondern auch das gesellschaftliche Leben jener so interessanten Zeitepoche wieder.

Es war ein glücklicher Gedanke, die Erinnerung an jenes denkwürdige Jahr durch Veranstaltung einer Kongreßausstellung wieder zu beleben. Dieselbe ist am 15. Februar dieses Jahres im Oesterreichischen Museum daselbst durch den Kaiser eröffnet worden.

Das Arbeitszimmer des Kaisers Franz.

Die ganze Zeit des Wiener Kongresses, samt ihrem Vorher und Nachher, ist da als lebendes Geschichtsbild aufgestellt; eine Mosaik aus etlichen tausend Bildnissen, Möbelstücken, Schmucksachen, Waffen, Karikaturen und persönlichen Andenken jeder Art! Ganz eigen wird man berührt, wenn man diesen Säulenhof betritt, diese Bogengänge und Säle durchwandelt. Ist man nicht in jene Zeit zurückversetzt, die der Jetztlebende recht eigentlich die „gute alte“ nennt? Die Zeit, in der sein Großvater die Großmutter nahm, oder, sofern er jünger an Jahren, sein Urgroßvater die Urgroßmutter! Hingen nicht genau solche Bildnisse in unserer „guten Stube“, ja bis in unsere Kinderstube herein? Urgroßmama war noch der reine klassische Empirestil und sah genau so aus wie Maria Luise oder Karoline Bonaparte, im griechischen Kleid aus weißem Linon, so hoch als möglich gegürtet, und im blutroten Shawl, von dem sie nicht entfernt ahnte, daß die Töchter der Pariser Guillotinierten ihn zum Andenken an ihre Toten modern gemacht hatten. Und sie hatte einen dunklen krausen Tituskopf, denn der war bis 1813 Vorschrift; ganz so hat ihn die schöne Katharina Pawlowna von Oldenburg, die Schwester Kaiser Alexanders I. und spätere Königin von Württemberg, getragen. Und die Kamee an Urahnchens Brust war auch letztmodern, denn erst 1808 war es der Kaiserin Josephine eingefallen, die Kameen des Antikenkabinetts als Schmuck verarbeiten zu lassen, sehr gegen Napoleons Willen, der aber schließlich klein beigab und sagte: „Unsinn erster Klasse, aber man muß nun einmal thun, was die Weiber wollen“. Und einen Marabufächer hielt sie in der Hand, denn im Jahre 1806 hatte der Marabu, von dem der Modist behauptete, daß er selbst dem großen Naturforscher Buffon unbekannt sei, den Schwan mit seinem Schneegefieder entthront. Und echte Pariser Kunstblumen, wie sie nur der große Wenzell in der Rue de l’Echiquier seit 1800 fabrizierte, schmückten ihren Hut. Die hatte ihr der Urgroßvater noch als Bräutigam mitgebracht, schöne weiße Rosen, wie sie auf der Ausstellung in dem lebensgroßen Bilde der Großherzogin Stephanie von Baden, Nichte der Kaiserin Josephine, den untersten Kleidsaum umziehen. Und Urgroßpapa trug noch Stiefel à la Suwarow mit gelben Kappen, wie der schöne Wiener Graf Fries, der hier in Lebensgröße gemalt ist, mit seiner prächtigen Gemahlin, einer Prinzessin Hohenlohe, und einem Kindlein in der Wiege; gemalt vom Baron Gérard in Paris, dem „Maler der Könige und König der Maler“. Großpapa freilich, auf dem Miniaturbildchen unter unserer alten Schwarzwälderuhr, trägt keine solchen Kappenstiefel mehr, denn im Jahre 1815 kamen schon die Pantalons auf, gleich nach dem Kongreß; und Großpapa war sehr modern gesinnt. Selbst Napoleons Leibporträtist, der berühmte Isabey, der doch in seinem Leben so viele hoffähige weiße Kniehosen gemalt hatte, auch so enge wie die des Grafen von Artois, der sich durch vier kräftige Lakaien in die Luft heben und so in die knappen Unaussprechlichen hineinfallen ließ – selbst Isabey trägt als alter Großpapa auf einem Bilde dieser Ausstellung schon Pantalons und einen schneeweißen Backenbart dazu. In seiner Jugend mußte er alle Backenbärte schwarz malen, auch die blonden, denn das war damals Mode. Und was ist’s mit Großmama, deren Miniatur ja auch unter unserer alten Schwarzwälderin hängt? Ach, sie trägt eines der schönsten Kostüme, die dieses Jahrhundert hervorgebracht. Es ist das der Restaurationszeit, der Zeit Ludwigs XVIII. Weil er der Achtzehnte war, trug man sogar achtzehn Falten am Kleide, und weil er ein Nachkomme Heinrichs IV. war, trugen die Damen der ganzen Welt über der unvermeidlichen „Coquesfrisur“ weiße frisierte Federn (Monsieur Plaisir hatte dieses Federnkräuseln erfunden) wie König Henri-Quatre auf seinem Helm. Und die Damen, unsere Großmutter mit inbegriffen, trugen dazu ungeheure Capoten, wo nicht gar Kaleschenhüte, und jedenfalls gewaltige Pluderärmel. Manches à gigot hießen diese damals, Schinkenärmel nennt man sie wohl jetzt, da doch der Schinken auch ein gigot, d. h. die Keule eines Tieres, ist. Das war die royalistische Mode, nach der imperialistischen der Bonapartezeit, und genau so sind einige der höchsten und schönsten Damen der Ausstellung gekleidet. So manche dieser [365] Schönheiten möchte man, nach ihrer Tracht, gleich als Zeitgenossinnen ansprechen. Denn die Moden kehren wieder. Selbst unsere jetzigen flachsohligen Schuhe stammen vom Kothurn, den die Empirezeit dem Altertum entlehnt hatte; Großmama trug sie noch mit zierlichem Band kreuzweise gebunden – in Wien nennt man dies „Altwien“ – und auch das war von Cop, dem großen Pariser cothurnier, d. h. Schuhmacher der Napoleonzeit, so vorgeschrieben, um den Kothurn zu befestigen. Und trägt man nicht jetzt wieder die farbigen Strümpfe von damals? Und malt man nicht mit Pinsel und Farben Blumengewinde auf Ballkleider wie auf die Musseline und Kattune von damals?

Der Schreibtisch Napoleons aus La Malmaison.

Selbst die Zimmer, in denen dazumal gelebt und gestorben wurde, sind heute zum Teil wieder da. Was an Urväterhausrat noch nicht in den Ofen gewandert ist, steht hoch im Werte; der krummbeinige Rokokostuhl wie der spreizbeinige Empiretisch. Wir selbst waren unter Empiremöbeln jung; in der schönen Mahagonizeit. Man könnte auch sagen: in der grünen Ripszeit; war es etwa nicht ein hochwangiger Lehnstuhl, mit grünem Rips überzogen, in welchem Schiller starb? Großväterstühle – Stühle aus der Großväterzeit! Freilich, was die Kongreßausstellung an solchem Hausrat enthält, beruht nicht auf grünem Rips, denn es ist zum großen Teil das Prächtigste, was in der Empirezeit geschaffen worden. Da steht der Schreibtisch Napoleons aus La Malmaison, dem Landschlößchen Josephinens. Er gehört jetzt dem Grafen Johann Palffy. Solcher Schreibtische giebt es wohl wenige auf Erden, und er wurde auch nicht in jenen vierzehn Tagen gemacht, in denen Percier und Fontaine, die Schöpfer des Empirestils, dem ungeduldigen „ersten Konsul“ sein Arbeitszimmer in La Malmaison zustande zaubern mußten. Dieser Tisch ist aus dunklem Mahagoni und aufs reichste mit Goldbronze verziert. Die Goldbronze folgt allen Kanten, innen und außen, sie kriecht in allen Hohlkehlen der zwölf toskanischen Säulen, die den Tisch wie einen Tempel tragen, als Blumenranke empor, sie formt sich zu prächtigen Fruchtgewinden, zu Balustraden und einem entzückenden Kinderfries im erhöhten Mittelstück. Der Verschluß geht im bekannten Viertelkreis nieder, das Schreibbrett ist ausziehbar und im Innern steckt ein Musikwerk, das hoffentlich „C’en est fait, je me marie“, das Lieblingslied des Cäsars, spielt. Steht der Schreibtisch offen, so sieht man, daß die inneren Fächer zu einem förmlichen Palast geordnet sind, mit drei breiten Bogenthoren über einer Freitreppe. Alle diese Teile haben Kanten in Goldbronze und von diesem Metall schimmert auch der Triglyphenfries oben und der Sockelfries unten. Odiot und Thomire waren die großen Ciseleure, welche das Metall an solchen Empiremöbeln in unübertrefflicher Vollendung arbeiteten.

Das Metternich-Zimmer.

Das prächtige Klavier, das auf unserer Abbildung neben dem Schreibtisch zu sehen ist, gehört dem Herzog von Sachsen-Meiningen; es ist ein Erard aus der Empirezeit, Mahagoni mit Blumenfriesen, Palmettenkapitälen und eingelegten Zieraten aus Goldbronze. Wunderbarer Hausrat ist auch aus der Hinterlassenschaft der Kaiserin Marie Luise ausgestellt. Darunter der Tisch aus Fladerholz, in dessen Platte aufstellbar Isabeys Meisterbild, die „Taufe des Königs von Rom“, eingefügt ist: Napoleon an das blühweiße Himmelbett seiner Gemahlin herantretend, die ihm den Täufling reicht, ringsum Damen, in bunter Pracht gekleidet, und die berühmte Amme des Königs von Rom, Madame Auchard, im weißen, spitzenbauschigen Brusttuch und Häubchen. Napoleon ließ dieses umfangreiche Miniaturgemälde malen als Geschenk für Marie Luise. Da sind auch mehrere prächtige Kassetten und Necessaires für Schreib- und Toilettengerät, zum Teil Meisterwerke von Biennais, dem großen Goldschmied Napoleons. Eines ist ein Geschenk Marie Luisens an ihren [366] Vater Kaiser Franz, ein anderes von Napoleon an Marie Luise; selbst das Reisebesteck Napoleons, das bei Waterloo in seinem Wagen erbeutet wurde und jetzt dem Baron Nathaniel Rothschild gehört, ist da zu sehen, ein mit Silber eingelegtes Holzkästchen, das 23 Gegenstände aus Gold, Stahl und Glas enthält.

Das Arbeitszimmer des Kaisers Franz (vergl. die Abbildung auf S. 364) ist eines der interessantesten Gemächer der Ausstellung. Es ist in der Hofburg genau so erhalten, wie er es bewohnt hat, und gehört zu den Gemächern der Kronprinzessin-Witwe Stephanie. Die Einrichtung wurde in die Ausstellung übertragen und das Zimmer genau nachgeahmt, samt den hellgrünen Tapeten und den gemalten Reliefidyllen über den Thüren; selbst die Aussicht in den Hof ist getreulich vor den Fenstern als gemalter Prospekt angebracht. Nichts kennzeichnet besser als dieser Raum die schlichte Natürlichkeit und den behaglichen Bürgersinn des mächtigen Monarchen, der doch den Wiener Kongreß zum Schauplatz der verschwenderischsten Gastfreundschaft gemacht hatte. Der Graf de Lagarde hat über die Kongreßfeste ein zweibändiges Werk geschrieben, aber das Haupt dieser Weltversammlung arbeitete in einem grünen Hofzimmerchen, unter braunen Möbeln, meist nur Nußholz, selten Mahagoni, mit gelben Bronzebeschlägen; die Sessel mit grünem Tuch gepolstert, der Papierkorb mit einer Straminstickerei geschmückt, der Schreibtisch ganz kanzleimäßig schmucklos mit vier geraden, dünnen Beinen, und darauf noch seine Kielfedern, seine Siegellackstange, sein dicker Zimmermannsbleistift, sein einfacher graumarmorner Briefbeschwerer mit einem weißen Ei als Griff und der Inschrift „Aus der Gegend von Aicha in Tyrol“ etc. etc. So wohnte der erste Bürger seines Reiches; man könnte fast sagen, der erste Beamte des Kaisertums, denn der damalige spätere Empirestil, mit seinem Verzicht auf alles künstlerische Element, hatte etwas entschieden Bureaumäßiges. Die zwei Blumentöpfe im Fenster und zwei reizende kleine Porträts der Kaiserin Karolina Augusta fallen allein aus der Amtlichkeit heraus. Dieses Kaiser Franz-Zimmer ist ein redendes geschichtliches Denkmal, das eine patriarchalische Zeit, mit einem buchstäblich zu nehmenden „Landesvater“ an der Spitze, widerspiegelt. So erscheint ja auch der Kaiser, von dem manches meisterhafte Bildnis ausgestellt ist, auf einem äußerst schlichtbürgerlich gehaltenen Brustbilde von unbekannter Hand, das der Fürst Karl Trauttmansdorff von seinem Vorfahr, dem Obersthofmeister zur Kongreßzeit, geerbt hat. Ein vergilbter Zettel von seiner Hand steckt daran und besagt: „Dieses Bild Kaisers Franz I., im 55. Jahresalter, und seiner alltägigen Kleidung, wie ich Ihn gewöhnlich zu sehen die gnade habe, soll – seiner ganz besonderen ähnlichkeit wegen, auf immerwährende zeit bey meiner familie verbleiben, und zu diesem ende, von jedem fideicomis Besitzer meiner Branche, bey ihm selbst, oder im Schlosse der Herrschaft Teinitz, sorgsamst aufbewahrt werden. Wien den letzten october 1823. Ferdinand Fürst Trauttmansdorff Sr. Majestät Erster Oberst Hofmeister.“ Unter den übrigen Bildnissen des Kaisers ist das sitzende, in Feldmarschallsuniform von Sir Thomas Lawrence, dem „Tizian seiner Zeit“, das beste, vor allem ein Meisterwerk der Farbe. Es gehört dem Fürsten Esterhazy. Wie gut es getroffen sein muß, beweist, daß die Erzherzogin Marie Clementine, Prinzessin von Salerno, es sich durch Lawrence in Aquarell kopieren ließ und sich von diesem Abbild ihres angebeteten Vaters zeitlebens keinen Augenblick getrennt hat. Diese Kopie befindet sich jetzt auf Schloß Chantilly bei dem Herzog von Aumale, der als Gatte der Tochter der Prinzessin von Salerno ein Enkel des Kaisers Franz ist.

Lawrence malte auf dem Kongreß in Aachen (1818) im Auftrage des Prinzregenten von Großbritannien, der als Georg IV. König ward, alle Größen des Wiener Kongresses, die der Regent im Waterloosaal zu Windsor vereinigte. Von Aachen reiste der unverwüstliche Lawrence Tag und Nacht eine Woche lang mit Extrapost nach Wien zum Kaiser, und dann in ebensolchem Tempo ohne Aufenthalt nach Rom, den Papst und den Kardinal Consalvi zu malen. In Aachen malte er auch den allmächtigen Haus-, Hof- und Staatskanzler Fürsten Clemens Metternich. Dieser schrieb darüber an seine Gemahlin: „Unsere Porträts werden wahre Meisterwerke. Meines ist eins der besten. Er wird es nach Wien bringen, wo ich es kopieren lasse, um mich dann nie wieder malen zu lassen.“ Und so that er auch; die Kopie hängt im Wiener Palais Metternich, das Lawrencesche Original auf Schloß Plaß in Böhmen. Gegenwärtig ist es das Hauptstück im „Metternichzimmer“ der Kongreßausstellung. Unsere Abbildung äuf S. 365 zeigt uns die Umgebung, in der der Leiter des Wiener Kongresses sein Leben beschloß.

Auf seinem Schreibtisch steht sogar noch sein Blockkalender mit seinem Sterbedatum (11. Juni 1859). Der Schreibtisch ist ein französisches Prunkstück aus dem 18. Jahrhundert; Mahagoni mit Goldbronze, aber im geschweiften und gebauchten Rokokostil. Er sieht aus wie der Vater des Schreibtisches Napoleons I. Unter den Merkwürdigkeiten dieses Gemachs befindet sich der großartige, aus 75 Stücken bestehende Tafelaufsatz aus vergoldeter Bronze, von Thomire gearbeitet, ein Geschenk Napoleons, heute wieder von größtem Kunstwert. Ueber einer verkleinerten Bronzekopie der Vendômesäule hängt das Bildnis Wellingtons, von John Lucas, 1829, in österreichischer Marschallsuniform, ein Geschenk des eisernen Herzogs. Auch Isabeys Kongreßbild, im Stich von Godefroy (1819), sehen wir an der Wand auf der andern Seite des Schreibtisches. In zwei Glasrahmen auf demselben befindet sich eine Sammlung kostbarer Kameen und Intaglien; ein Glaskasten enthält einige der kostbarsten Dosen, die Orden Metternichs u. s. f.

Aehnliche Zimmer sind aus Geräten und Andenken des Fürsten Karl Schwarzenberg und des Fürsten Johann Liechtenstein zusammengestellt. Im Schwarzenbergzimmer enthält u. a. ein Glaskasten die Großkreuze, Marschallstäbe und Ehrensäbel (z. B. der City von London), die der Sieger von Leipzig erhalten. Solche Serien kommen noch anderweitig vor; so hat der jetzige Herzog von Wellington die acht goldenen Marschallstäbe eingesandt, die der Sieger von Waterloo von acht Potentaten empfing. Es ist da überhaupt kein Ende an geschichtlichen und persönlichen Andenken. Das Bildnis des Fürsten Schwarzenberg ist vom Baron Gérard 1814 in Paris gemalt; in jenem Atelier der Rue Bonaparte, wo damals Kaiser und Könige und Weltbesieger sich die Thürklinke reichten, denn Gérard malte grundsätzlich niemand anders als nur Souveräne von Frankreich in deren eigenem Heim. Während Lawrence von Residenz zu Residenz reiste, saß Gérard in Paris, wie eine Spinne in ihrem Netz, und ließ die Goldfliegen an sich herankommen. Auch sein berühmtes Sitzbild Talleyrands aus dem Jahre 1810 ist ausgestellt; ein Meisterwerk ersten Ranges, in dem sich schon eine lebensvollere Zeit ankündigt; Goethe bewundert es ausführlich in seiner Kritik des gestochenen Porträtwerkes Gérards.

Ueberhaupt wird man in der Kongreßausstellung oft genug an Goethe erinnert. An Schiller nur hier und da, z. B. durch Danneckers Büste des Erzherzogs Karl, die einen ausgesprochenen Schillerkopf hat, nur schlanker und höher aufgebaut. Goethe aber war einer der größten Zeitgenossen des Wiener Kongresses und mit diesem durch manche Fäden verknüpft. War nicht die reizende, liebenswürdige und feingebildete „Kongreßkaiserin“ Maria Ludovica, Kaiser Franz’ dritte Gemahlin, dieselbe, die er in drei Karlsbader Festgedichten so innig gefeiert? Ihre Bildnisse auf der Ausstellung lassen es wohl ahnen, daß ein Goethe stundenlang mit ihr die tiefsten Gespräche führen konnte, daß Goethes Herzog von Weimar „mit Freuden sein Leben für diese göttliche Frau geben wollte“, daß Marschall Berthier, der in Wien Napoleons Ehe mit Maria Luise per procurationem zu schließen hatte, durch seine ganz verliebten Berichte Napoleon auf die Bekanntschaft der Kaiserin begierig machte. Selbst Talleyrand erwärmte sich für sie, fand aber freilich, daß sie gar schlank und schwach aussehe. Diese außerordentliche Frau, die, obgleich geborene Italienerin, auf ihrem Haustheater sogar Teile von Schillers „Wallenstein“ zur Aufführung brachte, starb 28 Jahre alt. Man lese alle die Dinge, die Goethe über sie schreibt.

Von der schönen Herzogin von Kurland, die man mit ihren zwei Schwestern, den Herzoginnen von Sagan und Acerenza, die drei Grazien des Kongresses nannte – selbst auf einer Berliner Porzellantasse sehen wir dieses reizende Kleeblatt abgebildet – von dieser international gefeierten Dorothea also bekam Goethe 1820 in Karlsbad „ein historisches Blatt, die versammelten Minister beim Wiener Kongresse darstellend“, das „in den Portefeuillen des größten Formats platznahm“. Es ist Godefroys Stich nach Isabeys Kongreßbild gemeint. Jean Baptiste Isabey war überhaupt der Kongreßmaler par excellence. Daß er es wurde, verdankte er Talleyrand, der in den schwierigsten Lagen zu raten wußte. Napoleon war gestürzt und sein Leibminiaturist Isabey hatte alle seine Stellen verloren. Er klagte dies Talleyrand, dieser sann einen Augenblick und wies dann auf einen Kupferstich an der [367] Wand, nach Terburgs Münsterer Kongreßbild vom Jahre 1648, dem sogenannten „Westfälischen Frieden“, der in der Londoner Nationalgalerie hängt. „In Wien wird ein Kongreß stattfinden, gehen Sie hin,“ sagte er. Und Isabey war geborgen. Er machte in Wien Furore. Vor seiner Wohnung in der Leopoldstadt mußten Schranken errichtet werden, um nur das Gedränge der vornehmen Equipagen zu regeln. Alle Bevollmächtigten am Kongresse ließen sich bei ihm in Sepia malen, für ihr eigenes Geld; diese Studienköpfe gehören jetzt dem Grafen Stackelberg, Nachkommen des russischen Kongreßgesandten, und sind zu einem Album vereint in der Ausstellung zu sehen.

Das Kongreßbild selbst stellt, gleichfalls in Sepia, eine Vollsitzung der Bevollmächtigten der acht Signatarmächte dar; sie findet in einem Saal des Ministeriums des Aeußeren statt, der mit einem Bilde Leopolds II. geschmückt ist. Die Sitzung ist aber nicht im Gange. Die Herren sind vielmehr in einem vielseitigen Nichtsthun begriffen, das der Künstler sehr geschmackvoll einzuteilen wußte. Sie lassen sich eben nur verewigen. Ohne alle Schwierigkeiten ging es aber bei der Arbeit nicht ab und Isabey mußte selber Diplomat sein, um manchen dieser Diplomaten herumzukriegen. So wollte Wilhelm von Humboldt durchaus nicht sitzen, da er seiner Häßlichkeit wegen geschworen habe, niemals einen Heller auf sein Porträt auszugeben. Damit dieser Schwur nicht gebrochen werde, malte ihn Isabey umsonst, und hinterher scherzte Humboldt: „Ich habe nichts für mein Bild gezahlt, allein Isabey rächte sich, indem er mich ähnlich machte.“ Schwieriger war es freilich, den siegreichen Herzog von Wellington zu besiegen. Das Bild war bereits so gut wie fertig, als der Sieger von Waterloo ankam, um Lord Castlereagh zu ersetzen. Wohin nun mit ihm in diesem Bilde, ohne die ganze Anordnung zu stören? Da schlug Isabey vor, ihn ganz an den Rand zu stellen und ihn durch den Fürsten Metternich gleichsam einführen zu lassen. Der Herzog wollte aber nicht am Rande stehen und vollends nicht bloß im Profil gesehen sein. Da redete ihm Isabey ein, sein Profil erinnere, wenn man sich eine Halskrause darunter denke, auffallend an das Heinrichs IV. Damit ließ sich Wellington fangen und gab sich zufrieden. Das Blatt ist jedenfalls das Hauptwerk Isabeys, wenn auch die Köpfe, in der Art jener mehr plastischen als malerischen Zeit, ein wenig an Medaillen erinnern. Als Miniaturmaler, der er war, führte er alles mit außerordentlicher Sorgfalt aus und umgab das Bild mit einer bedeutsamen Einfassung, welche die Wappen der Dargestellten und die Medaillonbildnisse ihrer Souveräne enthält. Das Bild gehört der Königin Viktoria von England, die es in besonderer Huld der Ausstellung überlassen hat. Im Godefroyschen Stich hat es seinerzeit den Weg um den Erdball gemacht.

Zur Orientierung unserer Leser möge folgende kurze Erklärung des auf S. 368 und 369 wiedergegebenen Bildes dienen, in der wir die hervorragendsten Persönlichkeiten hervorheben. Auf der linken Seite des Bildes, vom Standpunkte des Beschauers aus, erblicken wir den Vertreter Preußens, Fürst Hardenberg, der im Vordergrunde auf einem Stuhle sitzend dargestellt ist; hinter ihm steht der Herzog von Wellington. Weiter gegen die Mitte zu sehen wir Fürst Metternich, dessen Handbewegung andeuten soll, daß er den eintretenden Wellington der hohen Versammlung vorstellt. Ueber seiner rechten Schulter blickt der Kopf des Franzosen Marquis de Noailles hervor, während über den linken Arm des Fürsten der russische Graf Nesselrode sich vorbeugt. Den Mittelpunkt des Bildes nimmt der Vertreter Englands Lord Castlereagh ein, der, die Beine übereinander geschlagen, auf einem Stuhle sitzt und den Rücken dem Tisch zuwendet. Hinter dem Lord an der gegenüberliegenden Seite des Tisches sitzt der österreichische Freiherr von Wessenberg-Ampringen, mit einem Ordensstern auf der linken Brust und einer Feder in der Hand. Hinter ihm steht hochaufgerichtet Fürst Razumoffsky (Rußland) und neben diesem in einer hellen Uniform Lord Stewart (England). Wenden wir unsere Betrachtung der rechten Seite des Bildes zu, so bemerken wir am Rande auf dem äußersten Stuhl Graf Stackelberg, einen der russischen Diplomaten, und neben ihm den Franzosen Talleyrand, der seinen rechten Arm auf den Tisch stützt. Von den vier Personen, die stehend im Hintergrunde dargestellt sind, ist die zweitnächste dem Rande des Bildes W. von Humboldt, zu seiner Rechten befindet sich der bekannte österreichische Publizist Friedrich von Gentz.

Es fehlt uns leider an Raum, um auf die hochinteressante Bildergalerie, die sich über alle Wände der Ausstellung zieht, weiter einzugehen. Prud’hon, Angelika Kauffmann, die Vigée-Lebrun, J. B. Lampi, George Dawe (der einst auch Goethe gemalt hat) und viele andere berühmte Porträtkünstler sind da mit Werken vertreten.

In den Schauschränken aber drängen sich Hunderte von reizvollen Miniaturen, die namentlich die Frauen- und Kinderwelt der Empire- und Kongreßzeit in allem Zauber ihrer Liebenswürdigkeit wiedergeben. Isabeys Frauenbilder fallen wieder besonders auf, schon weil er einen weitgeschwungenen weißen Schleier (damals „Wolke“ genannt) um Kopf und Brust seiner Schönen zu schlingen liebt; nicht sowohl aus eigener Manier, sondern, wie Mercier, der Sittenschilderer des Empire, schreibt, weil solche halbe Verschleierung, um den Reiz des Gesichts zu erhöhen, damals beliebt war. Von der Königin Hortense, der Gattin Ludwig Bonapartes, bis zur fabelhaft schönen Tänzerin Bigottini, welche Talleyrand eigens nach Wien engagieren ließ, um durch sie politische Geheimnisse erlauschen zu lassen, ist das eine ganze Schönheitsgalerie. Wie viel Romane könnten wir da erzählen; auf dem Kongreß war ja, wie der geistreiche Fürst von Ligne sagte, „jeder Mensch ein Roman“.




Ein unbedachtes Wort.

Novelle von M. Misch.
(2. Fortsetzung.)


Es dämmerte bereits in dem gemütlichen Stübchen der Frau Hauptmann Schmidtlein, als sich Frau von Sindsberg erhob, um Abschied zu nehmen. „Das war wieder einmal ein menschenwürdiger Nachmittag,“ lachte sie vergnügt und angeregt. „Ich habe bei Dir ganz vergessen, daß ich eine Theatermutter bin. Wenn Du erlaubst, bringe ich Dir morgen meine Marie.“

„Ich bitte Dich darum.“

Die Damen näherten sich der Thüre, als im Flur Stimmen laut wurden. „Mein Mann scheint Besuch mitzubringen,“ sagte Frau von Schmidtlein halblaut. „Soll ich Dich unter Deinem wirklichen Namen vorstellen, oder –?“

„Nur um Gotteswillen nichts vom Theater; ich kann es nicht vertragen!“

Die Herren traten ein. Fanny sah mit Vergnügen, daß Schindler dabei war, und begrüßte ihn mit einem so schelmischen Lächeln, daß er sie erstaunt anblickte.

„Liebe Erna, das ist mein Mann!“ begann Fanny nun heiter, und zu ihrem Gatten gewendet: „Und dies ist meine einzige, liebe Pensionsfreundin, die Du aus meinen Erzählungen bereits kennst! Frau Hauptmann von Sindsberg hat mir heute unerwartet die Freude gemacht, mich aufzusuchen. Herr Rittergutsbesitzer Berlau – Herr von Schindler, seines Zeichens Lebemann!“

„Ah, Herr von Schindler!“ drängte es sich auf die Lippen Frau Ernas, aber sie erstickte den Ausruf. Für die Uebersendung des Heftes danken, hieß sich verraten. Gewandt lenkte sie ab und nahm den von der Freundin gebotenen Sitz noch „für einen Augenblick“ ein. Das Gespräch kam bald auf ein Thema, das auch sie interessierte, die Jagd. Ihr Gatte war ein leidenschaftlicher Jäger gewesen, und sie entsann sich noch gut einiger Jagdabenteuer, die sie zum besten gab.

Man hatte um den runden Tisch Platz genommen; niemand wäre imstande gewesen, aus dem Aeußeren der Dame auf ihre jetzige bescheidene Stellung und Lebensweise zu schließen. Darauf hielt sie noch immer; und aus dem Schiffbruch ihrer Existenz hatte sie an Garderobe und Kostbarkeiten gerettet, was irgend ging. Den geöffneten Sammetmantel mit dem Nerzpelz – auch ein Ueberbleibsel früherer Zeiten – über den Stuhl zurückgeworfen, wahrte sie eine zugleich ungezwungene und gemessene Haltung. Die Herren benahmen sich denn auch mit großem Respekt gegen die plötzlich aufgetauchte Pensionsfreundin der Hausfrau, und sogar Schindler war nicht ganz so blasiert und herablassend wie gewöhnlich. Fanny saß still lächelnd dabei. Sie amüsierte sich köstlich über die ganze Situation und im besondern über ihre Freundin, deren gedrücktes Wesen von vorhin einer sicheren Ueberlegenheit Platz gemacht hatte. Sie plauderte und [368] lachte, erzählte Anekdoten; die Unterhaltung wurde fast ausschließlich von ihr, dem Hauptmann und Herrn von Schindler geführt.

Der Gutsbesitzer, ein noch junger Mann mit einem mädchenhaft zarten Gesicht, blickte, wie es seine Gewohnheit war, lächelnd von einem zum andern und sah dabei sträflich dumm aus. Er war der einzige Sohn seiner reichen Eltern. Nach dem frühen Tode des Vaters allein von der Mutter, einer ehemals berühmten Schönheit, erzogen, hatte er die rauhen Seiten des Lebens niemals kennengelernt. Verwöhnt bis zum Aeußersten, eigensinnig und rechthaberisch, machte er einen gründlich unbedeutenden Eindruck. Es war das ein Erbteil seiner Frau Mama, die niemals etwas anderes wollte und konnte, als schön sein und lächeln, und die noch jetzt bei jeder Gelegenheit, wo sie gesehen wurde, wie die Preisgekrönte einer Schönheitskonkurrenz aussah: den klassisch geschnittenen Mund leicht geöffnet, die Augen feucht schimmernd und weit aufgeschlagen, ein bewegtes Mienenspiel aber sorgfältig vermeidend, um die edlen Gesichtslinien nicht zu zerstören. So besorgt um seine Schönheit war nun allerdings Kurt Berlau nicht. Im Gegenteil ärgerte er sich wütend über seinen blendend weißen Teint und sein zart geformtes mädchenhaftes Näschen. Seine Freunde behaupteten, er hätte sich die kleine Glatze, in welche seine griechische Stirn seit einigen Jahren auslief, künstlich machen lassen, um männlicher auszusehen. Im übrigen war er bei allen Leuten beliebt, denn er störte niemand, hatte ungeheuer viel Geld, gab die entzückendsten, verschwenderischsten Junggesellenfrühstücke und zeigte seine unangenehmen Eigenschaften klugerweise nur zu Hause, wo die Mama und die Dienstboten vor ihm zitterten.

An dem Gespräche hatte er bis jetzt nur teilgenommen, so lange es sich auf dem Jagdgebiete bewegte, denn davon und von Hunden, deren er sich verschiedene Meuten hielt, verstand er etwas. Schließlich aber fühlte er doch lebhaft das Bedürfnis, sich auch wieder einmal bemerkbar zu machen. Er brachte das Gespräch auf die gestrige Theatereröffnung. „Waren Sie auch da, Gnädigste?“ frug er verbindlich Frau von Sindsberg. Sie wechselte einen verlegenen Blick mit Fanny, erzählte aber ruhig ihre Anekdote bis zum richtigen Ende, ohne die Frage zu beachten. Dann erhob sie sich plötzlich.

„Es ist Zeit. Meine Herrschaften, ich muß gehen! Herr Hauptmann, ich hoffe, Sie wiederzusehen. Meine Herren, es war mir ein Vergnügen!“

Die tiefen Verbeugungen der Herren huldvollst erwidernd, rauschte sie hinaus, den Eindruck einer amüsanten, vornehmen Frau hinterlassend. Draußen umarmten sich die beiden Freundinnen herzlich.

„Das hat wohlgethan, Fanny,“ sagte Frau von Sindsberg. „Das stärkt mich für die ganze Saison. Dein Mann ist prächtig, und auch dieser Schindler ist ein netter Mensch. Wirst Du ihnen nun sagen, daß ich eine Theatermutter bin?“

„Ich werde ihnen sagen, daß Deine Tochter die junge sympathische Künstlerin ist, die uns gestern schon ihr großes Talent erkennen ließ.“

Frau von Sindsberg wurde plötzlich ernst. Mit einer raschen Bewegung nahm sie die Hand ihrer Freundin in die ihrige und küßte sie, dann sagte sie nachdenklich: „Du bist viel besser und edler als ich, Fanny, ich muß mich schämen! Nicht darüber, daß ich Theaterm..., daß meine Tochter beim Theater ist, sondern weil ich ihr bei all ihrer Anstrengung auch noch das Leben sauer mache. Ich glaube nämlich wirklich, daß ich’s thue, obwohl sie niemals klagt. Also morgen bringe ich sie hierher. Sie hat ungeheuer viel Aehnlichkeit mit Dir. Auch Dein gutes Herz hat sie. Behüt’ Dich Gott, Liebste!“

Der Wiener Kongreß.
Nach dem Gemälde von J. B. Isabey.

[369] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



In das Wohnzimmer zurückgekehrt, setzte sich Frau Fanny neben Wolf von Schindler und begann ihn auszufragen. „Nun, wie hat Ihnen meine Freundin gefallen?“

„Sehr nette Dame! Muß mal schön gewesen sein!“

„Nicht wahr? Sie ist sogar jetzt noch sehr hübsch!“

„Hm!“

„Und hat solch’ scheußliche Tochter!“

„Was hat sie?“ Wolf blickte Frau von Schmidtlein überrascht an. Es war nicht ihre Art, sich so kräftig auszudrücken.

Fanny erwiderte harmlos lächelnd seinen Blick. „Ja, das Fräulein Sinders, welches Ihnen gestern so schlecht gefiel, ist die Tochter der Frau von Sindsberg.“

Ohne Wolfs Antwort abzuwarten, stand sie auf und begab sich nach der andern Seite, wo der Hauptmann eben dem „schönen Berlau“ seine neue Jagdflinte zeigte. Vorsichtig nahm er die Schloßteile auseinander und erklärte die Konstruktion so eifrig, daß er ganz rot davon wurde. Fanny betrachtete ihn liebevoll, während sie ihm nähere Auskunft über Frau von Sindsberg und ihre Tochter gab; sie freute sich über seine Lebhaftigkeit, und daß er trotz seines Leidens so gesund aussah. Wie reich war sie doch an der Seite dieses prächtigen Menschen, und wie arm alle rings um sie! Die beiden Lebemänner da, mit ihrem vielen Gelde, die ihr Glück beständig in öden, leeren Vergnügungen suchten und nichts fanden als Ueberdruß, wie bettelarm waren sie im Vergleich mit ihr! Und erst die bedauernswerte Erna, die ihren geliebten Gatten verloren hatte! O, nur das nicht!

Mit einer beinahe ängstlichen Bewegung legte sie ihren Arm in den des Hauptmanns, welcher dadurch in seinen lebhaften Darlegungen gehindert wurde! Ohne ein Zeichen der Ungeduld hielt er inne und drückte zärtlich ihren Arm. „Was willst Du, Fannutschka?“ fragte er freundlich.

„Nichts, Liebster!“

Bald darauf verabschiedeten sich die beiden Herren, nachdem sie mit dem Hauptmann eine Rebhuhnjagd für morgen verabredet hatten.

„Wann wirst Du zurückkommen, Otto?“ fragte Frau von Schmidtlein. „Ich habe Frau von Sindsberg mit ihrer Tochter für morgen abend zum Thee eingeladen, Du solltest dabei sein!“

Der Hauptmann begann mit unternehmender Miene seinen grauen Schnurrbart zu drehen und versprach, pünktlich zur Stelle zu sein, da er ein Rendezvous mit jungen Schauspielerinnen niemals zu versäumen pflege, eine Renommage, die Fanny gutmütig lächelnd anhörte. Berlau lachte noch im Korridor über diesen „famosen Witz“, während ihm der Hauptmann in den Ueberrock half.

Im Zimmer stand Wolf von Schindler vor Fanny und fuhr mißmutig durch seinen rötlichen Bart. „Sie müssen mir etwas versprechen, ehe ich gehe. Wenn die Damen jetzt öfters bei Ihnen verkehren werden, müssen Sie von –“

„Sie meinen, ich soll Fräulein von Sindsberg nichts davon sagen, daß Sie es waren, der –“

„Natürlich! Ueberhaupt, reden Sie ihr ein, sie hätte sich verhört!“

Fanny schüttelte mit gemachtem Ernste zweifelnd ihr Haupt. „Ich weiß doch nicht recht, ob Sie das verdienen! Wenn ich wenigstens wüßte, ob Sie es bereuen!“

„Bereuen ist gegen mein Prinzip,“ sagte Schindler achselzuckend, „aber ich will zugeben, ich habe ihr unrecht gethan.“

„Was heißt das?“

„Na, sie ist am Tage recht hübsch!“

„Sie haben sie gesehen?“

[370] „Jawohl! Also, abgemacht, Gnädigste! Sie schweigen?“

„Wo haben Sie sie denn gesehen?“

„Eine Frau, die alle Tugenden hat, darf auch nicht neugierig sein.“

Fanny machte aber keine Ausnahme von ihrem Geschlecht und wollte eben ihre Frage noch einmal wiederholen, als der Hauptmann die Thür öffnete. „Berlau will nicht mehr warten,“ rief er herein. „Er muß nach Hause.“

Mit einem Handkusse entfernte sich Wolf, und das Ehepaar war allein.

„Was hast Du denn mit dem Schindler gesprochen?“ fragte der Hauptmann.

„Geheimnisse, Alterchen! Er ist in mich verliebt,“ lachte Frau Fanny mit schelmischer Miene.

Lachend zog sie der Hauptmann in seine Arme, indem er sich für „den glücklichsten Ehemann Europas und der umliegenden Staaten“ erklärte.




Marie Sinders wurde nicht, wie sie gefürchtet hatte, entlassen, sondern im Gegenteil galt sie schon nach einigen Wochen als der ausgesprochene Liebling des Publikums. Mit jeder neuen Rolle eroberte sie sich die Gunst der Zuschauer mehr, während ihre Leistungen wiederum durch dieses Bewußtsein von Tag zu Tag freier und bedeutender wurden. Auch ihre gesellschaftliche Stellung gestaltete sich anders als je zuvor in einer andern Stadt. Frau von Schmidtlein führte sie mit der Mutter in die ihr befreundeten Familien ein und hatte die Genugthuung, daß die beiden Damen dort festen Fuß fassen konnten – Frau von Sindsberg durch ihre lebhafte und amüsante Unterhaltung, die einen frischen Zug in das Alltagsgespräch brachte, und Marie durch ihre sanfte, bescheidene Liebenswürdigkeit. Alle Damen schwärmten von ihr, und der Höhepunkt ihres Lobes gipfelte stets in den Worten: „Und sie ist absolut nicht kokett!“

Die Männer, die diese Schwärmerei teilten, konstatierten dasselbe mit einer kleinen Umänderung: „Sie ist reizend, aber absolut nicht kokett!“

Wurde eine solche Aeußerung in Berlaus Gegenwart gemacht, so lächelte er triumphierend und rieb sich erfreut die zarten blendendweißen Hände, als hätte man ihm persönlich eine Schmeichelei gesagt. Er machte kein Hehl daraus, daß er rasend in die junge Schauspielerin verliebt sei, und hatte zu seinem besonderen Vertrauten Wolf von Schindler erwählt. Als er diesem zum erstenmal davon sprach, hatte Wolf seine blitzenden blauen Augen weit geöffnet und ihn maßlos erstaunt angeblickt, dann über seinen blonden Bart gestrichen und gelächelt.

„Wie denken Sie sich denn das?“ hatte er gefragt und auf Berlaus verständnisloses Achselzucken mit merkwürdig drohendem Ton hinzugefügt: „Fräulein von Sindsberg ist keine kleine Choristin!“

Berlau schwieg verblüfft, nahm aber zu Hause, nachdem er seine Thür vorsichtigerweise verschlossen hatte, das Freiherrliche Taschenbuch und den Hofkalender zur Hand und zählte die Mesalliancen nach, welche in hohen und höchsten Häusern geschlossen worden waren. Zwar lag in seinem Fall die Sache eigentlich anders. Die Angebetete stammte aus einem alten, wenn auch verarmten Adelsgeschlecht, und er war ein Bürgerlicher. Sein Urgroßvater sollte ein schlesischer Weber gewesen sein. Aber jetzt war er reich und sie arm; er ein hochangesehener Gutsbesitzer, sie eine kleine Provinzschauspielerin. Eine Mesalliance war es also unbedingt, wenn er sich herabließ, sie zu heiraten. Anderseits aber war er völlig in sie vernarrt. Die Mama zwar würde sich mit aller Macht dagegen sträuben, aber das war das wenigste; schließlich geschah ja doch, was er wollte. Aber ob er überhaupt wollte, darüber war sich Kurt Berlau noch nicht ganz klar. Jetzt war es Januar, also hatte er noch volle vier Monate Zeit, bis die Saison zu Ende ging. Bis dahin konnte er sich die Sache noch gründlich überlegen. Und Marie? O, die würde schon wollen! Einen Kurt Berlau schlägt man nicht aus. Bei diesem tröstlichen Gedanken angelangt, klappte er beruhigt und siegessicher das Taschenbuch zu, ohne sich weiter mit unnützen Grübeleien aufzuhalten.

Als er Schindler das Resultat seiner Erwägungen mitteilte, blickte ihn dieser spöttisch an und murmelte: „Helena entfloh mit Paris … warum sollte Ihnen nicht auch das Glück blühen?“

Berlau suchte krampfhaft nach dem Zusammenhang dieser Bemerkung mit seinen Heiratsentschließungen, ohne indes einen solchen zu finden.

Wolf von Schindler wurde überhaupt im Laufe der Zeit überaus launisch. Nicht nur, daß er sich im Klub beim Spiel weigerte, bis zum frühen Morgen Revanche zu geben, er wurde auch sonst ein Spaßverderber. Die tollsten, lustigsten Streiche machte er nicht mehr mit, und seine besten Freunde beklagten sich: „Es ist nichts mehr mit ihm los, Schindler wird alt.“ Aber gerade damit trafen sie das Falsche. Schindler fühlte sich so jung wie seit langem nicht, „jünglinghaft“, wie er es selbst spöttisch bezeichnete. Wider seinen Willen hatte ihn eine starke Neigung gepackt. Mit aller Macht kämpfte er dagegen, rief seinen Pessimismus, seine Uebersättigung am Dasein zu Hilfe – umsonst, das Gefühl war stärker als alles und nahm triumphierend von seinem Herzen Besitz.

Jetzt waren es gerade fünf Wochen her, daß er die ersten Symptome an sich bemerkt hatte, bei einem ganz zufälligen Zusammentreffen. Und an welchem Orte! Die Klubgenossen würden sich schütteln vor Lachen, wenn sie es wüßten! Mußte ihn auch der Teufel am Weihnachtsabend zu der kranken alten Schachtel, dem Weibe des Straßenkehrers Josef hinführen! Nicht etwa, daß er den großherzigen Wohlthäter mit dem Weihnachtsbaum hatte spielen wollen, Gott bewahre! – es handelte sich einfach darum, einen Eselsstreich des besagten Josef zu verhüten. Schindler liebte es, sich und sein Haus gelegentlich auf eigene Faust medizinisch zu behandeln. Und da er neben seinen harmlosen Gaben stets doppelt reichliche Nahrung und guten Wein verschrieb und spendete, fand er dankbare Patienten, die den Ruhm ihres Herrn verkündeten. Als nun die Frau des alten Josef, der in der Villa allerhand Hilfeleistungen verrichtete und bei der Dienerschaft beliebt war, trotz der Behandlung durch den Armenarzt gar nicht wieder zu Kräften kommen wollte, da trug Karl seinem Herrn die Sache vor und dieser stürzte sich mit dem Eifer des Liebhabers auf den neuen Fall. Es war ihm Ehrensache, daß das Weib unter seinen Händen sich schleunigst wieder herausmache, und er hatte, als dies trotz Wein und Fleisch nicht rasch genug ging, gerade an jenem Tag durch Karl eine Flasche Pepton nebst Gebrauchsanweisung zu dem Alten hintragen lassen. Hinterher stiegen ihm Zweifel auf, ob dieser nicht am Ende das einfach für eine nene Suppenart ansehen und der Kranken unverdünnt reichen würde. Da hieß es, selbst nachsehen, damit keine Dummheit passierte, obgleich ihn ein solcher Besuch eine ziemliche Ueberwindung kostete. So tappte er denn, ohne viel nach rechts und links zu sehen, durch den schmutzigen Hof in das Hinterhaus. Und wie er durch die Thür, an welcher er sich noch tüchtig den Kopf anstieß, in die dumpfige niedere Stube mit dem schwülen Krankengeruche trat, schrie die Alte trotz ihrer kranken Lunge laut auf und brachte richtig den „edlen Wohlthäter“ aufs Tapet, dem der Himmel sein „mildthätiges Erbarmen“ lohnen werde! Er mußte den Redestrom über sich ergehen lassen. Beim Scheine des blakenden, qualmenden Petroleumlämpchens erkannte er dann Marie Sinders, die neben dem dürftigen Bett auf einem hölzernen Schemel saß. Sie stand auf, reichte ihm die Hand und sah ihn mit ihren großen Kinderaugen so bewundernd und liebevoll an, daß er – Wolf Schindler! – rot wurde. Wahrhaftig, er wurde rot; er fühlte es ordentlich!

Seit der ersten mißglückten Begegnung auf der „Schönen Aussicht“ hatte er sie öfters bei Frau von Schmidtlein und in anderen Familien getroffen und sich in seiner hochmütigen, herablassenden Weise mit ihr unterhalten. Auch an diesem Abend schlug er diesen Ton an; aber war es nun die Weihnachtsabendstimmung oder der Blick ihrer guten strahlenden Augen oder ihre süße Stimme, er fand seine kühle Gleichgültigkeit nicht wieder. Sie gingen miteinander fort, nachdem er der Kranken unbemerkt ein Zwanzigmarkstück zugeschoben hatte, und so schritten sie schweigend nebeneinander die Straße hinunter bis zum großen Marktplatz. Dort blieb sie stehen und verabschiedete sich, weil sie zur Bescherung für Mama noch Einkäufe zu machen hätte. Sie stand vor ihm wie damals auf der „Schönen Aussicht“ – in demselben Kleide. Ein kurzes, dunkelbraunes Plüschjackett, darunter ein schwarzer Rock, der die feinen, schmalen Füße sehen ließ.

„Du könntest notwendig einen warmen Pelzmantel brauchen, arme Kleine,“ fuhr es ihm durch den Sinn, als er sie in der Winterkälte zusammenschauern sah. Doch sie lächelte freundlich [371] und fragte ihn, von wem er denn heute beschenkt würde. Zu einer andern Stunde hätte er unfehlbar geantwortet, derartige Albernheiten seien nur für Kinder. Statt dessen seufzte er und deklamierte in rührendem Ton, er sei ein einsamer Mensch und hätte nieinand auf der Welt, von dem er etwas erwarten könne. Es war reizend anzuschauen, wie das Gesicht des jungen Mädchens plötzlich wehmütig wurde und sie ihn hilflos zögernd betrachtete. Das arglose, weichherzige Ding ging offenbar mit sich zu Rate, ob sie dem armen Einsamen nicht ein Plätzchen an ihrem Weihnachtstisch anbieten könne und dürfe. Und wie ihr dann der Mut fehlte und sie ihm ganz traurig „Gute Nacht“ und „Vergnügte Feiertage!“ wünschte und in ihrem Mitleid die große Männerhand unbewußt innig drückte – er hätte sie küssen mögen!

Seitdem interessierte sich Wolf ernstlich für die junge Schauspielerin, saß Abend für Abend, so oft sie spielte, im Theater, suchte ihre Nähe, ging dahin, wo sie verkehrte, und bemerkte plötzlich zu seinem Schrecken, daß er unheilbar verliebt sei und sich nach ihrem Besitz sehne mit der ganzen wilden Leidenschaftlichkeit seines ungezügelten Temperaments.




Kurt Berlau hatte für den Beginn der Woche eine gemeinschaftliche Schlittenpartie verabredet. Der Märzwind mußte bald dem Wintervergnügen ein Ende machen, deshalb sagten alle Bekannten mit Freuden ihre Beteiligung zu. Der Sonntag hatte Schnee und starken Frost gebracht; also war bis Dienstag gute Schlittenbahn zu erwarten. Dieser Tag wurde von Berlau festgesetzt und die Teilnehmer wurden davon benachrichtigt.

Zuvor hatte er natürlich genaueste Erkundigungen bei Fräulein von Sindsberg eingezogen, ob sie an diesem Tage bestimmt, aber auch ganz bestimmt nicht im Theater beschäftigt sei; denn nur ihretwegen fände die Partie statt. Sie mußte es feierlich beschwören und versprechen, nur in seinem Schlitten zu fahren, was sie lächelnd zugestand. Berlau war selig.

Als er von ihr fortging, begegnete er Wolf von Schindler. Sie blieben voreinander stehen und schauten sich fragend an. Es war sehr kalt; der Hauch ihres Mundes hatte sich an den sonst so sorgfältig gepflegten Schnurrbärten in Eis verwandelt, so daß dieselben schwer und naß über die Lippen hingen. Jeder scheute sich, den Mund zu öffnen, und hoffte, der andere würde den Anfang machen.

„Wohin?“ fragte Schindler endlich durch die Zähne.

„Ins Kasino,“ murmelte Berlau, die Eiszapfen fortblasend.

„Ah so!“ Schindler nickte ihm in seiner blasierten Art zu und machte Miene weiterzugehen.

„War bei den Damen Sindsberg!“ stieß der andere kurz hervor.

Schindler blieb plötzlich wie gebannt stehen. „Wieso? Was wollten Sie da?“

Die Temperatur mußte sich wohl verändert haben, denn Wolf von Schindler wurde es auf einmal siedend heiß. Berlau lächelte so vergnügt und machte eine ganz geheimnisvolle Miene.

„Habe Fräulein von Sindsberg zur Schlittenpartie eingeladen. Sie fährt – mit mir! Zähle die Minuten bis Dienstag! Uebrigens, seien Sie pünktlich um elf Uhr beim Rendezvous, Schindler!“

Wolf wandte sich mit einem vernichtenden Blick und kurzem Gruße ab und ließ den vorläufig vor Kälte zitternden Liebhaber etwas verblüfft stehen. Aber er konnte sich nicht mehr beherrschen. „Dummkopf, Dummkopf, warte nur!“ knirschte er durch die Zähne und eilte mit großen Schritten davon.

Dienstag Vormittag um elf Uhr lief Berlau in hellster Verzweiflung in seinem Zimmer auf und ab. Schindler stand mit sardonischem Lächeln vor ihm; er hatte die Nachricht gebracht, daß Fräulein Sinders nicht frei sei und sich vielmals entschuldigen lasse. Eine plötzliche Probe verhindere sie zu ihrem Leidwesen, von der freundlichen Einladung Gebrauch zu machen.

Berlau war ganz außer sich. Er wollte sofort zu Marie eilen, zum Direktor, zum Regisseur; aber Schindler hielt ihn zurück.

Das sei Unsinn, meinte er, und würde dem Fräulein nur Unannehmlichkeiten bereiten; außerdem sei sie bereits vor einer halben Stunde zur Probe gegangen. Also keine Rettung! Die Sache zu verschieben war der anderen Teilnehmer wegen unmöglich; es mußte also gefahren werden. Ohne sie … unerträgliches Pech! Seufzend begab sich Berlau hinunter zu seinem prächtigen Schlitten, in welchem seine Mama bereits Platz genommen hatte.

Wolf von Schindler wartete die Abfahrt nicht mehr ab. „Ich muß noch einmal nach Hause, aber warten Sie, bitte, nicht auf mich, ich hole Sie alle leicht ein,“ rief er Berlau zu und lief eilenden Schrittes davon.

Vor seiner Villa hielt schon der Schlitten mit einem Paar feuriger Ungarfüchse bespannt, die ungeduldig stampften. „Sie kommen mit, Karl – nur vorwärts, setzen Sie sich!“ rief er seinem Diener ungeduldig zu und sprang in das elegante Gefährt, das die Form einer Muschel hatte.

Wenige Minuten später hielt er vor dem großen, altertümlichen Hause, in welchem Frau von Sindsberg mit ihrer Tochter zwei einfach möblierte Zimmer innehatte. Der prächtige Schlitten erregte Aufsehen in der kleinen Straße, und bald stand die ganze Nachbarschaft an den Fenstern. Wolf warf dem Diener die Zügel zu und stieg hastig die Stufen hinauf mit einem Gefühl, wie er es nur als Schuljunge empfunden hatte, einer Mischung von fröhlichem Uebermut und schlechtem Gewissen.

Frau von Sindsberg öffnete ihm. „Sie, Herr von Schindler?“ fragte sie erstaunt und etwas verlegen. „Treten Sie näher, Herr Baron!“ Entschuldigend fügte sie hinzu: „Wir wohnen recht einfach, aber wir wohnen eben in Miete, da geht es nicht anders.“

Marie stand vor einem Spiegel und knüpfte sich eben den Schleier um den Hut. Als sie Wolf erblickte, überflutete eine dunkle Röte ihr Gesicht. „Wo ist Herr Berlau?“

Wolf lächelte gezwungen. „Dieser glückliche Berlau, er wird schwer vermißt!“ sagte er ironisch. „Er ist zu seinem größten Schmerze verhindert. Da darf ich wohl nicht hoffen, daß Sie einen Platz in meinem Schlitten annehmen?“

„O gewiß, es ist außerordentlich liebenswürdig von Ihnen!“ rief Frau von Sindsberg lebhaft. „Marie braucht so notwendig Zerstreuung; sie überarbeitet sich noch, das arme Ding!“

„Es ist nicht so schlimm, wie Mama es macht,“ sagte Marie mit ihrer sanften Stimme und beugte ihr ernstes, bleiches Gesicht herab, um ihre Mutter zum Abschied zu küssen. Dann empfahl sich auch Schindler, lebhaft bedauernd, daß die gnädige Frau ihres Unwohlseins wegen nicht mitfahren wolle. Er schwebte dabei in Todesangst, daß sich die lebenslustige Dame etwa noch anders besänne, und atmete erst erleichtert auf, als er endlich neben dem jungen Mädchen allein im Schlitten saß. Den Diener hatte er nach Hause geschickt.

(Schluß folgt.)



Blätter und Blüten.



Stärket die Brust eurer Kinder! Zu den gesundheitlichen Schäden, welche das Stadtleben mit sich bringt, gehört die mangelhafte Entwicklung der Arm- und Brustmuskeln unsrer Jugend. Auf Spaziergängen und auch bei Bewegungsspielen werden hauptsächlich die Beine geübt, während die Arme zumeist müßig sind. Die Folge davon ist, daß die Muskulatur des Oberkörpers schwach bleibt und Engbrüstigkeit sowie Verkrümmungen der Wirbelsäule besonders leicht zustande kommen. Am meisten leiden darunter die Mädchen, denen man nicht erlaubt, zu klettern und zu ringen, wie es die Jungen thun. Wer darum den Körper seiner Kinder harmonisch und gesundheitsgemäß ausbilden will, sollte auch für die Stärkung von Brust und Arm Sorge tragen. Am zweckmäßigsten geschieht dies durch das Turnen an Geräten, das aber in der Schule noch immer nicht in genügendem Maße geübt wird. Das Haus muß also in dieser Hinsicht ergänzend eingreifen und Knaben und Mädchen Gelegenheit zu derartigen Uebungen geben. Für wenig Geld lassen sich zweckmäßige Apparate wie Schweberinge, Reck u. dergl. in der Wohnung anbringen. Im Laufe des letzten Jahrzehnts hat sich auch ein Apparat bewährt, den die „Gartenlaube“ gleich nach seinem Auftauchen (vgl. Jahrg. 1886, Nr. 27) nach Gebühr gewürdigt und auch abgebildet hat. Es ist dies ein Arm- und Bruststärker, den Dr. Largiadèr, jetzt Rektor an der höheren Töchterschule in Basel, erfunden hat. Derselbe besteht aus zwei der Länge nach durchbohrten Handgriffen von Holz, welche mit beiden Händen erfaßt werden. Von der inneren Seite des einen Handgriffes geht eine starke Schnur zum anderen. An den Enden der mittels Doppelösen leicht zu verkürzenden und zu verlängernden Schnüre befinden sich Gewichte, welche aus mehreren abnehmbaren eisernen Platten bestehen und nach Bedürfnis leichter und schwerer gemacht werden können. Dank dieser Einrichtung kann der Apparat von allen Familienmitgliedern, von Kindern verschiedenen Alters, von jung und alt, benutzt werden.

Unser verstorbener Mitarbeiter Prof. Dr. Nußbaum hat das Turnen [372] überhaupt eine „herrliche Arznei“ genannt und so bewährt sich auch Largiadèrs Arm- und Bruststärker nicht nur als treffliches Mittel zur allgemeinen Förderung der Gesundheit, sondern kann auch vielfach zu Heilzwecken benutzt werden. Seit jener ersten Anzeige in der „Gartenlaube“ hat man in dieser Beziehung zahlreiche Erfahrungen gesammelt. Von hervorragenden Aerzten wurden regelmäßige Uebungen mit dem Apparat bei Eng- und Schmalbrust, bei gebückter Haltung und beginnender seitlicher Rückgratsverkrümmung, bei verschiedenen Verdauungsstörungen, Kongestionen nach dem Kopfe etc. empfohlen, die sich als erfolgreich bewährten. Neuerdings ist nun unter dem Titel „Largiadèrs Arm- und Bruststärker und seine Verwendung bei der Haus-, Schul- und Heilgymnastik“ ein treffliches Büchlein von Th. Zahn im Verlage von A. Zimmer in Stuttgart erschienen, in welchem diese Erfahrungen systematisch verwertet sind. Jeder, der den Apparat für sich oder seine Familienmitglieder benutzen will, wird aus demselben die nötige Belehrung schöpfen können. Uebungen mit derartigen Apparaten sollten im Hause namentlich bei ungünstiger Witterung, die den Aufenthalt im Freien einschränkt, von der Jugend vorgenommen werden. Dies sei den Eltern ans Herz gelegt! *     

Die Haussa-Schafe im Berliner Zoologischen Garten. (Mit Abbildung.) Wenn man einen Zoologen in Verlegenheit setzen will, so frage man ihn nach dem Ursprunge der Schafrassen. Ueber diesen Gegenstand ist schon sehr viel geschrieben worden, und der scharfsinnigsten Vermutungen giebt es eine schwere Menge; trotzdem sind wir heute noch nicht viel weiter als A. E. Brehm vor 25 Jahren, der sich denen anschloß, „die offen und ehrlich ihre Unkenntnis eingestehen und mit Recht betonen, daß bloße Annahmen die Lösung der Frage nicht fördern können“. Nur die Vergleichung einer großen Menge von Stücken kann hier helfen. Darum ist es eine dankenswerte Aufgabe aller derjenigen, welche in fremden Ländern sich das Interesse für die Tierwelt bewahren, genaue Beschreibungen der ihnen bekannten Schafrassen an ein großes zoologisches Museum der Heimat einzusenden oder, was natürlich viel besser ist, Felle, Skelette, Schädel und am liebsten lebende Tiere der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Die deutsche Expedition nach den Haussa-Ländern in Westafrika hat in dankenswerter Weise trotz der Fülle anderer ihr gestellten Aufgaben sich der Haustierfrage angenommen. Premierlieutenant von Carnap-Quernheimb, einer der Führer dieser erfolgreichen Expedition, erwarb bei Say am oberen Niger mehrere Schafe, die er dem Berliner Zoologischen Garten zum Geschenk machte. Diese Tiere, welche meine Frau sehr naturgetreu auf obigem Bilde festgehalten hat, sind so eigenartig, daß man vergeblich sich bemüht, eine Aehnlichkeit mit irgend einer wildlebenden Schafform herauszufinden. Es sind sehr große schlanke, hochbeinige Tiere mit zierlichen Hufen, welche im Bau fast an Antilopen erinnern. Der Schwanz ist lang, das Gehörn des Bockes steht wagerecht vom Kopf ab und ist lang ausgezogen; eine Rammsnase, Schlappohren, Klunkern am Vorderhalse und ein glattes Fell vervollständigen das Bild. Die Färbung ist braun und weiß, das Schaf ist langhaariger als der Bock und hat größere Halslappen, das Lamm ist dicht, fast wollig behaart. Es sind gutmütige Tiere, der Bock etwas mürrisch, das Schaf dagegen sehr lebhaft; alle drei kümmern sich wenig um das Publikum, sind aber gegen den Wärter sehr zutraulich. Wollte man sie zoologisch klassificieren, so würde man sie unter Ovis longipes unterbringen, welches Gmelin zuerst beschrieb und das schon von Adanson aus dem Hinterlande des Senegalgebietes erwähnt wird. Ich nenne sie Haussa-Schafe, weil sie aus den Haussa-Ländern stammen und vielleicht gerade für die Haussa-Völker charakteristisch sind. P. Matschie.     

Die Haussa-Schafe im Zoologischen Garten zu Berlin.
Nach dem Leben gezeichnet von A. Matschie-Held.

Die Ottendorfersche Freie Volksbibliothek in Zwittau in Mähren, die vor kurzem ihr drittes Verwaltungsjahr abschloß, liefert einen glänzenden Beweis, welche Erfolge man von einer mit hinreichenden Mitteln ausgestatteten und zweckmäßig eingerichteten Volksbibliothek erwarten darf. Herr Oswald Ottendorfer, der Eigentümer der New Yorker Deutschen Staatszeitung, hat das große Verdienst, mit der Bibliothek, die er seiner Vaterstadt Zwittau zum Geschenk machte, in einer von Deutschen bewohnten mährischen Stadt eine deutsche Volksbibliothek großen Stiles begründet und durch diese Musteranstalt die Sache der Volksbibliotheken in Deutschland und Oesterreich überhaupt hervorragend gefördert zu haben. Mit einem Kostenaufwand von 190 000 Gulden hat er das Gebäude für die Bibliothek aufführen und zweckentsprechend und behaglich einrichten lassen. In jedem Jahre spendete er zu ihrer Unterhaltung weitere bedeutende Summen, im letzten Jahre allein 11500 Gulden. Die Bibliothek weist nach dreijährigem Bestehen die stattliche Zahl von 9680 Bänden auf, die ein nach praktischen Gesichtspunkten geordneter, auch für den einfachen Mann leicht verständlicher gedruckter Gesamtkatalog verzeichnet.

Die Bürger der Stadt Zwittau wissen dieses außerordentliche Geschenk wohl zu schätzen; der rege Besuch des Lesezimmers und die ungemein hohe Ziffer der Entleihungen beweisen, wie viel den Zwittauern an ihrer Volksbibliothek gelegen ist. In dem dritten Verwaltungsjahre hatte das Lesezimmer 18625 Besucher, und außerdem sind 55021 Bände aus der Bibliothek entliehen worden.

Die Stadt Zwittau hat 8000 Einwohner; es entfallen also, abgesehen von der Benutzung im Lesezimmer, auf jeden Einwohner rund 7 entliehene Bände. Eine so hohe Benutzungsziffer ist selbst in England und Amerika, wo die Volksbibliotheken in höchster Blüte stehen, nicht erreicht worden.

In verschiedenen deutschen Städten, wie Berlin, Freiburg i. B., Schweidnitz, Frankfurt a. M., hat man in den letzten Jahren, freilich nicht immer mit so glänzenden Mitteln, wie sie Herr Ottendorfer in Zwittau zur Verfügung stellte, Volksbibliotheken mit Lesezimmern und günstigen Ausleihebedingungen errichtet, überall mit einem guten Erfolge. Möge darum diese Art, die Volksbildung zu fördern, auch in unserem Vaterlande immer weitere Verbreitung und viele neue Freunde und Gönner finden! Dr. J. L.     

Reisestaub. Längere Eisenbahnfahrten werden im Sommer, zumal bei trocknem Wetter, durch Staub und Schmutz oft unerträglich. Diese Uebelstände wenigstens teilweise zu vermindern, geht die preußische Staatsbahnverwaltung mit einer dankenswerten Neuerung vor, indem sie die wichtigsten Schnellzüge, die sogenannten D-Züge, durch eine Dienstfrau begleiten läßt, deren Aufgabe es ist, die Wagenabteilungen und Nebenräume unterwegs von Zeit zu Zeit zu reinigen. Namentlich soll der Staub oft entfernt, die von Aussteigenden in Unordnung zurückgelassenen Papiere, Zeitungen etc. beseitigt und Trink- und Waschwasser häufig erneuert werden. Die Bahnverwaltung erkennt hiermit an, daß die Reisenden, welche für die Benutzung der D-Züge neben dem Fahrgeld noch eine besondere Gebühr zu entrichten haben, auf die peinlichste Sauberkeit der Wagen Anspruch erheben dürfen, und gewiß wird der Wunsch berechtigt sein, daß dieser Fortschritt bald der Allgemeinheit zu gute kommen möge.



Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (21. Fortsetzung). S. 357. – Ilse. Bild. S. 357. – Gebirgswald mit Gummilianen im Togolande. Bild. S. 360 und 361. – In der Heimat der Gummiliane. S. 363. (Zu dem Bilde S. 360 und 361.) – Die Wiener Kongreßausstellung. Von Ludwig Hevesi. S. 364. Mit Abbildungen S. 364, 365, 368 und 369. – Ein unbedachtes Wort. Novelle von M. Misch (2. Fortsetzung). S. 367. – Der Wiener Kongreß. Bild. S. 368 und 369. – Blätter und Blüten: Stärket die Brust eurer Kinder! S. 371. – Die Haussa-Schafe im Berliner Zoologischen Garten. Von P. Matschie. Mit Abbildung. S. 372. – Die Ottendorfersche Freie Volksbibliothek in Zwittau in Mähren. S. 372. – Reisestaub. S. 372.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No. 22. 1896.



Julius Sturm. Ein religiöser Dichter, der neben Karl Gerok die deutsche Zionsharfe mit edler Kunst und andächtigem Schwung geschlagen, ist dahingeschieden! Julius Sturm starb am 2. Mai in Leipzig. Am 21. Juli 1816 zu Köstritz geboren, hat er fast das achtzigste Lebensjahr erreicht.

Julius Sturm.
Nach einer Photographie von Max Heinz in Waldenburg. i. Schles.

Sein Leben war eine Pfarrhausidylle, die sich fast ganz auf dem heimatlichen Boden in seinem Geburtsort abspielte. Nur seine Hauslehrerstellen, die er nach Vollendung seiner Studien erst in Heilbronn in Württemberg und dann in Friesen in Sachsen bekleidete, sowie seine erzieherische Thätigkeit, die ihn mit seinem Zögling, dem Prinzen von Reuß, nach Meiningen führte, und später ein Seelsorgeramt im Dorfe Göschitz bei Schleiz machten ihn in seinen jüngeren Jahren dem Heimatorte untreu; doch seit 1857 lebte er dauernd in Köstritz als Pfarrer und nach seiner Pensionierung 1885 als Geheimer Kirchenrat. Zuerst erregte er Aufsehen durch seine „Frommen Lieder“ (1852), welche auch die erfolgreichste seiner Gedichtsammlungen blieben und zwölf Auflagen erlebten. In diesen wie in seinen späteren religiösen Gedichten herrscht eine gesunde Frömmigkeit, welche der Muckerei und Möncherei den Krieg erklärt und einer freudigen Lebensanschauung berechtigten Raum gewährt:

Drum wandl’ ich singend stille Lebenspfade
Und lausch’ der Nachtigall und pflück’ die Rose
Und preise fröhlich meines Gottes Gnade.

Das ist die Grundstimmung der religiösen Gedichte. In Sturms anderen Sammlungen finden sich reizende Naturbilder, auch schwungvolle Gedichte patriotischen Inhalts; anheimelnd sind seine Kinderlieder, sinnvoll seine Fabeln; Formenschönheit und melodischer Guß und Fluß sind allen seinen Liedern eigen.

Die neue Festtracht der Berliner Kunstakademiker.
Nach einer Originalzeichnung von Ewald Thiel.

Die neue Festtracht der Berliner Kunstakademiker. Vor einiger Zeit verlieh der Kaiser den Professoren der königlichen Akademie der bildenden Künste in Berlin ein scharlachrotes Dogenkostüm mit weiten Aermeln und goldener Ehrenkette als Festtracht. Dadurch wurde auch bei den Schülern der Akademie der Wunsch rege, für ihre Vertreter bei festlichen Gelegenheiten, die bis dahin die gewöhnliche Studententracht trugen, eine neue, zugleich malerische und charakteristische Tracht anzuschaffen. Es wurde dazu das Rubenskostüm gewählt. Diese prächtige Tracht besteht aus einem breitrandigen schwarzen Filzhut mit gelben Federn, einem schwarzsammetenen Wams mit gemusterten schwarzen Aermeln, ebenso gemusterten schwarzsammetenen Kniehosen, schwarzseidenen Strümpfen mit Knieschleifen und schwarzen breitspitzigen Schuhen. Unter einer gelbseidenen Feldbinde hängt an reichverziertem Bandelier schräge ein Pallasch, und über der linken Schulter wird ein schwarzsammetener Mantel getragen. Hellgelbe Stulphandschuhe und eine vergoldete Ehrenkette mit dem Künstlerwappen vervollständigen das Kostüm. Bei der Feier des zweihundertjährigen Jubiläums der Berliner Akademie der Künste, welche am 2. Mai durch eine Festsitzung in der Rotunde des Alten Museums eröffnet wurde, hatten die Akademiker zum erstenmal Gelegenheit, in dieser Tracht öffentlich aufzutreten. Unser Bild zeigt eine Gruppe derselben aus der Aufstellung zum Empfang der Gäste vor dem Eingang zum Festraum.

Dr. Georgine v. Roth. Die Bewegung, welche die Erschließung der gelehrten Berufe für die Frauen sich zum Ziel gesetzt hat, gewinnt erfreulicherweise zunehmende Anerkennung. Man lernt auch in einflußreichen Kreisen die Aerztinnen immer mehr schätzen und entschließt sich hier und dort, ihnen auch amtliche Stellen zu übergeben.

Dr. Georgine v. Roth.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph V. Angerer in Wien.

So wurde neuerdings die Aerztin Fräulein Dr. Georgine v. Roth vom österreichischen Reichskriegsminister als Assistentin des Chefarztes mit der ärztlichen Ueberwachung der Zöglinge des k. k. Offizierstöchterinstituts in Wien betraut. Fräulein v. Roth wurde als Tochter eines höheren Offiziers am 21. Oktober 1861 auf Schloß Bibersberg in den Kleinen Karpathen geboren. Frühzeitig erwachte in ihr der Wunsch, eine höhere wissenschaftliche Bildung zu erlangen. Nach dem im Jahre 1879 erfolgten Tode ihres Vaters widmete sie sich in Zürich und Genf medizinischen Studien und erwarb nach Abschluß derselben das Doktordiplom. Seit 1892 vervollkommnete Fräulein Dr. v. Roth ihre Kenntnisse noch weiter in Wiener Krankenhäusern.


Hauswirtschaftliches.

Abstäuber. Für das Abstäuben von Bildern sollte man einen eigens dazu bestimmten Abstäuber haben, den eine geschickte Hausfrau sich selbst leicht herstellen kann. Man braucht dazu einen ziemlich starken, beliebig langen Rohrstab, der an einem Ende mit zwei 4 cm voneinander entfernten Löchern versehen wird. Man überzieht diesen Stock mit Hälelarbeit, die man aus ungebleichter Hauschildscher Baumwolle Nr. 1 und gleichstarker roter Baumwolle herstellt. Man schließt 4 weiße Luftmaschen zu einem Ringe, häkelt in diesen 2 Kettenmaschen 3 feste Maschen und 6 Stäbchen und arbeitet dann immer mit Stäbchen in der Runde weiter, bis der Ueberzug die passende Länge hat, wobei man immer drei weiße Touren mit einer roten abwechselt, zieht ihn darauf über den Stock und schließt ihn mit festen Maschen. Der eigentliche Abstäuber besteht aus 40 etwa 12 cm langen Bändern, die zur Hälfte rot, zur Hälfte weiß gehäkelt werden. Zu jedem einzelnen schlägt man 20 Luftmaschen auf und häkelt darauf 2 Touren feste Maschen, wobei man bei der ersten Tour die Anschlagmasche sowohl wie das darunter liegende Kettenglied faßt. Jedes fertige Band wird auf eine kräftige Einlegeschnur gereiht, welche man zwischen den beiden eingebohrten Löchern hindurch fest um den Stock wickelt, während Anfang und Ende der Schnur in den Löchern befestigt wird. Acht der Bänder knotet man zuletzt zwischen den anderen ein, damit die Form des Abstäubers zierlicher wird. Durch das untere Loch bindet man eine große rote Bandschleife. Wenn der Stäuber schmutzig ist, wird er einfach in Seifenwasser gewaschen. Man kann übrigens den Bilderabstäuber auch zum Reinigen zarter und leicht zerbrechlicher Dinge anwenden, welche die Behandlung mit einer Bürste nicht vertragen.He.     
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