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Die Gartenlaube (1896)/Heft 14

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[221]

Nr. 14.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (13. Fortsetzung.)

Das Thal von Kronsberg lag im hellen Mondlichte, und Mitternacht mochte bereits nahe sein, als eine dunkle Männergestalt den Weg hinaufstieg, der nach Burgheim führte. Aber der rasche, feste Schritt wurde langsamer, je mehr er sich dem Ziele näherte, und eine Strecke davon entfernt blieb der Fremde stehen und blickte auf den Giebel des alten Hauses, der sich hell beschienen aus den Tannen emporhob. Minutenlang stand der einsame Wanderer regungslos da, dann stieg er vollends zu der

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Konfirmandinnen in einer holländischen Dorfkirche.
Nach dem Gemälde von Th. Grust.

[222] Höhe empor und trat unter eine mächtige Linde, die ihre Aeste weithin streckte. Sie trug das erste zarte Grün, das noch keinen Schatten gab, und durch die erst halb belaubten Zweige fiel das volle Mondlicht auf den Mann, der sich an den Stamm lehnte. Es war eine hochgewachsene Gestalt in dunkler Reisekleidung, unter dem Hute hervor drängte sich üppiges, blondes Haar, das mit der auffallend dunklen Färbung des Gesichtes im Widerspruch zu stehen schien, und der Blick schweifte langsam, wie suchend über die ganze Umgebung.

Das Thal und die Berge ruhten im träumerischen Glanze der Mondnacht. Das weiße Licht lag hell auf den Dächern und Häusern der alten Bergstadt mit ihrer jetzt zum Fürstenschloß gewordenen Feste. Man sah deutlich die hohen Giebel, die engen Straßen, die Brücke, welche über den Fluß führt, und jenseit derselben die weißen Häuser und Villen des Badeortes. Und über dem allen lag tiefe Ruhe und tiefer Frieden.

Es war eine kalte, beinahe rauhe Frühlingsnacht, aber der Fremde dort unter der Linde atmete die herbe Luft in so tiefen, vollen Zügen, wie ein Durstiger den erquickenden Trank schlürft, und jetzt richtete er sich empor und lauschte weit vorgebeugt. Die Luft war ruhig, kein Windhauch regte sich, aber von den Bergen herüber kam ein Hallen und Rauschen, das in der stillen Nacht weithin vernehmbar war. Dort oben, unter den starren, weißen Gipfeln schien ein geheimnisvolles Leben erwacht zu sein, es klang wie fernes, fernes Brausen und Tosen, wie dumpfe Meeresbrandung.

„Ah, die Gletscherbäche!“ sagte der nächtliche Wanderer halblaut, mit einem tiefen Atemzuge. „Der Schnee schmilzt da droben, die Wasser stürzen – es wird Frühling im Lande!“

Er wandte sich wieder nach Burgheim zurück und versuchte durch das Gitterthor einen Einblick zu gewinnen, aber das war kaum möglich, denn das Haus lag still und dunkel da im Schatten der hohen Bäume, es war kaum in seinen Umrissen sichtbar.

„Mauern und Gitterthor!“ murmelte er. „Sonst war eine lebendige Hecke hier und eine kleine Gartenpforte. Das Haus scheint unverändert zu sein, aber die Tannen sind hochgewachsen und die alte Linde hier draußen auch. Ob ich mir den Eingang suche? Da drinnen schläft ja alles und im schlimmsten Falle – gleichviel, ich muß hinein!“ Ein Druck an der Gitterthür zeigte ihm, daß sie fest verschlossen war, er betrachtete prüfend die Mauer, die, hoch und glatt, nicht den mindesten Stützpunkt für den Fuß bot, aber die weit ausgebreiteten Aeste der Linde reichten bis in den Garten und der Fremde blickte mit einem flüchtigen Lächeln zu ihr hinauf.

„Nun, so versuche ich es mit Dir, Du alter Freund. Hast mich ja oft genug getragen, so thu’ es heut’ noch einmal!“

Er klomm gewandt an dem knorrigen Stamme empor, schwang sich auf den größten Ast und gewann die Höhe der Mauer. Ein kecker Sprung trug ihn hinunter in den Garten. Drinnen im Hause schlug ein Hund an, kurz und laut, aber da der Eindringling die Vorsicht gebrauchte, einige Minuten lang regungslos stehen zu bleiben, so schien sich das Tier wieder zu beruhigen, es verstummte.

Langsam schritt nun der nächtliche Wanderer durch den halbverwachsenen und verwilderten Garten dem Hause zu. Das Mondlicht, das draußen so hell auf der Erde lag, schien hier abzugleiten an den schwarzen finsteren Tannen, nur hin und wieder ließen die Zweige oder das dichte Gebüsch einzelne Strahlen hindurch, die gespenstig über den Boden hinhuschten. Die stille Mitternachtsstunde, das dunkle, einsame Haus, das dämmernde bläuliche Licht, das alles hatte etwas Geisterhaftes, etwas, das fernab zu liegen schien von dem Leben und der Welt im hellen Strahl des Tages.

„Die echte deutsche Märchenstunde!“ sagte der Fremde leise. „Kaum setzt man den Fuß auf den alten Boden, so ist man auch schon wieder in dem alten Bann, und ich glaubte doch frei geworden zu sein in den langen Jahren. Da dringe ich wie ein echter, rechter Märchenheld ein in das verwunschene Schloß, das im Zauberschlafe liegt, und mache mich unglaublich lächerlich, wenn ich dabei ertappt werde – aber lassen kann ich es nicht!“

Er stand jetzt vor dem Hause, dessen Läden fest geschlossen waren, nur der hohe Giebel ragte hinein in das Mondlicht, alles andere lag in tiefem Schatten. Aber durch zwei Tannenwipfel hindurch fiel ein breiter, heller Streifen gerade auf die Terrasse und auf die halbeingesunkenen, moosbewachsenen Stufen, die zu dem Eingang hinaufführten. Der fremde Mann blickte stumm und unverwandt darauf nieder, lange, lange Zeit, dann plötzlich warf er sich auf die Knie und drückte seine Lippen auf die verwitterten moosigen Steine, so heiß, so leidenschaftlich wie ein Pilger, der die heilige Stätte grüßt – wie der verlorene Sohn, der die Schwelle der Heimat küßt!

Da schlug drinnen im Hause von neuem der Hund an, diesmal lauter und anhaltender und es mußte auch noch jemand wach sein, denn man vernahm eine gedämpfte Frauenstimme, die das Tier beschwichtigte: „Still, Wotan! Es ist ja Bastian – kennst du ihn denn nicht?“

Der Fremde war aufgesprungen und wollte den Rückzug antreten, aber das Klirren eines Riegels verriet ihm, daß es bereits zu spät war. Wenn er jetzt durch den Garten eilte, mußte er bemerkt werden, der Hund spürte ihn jedenfalls auf. Er trat deshalb rasch seitwärts in das dichte Tannendunkel, das keinen Mondstrahl hindurchließ, und drückte sich fest an einen Baumstamm.

Der Riegel wurde in der That zurückgeschoben, ein heller Lichtschein fiel auf die Steintreppe und in der geöffneten Thür zeigte sich eine schlanke Mädchengestalt. „Bist Du schon zurück, Bastian?“ klang es in die Nacht hinaus. „Wird der Arzt kommen?“

Es erfolgte keine Antwort, der Fremde stand regungslos unter der Tanne und blickte auf die Erscheinung, die nun freilich so ganz dieser „Märchenstunde“ entsprach. Die Lampe, die das junge Mädchen in der Hand hielt, beleuchtete voll ihr Gesicht und die reichen, goldig schimmernden Flechten, die sich wie ein Kranz um den Kopf legten; aber neben ihr wurde jetzt auch ein mächtiger schwarzgrauer Hund sichtbar, der trotz der Beschwichtigung argwöhnisch und spürend den Kopf hoch emporstreckte.

Befremdet durch das Ausbleiben der Antwort, setzte Elsa die Lampe in der Flurhalle nieder und trat vollends heraus. Wotan aber schien jetzt zu wittern, daß sich irgend etwas Fremdes in der Nähe befand. Er stieß ein dumpfes, drohendes Knurren aus und drängte sich an seiner Herrin vorüber auf die Terrasse; dann aber schoß er plötzlich mit lautem wütenden Gebell die Stufen hinab und auf die Tannen zu, er hatte den Eindringling entdeckt.

Jeden anderen würde der Anfall des riesigen Tieres niedergeworfen haben, hier aber taumelte es, von einem furchtbaren Faustschlag getroffen, halb betäubt zurück, doch nur einen Augenblick lang. Dann stürzte es sich von neuem mit noch größerer Wut auf den Unbekannten und es schien sich ein wilder Kampf zwischen den beiden zu entspinnen.

„Wer ist da? Was hast Du, Wotan?“ rief das junge Mädchen, das gespannt lauschte, was denn Wotan etwa Feindseliges aufgespürt habe. Da klang eine fremde Stimme von drüben her: „Rufen Sie den Hund zurück! Ich bin in der Notwehr – wenn er mich nicht losläßt, erwürge ich ihn!“

Das schien keine bloße Prahlerei zu sein, denn das eben noch so laute Gebell Wotans klang jetzt dumpf und halberstickt, als fehlte ihm der Atem. Ohne Besinnen eilte Elsa die Stufen hinunter zu den Ringenden, die während des minutenlangen Kampfes in das Freie gelangt waren. Der riesige Wotan stand halb aufrecht, die Tatzen auf den Schultern des Fremden, den er gepackt hielt, aber dieser hatte beide Fäuste an der Gurgel des Tieres, das vergebens seine ganze Kraft aufbot, sich frei zu machen. Die eisernen Hände dort ließen nicht los und machten es wehrlos, seine wilden Laute erstarben in einem angstvollen Keuchen und Röcheln.

„Lassen Sie los!“ rief das junge Mädchen halb erschrocken, halb befehlend und riß den Hund am Halsbande zurück. „Wotan, hierher – leg Dich nieder!“

Der Fremde gehorchte, seine Hände lösten sich und er trat zurück, aber auch Wotan folgte dem Rufe seiner jungen Herrin. Mit dumpfem drohenden Murren kauerte er sich an ihrer Seite nieder, aber er erneuerte den Angriff nicht. Elsa schien seine Nähe für einen genügenden Schutz zu erachten, denn sie machte keine Miene, in das Haus zu flüchten, sondern hielt dem unerwarteten Abenteuer stand.

„Was wollen Sie hier? Wer sind Sie?“ fragte sie in einem Tone, der mehr Unwillen als Furcht verriet. Der Unbekannte zog den Hut und machte eine Verbeugung, so ruhig und artig, als stehe er in einem Salon und habe nicht soeben erst einen gefahrvollen Kampf bestanden. „Ein Fremder, mein Fräulein,“ antwortete er, „der um Verzeihung zu bitten hat, daß er unberechtigterweise in Ihren Garten geraten ist.“

Elsa stutzte beim Laut dieser Stimme, es war ihr, als hörte sie diesen vollen, tiefen Klang nicht zum erstenmal. Betroffen sah sie auf den Mann, der nur wenige Schritte von ihr entfernt im hellen Mondlichte stand, denn der Mond war jetzt über die Tannenwipfel emporgestiegen und erhellte den ganzen Platz vor dem Hause. [223] Sie blickte in ein völlig fremdes Gesicht, in ein paar große flammende Augen, die unverwandt auf ihr ruhten und ihr dieselbe Empfindung erweckten, als habe sie diese Augen schon einmal gesehen.

„Der Garten ist fest verschlossen,“ sagte sie mit scharfer Betonung. „Wie sind Sie hereingekommen?“

„Ueber die Mauer!“ versetzte der Fremde so gelassen, als sei dieser Weg ganz selbstverständlich. „Ich kann Ihnen trotzdem die Versicherung geben, mein gnädiges Fräulein, daß ich weder ein Räuber noch ein Dieb bin. Sie haben durchaus nichts von mir zu fürchten.“ Es lag etwas in der Sprache und der Haltung des Mannes, das seine Worte zu bestätigen schien, ein energischer Stolz, der jede beleidigende Annahme zurückwies. Auch Elsa mochte das fühlen, denn sie wiederholte in gemildertem Tone ihre Frage von vorhin:

„Und was wollten Sie hier, zu dieser Stunde?“

„Mir den Garten und das Haus etwas näher ansehen! Das glauben Sie mir nicht, mein Fräulein? Ich begreife das vollkommen, es ist mir aber leider nicht möglich, Ihnen eine andere Erklärung zu geben. Ich bitte nochmals um Verzeihung wegen der Unruhe, die ich unfreiwillig veranlaßt habe.“

Er blickte auf den Hund, den das junge Mädchen noch immer am Halsbande festhielt. Wotan war an strengen Gehorsam gewöhnt. Da seine Herrin ihm befohlen hatte, ruhig zu sein, so regte er sich nicht, aber er bewachte mit glühenden Augen seinen Feind, bereit, sich beim ersten Zeichen eines weiteren Vordringens wieder auf ihn zu stürzen, und ließ von Zeit zu Zeit einen dumpfen, drohenden Ton hören.

Elsa war offenbar im Begriff, die Unterredung abzubrechen; da sah sie an der herabhängenden Hand des Fremden einen schmalen roten Streifen, es war Blut, das aus dem Aermel herabrieselte.

„Sind Sie verwundet?“ fragte sie rasch.

Er lachte kurz und spöttisch auf und blickte gleichfalls auf seine Hand nieder. „Es scheint so. Ein kleines Liebeszeichen Ihres Wotan! Es ist nicht von Bedeutung, aber ich habe seine Zähne doch gespürt, als er mich vorhin an der Schulter packte.“

„Wotan hat nur seine Pflicht gethan,“ sagte das junge Mädchen mit herber Entschiedenheit. „Er soll das Haus bewachen und darf es nicht dulden, daß ein Fremder zur Nachtzeit hier eindringt. Sie können von Glück sagen, daß ich herbeikam und ihn zurückhielt, er hätte Sie sonst vielleicht zerrissen.“

„Glauben Sie das, mein Fräulein?“ fragte der Fremde, dessen Augen noch immer auf ihrem Gesichte ruhten. „Ich fürchte, der Ausgang wäre ein anderer gewesen, denn ich hätte mich schwerlich gutwillig zerreißen lassen, und ich habe wohl noch andere Kämpfe bestanden als den mit einem gereizten Hunde. Es hätte Ihnen wahrscheinlich das schöne Tier gekostet.“

War es der Spott in diesen Worten, der Elsa reizte, oder der Gedanke, ihr Liebling hätte wirklich das Opfer werden können, sie richtete sich plötzlich empor, sah den kecken Eindringling, der es nun gar noch wagte, zu drohen, von oben bis unten an und wies dann mit einer verächtlichen Gebärde hinaus. „Gehen Sie! Der Weg über die Mauer ist ja immer offen für Sie und Ihresgleichen. Ich werde den Hund so lange festhalten, bis Sie draußen sind.“

Der Fremde zuckte leicht zusammen bei diesem verächtlichen Tone und sein Blick sprühte zornig auf, man hörte die Gereiztheit in seiner Stimme, als er erwiderte: „Sie gebrauchen Ihr Hausrecht sehr nachdrücklich. Freilich, es ist meine Schuld, wenn ich hier wie der erste beste Ritter von der Landstraße behandelt werde. Ich kann Ihnen nur wiederholen, daß ich weder rauben noch stehlen wollte. Vielleicht gelingt es mir noch einmal, Sie davon zu überzeugen, für jetzt habe ich die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen, Fräulein von Bernried!“

Er legte einen beinahe hohnvollen Nachdruck auf das letzte Wort, verbeugte sich noch einmal und verschwand im Dunkel der Gebüsche. Ein Geräusch in der Nähe der Linde verriet bald darauf, daß er den Garten auf demselben Wege verließ, auf dem er gekommen war, und einige Minuten später sah man die hohe dunkle Gestalt am Gitterthor vorübergehen. Das junge Mädchen ließ jetzt den Hund los, der es offenbar nicht begriff, daß der Eindringling so unbehelligt gehen durfte, und sehr unzufrieden damit war. Er stürzte schleunigst nach dem Gitter und begann dann rastlos den ganzen Garten zu durchstreifen, als wollte er sich überzeugen, daß niemand mehr dort sei.

Elsa achtete nicht darauf, sie stand noch immer da und hatte die Hand an die Stirn gelegt, als sinne sie angestrengt über etwas nach. Wo hatte sie diese Stimme schon gehört, diese Augen gesehen? Der Mann war ihr ja fremd, sie kannte ihn nicht und doch war es ihr, als sei er ihr schon einmal begegnet, vor langer, langer Zeit. Und als hätten jene flammenden Augen einen Bann gebrochen, so tauchten jetzt seltsame Bilder auf, die längst versunken und vergessen waren: eine weiße, leuchtende Stadt, ein breiter, schimmernder Strom, hohe, fremdartige Bäume, die ihre Kronen bis in den Himmel hoben, und über dem allen heiße, brennende Sonnenglut. Das alles schwankte und zerfloß in nebelhaften Umrissen, es versank und tauchte wieder auf, die Bilder waren nicht festzuhalten, aber sie gaben auch keine Ruhe mehr.

Das junge Mädchen träumte mit offenen Augen, träumte in der kalten nordischen Frühlingsnacht von dem fernen Sonnenlande. Die Alpengipfel ringsum starrten in Schnee und Eis, aber wieder klangen jene geheimnisvollen Stimmen herüber, jenes dumpfe Brausen und Tosen. Der Schnee löste sich da droben, die Wasser stürzten. – Es wurde Frühling im Land!




Lothar Sonneck hatte, wie im vergangenen Jahre so auch diesmal, seine Wohnung in der Bertramschen Villa genommen, deren oberer Stock in den Sommermonaten vermietet wurde, und der Hofrat und seine Frau thaten das möglichste, es dem berühmten Gast in ihrem Hause behaglich und angenehm zu machen. Reinhart Ehrwald, der von Tag zu Tag erwartet wurde, sollte gleichfalls hier wohnen, und die drei Jungen des Doktors hatten bereits verschiedene Empfangsfeierlichkeiten für den neuen „afrikanischen Onkel“ geplant, selbstverständlich mit allerlei afrikanischen Anspielungen. Leider kam diese schöne Idee nicht zur Ausführung, denn der Erwartete traf ganz plötzlich, ohne vorherige Anmeldung ein. Er kam eines Morgens zu Fuß und ohne Gepäck, fragte nach Herrn Sonneck und begab sich sofort zu ihm.

Im Wohnzimmer Lothars saßen die beiden Gefährten, die fast ein Jahrzehnt lang unzertrennlich gewesen waren und gemeinsam Gutes und Böses durchlebt und getragen hatten. Der eine mit grauen Haaren und schwindender Kraft, der andere noch in der ersten Blüte des Mannesalters und in der Vollkraft des Lebens. Aber das Verhältnis zwischen ihnen war ein anderes geworden. Der ältere, dem Jahre und Erfahrungen einst ein so großes Uebergewicht über seinen Schützling gaben, behandelte diesen jetzt auf dem Fuße völliger Gleichheit, und der jüngere hatte längst das respektvolle „Herr Sonneck“ fallen lassen und gab ihm das brüderliche Du.

Auch an Ehrwald war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Seine hohe Gestalt, welche die Sonnecks weit überragte, war sehniger, markiger, die Züge waren fester und tiefer geworden. Das Leben voll Kampf und Gefahr, voll Anstrengungen und Entbehrungen hatte auch bei ihm Spuren zurückgelassen, aber sie standen dem Antlitz gut, das die afrikanische Sonne so dunkel gebräunt hatte. Nur das blonde Haar, das sich ebenso üppig wie einst um die hohe Stirn krauste, verriet noch den Deutschen. Seine Haltung war ruhiger, seine Erscheinung überhaupt reifer und ernster geworden, aber in den dunklen Augen flammte noch immer das alte Feuer. Jenes heiße, volle Leben, das einst so stürmisch das ganze Wesen des Jünglings durchflutete, war auch dem Manne geblieben. Er war noch jung, trotz seiner vierunddreißig Jahre.

„Mußt Du denn immer so überraschend und blitzartig kommen und gehen!“ sagte Sonneck in einem Tone, der vorwurfsvoll sein sollte und doch die ganze Freude dieser Ueberraschung verriet. „Da warte ich täglich auf das Telegramm, das mir Deine Ankunft melden soll, und auf einmal trittst Du selber zur Thür herein. Bist Du die ganze Nacht hindurch gefahren?“

„Nein, ich bin schon gestern abend angekommen,“ versetzte Reinhart. „Es war aber sehr spät und da wollte ich das Haus hier nicht in Unruhe bringen mit meiner nächtlichen Ankunft. Ich stieg deshalb im Hotel ab, das heißt, ich schickte meinen Wagen mit dem Gepäck dorthin, und ich selber –“ er hielt inne.

„Nun, und Du?“

„Ich bin zur Abwechslung einmal sentimental gewesen und ein Paar Stunden lang im Mondschein umhergestreift. Ich wollte sie doch wiedersehen – die alte Heimat!“

Die Worte klangen halb spöttisch, Sonneck sah ihn prüfend an.

„Ja, Reinhart, es hat lange gedauert, ehe ich erfuhr, daß Kronsberg Deine Heimat ist. Du schwiegst jahrelang hartnäckig darüber und ich mochte nicht in Dich dringen. Warst Du – in Burgheim?“

„Ja!“ Das Wort klang beinahe grollend.

[224]

Photographie im Verlag der Photographischen Union in München.
Der junge Goethe auf dem [Mühl]berg bei Frankfurt a. M.
Nach dem Gemälde von Frank Kirchbach.

[225] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [226] „Ich dachte es mir! Du wirst nicht viel gesehen haben von dem Hause. Helmreich hat den ganzen Garten mit einer Mauer umziehen lassen, da ist ein Einblick zur Nachtzeit kaum möglich.“

Ehrwald schwieg. Es wäre doch nur natürlich gewesen, das nächtliche Abenteuer dem Freunde zu erzählen, der, wie er längst wußte, ein täglicher Gast in Burgheim war, aber es war, als ob irgend etwas dem Manne die Lippen schließe, er brach rasch ab.

„Doch nun vor allen Dingen, wie geht es Dir? Deine Briefe brachten mir ja die besten Nachrichten! Bist Du ganz genesen?“

„Wenigstens zum größten Teil, und Bertram stellt mir in einigen Monaten die volle Genesung in Aussicht. Jetzt heißt es nur noch Schonung – Ruhe – Geduld! Das sind freilich Worte, die wir beide nie gekannt haben, aber ich habe sie lernen müssen. Laß Dir das zur Warnung dienen, Reinhart, Du bist auch zehn volle Jahre lang nicht in Europa gewesen. Man nutzt sich schnell ab in den Tropen und auch Deine eiserne Gesundheit wird schließlich erliegen, wenn Du Dir nicht einmal Ruhe gönnst.“

„War das möglich in unserm bisherigen Leben?“ fragte Reinhart achselzuckend. „Uebrigens hängen meine nächsten Zukunftspläne ja von den Verhandlungen in Berlin ab. Das ist auch wieder eine von Deinen Aufopferungen, Lothar! Man hatte Dich für die Stellung in Aussicht genommen, ich weiß es, und Du lehntest ab und setztest Deinen ganzen Einfluß für mich ein.“

„Weil ich schon damals wußte, daß ich einer solchen Stellung nicht mehr gewachsen bin,“ sagte Lothar ernst. „Damit ist’s für mich zu Ende. Ich habe allerdings, als ich im Winter in Berlin war, das möglichste gethan, Dir dort die Wege zu ebnen; ob Du aber bei Deinem stolzen Selbständigkeitsgefühl fertig wirst mit den Herren am grünen Tische, ist eine andere Frage. Doch das wird sich ja finden, einstweilen bin ich froh, Dich ein paar Wochen für mich zu haben. Auch Bertram und seine Frau freuen sich sehr, Dich wiederzusehen, und dann wirst Du auch noch eine andere Bekannte aus früherer Zeit wiederfinden – Lady Marwood ist hier.“

„Zenaide von Osmar?“ rief Ehrwald überrascht. „Hast Du sie bereits gesehen?“

„Jawohl, gestern. Sie soll die Kronsberger Quellen gebrauchen und beabsichtigt, den ganzen Sommer hier zu bleiben. Du weißt wohl, daß sie von ihrem Gemahle getrennt lebt?“

„Allerdings – man spricht in Kairo sehr viel über sie.“

„Das hat man leider von jeher gethan. Marwoods Name und Rang stellen ihn nun einmal in die erste Reihe und Zenaide ist eine gefeierte Schönheit in der großen Welt. Solche Persönlichkeiten sind immer die willkommensten Gegenstände für die üble Nachrede.“

Reinhart antwortete nicht. Es schien, als wünschte er den Gegenstand fallen zu lassen, doch Sonneck hielt ihn fest.

„Hast Du etwas Näheres gehört?“ fragte er. „Ich habe bei meinem letzten Aufenthalt in Kairo kaum mit jemand verkehrt, ich war schwer leidend damals und schiffte mich sobald als möglich ein. Du aber bist jetzt wochenlang dort gewesen – was spricht man eigentlich?“

„Alles mögliche! Die englischen Kreise in Kairo sind ja stets sehr genau unterrichtet über alle Vorgänge in der Londoner Gesellschaft, aber – sie nehmen entschieden Marwoods Partei.“

„Wirklich?“ rief Sonneck peinlich überrascht.

„Fast ohne Ausnahme, und in den einheimischen Kreisen hört man dasselbe. Lady Marwood soll sich in England sehr excentrisch benommen und sich rücksichtslos über alles hinweggesetzt haben, so daß schließlich nur die Trennung übrig blieb; die gesetzliche Scheidung unterblieb wohl nur des Kindes wegen, auf das keines der Eltern verzichten wollte; es heißt aber, daß Marwood sie anstrebt. Seitdem reist seine Gemahlin allein in der Welt umher, taucht überall wie ein Meteor auf und streut das Geld mit vollen Händen aus, um ebenso plötzlich wieder zu verschwinden. Dabei hat sie immer einen Schwarm von Verehrern hinter sich und umgiebt sich überall mit einem förmlichen Hofstaat von Bewunderern, der ihrem Rufe nicht gerade förderlich ist. Ich mag nicht wiederholen, was man da alles flüstert und klatscht, aber etwas davon wird wohl auch bis zu Dir gedrungen sein.“

„Ja, aber ich habe es nie geglaubt. Diese unselige Ehe, die von Anfang an den Keim des Unheils in sich trug! Es war ja, als ob man Eis und Feuer aneinander ketten wollte! Zenaide mag unvorsichtig gewesen sein der Gesellschaft gegenüber; mag es jetzt doppelt sein, wo sie die Fesseln gebrochen hat – an wirklich Schlimmes glaube ich nicht.“

Ehrwald schwieg, aber seine Miene verriet, daß er nicht derselben Meinung war.

„Du wirst doch nicht umhin können, sie wiederzusehen,“ hob Lothar wieder an, „denn ich verkehre mit ihr auf dem alten freundschaftlichen Fuße, und hier in Kronsberg kann man sich überhaupt nicht ausweichen.“

„Weshalb denn auch?“ fragte Reinhart gelassen. „Doch nicht etwa wegen der einstigen Jugendschwärmerei, die wir füreinander hegten? Dergleichen trägt man doch nicht sein Leben lang mit sich herum. Lady Marwood ist inzwischen eine gefeierte Weltdame geworden und ich – nun, ich bin auch nicht der junge ‚Abenteurer‘ mehr, dem Herr von Osmar so verächtlich die Thür wies. An Deiner Seite, in den Wüsten und Wäldern Afrikas habe ich mir Namen und Lebensstellung errungen. Wir treten uns als zwei völlig neue Menschen gegenüber, und wenn da wirklich die alten Erinnerungen wieder auftauchen, werden wir darüber lächeln wie über Kinderthorheiten. Etwas anderes ist ja die sogenannte Jugendliebe überhaupt nicht, sie hält niemals stand für das Leben.“

Es war derselbe gleichgültige Ton, mit dem Lady Marwood von „diesem Herrn Ehrwald“ sprach. Sonneck war offenbar überrascht davon, er hätte anders empfunden und hatte deshalb mit einer gewissen Unruhe an dies Wiedersehen gedacht, das ein Spiel des Zufalls hier herbeiführte. Diese Gleichgültigkeit der beiden, die sich einst so nahe gestanden, nahm ihm eine geheime Sorge vom Herzen.

„Jugendliebe?“ wiederholte er. „Hast Du Zenaide denn wirklich geliebt? Dann hättest Du sie schwerlich so leicht und schnell aufgegeben, weil ein erzürnter Vater zwischen Euch trat. Ich glaube, Reinhart, Du kannst überhaupt nicht lieben! Was hilft Dir Dein beinahe sprichwörtlich gewordenes Glück bei den Frauen? Ein wahres Glück hat es Dir ja doch nie gebracht! Wie oft sind Dir seitdem Jugend, Schönheit und Liebe entgegengekommen, wie oft brauchtest Du nur die Hand auszustrecken, um zu erreichen, was anderen als der höchste Preis des Lebens gilt – und wie oft hast Du damit gespielt, in einer unverantwortlichen Weise gespielt! Aber Du selbst bliebst immer kühl bis ans Herz hinan! Freilich, das alles war ja nahe und wirklich, deshalb genügte es Dir nicht. Jenes große unendliche Glück, das Du Dir zusammenphantasierst, hat es nie und nirgends in der Welt gegeben, und anstatt zu nehmen, was sich Dir bietet, jagst Du noch immer dem alten unerreichbaren Traumbilde nach, dieser –“

„Fata Morgana!“ ergänzte Reinhart lachend. „Ja, das ist Deine alte Predigt, wie oft hast Du mich schon ausgescholten deshalb, aber kann ich’s ändern? Es ist nun einmal mein Verhängnis, nur daß ich einst glaubte, ich könnte das Traumbild herabzwingen in die Wirklichkeit. Das ist vorbei, jetzt weiß ich, daß sie nie zur Erde herabsteigt, meine schöne Fata Morgana, aber lassen kann ich doch nicht von ihr. Vielleicht umfange ich sie einst im Tode!“

Er legte dem Freunde die Hand auf die Schulter und seine Stimme wurde plötzlich tiefernst, als er fortfuhr:

„In Einem irrst Du doch. Ich kann lieben, auch das Nahe und Wirkliche, aber geliebt ohne Wandel und Enttäuschung habe ich nur eins auf der Welt – Dich, Lothar! Du allein hast mir immer Wort gehalten, im Leben wie im Tode, denn wir beide haben ja oft genug zusammen dem Tode ins Auge geschaut. Was Du mir warst und bist, das kann mir niemals ein Weib sein – nie!“

„Schmeichler!“ wehrte Lothar ab, aber man hörte es an seinem Tone, wie viel ihm dies Geständnis galt.

„Nein, bei Gott, das ist keine Schmeichelei,“ brach Reinhart leidenschaftlich aus. „Das ist die volle echte Wahrheit.“

„Das weiß ich, mein Junge,“ entgegnete Sonneck warm, „und was Du mir bist, das brauche ich Dir wohl nicht erst zu sagen, aber trotzdem werden wir es lernen müssen, einander zu entbehren. Du kennst ja das Ultimatum, das Bertram mir gestellt hat, und er wird Dir bestätigen –“

„Ah, da ist er ja selbst!“

Es war in der That der Hofrat, der jetzt die Thür öffnete und noch auf der Schwelle sagte: „Verzeihung, wenn ich störe, aber die erste Stunde des Wiedersehens ist verstrichen, und nun möchte ich doch auch unseren ‚Afrikaner‘ begrüßen. Willkommen in Deutschland, Ehrwald!“ Er trat vollends ein und streckte Reinhart die Hand hin.

Dieser ergriff sie herzlich, fragte aber mit einiger Verwunderung: „Woher wissen Sie denn schon, daß ich hier bin? Ich kam ja ganz inkognito.“

[227] „In meinem Hause geht nichts inkognito ein und aus, dafür sorgen meine Jungen,“ erklärte Bertram. „Ihre Gesichtsfarbe hat Sie verraten; mein Aeltester behauptete steif und fest, der ‚afrikanische Onkel‘ sei angekommen, und die Beschreibung stimmte. Noch einmal herzlich willkommen! Auch meine Frau freut sich sehr auf den lieben Gast, der damals bei unserer Liebes- und Leidensgeschichte am Nil so eine Art Schutzgeist für uns gewesen ist.“

„Auf Kosten des armen Fräulein Mallner,“ lachte Ehrwald. „Ich glaube, sie hat mir das niemals verziehen. Ist sie denn noch am Leben?“

„Natürlich, und sie wird sogar baldigst in voller Lebensgröße hier erscheinen. Doch wie finden Sie Herrn Sonneck? Er hat sich sehr erholt, nicht wahr?“

„Lothar sieht wie verjüngt aus! Da haben Ihre Kronsberger Quellen in der That ein halbes Wunder gethan.“

Um die Lippen des Hofrates zuckte wieder der alte lustige Spott, als er entgegnete: „Nun, unsere Quellen sind vorzüglich, das ist ausgemacht; ob sie aber gerade an dieser ‚Verjüngung‘ schuld sind, möchte ich bezweifeln. Das wird wohl einen anderen Grund haben … Ah so,“ unterbrach er sich, indem er einen Wink Sonnecks auffing. „Er weiß noch gar nichts? Nun, da will ich Ihnen die Ueberraschung nicht verderben.“

„Was weiß ich nicht?“ fragte Reinhart ahnungslos. Bertram lachte.

„Eine große Neuigkeit, die erst acht Tage alt ist, und solange sind Sie gerade unterwegs. Sie können freilich noch nichts wissen, wenn Sie es nicht gleich in der ersten Stunde hier erfuhren, aber ich will nicht vorgreifen. Doch noch eins, Herr Sonneck! Ich bin heute schon vor Tagesgrauen in Burgheim gewesen. Bastian kam in der Nacht, um mich zu rufen. Der Professor hatte wieder einen argen Anfall seines alten Leidens.“

„Steht es schlimm?“ fragte Sonneck besorgt.

„Nein, für den Augenblick ist die Gefahr beseitigt. Helmreich hat eine ungemein zähe Natur, die solche Anfälle immer wieder überwindet. Daß sein Zustand hoffnungslos ist, habe ich Ihnen ja längst mitgeteilt, aber es kann noch bis zum Herbste dauern.“

„Eine traurige Frist unter diesen Umständen!“ sagte Lothar ernst. „Jedenfalls will ich noch am Vormittag nach Burgheim.“

„Thun Sie das,“ stimmte der Arzt bei. „Sie sind der einzige, der noch etwas bei ihm ausrichtet. Die arme Elsa hat natürlich während der ganzen Nacht kein Auge geschlossen. Sie erinnern sich ihrer doch noch, Ehrwald?“

„Gewiß – da ist sie ja, meine kleine Feindin!“ rief Reinhart, indem er zum Schreibtische trat und ein dort stehendes Bild ergriff. „Das achtjährige Fräulein erklärte mir damals den Krieg auf Tod und Leben, weil ich einen Kuß erzwang, den es mir verweigerte. Es war wirklich nicht ratsam, dem kleinen Trotzkopfe nahe zu kommen, wenn er übler Laune war.“

Die Worte waren wohl scherzhaft gemeint, aber sie hatten eine eigentümliche Beimischung von Gereiztheit. Sonneck war zu ihm getreten und sah mit leisem glücklichen Lächeln auf das Bild nieder, das er damals in Kairo gezeichnet und später in Aquarell ausgeführt hatte. Das Kinderköpfchen der kleinen Elsa blickte dem Beschauer mit seinem ganzen Liebreiz entgegen, doch mit jener zarten, beinahe scheuen Zurückhaltung, die der ältere Mann stets beobachtete, wenn von seiner jungen Braut die Rede war, schwieg er auch jetzt noch über die „große Neuigkeit“. Die Gegenwart Bertrams legte ihm einen Zwang auf: das, was ihn am tiefsten berührte, sollte der Freund erst unter vier Augen erfahren.

„Ich habe es Dir ja geschrieben, was die Erziehung Helmreichs aus dem einst so lebhaften und leidenschaftlichen Kinde gemacht hat,“ sagte er. „Es war ein Unglück, daß es gerade in die Hände dieses alten, verbitterten Mannes kam. Er hatte gar kein Verständnis für das kleine, sonnige Geschöpf, das in seinem jungen Leben nur Liebe und Zärtlichkeit empfangen hatte und den Sonnenschein und die Freude brauchte, um zu gedeihen. Seine Erziehung war überhaupt so widerspruchsvoll wie nur möglich, einerseits unterrichtete er seine Enkelin selbst und gab ihr eine Bildung, die weit über das gewöhnliche Maß hinausging, und anderseits kettete er sie förmlich an den Haushalt fest –“

„Aus krasser Selbstsucht!“ fiel Hofrat Bertram mit einer ihm sonst ganz fremden Bitterkeit ein. „Er wollte seine Behaglichkeit im Hause haben und sah, daß die alte Zenz nicht mehr viel leisten konnte, also mußte sie in Elsa ihre Nachfolgerin erziehen. Er brauchte jemand, der ihm halbe Tage lang vorlas oder nach seinem Diktate schrieb, und es störte ihn, wenn das verständnislos geschah, also wurden dem jungen Mädchen alle möglichen gelehrten Dinge eingetrichtert – lehren Sie mich den alten Egoisten kennen!“

„Sie scheinen kein besonderer Freund des Professor Helmreich zu sein,“ bemerkte Ehrwald, der das Bild noch immer in der Hand hielt und es betrachtete.

„Nein, wahrhaftig nicht!“ brach Bertram aus. „Wir sind sogar heimlich geschworene Feinde, und wenn ich die ärztliche Behandlung in seinem Hause nicht aufgab, so geschah es nur Elsas wegen. Ich konnte ihm die Grausamkeit gegen das Kind nicht verzeihen, das doch sein eigenes Fleisch und Blut war; ich glaube, er hat es von jeher gehaßt, weil es das Kind seines tiefgehaßten Schwiegersohns war. Als ich mit meiner jungen Frau hierher kam, war die Kleine etwa ein halbes Jahr bei dem Großvater, und da war der Kampf noch im vollen Gange, denn sie wehrte sich anfangs verzweifelt gegen diese sogenannte Erziehung. Sie wurde ja wie in einem Gefängnis gehalten, sogar die Spielgefährten blieben ihr versagt, jede kleine Unart, jeder kindische Trotz wurde in der erbarmungslosesten Weise gestraft, und wenn sie nun vollends von ihrem Vater und von dem Leben in Kairo sprach, geriet der Alte geradezu in Wut.“

„Ja, das war von jeher das Schlimmste!“ bemerkte Lothar.

„Sagen Sie lieber: das Unvernünftigste! Und das Kind hing mit einer solchen Leidenschaft an dem Andenken des Vaters – wie glücklich war es, wenn es bei mir und meiner Frau davon plaudern durfte, es verzehrte sich förmlich in Sehnsucht und Erinnerung! Helmreich brachte ja schließlich die große Heldenthat fertig, den Widerstand des neunjährigen Kindes zu brechen, aber wie das geschah, das muß man mit angesehen haben – es hat der Kleinen beinahe das Leben gekostet.“

Reinhart legte plötzlich das Bild nieder, trat an das Fenster und blickte hinaus, während Sonneck mit verfinstertem Gesichte zuhörte.

„Das Kind war damals schwer krank, ich weiß,“ warf er ein.

„Ja, es war eines Tages in seiner Verzweiflung entflohen, war fortgelaufen von dem ‚bösen, bösen Großvater‘, hinaus in die Winternacht, in Schnee und Eis, soweit die Füßchen es trugen, bis es zusammenbrach. Erstarrt und leblos wurde es aufgefunden; die Folge war eine schwere Krankheit und es war zum Erbarmen, wie das arme kleine Ding im Fieber nach dem toten Vater weinte und die Aermchen nach ihm ausstreckte. Ich glaube: damals hat sogar dem Professor das Gewissen geschlagen. Ich sagte es ihm freilich ins Gesicht, daß, wenn es mir nicht gelänge, das Kind zu retten, er an seinem Tode schuld sei, und das hat er mir bis auf den heutigen Tag nicht verziehen!“

Der sonst so heitere Mann hatte sich in eine förmliche Erbitterung hineingeredet; jetzt fuhr er ruhiger fort: „Sie begreifen es nun wohl, daß ich nicht viel Mitleid mit dem Alten da oben habe, trotz seines Leidens. Die Kleine genas ja endlich nach wochenlanger Gefahr, und da war ihre Widerstandskraft gebrochen und die früher so lebhafte Erinnerung völlig erloschen. Sie wußte kaum mehr, daß sie früher in einem anderen Lande, unter ganz anderen Verhältnissen gelebt hatte, sogar das Andenken des Vaters war nebelhaft und undeutlich geworden und ich hütete mich wohl, das wieder aufzuwecken, denn damit hörte auch die krankhafte Sehnsucht auf und das war ein Glück. Schließlich ist ihr das alles ganz entschwunden!“

Die beiden Männer hatten schweigend zugehört. Sonneck sprach auch jetzt nicht, aber man sah es, wie die Erzählung ihn erregt hatte. Reinhart stand noch immer mit verschränkten Armen am Fenster, ohne sich umzuwenden, da erhob sich drunten im Garten ein Lärm, der aber freudiger Natur zu sein schien, denn man hörte Jubel- und Hurrarufe. Bertram wurde aufmerksam.

„Was giebt es denn da draußen? Sind die Jungen toll geworden?“ rief er und trat gleichfalls an das Fenster, wo er nun allerdings die Ursache entdeckte. Im Garten stand ein riesiger Neger, der verschiedene Reiseeffekten trug, während hinter ihm ein Träger mit einem großen Koffer sichtbar wurde. Die drei hofrätlichen Sprößlinge hatten den Schwarzen beim Eintritt abgefangen und gaben nun ihre Verwunderung und ihr Entzücken über diesen neuen afrikanischen Besuch in der stürmischsten Weise kund.

„Es ist mein Achmet mit dem Gepäck,“ sagte Ehrwald. „Wollen Sie so freundlich sein, ihn zurechtzuweisen? Ich weiß ja noch gar nicht, wo meine Zimmer liegen.“

[228] „Hier, neben denen des Herrn Sonneck, aber ich werde wohl selbst hinunter müssen, um da Ordnung zu stiften!“

Damit ging er und die beiden blieben allein. Sonneck war offenbar tief verstimmt durch jene Erzählung, und Reinhart schien gleichfalls den peinlichen Eindruck verwischen zu wollen, denn er fragte ablenkend: „Was ist denn das für eine Neuigkeit, auf die Bertram vorhin anspielte? Soll ich sie nicht endlich erfahren?“

„Gewiß, ich wollte nur allein mit Dir darüber sprechen. Es handelt sich da um meine Zukunftspläne. Du weißt es ja durch meine Briefe, daß die Laufbahn da drüben in Afrika für mich zu Ende ist, auch wenn ich genesen bin.“

„Ja, Lothar, und das muß ein furchtbarer Schlag für Dich gewesen sein!“ rief Reinhart mit leidenschaftlich aufflammender Teilnahme. „Noch im besten Mannesalter zur Unthätigkeit verdammt zu werden – das hältst Du ja gar nicht aus!“

„Vielleicht halte ich es besser aus, als Du denkst,“ entgegnete Lothar mit einem vielsagenden Lächeln. „Die Zeit der inneren Kämpfe liegt jetzt hinter mir. Ein Leben, wie ich es mehr als zwanzig Jahre lang geführt habe, giebt immer noch Gelegenheit zur Thätigkeit. Ich habe viel Wertvolles gesammelt und aufgezeichnet, das alles nun geordnet und ausgearbeitet werden muß, und das wird Jahre dauern. Ueberdies – was wirst Du sagen, wenn ich Dir das Geständnis mache, daß ich im Begriff stehe, mir ein häusliches Glück zu gründen?“

„Du willst heiraten?“ rief Ehrwald in unverkennbarer, aber offenbar freudiger Ueberraschung. „Nun, das ist ein Entschluß, den ich mit tausend Freuden begrüße, zumal jetzt! Der Gedanke, wie Du die vollständige Aenderung Deines Lebens ertragen würdest, hat mir oft schwer auf der Seele gelegen. Du hast das Sehnen nach Liebe und Heimat ja stets mit Dir herumgetragen, und was mir als eine Fessel erschien, galt Dir als das höchste Glück, aber Du hättest Dich nie gebunden ohne eine wahre, tiefe Neigung. Hast Du sie so spät noch gefunden?“

„Ja, so spät noch!“ wiederholte Sonneck ernst. „Vielleicht allzu spät, denn der Altersunterschied zwischen mir und meiner Braut ist sehr bedeutend und mitten in all’ dem Glück liegt es mir doch fast wie ein Vorwurf, wie eine Schuld auf der Seele, daß ich ein junges Wesen, das noch gar nichts vom Leben kennt und weiß, an das meinige gefesselt habe. Ich kann meiner Gattin keine Jugend mehr geben und wenn sie das je fühlen, wenn sie unglücklich werden sollte an meiner Seite –“

„Ein Weib, das Du liebst und an Dein Herz nimmst, wird nicht unglücklich!“ fiel Ehrwald beinahe stürmisch ein. „Was sie auch aufgeben mag um Deinetwillen, sie tauscht Besseres dafür ein. Nein, Lothar, wehre das nicht ab, ich kenne Dich wie kein anderer, ich darf es sagen! Aber nun laß mich endlich Näheres hören. Jetzt will ich wissen, wer Deine Braut ist!“

„Du hast sie ja soeben gesehen!“ Lothar wies lächelnd nach dem Schreibtische hinüber. „Dort steht ihr Bild.“

„Elsa?“ Reinharts Augen richteten sich groß und starr auf den Freund. „Elsa von Bernried? – Sie ist Deine Braut?“

„Gewiß. Ueberrascht Dich das so sehr? Freilich, Deine weise Theorie von der ‚sogenannten Jugendliebe‘, die im Grunde eine Kinderthorheit ist, bestätigt das nicht. Du siehst, bei mir hat sie stand gehalten, denn eigentlich habe ich klein Elsa schon damals in Kairo geliebt, wenn ich auch noch nicht ahnte, was sie mir dereinst werden sollte.“

Ehrwald stand noch immer da und sah ihn an, mit einem seltsamen Ausdruck, als könnte er das eben Gehörte nicht begreifen, dann aber sagte er kurz und beinahe schroff: „Du hast in dem Kinde nur den Vater geliebt, der Dir einst so nahe stand.“

„Du scheinst das ja besser zu wissen als ich,“ scherzte Sonneck. „Aber Du hast mir noch nicht einmal einen Glückwunsch gesagt.“

„Ich wünsche Dir Glück!“ sprach Reinhart langsam, indem er ihm die Hand reichte. „Wann wirst Du Dich vermählen?“

„Sobald als möglich. Du hörst ja, wie es mit Helmreich steht. Er hat nur noch Monate zu leben, und was er auch an dem Kinde gesündigt haben mag, ich kann dem totkranken Manne gerade jetzt seine Enkelin nicht nehmen. Ich hoffe es durchzusetzen, daß unsere Vermählung schon in sechs Wochen in aller Stille gefeiert wird, und dann bleiben wir vorläufig hier. Mir ist der Aufenthalt in Kronsberg ja ohnehin bis zum Herbste vorgeschrieben; wir werden ihn ausdehnen, bis wir dem Professor die Augen zugedrückt haben. Auf diese Weise verliert er Elsa nicht, sie kann nach wie vor sein Haus und seine Pflege überwachen, aber ich werde dafür sorgen, daß die Krankenpflege selbst in andere Hände gelegt wird. Als Gatte habe ich das Recht dazu und werde es brauchen. – Doch da höre ich den Achmet schon in Deinen Zimmern. Komm, Reinhart, sie liegen hier gleich nebenan!“

Er öffnete eine Seitenthür und trat in das Nebengemach, aber Reinhart folgte ihm nicht sogleich. Im Begriff, an dem Schreibtisch vorüber zu schreiten, blieb er plötzlich stehen und blickte wieder auf das Bild der kleinen Elsa, so unverwandt, als suchte er in dem Gesichte des Kindes die Züge, die er heute nacht im hellen Mondlicht gesehen hatte.

„Lothars Braut!“ murmelte er halblaut. „Ja freilich, da werden wir wohl Frieden schließen müssen, oder doch wenigstens Waffenstillstand. – Ob sie mir wohl wieder so verächtlich die Wege weisen wird, wenn ich mit ihm nach Burgheim komme?“

Er lachte kurz und spöttisch auf, und mit einer beinahe rauhen Bewegung das Bild bei Seite schiebend, richtete er sich hoch auf und folgte seinem Freunde.

(Fortsetzung folgt.)


Osterzeit.

(Zu dem nebenstehenden Bilde.)

Glocken vom Turme, Glöckchen im Grund –
Bricht’s aus dem Boden schon blühend und bunt.
Fröhliches Ostern kam auf die Welt,
Hänschen, hast Du den Hasen bestellt?
Such’ unter Büschen, such’ unterm Stroh,
Sieh, Vetter Fritz, der lächelt schon so!
Kannst Dir doch denken: nach sieben Semestern
Weiß er Bescheid in den heimlichsten Nestern,
Nestern, wo farbige Eier liegen –
Und alle soll unser Hänschen kriegen!

Glocken vom Turme, Glöckchen im Grund –
Hänschen dazwischen mit jubelndem Mund.
Dicht an den Wurzeln drei prächtige Stück’,
Eier vom Hasen, – das nenn’ ich Glück!
Hänschen und sieh doch, wer hinter Dir lacht
Und was die Trude für Augen macht!
Fritz, der Vetter, ist auch nicht weit –
Gelt, sie ist prächtig, die Osterzeit?
Bringt an den Tag, was sorgsam versteckt …
Da haben die beiden wohl auch was entdeckt.

Glocken vom Turme, Glöckchen im Grund,
Was sich hier findet, bald wird es kund.
Hält ihr der Schelm ein Sträußchen entgegen,
Sieht sie ihn an und lächelt verlegen.
Zwei Herzen in heiligem Osterdrange –
Da glaub’ ich beinah’, es dauert nicht lange
Und Vetter Fritz und die lustige Base –
Still!
Gott segne dich, freundlicher Osterhase!
  Karl Busse.



[229]

Osterzeit.
Nach einer Originalzeichnung von R. Mahn.

[230]

Der Klageschrei.

Eine türkische Geschichte von Rudolf Lindau.
(Fortsetzung.)


Eines Tages, als Murad wie gewöhnlich auf dem Wasser lag und fischte, während Ali Bey am Ufer geblieben war, um ungestört seinen trübseligen Gedanken nachhängen zu können, bemerkte der Zwerg einen Kaïk, dessen Führer sich vergeblich abmühte, gegen die starke Strömung an der Seraïspitze aufzukommen. Das Boot näherte sich dem Ufer, augenscheinlich um dort Hilfe zu suchen, und als der Schiffer den müßigen Ali Bey im Anzuge eines Hafenarbeiters erblickte, rief er ihn an: „He, Bruder! Wirf mir Dein Seil herüber!“

Der Zwerg erhob sich lässig und legte das Seil, das er in einen weiten Ring geschlungen über Schulter und Brust getragen hatte, regelrecht zusammen. Wie er nun, um es dem Bootsmann zuzuwerfen, sorgfältig zielend aufblickte, erkannte er in dem Fahrgast des Kaïk den Sultan, der, als Kaufmann verkleidet, von einem der Ausflüge zurückkam, die er in seiner Hauptstadt zu machen liebte, um auf den Straßen und in Kaffeehäusern Menschen und Sitten aus unmittelbarer Nähe beobachten zu können. – Ali Bey kannte diese Liebhaberei des Sultans, auch daß dieser sich, um von einem entfernten Stadttheile nach dem Palast zurückzukommen, häufig eines gewöhnlichen Kaïk bediente. Gerade weil Ali das wußte, hatte er die Seraïspitze zum Aufenthaltsort gewählt. – Die plötzliche Erscheinung des Sultans brachte ihm keine Ueberraschung, auf die er nicht vorbereitet gewesen wäre, und er verstand es, seine Ruhe vollständig zu bewahren.

Nachdem die von Ali Bey geworfene Leine vom Schiffer aufgefangen und am Vordertheil des Kaïk befestigt worden war, legte Ali sie sich über Schulter und Brust, und mit weit vorgebeugtem Oberkörper, wie es die Art der Arbeiter ist, die ein Fahrzeug gegen den Strom schleppen, schritt er langsam vorwärts. Es war ein heißer Tag. Der laue Südwind machte die Luft drückend schwer. Dem keuchenden Zwerg, der wohl sehr stark, doch nicht an harte Arbeit gewöhnt war, lief der Schweiß von Stirn und Wangen. Aber er schritt ohne zu rasten weiter. Endlich wurde die Last, die er zog, leichter. Das Boot war in ruhiges Fahrwasser gelangt und bald hörte er den Ruf des Schiffers: „Halt, Bruder! Hier wollen wir aussteigen.“ Der Kaïk befand sich gerade gegenüber der kleinen Pforte, an der Murad seine Fische abzuliefern pflegte.

Dic Leine wurde vom Kaïk freigemacht, und während Ali sich anscheinend aufmerksam damit beschäftigte, sie wieder zusammenzulegen, schwang das kleine Fahrzeug heran und kam mit dem Hintertheil so zu liegen, daß der Fahrgast bequem landen konnte. Darauf stellte sich Ali, wie es Gebrauch ist, neben den Kaïk und hob den gebogenen Arm in die Höhe, um dem Fahrgast beim Aussteigen eine Stütze zu bieten. – Der Sultan hatte Ali Bey sofort erkannt, aber es beliebte ihm, dies nicht zu zeigen. Er legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den ihm dargebotenen Arm, und als dieser sich trotzdem nicht senkte, sagte der Sultan: „Dein Gewerbe scheint die Menschen stark zu machen. Treibst Du es schon seit langer Zeit?“

„Ich treibe es erst seit kurzem … auf Befehl meines zweiten Vaters.“

„Deines zweiten Vaters?“

„Ich nenne ihn so, weil er mir das Leben schenkte, als ich mein jetziges Alter erreicht hatte.“

„Und er befahl Dir, Boote um die Seraïspitze zu ziehen?“

„Er entließ mich aus seinen Diensten und schenkte mir bei der Gelegenheit eine ganz neue, schöne starke Leine aus Hanf … um tote Hunde aus den Straßen in den Bosporus zu schleppen. – Nun konnte ich aber während des ganzen Tages noch keincn toten Hund entdecken, und da bin ich hierher gekommen, in der Hoffnung, irgend etwas anderes zu finden, dem ich Schleppdienste leisten könnte.“

„Einem lebendigen Sultan zum Beispiel.“

Da hob Ali Bey die Augen, die er bis dahin zu Boden geschlagen hatte, und blickte den Sultan gerade und fest an, wie er es nie zuvor gethan hatte. – Die Güte und Traurigkeit, die aus den Augen des armen Zwerges sprachen, rührten den Sultan.

„Du hast mir sehr gefehlt,“ sagte er leise. „Tritt Deine Dienste wieder an und melde Dich in einer Stunde bei mir.“

Damit wandte sich der Sultan ab und schritt langsam der Pforte zu, die nach dem Blumengarten des Sommerpalastes führte; aber gleich darauf blieb er stehen. „Was bedeutet das?“ sagte er erstaunt und deutete auf Murad, der vor der geöffneten Pforte stand und sich augenscheinlich mit jemand im Garten unterhielt.

„Ein Fischer, Effendimis, der seinen frischen Fang an eine Sklavin abliefert. Ich kenne ihn. Wenn Ihr einen Augenblick verziehen wollt, so werdet Ihr ihn zurückkommen sehen.“

So war es in der That. Der Sultan bemerkte, wie der junge Fischer einen leeren Korb in Empfang nahm und sogleich dem Ufer wieder zuschritt. – Als er dabei an Ali Bey vorüberkam, grüßte er diesen freundlich.

„Wer ist der junge Mann?“ fragte der Sultan, von Murads Anmut überrascht.

„Ein armer Jüngling, Effendimis; aber so schön und stark und gut, daß, wenn ich eine Tochter hätte, ich keinen andern als ihn zum Schwiegersohn haben möchte.“

Der Sultan lächelte dazu und sagte: „Man sieht wohl, daß Du keine Tochter zu verheirathen hast.“ Darauf entließ er Ali Bey und trat durch die Pforte, die auf sein Klopfen von einem Schwarzen geöffnet worden war, in den Blumengarten. Dort erblickte er in einer der schattigen Alleen die Prinzessin Scheriffeh, die in Gesellschaft zweier Sklavinnen lustwandelte. Scheriffeh war die Lieblingstochter des Sultans und sie verdiente diese Auszeichnung, denn sie war von unübertrefflicher Schönheit und gleichzeitig so milde und gut, daß eine jede ihrer Dienerinnen ihr Leben für sie hingegeben haben würde. – Als sie ihren Vater erkannte, näherte sie sich ihm, während die beiden Sklavinnen in ehrfurchtsvoller Entfernung zurückblieben.

„Bist Du krank, meine Tochter?“ fragte der Sultan, nachdem er Scheriffeh begrüßt hatte. – Das junge Mädchen war nämlich bleich und sah sehr traurig aus, als ob es geweint hätte.

„Ich habe einen großen Kummer, Herr Vater.“

„Du darfst mir davon sprechen.“

Darauf erzählte Scheriffeh erröthend und unter Thränen, wie der Zufall sie auf dem Bosporus mit Murad zusammengeführt habe und daß sie seit dieser ersten flüchtigen Begegnung nur noch an ihn denken könne.

Das Antlitz des Sultans verfinsterte sich. „So hast Du angeordnet, daß der Fischer täglich an der Pforte des Blumengartens erscheint?“ fragte er.

„Ich habe es angeordnet,“ antwortete Scheriffeh kaum hörbar.

„Es war unrecht von Dir,“ fuhr der Großherr unfreundlich fort; „Du verdientest strenge Strafe; auch die Sklavinnen, die Dir bei Ausführung Deines Vorhabens behilflich gewesen sind, haben sich eines schweren Vergehens schuldig gemacht.“

„Verzeiht ihnen, Herr Vater, ich bitte Euch darum. Sie waren meinen Wünschen gefügig, weil sie mich lieb haben. Die einzige Schuldige bin ich; laßt Euren Zorn nur mich treffen.“

Der Sultan blickte finster vor sich hin. Endlich sagte er: „Ich will verzeihen … Wenn der Fischer morgen erscheint, so sollen ihm seine Fische nicht abgenommen und es soll ihm gesagt werden, daß er sich nie wieder in der Nähe der Gartenpforte blicken lassen darf. Wäre er diesem Befehle ungehorsam, so würde er dafür mit seinem Leben büßen.“

Nachdem der Großherr diese Worte in strengem Ton gesprochen hatte, wandte er sich ab und schritt dem Palaste zu, während Scheriffeh ihr Antlitz mit den Händen bedeckte und leise weinte.

Am nächsten Tage zeigte sich Murad zur gewöhnlichen Stunde an der Gartenpforte, die ihm auch sogleich geöffnet wurde, nachdem er dort angeklopft hatte. Aber die Sklavin begrüßte ihn diesmal nicht mit freundlichem Lächeln, sondern sagte traurig: „Der Padischah hat von Eurer Artigkeit erfahren und ist erzürnt darüber. Ich darf Euch die Fische nicht abnehmen, und wir werden uns nicht wiedersehen. Nähert Euch dieser Pforte nie mehr; thätet Ihr es, so würde es Euer Tod sein … Der Himmel schenke Euch langes Leben, Glück und Segen!“

Murad antwortete ruhig: „Auf Euren Wunsch bin ich hier erschienen, auf Euern Wunsch meide ich fortan diese Stelle. Habet Dank für alle Freundlichkeit, die Ihr mir erwiesen.“

[231] Er entfernte sich sorglos, wie er gekommen war, und begab sich nach dem Konak seines Vaters. Er sah sich am Strande nach seinem Freunde Ali um; aber der war nicht zur Stelle; auch während der nächsten zehn Tage zeigte sich der Zwerg nicht. Dies betrübte Murad, denn er hatte den Mann wegen seiner verständigen Reden und guten Augen liebgewonnen. – Ali Bey hatte inzwischen seine alte Stellung am Hofe wieder eingenommen und erfreute sich in einem Maße wie nie zuvor der Gunst und des Vertrauens seines Herrn. Auf diesem schien seit einiger Zeit ein schwerer Kummer zu lasten. Ali Bey erkühnte sich nicht, nach der Ursache desselben zu forschen; aber als der Sultan eines Tages den sorgenden Blick überraschte, mit dem der Zwerg ihn beobachtete, begann er selbst von seinem Leid zu sprechen.

„Du bemerkst, daß ich traurig bin?“ fragte er.

„Ich habe es bemerkt, und es bekümmert mich. Ich möchte, es läge in meiner Macht, Euch zu helfen, Effendimis.“

„Es liegt in keines Menschen Macht. – Meine geliebte Tochter, die Prinzessin Scheriffeh, ist bedenklich erkrankt. Ihr Leben ist in Allahs Hand.“

„Möge er ihr Gesundheit verleihen!“

Der Sultan blickte längere Zeit nachdenklich vor sich hin. Dann fuhr er fort: „Du erinnerst Dich doch des jungen Mannes, der an der Pforte des Haremsgartens Fische abzuliefern pflegte?“

„Ich erinnere mich seiner wohl, denn ich habe ihn liebgewonnen.“

„Erzähle mir alles, was Du von ihm weißt.“

Der kluge Zwerg hatte sogleich verstanden, was vorgefallen war: der Sultan hatte befohlen, daß die Beziehungen Murads zum Harem abgebrochen würden, und die Prinzessin Scheriffeh war an Liebesleid erkrankt. Vielleicht war es in Alis Hand gegeben, diesen Kummer zu heilen. Er wollte es versuchen.

„Der junge Fischer Murad ist ein Fürstensohn,“ begann er. „Außerhalb der kaiserlichen Familie giebt es im Reiche keinen Jüngling vornehmerer Abkunft als ihn.“ – Und darauf erzählte er alles, was er von seinem Bruder Nassuch Haga über den vertriebenen Chan von Georgien, Timbook, und dessen Sohn erfahren hatte. Dabei legte er besonderes Gewicht auf das tadellose Benehmen des alten Fürsten, auf den bescheidenen Gebrauch, den er von seinen Rechten als Gastfreund des Sultans machte, sowie auf das tugendhafte Leben Murads.

Der Großherr hörte aufmerksam zu. Als Ali Bey seine Erzählung beendet hatte, sagte er: „Bitte meinen Gastfreund Timbook, mich heute abend eine Stunde vor Sonnenuntergang aufzusuchen.“

Timbook war durch diesen Befehl überrascht, aber er gehorchte ihm unverzagt, denn er war sich keiner Schuld bewußt. Sein Aeußeres gefiel dem Sultan. Timbook war von hoher Gestalt und edlem Antlitz, und sein ehrfurchtsvoller Gruß, wie er sich dem Großherrn näherte, war frei von Unterwürfigkeit und zeigte die ruhige Würde eines Fürsten. Als einem solchen gab ihm der Sultan den Gruß zurück. Dann, nach einigen freundlichen Worten, sagte cr: „Habt Ihr Kinder?“

„Allah hat mir einen Sohn geschenkt,“ antwortete Timbook.

„Weiß er, daß er von fürstlichem Geblüt ist?“

„Er weiß es nicht. Ich habe es ihm verschwiegen, um nicht unerfüllbare Wünsche in ihm zu erregen.“

„Sprecht mir von Eurem Sohne, ich bitte Euch.“

„Ich gehorche Euch gern, Effendimis, denn mein Herz ist voll von ihm; aber Ihr werdet wohl in meinen Worten nur den Ausdruck blinder Vaterliebe erkennen. – Mein Sohn ist fromm, stark, gut, mutig. Er ist seinem Vater gegenüber ehrfurchtsvoll, seiner Mutter bescheiden und zu Diensten; Fremde preisen seine guten Sitten, Arme seine Wohlthätigkeit.“

„Ich möchte Euren Sohn kennenlernen,“ sagte der Sultan. „Bescheidet ihn morgen zu dieser Stunde zu mir.“

Die Zusammenkunft, die darauf zwischen dem Sultan und Murad stattfand, war nur von kurzer Dauer, aber der Fürstensohn hatte während derselben einen so günstigen Eindruck auf den Großherrn gemacht, daß dieser schon am folgenden Tage seinen Vertrauten Ali Bey mit der Mitteilung an Timbook entsandte, der Sultan habe beschlossen, Murad seiner Tochter, der Prinzessin Scheriffeh, zum Gemahl zu geben. – Ali Bey war hocherfreut, Ueberbringer dieser Botschaft zu sein, und Timbook fühlte sich dadurch ebenso überrascht wie geehrt. Sehr erstaunt aber waren beide darüber, wie Murad die Nachricht aufnahm. Er zeigte keine Befriedigung, blickte nachdenklich vor sich hin und sagte endlich: „Was Ihr nur befehlt, Herr Vater, das werde ich thun, doch sei es mir gestattet, den Wunsch auszusprechen, nicht der Gemahl einer Sultana zu werden.“

„Warum willst Du diese hohe Ehre zurückweisen?“

„Weil ich oftmals von den Launen und dem Hochmut der Sultanstöchter habe sprechen hören.“

„Die Prinzessin Scheriffeh ist milde und schön. Du wirst sie lieb gewinnen.“

„Aber wenn sie mich durch Hochmut kränkte?“

„Sie wird Dich nicht kränken; thäte sie es, so würdest Du Deine Würde zu wahren wissen.“

„Dazu habe ich also Eure Erlaubnis, Herr Vater. Ich danke Euch und gehorche Euch.“

„Ungehorsam gegen den Wunsch des Großherrn wäre unmöglich,“ sagte der Chan kleinlaut, denn die Haltung seines Sohnes hatte ihn besorgt gemacht.

Die Vermählung zwischen Scheriffeh Sultana und Murad fand bald darauf statt. Die Genesung der Prinzessin hatte mit dem Augenblick begonnen, da der Großherr ihr mitgeteilt, er habe den jungen Murad zu ihrem Gemahl auserkoren, und in kurzer Zeit war die Krankheit vollständig gewichen. Während der nächsten Tage hatte die Prinzessin jedoch noch mit mancherlei kleinen Kümmernissen zu kämpfen gehabt, nämlich mit den gutgemeinten Ratschlägen der älteren Haremsdamen ihrer Umgebung. Diese waren, längere Zeit ohne Erfolg, bemüht gewesen, der jungen Sultana verständlich zu machen, wie sie sich als Neuvermählte zu benehmen haben werde. Sitte und Gebrauch erheischten, so hatte man ihr erklärt, daß sie ihren Gemahl zunächst mit Kälte und anscheinender Geringschätzung behandele und ihm nicht die geringste Vertraulichkeit, nicht einmal, daß er ihr die Hand küsse, gestatte. – Scheriffeh hatte sich aber erst geneigt gezeigt, den strengen Regeln der Etikette zu gehorchen, als es den Haremsdamen gelungen war, sie davon zu überzeugen, daß jeder Verstoß dagegen den jungen Gemahl peinlich berühren würde. – Doch war es mit Zittern und Zagen, daß sie, nach Beendigung der Hochzeitsfeier, den Ehrenplatz auf dem Diwan in ihrem Harem eingenommen hatte, um dort die Ankunft des geliebten und gefürchteten Gemahls zu erwarten. Bald darauf erschien Murad. Er verrichtete zunächst, ohne seine Gemahlin angeblickt zu haben, das vorgeschriebene Gebet, dann verbeugte er sich tief und näherte sich der Prinzessin. Als er vor ihr stand, wiederholte er seinen Gruß, wobei er den Saum ihres Gewandes an seine Lippen führte und einige artige Worte murmelte. – Scheriffeh, das Antlitz von einem mit Diamanten durchwirkten Schleier bedeckt, die Augen zu Boden geschlagen, rührte sich nicht, sagte kein Wort und that, als ob sie die Anwesenheit ihres Gemahls überhaupt nicht bemerkte.

Murad war auf diesen Empfang vorbereitet und fühlte sich dadurch nicht verletzt; aber sein Stolz gestattete es ihm nicht, irgend eine Vergünstigung von der Sultana erbitten zu wollen. Er ließ sich gelassen in der Nähe der Prinzessin nieder, ohne den ersten schwachen Versuch, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, zu erneuern. – Nach einer kleinen Weile klatschte Scheriffeh in die Hände und sogleich erschienen zwei Sklavinnen, die einen mit einem einfachen Nachtmahl bedeckten Tisch herbeitrugen. Als sie sich wieder entfernt hatten, erhob sich Murad, um die Prinzessin zur Tafel zu führen; aber er war langsam in seinen Bewegungen und die Prinzessin kam ihm zuvor. Sie schritt an ihm vorüber, nahm den für sie bestimmten Platz am Tische ein, und es blieb Murad nichts weiter übrig, als sich ihr gegenüber niederzulassen. Er that das ohne Verlegenheit und ohne Verdruß, vielmehr fand er einige höfliche Worte, um zu entschuldigen, daß er mit seinen beabsichtigten Dienstleistungen zu spät gekommen sei. – Scheriffeh, der ihr gegebenen Ratschläge eingedenk und von Sorge erfüllt, daß sie etwas thun oder sagen könnte, wodurch sie das Zartgefühl Murads verletzen würde, verharrte in tiefem Schweigen.

Murad erhob die Augen und sah vor sich eine zarte weiße, tief verschleierte Gestalt und die zierlichsten Hände, die er je erblickt hatte. Das war alles. Scheriffeh hielt die Augen zu Boden geschlagen, und Murad konnte nicht einmal deren Farbe erkennen.

„Wollt Ihr nicht den Schleier lüften und etwas genießen?“ fragte er.

Keine Antwort und keine Bewegung.

Murad fing an, sich etwas unbehaglich zu fühlen, aber er [232] bemühte sich, das zu verbergen, und anscheinend unbefangen nahm er eine Kleinigkeit von den aufgetragenen Speisen zu sich.

Endlich sprach die Prinzessin. Mit silberreiner, leiser, etwas zitternder Stimme sagte sie: „Ich werde mich jetzt zu meinem Herrn Vater, dem Padischah, begeben. Es ist Euch gestattet, mir zu folgen.“

Murad wollte nicht ein zweites Mal unbeholfen und nachlässig erscheinen. Er erhob sich schnell, um der Prinzessin beim Aufstehen behilflich zu sein, und in dieser Absicht ergriff er, wie es gute Sitte erheischt, ihren rechten Arm oberhalb des Ellbogens.

Als die Prinzessin sich darauf erheben wollte, glitt ihr Fuß auf dem Teppich aus, woran ihre große Schüchternheit schuld war, und sie fiel auf den Sitz, den sie soeben eingenommen hatte, zurück.

Unwillkürlich schloß sich die starke Hand Murads um den zarten Arm, den sie stützen sollte. – Scheriffeh war in ihrem Leben nicht hart angefaßt worden, und die unsanfte Berührung hatte für sie etwas Ueberraschendes und Schmerzliches. Sie stieß einen kurzen ängstlichen Klageschrei aus, dem des Vogels ähnlich, der von seinem Neste aufgescheucht worden ist.

Murad ließ den Arm sinken, als hätte er einen Schlag darauf erhalten, und erbleichte. Scheriffeh aber, die sich sogleich von ihrem Schreck wieder erholt hatte, erhob sich und schritt in würdevoller Haltung der Thür zu. Eine günstigere Gelegenheit, die weisen Ratschläge der Haremsdamen zu befolgen, Murad mit Geringschätzung zu behandeln, konnte sich nicht bieten, und so wandte sie im Hinausschreiten noch einmal das Haupt und sagte strafend, wobei ihr jedoch das Herz zum Zerspringen pochte: „An den Arm einer Sultana darf man nicht so rauhe Hand legen wie an ein Netz, das man aus dem Wasser zieht.“ – Dann schritt sie, ohne sich umzublicken, weiter, und bald darauf trat sie in das Gemach, in dem der Sultan die ersten Begrüßungen der Neuvermählten entgegennehmen wollte.

„Wo ist Dein Gemahl?“ fragte er, nachdem Scheriffeh ihm die Hand geküßt hatte.

„Er wird sogleich erscheinen,“ antwortete die Sultana; aber ihre Augen waren ängstlich auf die Eingangsthür gerichtet, und nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: „Ich hatte ihm gesagt, er dürfte mir folgen; er wird mich mißverstanden haben; gestattet, daß ich ihn rufen lasse.“

Darauf gab der Sultan selbst einem Diener Befehl, Murad zu benachrichtigen, daß der Großherr ihn sogleich empfangen würde. Nach einigen Minuten kam der Diener zurück und meldete, Murad habe den Harem verlassen. – Scheriffeh war einer Ohnmachr nahe, aber sie wußte ihre Aufregung zu verbergen, bis sich der Diener wieder entfernt hatte.

„Was bedeutet dies Verschwinden Deines Gemahls?“ fragte der Sultan mit finster zusammengezogenen Brauen.

Scheriffeh warf sich vor ihrem Vater auf die Kniee und sagte unter heißen Thränen: „Ich habe ihn gekränkt und nun hat er mich verlassen.“ Darauf erzählte sie, wie sie sich, den Lehren ihrer Haremsdamen folgend, Murad gegenüber benommen hatte; auch die unfreundlichen Worte, die sie ihm zugerufen, verschwieg sie nicht.

„Du hast gehandelt, wie es einer Sultanstochter geziemt,“ sagte der Großherr. „Murad ist Deiner unwürdig und wird der verdienten Züchtigung nicht entgehen.“

Aber Scheriffeh flehte so eindringlich, es möchte Murad kein Leid zugefügt werden, sie werde ihm alles erklären und er werde sodann sein Unrecht einsehen und um Verzeihung bitten, daß der Sultan endlich den Thränen der geliebten Tochter nachgab und anordnete, Murad solle aufgesucht und in den Harem zurückgeführt werden.

Scheriffeh durchweinte eine schlaflose Nacht, der nächste Tag brachte ihr keinen Trost; Murad, den man zunächst bei seinem Vater, dann aller Orten, wo man ihn aufzufinden hoffen durfte, gesucht hatte, blieb verschwunden. Tage, Wochen vergingen. Nirgends war eine Spur des Entflohenen zu entdecken. Die Prinzessin wurde krank, Gram verzehrte sie. Der Sultan versank darüber in tiefe Traurigkeit. Am ganzen Hof herrschte eine gedrückte, düstere Stimmung.

Ali Beh hatte sich, sobald er von dem Verschwinden Murads gehört, zu seinem Bruder begeben und ihm dringend empfohlen, keine Mühe und keine Ausgaben zu scheuen, um des Entflohenen wieder habhaft zu werden. Nassuch Haga ließ in allen Teilen des großen Reichs sorgfältige Nachforschungen anstellen; aber lange Zeit blieben seine Bemühungen gänzlich erfolglos.

„Murad wird sich das Leben genommen haben,“ sagte Nassuch Haga.

„Dazu ist er zu fromm und zu stark,“ antwortete Ali. „Er lebt. Ermüde nicht in Deinen Nachforschungen, und wir werden ihn wiederfinden.“

(Schluß folgt.)




Ein Ostergruß.

Von Peter Rosegger.

Die Bauern von Brockendorf hatten einen Gutsherrn, dem sie – wie es in alter Zeit eingerichtet gewesen – vielfach tributpflichtig waren. Der Gutsherr lebte aber die längste Zeit in einer großen Stadt, zerstreute sich mit allen denkbaren Vergnügungen und erinnerte sich seiner Unterthanen nur, wenn er Geld brauchte. Und Geld brauchte Seine Gnaden die schwere Menge. Der Verwalter daheim preßte und zwickte und schund, so viel das Zeug hielt, aber endlich wollte nichts mehr herfür. Da fand es der Gutsherr an der Zeit, einmal persönlich Nachschau zu halten in Brockendorf und dem Verwalter strengere Pflichterfüllung einzuschärfen. Des Verwalters Pflicht aber bestand in nichts anderem als in Bauernschröpfen. – Also kam der Herr im Frühjahre eines Abends spät mit flinken Rappen durch das Thal gefahren. Und nun merkte er zum angenehmen Erstaunen, daß seine Ankunft, trotzdem er sie gar nicht gemeldet hatte, schon bekannt war, denn auf allen Höhen loderten Freudenfeuer und knallten Böller, das Volk war noch wach überall und befand sich in einer frohen Erregung. Das ganze Thal war in festlicher Stimmung. Solches rührte den Gutsherrn bis ins Herz, denn er hatte immerhin noch ein bißchen davon.

Und als er einfuhr in den Schloßhof und seines Verwalters ansichtig wurde, sprang er rasch aus dem Wagen, drückte dem Manne die Hand und sagte: „Mich freut es sehr! Mich freut es sehr! Sagen Sie den Leuten meinen Dank! Soll ihnen nicht vergessen sein! Hübsch Nachsicht haben, wenn die braven Bauern ihren Pflichten nicht immer sollten nachkommen können.“ – Als der Verwalter merkte, daß es die Festlichkeit war, die den Herrn so entzückte, wollte er schon den Mund aufmachen, that es aber nicht, sondern ließ den Patron bei dem Glauben, daß die Freudenfeuer und die Böllerschüsse ihm vermeint gewesen.

Es war aber der heilige Osterabend und die Freudenfeuer galten nach Brauch und Sitte der Auferstehung des Herrn.

Der Gutsherr hielt Wort. Die Abgaben des Jahres blieben den Bauern im Sack und schadeten ihnen nicht, der Gutsherr hatte kein Geld für die große Stadt, mußte auf seinem Landsitze bleiben, und das schadete ihm auch nicht.

An diesen Gutsherrn erinnern mich jene Leute, die in Zeitungsartikeln, in Ostergedichten und Festreden nicht müde werden, zu behaupten, Ostern sei das Fest des einziehenden Frühlings, das Fest der auferstehenden Natur. Aber gelten denn die Freudenfeuer auf den Bergen, der Jubel der Menschen wirklich dem einziehenden Frühling? Mag sich der Lenz darob geschmeichelt fühlen wie jener Gutsherr und dafür reiche Gaben in Aussicht stellen: gut, das kann uns ja recht sein. Wer aber nicht bloß im Taufscheine Christ ist, der denkt beim Osterfeste weniger an die grünenden Wiesen, an den Osterhasen, als an das Erlösungswerk des Heilandes, an seinen Opfertod. Und darin liegt die hehre Weihe des Osterfestes, mahnt es uns doch zur göttlichen Heldenhaftigkeit, sich für die Mitmenschen zu opfern, wenn’s darauf ankommt, fürs Allgemeine das Leben hinzugeben. Das ist herb, aber auch herrlich; denn in dem Sterben für das Große und Gemeinsame liegt nicht der Tod, sondern die Auferstehung und das Leben. Ich bin überzeugt, daß der Held, welcher einen Opfertod stirbt, mit dem Gefühle der Seligkeit fortlebt in der großen Menschenseele, die

[233]

Ein Hünengrab in der Lüneburger Heide.
Nach dem Gemälde von Eugen Bracht.

[234] trotz aller Hemmnisse und Rückfälle doch sachte himmelwärts steigt im Laufe der Jahrtausende.

Es giebt Helden der Menschheit, von denen niemand was weiß. In den dunklen Gründen des Volkes ist nicht immer ein Chronist, ein Dichter, ein Bildner, um zu verherrlichen die Tapferkeit, die Güte, die Treue, die Entsagung und Duldung, die dort in schlichten armen Menschen Tag für Tag walten! – Nichts kann göttlich werden auf der Welt als allein ein liebestarkes opferfrohes Herz; von diesem kommt alles, was Ostern zum Feste der Auferstehung macht, und der einziehende Lenz ist gerade gut genug, mit seinen jungen Zweigen ein solches Ostern zu schmücken.

Und nun will ich zum Ostergruße eine Mär erzählen von einem Auferstandenen, der unsterblich fortlebt in Lied und Wort und im Herzen des Volkes.

Schon zweihundert Jahre ist es her, seit jener Mann aus dem Waldbachthale gestorben ist. Sein Haus, das er gebaut, ist längst vermodert, sein Feld, das er gerodet, längst wieder zur Wildnis geworden, und sein Leib? Der ist nicht auf der Erde und nicht unter der Erde, der ist nirgends mehr. Aber das Gedächtnis lebt. – Und was ist selbiger Mann gewesen, vor zweihundert Jahren, was hat er gethan?

Gewesen ist er wenig, gethan hat er viel.

Um die Zeit der letzten Türkeneinfälle war das Waldbachthal bevölkert von Holzern, Hirten und Kleinbauern. Der absonderlichste unter ihnen war Antonius Hirthauser, genannt der Waldbachbauer. In seiner Jugend war er Fuhrmann gewesen und weit in der Welt herumgekommen. Er war der Einzige in der Gegend, der seinen Namen schreiben konnte. Mit vierzig Jahren hatte er am Bache ein Haus, ein Weib und ein Kind. Im Laufe des Jahres nahm er etlichemal seinen Korb auf den Rücken und ging hinaus nach Breitenwang, wo er beim Kaufmann und bei den Gewerbsleuten Bänder, Leder, Nägel, Salz und andere Dinge einkaufte, mit denen er daheim im Waldbachthal einen kleinen und redlichen Handel trieb. Ein Rößlein konnte der Fuhrmann hier nicht mehr brauchen, denn durch die Schluchten heraus ging keine Fahrstraße, bloß ein holperiger Fußsteig über Gestein und Baumgewurzel.

So war Antonius Hirthauser auch an jenem Karfreitage nach Breitenwang gegangen. Sein Weib hatte ihn nicht wollen fortlassen, denn es war eine unfriedliche Zeit. Vom Ungarlande her war der Türke, auch der feindselige Magyar wieder im Anzug und allerhand Gesindel streifte in der Gegend umher. Hirthauser aber beruhigte sein Weib, indem er sagte, ihm geschehe nichts. Sollten ihm Fremde begegnen, so wisse er mit ihnen umzugehen, und für alle Fälle habe er sein Beil bei sich. Sie möchten daheim nur stets die Thüre verschlossen halten, morgen werde er beizeiten wieder da sein mit seinen Waren, die er für Ostern brauche. Er müsse ja auch dabei sein, wenn am Karsamstag oben in der großen Hochschlag-Knechthütte die Männer zusammenkämen, um Rat zu halten, was zu Schutz und Wehr gegen den wieder drohenden Feind zu geschehen habe. – So war er fortgegangen, gegen Abend nach Breitenwang gekommen, hatte dort seine Einkäufe gemacht und dann im großen Wirtshaus des Ortes um Nachtherberge zugesprochen. Nachdem er als Karfreitagsmahl nur ein Stück Brot und einen Krug Wasser zu sich genommen hatte, ging er in die ihm angewiesene kleine Kammer, wo er sich bald zur Ruhe legte.

Da war es um Mitternacht, daß zu Breitenwang Lärm und Aufruhr entstand. Am unteren Ende des Ortes lohte ein Feuerbrand auf, durch die Gassen fluteten fremde Gestalten zu Fuß, zu Roß, zu Wagen; bis an die Zähne bewaffnete braune Männer drangen in die Häuser, um von denselben Besitz zu nehmen. Der Feind war da. Unser Waldbauer faßte sein Beil und wollte hinaus zum Straßenkampf. Das war zu spät. Es wirbelte schon zum Thore herein. Hirthauser hatte kaum noch Zeit, sich in seine Kammer zurückzuflüchten. Von derselben aus aber konnte er heimlich durch eine Thürfuge in die anstoßende große Stube lugen, wo so etwas wie der Generalstab der feindlichen Truppe sein Quartier aufschlug. Es waren ihrer acht oder zehn Mann mit knochigen Gesichtern, krummen Säbeln, halb in orientalischer Gewandung, auf rotem Turban lange Federn, im Gürtel schwere Pistolen. Sie saßen auf Tischen, auf dem Fußboden mit unterschlagenen Beinen, sie aßen rohes Fleisch, welches sie mit den Zähnen zerrissen, sie machten schrillen Lärm mit wieherndem Gelächter. Von qualmenden Spänen wurden sie rot beleuchtet. Allmählich ging es gedämpfter her. Kriegsrat schienen sie zu halten und mancherlei Sprachen zischelten durcheinander, darunter auch ein verwelschtes Deutsch. Und da hat es der Mann aus dem Waldbachthale belauscht, wie sie verabredeten, am nächsten Frühmorgen tiefer ins Gebirge zu dringen und eine große Waldhütte zu überfallen, wo die Streitkraft der Gegend versammelt sein würde. Durch einen Verrat schienen sie von allem zu wissen. Von dem Hinterhalt einer Schlucht her wollten sie in großer Uebermacht die Hütte umringen, anzünden und die Männer niedermachen. Nur schien es, als wäre ihnen ihr Angeber abhanden gekommen, der sie hätte führen sollen.

Hirthauser hatte genug gehört. Eilig wollte er davon, noch in der Nacht dem Waldbachthale, der Hochschlag-Knechthütte zu, um die Männer von der Gefahr zu benachrichtigen! Doch als er im Wirtshause durch das Thor hinauswollte, wurde er von der Wache mit Kolben zurückgestoßen. Zwei Rothosen nahmen ihn fest und schleppten ihn in die große Stube, vor den Stab. Im ersten Augenblick wollten ihn die johlenden Gesellen am Ofengeländer aufknüpfen, das verhinderte ein Mann mit martialisch aufgespießtem Magyarenbarte, der türkische, ungarische und deutsche Wörter durcheinandersprach. Aus dem Alpenspitzhute des Bauers hatte dieser Spießbart geschlossen, daß der Gefangene vom Gebirge her sein müsse. So fragte er Hirthauser in mangelhaftem Deutsch, ob er die große Hütte wisse, die in der Wildnis stehe und Hochschlag-Knechthütte genannt werde. Ja, die wisse er, gestand Hirthauser. Dann könne er seinen Kopf retten und sich einen Beutel Kupfer verdienen. Er solle mit ihnen gehen und zu jener Hütte den Weg weisen. „Das will ich gern thun!“ antwortete Hirthauser, dabei soll ein mächtiges Aufleuchten gewesen sein in seinem Auge.

Und am Morgen nach dem ersten Hahnenschrei, da ging es gen das Waldbachthal. Nicht mit gefülltem Warenkorb den stillen Pfad, wie der Waldbachbauer gedacht hatte, sondern an der Spitze eines großen Trupps seltsamer Wesen, ungarischer und slovakischer Söldner, türkischer Janitscharen, Zigeuner und anderen Gesindels in Fetzen und abenteuerlicher Gewandung, mit allem denkbaren Zeug bewaffnet. Einige waren zu Pferde und Wagen gewesen, die hatten freilich zurückbleiben müssen; der große Haufe flutete an den Bachufern, an den Hängen und auf schlechten Steigen vorwärts, zumeist leise huschend, denn aller Lärm war verpönt. Der Hirthauser mußte als Wegweiser vorausgehen, zwei knochige Janitscharen führten ihn an Stricken, damit er nicht entfliehen konnte.

Nach etwa zwei Stunden kamen sie zu jener Felswand, die aus dem Walde scharf hervorsteht und hinter welcher zwei Wässer zusammenrinnen. Das eine rechts kommt aus dem Waldbachthale, das andere links aus den Engschluchten der Schallwände. – Hirthauser bog links ab. Einen flüchtigen Blick hatte er noch geworfen zwischen die dunklen Fichtenwipfel hinein in das morgendliche Waldbachthal … einen wehevollen Blick. Er wußte wohl, daß es der Abschied war!

Das Wasser aus den Schallwänden kam wild und lehmgrau dahergeschossen und wütete schäumend zwischen Felsblöcken dahin. Am Ufer grünte schon der Rasen, am Berghange standen Primeln. Frühling! – Ueber den finsteren Baumkronen leuchteten die Felswände. Die goldene Morgensonne lag auf ihnen. In den Karen lagen Schneewuchten. Zu solcher Jahreszeit fahren sie gern nieder … Karsamstag! Hirthauser dachte in seinem Gemüt an die Grabesruhe des Herrn.

Immer schlechter wurden die Pfade, immer wüster die Schlucht, immer ungeduldiger und schnaubender gebärdete sich die Rotte. Die krummen Säbel, die Beile und Morgensterne, die kurzen Schwerter und langen Flinten, sie klirrten aneinander und grelle Flüche häuften sich von Schritt zu Schritt. Da trat der Spießbart zu Hirthauser heran, riß ihn an der Achsel zurück und fragte: „Wohin, Du Hund?!“

„Zu den Oberschlag-Knechthütten, Herr General!“

„Wenn Du solltest den Weg falschen!“ radebrechte der andere mit fletschenden Zähnen und machte dabei einen zuckenden Griff an sein Gürtelmesser.

„Ich weiß es,“ antwortete der Mann aus dem Waldbachthale. Und sie stolperten weiter, den Wildgraben hinaus. Hirthauser rechnete nach, wie viele Stunden lang er den Feind irreführen mußte, bis die Männer in der großen Hütte sich zerstreut haben oder wehrhaft geworden sein konnten.

„Leicht ist sie nicht zu haben, die Oberschlag-Knechthütte,“ sagte er zum Spießbart. „Seht Ihr’s, dort zwischen den Wänden? Zwei Gemssteige führen hinauf. In drei Stunden können wir dort sein.“

„Also voran, Schwab!“

[235] „Ihr führt mich an Stricken,“ setzte Hirthauser bei. „Traut Ihr mir nicht, warum folgt Ihr mir?“

Der andere tastete wieder an sein Messer, gleichsam als wollte er sagen: das da ist unsere Sicherheit, daß du uns nicht verraten wirst! –

Der wunderliche Zug bewegte sich immer bergan, in den Runsen, zwischen Felsblöcken und durch ineinandergeklemmtes Holzgefälle, von Windbrüchen stammend. Keiner dieser Fremdlinge hatte seinen Fuß wohl je in solches Alpengebiet gesetzt, man merkte es an ihrem unbehilflichen Vorwärtsklettern. Nur ein paar bartlose Gelbgesichter, Söhne des Kaukasus, liefen mit katzenartiger Behendigkeit bergan. Bei einer Quelle, die zwischen mosigem Gestein hervorbrach, ließ Hirthauser sich nieder, um zu trinken. Der Gaumen war ihm trocken, in seinem Herzen war eine unendliche Traurigkeit. Im vorigen Sommer war’s gewesen, als er sein sechsjähriges Söhnlein mit heraufgeführt hatte in die Oednis, damit es Gemsen sehe. An diesem Brunnen hatten sie gerastet. –

Aus Schluchten herüber rollte ein Donnern, daß der Boden bebte, und der Staub einer Lawine stieg in die Lüfte. Der Führer wurde an Stricken emporgerissen, damit er den Zug weiterleite aus diesem Ort des Verderbens. Und steilanwärts ging’s in die Hänge und Lehnen, über deren fahlen Rasen das Wasser niedersickerte von den Schneewuchten, die hoch in den Mulden lagen. Die Sonne schien warm, von mittägigen Bergen her zog ein weiches Lüftchen. Von den braunen Schallwänden nieder, die ihr zackiges Getürm in den Himmel hineinreckten, kamen große graue Vögel geflogen und umkreisten mit starr ausgespannten Flügeln, gierig nach Fraß, die schnaufenden Gestalten. Der kriegerische Haufe war schier aus Rand und Band. Die einen strauchelten und rollten niederwärts, die anderen brachen tief in den Schnee, wieder andere blieben erschöpft liegen auf dem Gerölle. Da flog oben in den hohen Karen eine finstere Wolke auf, ein Pfeifen, ein Brausen, ein erschütterndes Donnern, ein grauser Sturm fegte alles nieder, was da stand, und die Riesenlawine glitt darüber hinweg, dem Abgrunde zu. –

Etliche des feindlichen Zuges waren begraben. Die anderen, die bloß zu Boden geworfen worden, ermannten sich wieder. Viele stürzten nun auf Hirthauser los – er habe sie ins Verderben geführt! – Der Waldbachbauer soll darauf nur mit den Achseln gezuckt und kein Wort mehr gesagt haben.

Da erhob sich ein wüster Aufruhr und in vielen Sprachen, dumpf grollend, schrill schreiend, wimmernd und fluchend, verlangten sie den Tod des Verräters. Kein Verhör, kein Urteilsspruch. Ohne weiteres haben sie den Mann hinausgeschleppt zu einem Felsenkamm und ihn über die Wand gestürzt in die Tiefe. Im Fallen – so wird erzählt — soll Hirthauser in der Richtung gegen das Waldbachthal die Arme gebreitet und einen hellen Juchschrei ausgestoßen haben. – Später kam auch der im Schnee zurückgebliebene Spießbart, dem war das Geschehene nicht nach Sinn. Er umging den Felsen, kletterte hinab zur Stelle, wo der Mann auf einer Steinplatte zerschmettert lag. „Magyar hält Wort!“ knirschte er und stieß dem Leichnam das Messer in die Brust.

Mit schweren Mühen und manchem Verlust an Mannschaft sollen die fremden Rotten aus den Steinwüsten herabgekommen sein und ihren Ausweg gefunden haben. Weder um die toten Genossen haben sie sich gekümmert, noch ferner ein Verlangen gehabt, die Hochschlag-Knechthütte zu suchen. Verloren haben sie sich aus der Gegend und die Männer des Waldbachthales sind vor dem Ueberfall bewahrt geblieben.

Im Waldbachthale wird heute noch ein Lied gesungen mit der Schlußstrophe:

„Der Retter ist gelegen
Auf einem kalten Stein,
Die Engel thäten ihn tragen
Ins Himmelreich hinein.“

So lebt der Held fort im Herzen des Volkes, wo sein Andenken manche Opferfreudigkeit schon entzündet hat und noch entzünden wird. – Kann man denn nicht auch von diesem Märtyrer sagen: er ist auferstanden und wandelt unter Palmen?




Kinderleben bei den Japanern.

Von Ernst v. Hesse-Wartegg.
Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Japanerknabe im Kimono.

Dem europäischen Besucher Japans muß das ganze ferne schöne Inselreich wie ein einziger großer Kindergarten vorkommen. Alles scheint sich dort um die liebe kleine herzige Welt zu drehen. Die Häuser sind so klein und nett und zierlich, die Gerätschaften darin erinnern an Spielzeuge, die Gärtchen rings herum mit ihren kurios beschnittenen und verkrümmten Bäumchen, ihren winzigen Rasenflächen, Wassertümpeln, Miniaturbrücken und Tempelchen sehen aus, als wären sie für Puppen und nicht für Menschen geschaffen worden. In Japan sind eben auch die Erwachsenen in vielen Beziehungen Kinder. Man kann dort wohl sagen, wo die Kindheit anfängt, aber nicht, wo sie aufhört. Es ist das reine Kinderparadies.

Kinder bilden die einzige Sehnsucht des neuvermählten Ehepaars und, sind sie einmal vorhanden, dessen größten Stolz, ja dessen wichtigsten Besitz. Der Vater arbeitet nicht bis zu seinem Greisenalter, um die Kinder zu ernähren. Die Kinder sind es, die den Vater ernähren. Ist sein Haar grau geworden, so pflegt er sich von seinen Geschäften zurückzuziehen und überläßt die weitere Sorge, ja überhaupt seine ganze Habe, seinem ältesten Sohne. Er selbst verbringt den Rest seines Lebens in Ruhe und Behaglichkeit. Japanische Eltern blicken nicht mit Sorge in die Zukunft, denn sie wissen und können in allen Fällen darauf zählen, daß das Uebermaß von Liebe und Zärtlichkeit, welches sie ihren Kindern zuteil werden lassen, von diesen reichlich vergolten wird, daß sie bis zu ihrem Tode von ihren Nachkommen gepflegt, geliebt und geachtet werden. Der größte Segen der Japaner ist der Kindersegen.

Die Ankunft eines Kindchens wird mit Freude begrüßt, besonders wenn der neue Ankömmling auf Erden männlichen Geschlechtes ist; denn nur ein Sohn kann Namen und Besitz der Familie erben. Sofort werden Verwandte und nähere Freunde durch eigene Boten von dem großen Ereignis in Kenntnis gesetzt, und bald darauf stellt sich ein Strom von Besuchern in dem glücklichen Hause ein, um die Eltern zu beglückwünschen und das junge Wesen in Augenschein zu nehmen. Freude auf allen Gesichtern, nur nicht bei dem kleinen Balg, der von Hand zu Hand gereicht wird und dem die Welt in den ersten Wochen seines Daseins recht unbehaglich vorkommen mag. Die Geschenke, die er erhält, kann er ja nicht nach ihrem Werte schätzen, und Geschenke erhält er in Hülle und Fülle. Bald sind es Kleidungsstücke oder Stoffe verschiedener Art, bald Spielzeug oder Lebensmittel, hauptsächlich Eier. Alle Geschenke sind niedlich in Papier verpackt und mit rotem Bindfaden zusammengebunden. An diesem hängt, in einem winzigen Paketchen aus rotem Papier, ein Stückchen Fisch, Noski genannt, der bei den abergläubischen Japanern als glückbringend gilt.

Am siebenten Tage nach der Geburt des Kindes wird ihm von seinem Vater oder einem Freunde der Familie ein Name gegeben, gewöhnlich der Vatername, etwas verändert, oder der Name eines Vorfahren. Ist das Kind ein Mädchen, so wird es nach irgend einer hübschen Naturerscheinung benannt, wie Frühling, Sonnenschein oder Gold, Apfelblüte, Chrysanthemum, Lilie etc.

Der neue Ankömmling und sein Name wird in dem Verwaltungsamte des Distriktes registriert, darauf folgt ein Festmahl von Reis mit roten Bohnen und die „Taufe“ ist vollzogen. Ein wichtiger Akt an diesem Tage ist auch das Rasieren des Kindesschädels. Das zarte flaumige Kopfhaar verfällt dem Rasiermesser mit Ausnahme eines kleinen Schöpfchens am Scheitel. Je nach der Laune [236] der zärtlichen Mama bleiben auf dem Schädel ihres jüngsten Sprößlings auch mehrere derartige Schöpfchen oder ein schmaler Kranz oder sonstige willkürliche Haarfiguren stehen, die den japanischen Kindern ein ungemein possierliches Aussehen geben. Erst wenn sie alt genug sind, um die Schule zu besuchen, werden ihnen die Haare stehen gelassen.

Dreißig Tage nach der Geburt erhalten die Kleinen ihre religiöse Weihe dadurch, daß sie in großer Familienprozession in einen Shintotempel getragen und dort unter den besonderen Schutz eines der Götter gestellt werden. An diesem Tage pflegen die glücklichen Eltern auch die vielen Geschenke, welche ihrem Jüngsten bei der Geburt dargebracht wurden, zu erwidern, indem sie jedem Geber etwas Reiskuchen oder Eier oder sonst dergleichen senden, begleitet von einem höflichen Dankschreiben. Wenn man bedenkt, daß besonders in den besseren Ständen mitunter hundert oder noch mehr Geschenke einlaufen, so kann man sich die Mühen der jungen Mutter wohl vorstellen. Die Kuchen werden gewöhnlich in lackierten Holzkästchen gesendet, die aber durch den Ueberbringer wieder zurückgestellt werden müssen, wobei sich die Empfänger hüten, die Kästchen zu reinigen. Das würde Unglück über das Kind bringen.

Begrüßung des Neugeborenen.

Damit ist das ganze Ceremonie!!, das mit dem Inslebentreten des Kindes verbunden ist, beendet, und es kann sich nun unbehindert seines Daseins freuen. Bei kaltem Wetter bleibt es hübsch zu Hause auf den reinlichen, weichen Matten der Wohnzimmer; Möbel giebt es in den japanischen Häusern keine, an denen es sich Löcher in den Kopf schlagen kann; es giebt keine Glasschränke und Etageren mit allerhand Porzellan und Nippsachen, die es zerbrechen könnte; selbst die Wände des Zimmers bestehen nur aus weichem, auf Holzrahmen gespanntem Papier, und das größte Unglück, das die Kinder anstiften könnten, wäre, ihre Finger durch das Papier zu stoßen. Auch die Kleider können sie sich kaum beschmutzen, und im Sommer tragen sie gar keine – nicht das geringste Feigenblättchen. Werden sie hungrig, so nähren sie sich an dem Born der Natur, und die Muttermilch bleibt ihre hauptsächliche Nahrung bis zum Alter von zwei bis drei Jahren.

In den besseren Ständen und in den Familien der Kuges (Fürsten) und Daimyos (Adeligen) werden die Kinder in Kleider gesteckt, die ganz denselben Schnitt zeigen wie jene der Erwachsenen. Es kann nichts Possierlicheres geben als die liliputanischen Herrchen und Dämchen mit ihren glattrasierten Schädeln und den langen faltenreichen Gewändern, wenn sie, geradeso wie die Alten, tiefe Verbeugungen voreinander machen oder, kaum zwei bis drei Jahre alt, schon am Familientische teilnehmen und statt des Kinderlöffels schon die Reisstäbchen (chop sticks) handhaben. Ankleiden können sie sich freilich noch nicht selbst; das besorgt Mama oder die ältere Schwester. Der nationale Kimono, ein schlafrockartiges Kleidungsstück mit langen weiten sackartigen Aermeln, wie wir es auf dem Bildchen S. 235 erblicken, wird auf dem Boden ausgebreitet und das Kleine darauf gelegt. Dann werden ihm die Aermel auf die Aermchen gezogen, der Kimono über den kleinen Körper gefaltet und mit einer Schärpe zusammengebunden. Gewöhnlich trägt das Kind um den Hals auch ein kleines Messingschildchen mit Namen und Adresse, damit es nicht verloren gehen kann; zum besonderen Schutz gegen Unglücksfälle trägt es am Gürtel ein Kintschaku, d. h. ein Beutelchen aus kostbarem Stoff, in dem sich irgend ein Zaubermittelchen befindet. Bei kaltem Wetter werden zwei oder drei Kimonos ineinandern gesteckt und ihre Länge schützt Füßchen und Händchen. Der äußere Kimono ist immer der bunteste – knallrot, lichtblau, orangegelb, mit großen Blumen und Ornamenten. Je älter das Kind wird, desto weniger bunt werden die Farben der Kleider, desto kleiner die Blumen und Ornamente, junge Damen tragen nur die zartesten Farben, und alte Mütterchen sind gewöhnlich Grau in Grau gekleidet.

Junge Mädchen, ihre kleinen Geschwister tragend.

In den armen Familien – und bei weitem die Mehrzahl der Japaner ist arm – kann man den jungen Sprößlingen nicht diese Pflege angedeihen lassen. Sie bleiben nackt oder bekommen höchstens einen Kimono. Mama hat viel zu viel im Hause, im Garten oder auf den Feldern zu thun, als daß sie sich viel mit ihrem Kindchen beschäftigen könnte, allein lassen kann sie es auch nicht und so bindet sie es mit langen Bändern auf ihren Rücken. Ist aber ein älteres Schwesterchen da, selbst wenn es nur sechs oder sieben Jahre alt sein sollte, so wird das Kleine dem Schwesterchen aufgesattelt und Mama kann ungehindert ihren Arbeiten nachgehen. Wo immer ich in Japan hinkam, in Städten und Dörfern, auf den Feldern wie in den Straßen, selten sah ich ein junges Mägdlein zwischen sieben und fünfzehn Jahren, das nicht ein Kindchen auf seinem Rücken getragen hätte, wie es das nebenstehende Bild zeigt, und der Kopf des kleinen Wesens ragte darüber hervor wie das Tüpfelchen über dem i. Es findet sehr bald Gefallen an dieser reitenden Stellung, guckt fröhlich über die Schultern des Schwesterchens in die Welt und bleibt dort Tag für Tag, Woche für Woche, bis es endlich selbst zappeln und gehen gelernt hat. Und ist es erst fünf, sechs Jahre alt geworden, so ist vielleicht wieder ein junges Brüderchen oder Schwesterchen zur Welt gekommen, dem es nun seinerseits den Rücken leihen muß.

Wie das Kleine, so gewöhnt sich auch die jugendliche Trägerin ganz [237] unbewußt an diese Last und tummelt sich vor den Häusern herum, spielt mit den Nachbarkindern oder arbeitet, als wäre ihr das Kindchen angewachsen wie ein Höcker. Stundenlang trägt sie dasselbe umher, und wird dieses schläfrig, so schläft es ein, ohne sich durch das Schütteln beim Laufen und Herumspringen hindern zu lassen; die Händchen fallen schlaff herunter, das Köpfchen baumelt hin und her, fällt zurück oder auf die Seite, daß ich oft fürchtete, jetzt müßte das Genick brechen. Aber es schlief ruhig weiter.

Daß ein Kindchen der Trägerin entfallen würde, kommt äußerst selten vor; wie ein gewandter Naturreiter auf seinem Pferde, so klammert es sich mit den gespreizten Beinchen an die Seiten der Trägerin, die thun und lassen kann, was sie will, es bleibt fest im Sattel. Wird es hungrig, so setzt sich die Trägerin neben Mama, oder vielleicht auf ihren Schoß, das Kleine dreht sich herum und nährt sich an Mamas Brust, ohne daß die letztere es zu halten braucht. Und wie fröhlich, wie still und wohlerzogen sind diese Kinder! Selten habe ich ein japanisches Kind weinen gesehen, niemals schreien gehört; niemals nahm ich schlechtes, ausgelassenes Benehmen wahr; niemals Prügeleien unter Jungen, niemals eine Bestrafung durch die Eltern. Werden sie irgendwie ungebührlich, so droht Mama oder Papa mit dem Oni, dem roten Teufel, der die Kinder holen wird. Der rote Teufel ist ihr größter Schrecken, und man kann sich vorstellen, welches Entsetzen das Kommen eines rothaarigen, rotbärtigen Deutschen etwa unter den Kindern eines Dorfes hervorruft! Sie zerstieben, laufen und verstecken sich in alle Schlupfwinkel.

Kinderspiele bei einem Volksfeste.

Himmelbetten und Wiegen nach europäischem Muster giebt es in Japan nicht. Das Kleine wird fleißig gebadet, noch dazu in fast brühend heißem Wasser, was ihm aber nicht zu schaden scheint. Arme Leute, die keine eigenen Bäder besitzen, nehmen das Kindchen in die öffentlichen Bäder, wo sie in Gemeinschaft mit anderen Eltern und Kindern ohne irgend welche Scheu in dasselbe Bassin steigen. Unsere Begriffe von Scham sind den Japanern eben unverständlich.

Diese Bäder, der beständige Aufenthalt in der freien Luft, die unfreiwillige Bewegung, welche die Kinder auf dem Rücken ihrer Geschwister machen, scheinen ihrer Gesundheit sehr zuträglich zu sein. Die Sterblichkeit unter den japanischen Kindern ist geringer als bei uns, und die einzige ziemlich allgemeine Krankheit ist ein Hautausschlag auf den Köpfen und Nacken, der aber bald schwindet. Ist er überstanden, dann sehen die Kinder so gesund und kräftig und pausbackig aus wie Posaunenengel, eine wahre Freude für Eltern und Freunde, die das Kind bewundern, die feisten, harten Glieder befühlen und ihm eine glänzende Zukunft prophezeien. Welches Kind ist denn überhaupt in den Augen seiner Eltern nicht das schönste und klügste, das es jemals gegeben hat!

Allmählich lernt das Kleine auch ein wenig sprechen, lange bevor ihm das freie Gehen gelingt. Die japanische Sprache ist ja so klangvoll, einfach und leicht zu erlernen, wenigstens was die notwendigsten Ausdrücke betrifft. Auch bei dem japanischen Kindchen sind die ersten Ausdrücke mama, tata, bebe, nur bedeuten sie ganz andere Dinge als bei uns. Mama heißt Nahrung, Essen, Trinken; bebe heißt Kleid, tata Socken (die Japanerin, selbst die erwachsene, kennt keine Strümpfe, sondern nur Leinwandsocken); mit dem Worte ija wird nein, ich mag es nicht, es ist mir unangenehm etc. bezeichnet. Das Kind lernt nun auch das Gehen, zuerst im Hause, dann außerhalb, in dem Gärtchen, das die meisten japanischen Familien hinter ihren Holzhäusern besitzen, oder auf der Straße, die ja selten von bespannten Fuhrwerken befahren wird und so besonders in Dörfern den gewöhnlichen Tummelplatz der Kinder bildet. Ist das Gehen im Hause gelungen, so wird dem Kinde der Gebrauch der geta oder stelzenartigen Holzpantoffel gelehrt, und es ist staunenswert, mit welcher Leichtigkeit es sich an diese plumpe, schwere Fußbekleidung gewöhnt, in ihnen läuft, springt und den tollsten Schabernack treibt.

Die Eltern verfolgen die Entwicklung ihrer Kinder mit der liebevollsten Zärtlichkeit, ja die Liebe zwischen Eltern und Kindern ist vielleicht die einzige, wahre Liebe, welche die Japaner kennen. Sie bewachen und lehren die Kleinen und strafen sie kaum jemals. Aberglaube hat damit sehr viel zu thun. Wenn Blattern oder epidemische Kinderkrankheiten im Orte wüten, dann schreibt der sorgsame Papa über seine Hausthüre, die Kinder wären nicht zu Hause, damit die bösen Geister sich gar nicht bemühen, die Schwelle zu überschreiten. Vor Lügen werden die Kinder dadurch gewarnt, daß man ihnen sagt, der böse Oni würde ihnen die Zunge ausreißen.

Den Knaben wird gewöhnlich viel größere Freiheit gestattet als den Mädchen. Der Knabe wird ja von selbst seinen Weg machen; er ist der Erbe und Nachfolger des Vaters, dessen Handwerk er erlernt und dem so viele andere Berufszweige offen stehen. Anders das Mädchen. Es muß so erzogen werden, daß es einen Mann findet, dem es nicht nur Gattin, sondern auch Dienerin sein muß. Die Stellung der Frau in Japan ist eben noch eine sehr tiefe und deshalb muß ein Mädchen von Jugend auf freundliche, höfliche Manieren und Unterwerfung lernen. Eine andere Stellung als die einer Gattin und Mutter steht ihm ja nicht offen, und findet es keinen Mann, dann bleibt es fürs ganze Leben von der eigenen Familie abhängig. Selbst wenn es sich verheiratet hat, kann der Gatte, falls ihm seine Frau nicht behagt, sie ohne viele Umstände wieder den Eltern zurücksenden. Dementsprechend wird auch die Erziehung des Mädchens angelegt. Sie muß lernen, einen Mann zu gewinnen und nach der Verheiratung auch für immer zu fesseln. Sie darf keinen eigenen Willen haben, darf weder Unzufriedenheit noch Zorn, Heftigkeit oder Schmerz äußern; alle diese Gefühle muß sie lernen, unter freundlichem Lächeln, unter höflichen, unterwürfigen Manieren und mit einer gewissen Koketterie zu verbergen; sie muß lernen, sich selbst anziehend und den anderen das Leben angenehm und behaglich zu machen.

Glücklicherweise wird ihr dies alles in zartester Weise und vielleicht ganz unbewußt beigebracht. Sie ist ja der Liebling im Hause. Die Eltern und Brüder behandeln sie mit Liebe und Zärtlichkeit, die Diener mit Achtung. Ist sie die älteste Tochter, dann wird sie von den letzteren mit O Jo Sana – etwa „ehrenwerte junge Dame“, von ihren Geschwistern Ané San – „ältere Schwester“ genannt. Ist sie eine jüngere Tochter, dann wird sie von ihren Geschwistern und der Dienerschaft „O San“ – etwa „ehrenwertes Fräulein“ angesprochen.

[238] Allmählich werden ihr auch die häuslichen Verrichtungen sozusagen spielend beigebracht. Sie sind in japanischen Haushaltungen nicht so bedeutend wie bei uns, denn die einfachen, einstöckigen Häuschen haben wie gesagt fast gar keine Möbel, Nippsachen, Bilder, Spiegel, Teppiche, Fenster u. dergl. Die Zimmer sind kahle Räume mit mattenbedecktem Boden, die Wände Papierrahmen, und die Reinhaltung derselben sowie der Engawa, d. h. der rings um das Haus laufenden Galerie, ist ziemlich leicht. Die Schlafstätten beschränken sich auf einfache Matratzen, die abends auf den Fußboden gelegt und morgens, wieder zusammengerollt, in einem Schrank aufbewahrt werden, und was die Mahlzeiten anbelangt, so brauchen sich die japanischen Mädchen nicht mit der höheren Kochkunst abzumühen, verschiedene Suppen, Braten und Mehlspeisen zubereiten zu lernen, in die Geheimnisse der Tunken und Präserven einzudringen, denn all’ diese kulinarischen Genüsse wird auch der verwöhnteste Gatte nicht von ihr verlangen. Morgens Reis, mittags Reis, abends Reis, dazu getrocknete Fische und einfach gekochte Gemüse, das sind die Gerichte des täglichen Speisezettels. Es giebt auch keine Spitzen und feine Wäsche zu reinigen, keine Balltoiletten nach neuester Mode anzufertigen, keine Hüte zu schmücken; die einzige Fertigkeit, welche die jungen Mädchen in Japan brauchen, ist das Nähen; ihr schlafrockartiger Kimono und das Unterröckchen, das sie tragen, bedürfen keiner Modistin und Damenschneiderin: sie nähen ihre Kleidungsstücke selbst, und sind diese schmutzig, dann werden sie zertrennt und in kaltem Wasser ohne Seife gewaschen. Das Plätteisen ist den Japanern unbekannt. Nach jeder Wäsche werden die Kleidungsstücke neu genäht. Strümpfe und Schuhe in unserem Sinne werden von den Japanerinnen ebensowenig getragen wie Hüte. Ihre einzige Kopfbedeckung ist die allerdings sehr sorgfältige, mit Nadeln und Blumen geschmückte Haarfrisur, und diese wird alle Wochen einmal von eigenen Haarkünstlerinnen gegen ganz geringes Entgelt sorgfältig aufgebaut. Damit der Kopfputz nicht in Unordnung gerate, dürfen die armen Japanerinnen während des Ruhens keine Kopfkissen verwenden, sondern sie legen unter ihren Nacken einen Holzklotz, über welchen die Köpfchen, wie es die nebenstehende Abbildung zeigt, frei hervorstehen.

Siesta einer Japanerin.

Die geistige Erziehung hat bis auf das letzte Jahrzehnt viel weniger Zeit erfordert als das Anlernen verschiedener Nichtigkeiten, die aber im Lande des Mikado eine große Rolle spielen. Die jungen Mädchen werden sorgfältig in die Geheimnisse der ceremoniellen Theebereitung (Tscha no yu) eingeweiht, sie lernen das umfangreiche Ceremoniell der Begrüßung und Bewirtung der Gäste, das Zusammenstellen und Binden von Blumensträußen, Samisen (Guitarre) spielen und in besseren Familien wohl auch verschiedene alte Tänze und Pantomimen zur Unterhaltung ihrer Eltern und etwaiger Gäste. Im Alter von sechs bis zehn Jahren besuchen sie irgend eine Privatschule, wo ihnen das Lesen und Schreiben der chinesischen und japanischen Schriftzeichen, chinesische Litteratur, japanische Dichtkunst und Geschichte beigebracht werden. Arithmetik, Geographie, Weltgeschichte und all die anderen Wissenschaften unserer Schulen werden den japanischen Kindern erst seit etwa einem Jahrzehnt bis zu einem gewissen Grade gelehrt; zuerst aber müssen sie dem chinesisch-japanischen Schulgang folgen. Es ist keine geringe Aufgabe für die armen jungen Wesen, nachdem sie mühsam die ungemein schwierige Schriftsprache der Mongolen und das Malen der Tausende von Hieroglyphen mit Pinsel und Tusche erlernt haben, die letzteren mit Feder und Tinte zu vertauschen und Englisch, Deutsch oder Französisch zu lernen; statt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden zu hocken, auf Schulbänken zu sitzen, an Schultischen zu schreiben; und diese Schulfrage gehört in Japan noch immer zu den ungelösten, ja vielleicht unlösbaren Fragen. In Tokio, Yokohama und anderen Städten, in welchen die europäische Kultur einigermaßen Fortschritte gemacht hat, war es mir ein befremdender Anblick, an Stelle der reizenden buntgekleideten und geschmückten Miniaturjapaner diese kleine Welt in europäischer Kleidung mit Schulbüchern unter dem Arm zu sehen, ganz so wie bei uns. Den Eltern bereitet diese von der Regierung dekretierte europäische Erziehung und Kleidung ihrer Kinder schwere Sorgen und Kosten. Für die Jungen sind die Vorteile der neuen Erziehung noch leichter zu erkennen, bei den Mädchen aber wird die letztere einen vollständigen Umschwung in ihrem ganzen Leben und damit auch einen Umschwung der Kultur und Lebensweise des ganzen Volks mit sich bringen. Ob aber die sittliche Grundlage für die letztere wirklich vorhanden ist?

Augenblicklich muß man noch im verneinenden Sinne antworten, denn die japanischen Kinder genießen keinerlei Religionsunterricht, das Christentum macht nur ungemein langsame Fortschritte und die Moral nach unseren Begriffen steht bei den Japanern auf einer verhältnismäßig sehr niedrigen Stufe.

Unsere Ansichten über die Tugend und Keuschheit, über die Liebe, Liebeswerben und Sittsamkeit sind der großen Mehrzahl des Volkes überhaupt unverständlich, und es mnß gerechtes Erstaunen wecken, daß die japanische Jugend trotzdem einen so hohen Grad von kindlicher Naivetät besitzt.

Und dabei bleiben Knaben und Mädchen in Japan länger Kinder als bei uns; sie sind sich keines Unrechtes bewußt und freuen sich ihrer Kindheit, freuen sich an niedlichen unschuldigen Spielen, freuen sich an Puppen und Märchen und Festlichkeiten, an denen es gerade in Japan eine übergroße Zahl giebt. Schon in ihrer frühesten Jugend lernen sie die Arithmetik, indem sie an den Fingern abzählen, wie viele Tage es noch zu dem nächsten Matsuri (Volksfcst) sind. Zu Neujahr, bei den buddhistischen oder nationalen oder häuslichen Festtagen werden sie in die denkbar buntesten Kleider gesteckt und wie Püppchen geputzt; die Mädchen pudern und bemalen ihre Gesichter, schwärzen die Augenbrauen, schminken die Lippen, geradeso, ja eher noch mehr als die Alten, und es kann keinen lustigeren Anblick geben als an solchen Festtagen die zu den Tempeln führenden Straßen und die Tempelhöfe selbst, wo Hunderte von Buden mit allerhand bunten und sinnreichen Spielwaren errichtet sind, und zwischen denen dieses kleine Puppenvolk, begleitet von den Eltern, sich drängt, alles betrachtet, alles kauft und sich freut, so daß auch der ärgste Kinderfeind sich mit freuen muß. Jede Stadt Japans ist eine Art Nürnberg oder Sonneberg; in jeder Straße findet man Spielzeuge aller Art, und die Spielwarenindustrie ist eine der bedeutendsten des ganzen Landes.

Das größte Fest der Mädchen ist das Puppenfest, das am dritten Tage des dritten Monats abgehalten wird, und es giebt an diesem Tage wohl wenige Häuser im Reiche des Mikado, wo nicht sämtliche Puppen aus den Truhen hervorgeholt, sorgfältig herausgeputzt, gekleidet und auf Gestelle gesetzt werden, zur Freude der jungen Welt. In den Häusern des Adels kommen dabei zuweilen Hunderte von Puppen zum Vorschein, die zum Teil alte Familienerbstücke sind und gewöhnlich den Kaiser, die Kaiserin, das Gefolge und den Adel in Prachtgewändern darstellen. Die kleinen Mädchen dürfen dann den Puppen in winzigen Geschirren die Speisen kochen und auf ebenso winzigen Tischchen vorsetzen, sie spazieren führen, an- und auskleiden. An den öffentlichen Feiertagen freuen sich die Kleinen mit den Großen; sie spielen auf der Straße fast dieselben Spiele wie unsere Kinder, Ball und Drachen und Federball; im Winter, wenn es kalt ist, hocken sie um den [239] Hibatschi (offenes Holzkohlenbecken) in der Mitte des Wohnzimmers, spielen Karten oder lassen sich von Großmama oder der Tante (O Ba San) die reizenden japanischen Märchen erzählen.

Steckenpferdreiten nach einem japanischen farbigen Originalbild.

Für die Jungen ist das größte Fest das Flaggenfest am fünften Tage des fünften Monats; in jeder Familie, welche Söhne besitzt, werden an diesem Tage papierne Fische von ungeheurer Größe auf Bambusstangen gebunden und diese am Hause aufgestellt. Der Wind bläst die Papierfische wie Luftballons auf, und dann sieht man über dem Häusermeer der Städte Zehntausende derartiger Fische schweben. Die Jungen aber ziehen, womöglich als Soldaten oder Samurai (Zweischwertermänner) gekleidet, bunte Flaggen in der Hand, umher und stopfen sich mit Süßigkeiten voll. –

Kinderscene nach einem japanischen
farbigen Originalbild.

Große Freudentage sind es jedesmal, wenn die Eltern ihre Kinder mit in das Theater nehmen – Freudentage im wahren Sinne des Wortes, denn die Familien pflegen morgens ins Theater zu gehen und es erst spät abends zu verlassen. Die Kinder hören andächtig den geschichtlichen Darstellungen zu, und was daran häßlich und gemein ist, thut ihrer Ehrfurcht vor den Eltern keinen Abbruch. Nichts dürfte dem europäischen Besucher japanischer Inlandstädte mehr auffallen als dieser schönste Zug des japanischen Charakters. Er wird so weit getrieben, daß sich alle Kinder und Diener eines Hauses jedesmal auf die Knie werfen und mit der Stirne den Boden berühren, wenn ihre Eltern ausgehen oder nach Hause kommen; nirgends ist Gehorsam so sehr die erste Kindespflicht wie in Japan, und in dieser Hinsicht könnten sich die Kinder in Ländern, die uns viel näher liegen, die Japaner zum Beispiel nehmen.



Blätter und Blüten.


Der junge Goethe auf dem Mühlberg bei Frankfurt a. M. (Zu dem Bilde S. 224 und 225.) Mit sechzehn Jahren verließ der junge Goethe sein Vaterhaus, um in Leipzig die Rechte zu studieren, mit sechsundzwanzig folgte er dem Rufe Karl Augusts nach Weimar. Das dazwischen liegende Jahrzehnt umfaßt die großartige Entwicklung des Dichters, die in dem harmlosen Schäferspiel „Die Laune des Verliebten“ und in dem Entwurf der gewaltigen Welttragödie „Faust“ ihren Anfang und Ausgang hat. In dieses Jahrzehnt von 1765 bis 1775 fallen die erschütternden Herzenserlebnisse, welche für seine Poesie wie für sein Schicksal von gleicher Bedeutung wurden, die Schwärmerei für Käthchen Schönkopf, die Idylle von Sesenheim, der „Wertherroman“ von Wetzlar, die Liebeswirren, welche die Lieder an Lili seinem Herzen entlockten; in dieser Zeit schuf er, beeinflußt von diesem Erleben, das Frischeste und Berauschendste seiner Lyrik, den „Götz“, den „Werther“, den „Clavigo“, die „Stella“, die Anfänge von „Egmont“ und „Faust“. Fast all dies schrieb er in Frankfurt; in Straßburg als Student, als Rechtspraktikant in Wetzlar, auf der Reise in die Schweiz erlebte er, was er dann in der Umfriedung des Vaterhauses zur Dichtung gestaltete. Die drei Jahre 1773 bis 1775, die er schließlich als Advokat in der Vaterstadt verbrachte und in denen sämtliche Hauptwerke seiner geniedurchglühten Jugendzeit zu Tage traten, sind die fruchtbarsten seines ganzen Lebens. Sie waren auch die glücklichsten für seine Eltern. Der gestrenge Herr Rat Goethe erlebte eine wohlthätige Verjüngung seines ganzen Wesens, nun er sein reiches Wissen als Jurist im Wetteifer und im Zusammenwirken mit dem so hochbegabten Sohn bethätigen konnte; sein Mißtrauen gegen dessen Charakter war überwunden; von dem Berufe Wolfgangs zum Dichter nach der Vollendung des „Götz“ voll überzeugt, nahm er den regsten, freudigsten Anteil an seinem Schaffen. Und erst „Frau Aja Wohlgemuth“, die nie an der hohen Bestimmung ihres Lieblings gezweifelt hatte – welche Welt des Glücks eröffnete ihr diese Zeit! Mit welchem freudigen Entzücken weidete sich ihr Blick an der verschwenderischen Blütenfülle seines Dichterlenzes! Mit welcher Gastlichkeit empfing sie die Freunde und Verehrer, die das meteorartige Aufleuchten seines Ruhms nach Frankfurt lockte, die genialischen Stürmer und Dränger, die in dem Dichter des „Götz“ ihren Führer erkannten, die Söhne gräflicher und fürstlicher Häuser, die um seine Freundschaft warben, bis einer derselben ihn ihr ganz entführte! Er aber, der jugendliche Feuergeist, hatte bei all der Liebe, die er mit den Seinen austauschte, bei all der „Fülle der Gesichte“, die er um seinen Schreibtisch zu bannen wußte, bei all dem Zuspruch von neuen Freunden und Bekanntschaften und all der Huldigung, die ihn von schwärmerisch gestimmten Frauen und Mädchen wurde, nicht Rast und Ruhe, um sich dem behaglichen Genusse seiner Erfolge hinzugeben. Diese Jahre in Frankfurt sahen ihn noch öfter als im Vaterhaus in der Umgebung der schönen Mainstadt.

Wollen wir seinen Dichterspuren aus jener Zeit folgen, so müssen wir über die alte Brücke nach Sachsenhausen gehen, hinter dessen Gemüsegärten sich links der Mühlberg mit seinen Obstbaumhainen erhebt und am Maine entlang sich ein Wiesengelände nach der Gerbermühle und weiterhin nach Offenbach zieht, während rechts die Pfade zum Stadtwald abzweigen. Wir müssen von dem Ufergelände aus, das ihm für den Osterspaziergang im „Faust“ den Schauplatz geliefert, den Thälern, Höhen, Gefilden und Wäldern zuwandern, in denen er damals, wie „Wahrheit und Dichtung“ berichtet, Beruhigung für sein aufgeregtes Gemüt immer wieder suchte und fand, als er die Leidenschaft für Friederike Brion, dann für Lotte Buff in sich niederkämpfte, als Lili Schönemann mit ihren Reizen ihn in Lebenskreise zog, in die sich seine Natur nur mit Widerstreben fand. Es war die Zeit, in der er sich selbst den „Wanderer“ nannte, von der er rückerinnernd schrieb, daß mehr als jemals in ihr sein Sinn gegen offene Welt und freie Natur gerichtet gewesen sei, und die auf solchem Gange den Hymnus „Wanderers Sturmlied“ entstehen sah, den er „dem Regengewölk, dem Schloßensturm entgegensang wie die Lerche“.

In diese Frankfurter Sturm- und Drang- und Werdezeit des herrlichen Dichters versetzt uns das Bild von Frank Kirchbach. Der Maler hat seine mehrjährige Thätigkeit als Professor am Städelschen Kunstinstitut eifrig benutzt, um sein Talent durch ein inniges Hineinleben in die ruhmreiche Erinnerungswelt der altersstolzen Mainstadt zu befruchten. Auch unser Gemälde ist davon ein sprechender Beweis. Die Scene stellt einen terrassenartig angelegten Garten auf der Höhe des Mühlbergs dar, der einen entzückenden Ausblick auf das Mainthal, die alte Kaiserstadt und den malerischen Höhenzug des Taunus bietet. Ohne direkte Anlehnung an eine besondere Ueberlieferung hat der Künstler ein Zusammensein der Eltern Goethes mit dem Sohn auf diese Höhe verlegt, von der wir wissen, daß er sie in jener Jugendzeit auf dem Wege nach Offenbach zu Lili oft beschritten, gerade wie später, da seine Liebe für Marianne von Willemer die Umgebung der Gerbermühle ihm teuer machte. So zeigt uns das Bild den jungen Dichter gleichzeitig im Freien und im Verkehr mit den Seinen, inmitten der Gegend, deren „holde“ Anmut sich in seinen damals entstandenen Gedichten so treulich wiederspiegelt. Eines derselben trägt er, seiner gern geübten Neigung nach, der geliebten Mutter und den Gästen vor, die hingerissen seinen Worten lauschen, während der alte Herr Rat, erhitzt vom Emporstieg, gerade herzukommt. P.     

Zu dem Artikel „Friedrich Hessing“. Herr Prof. Th. v. Jürgensen in Tübingen ersucht uns, seinem Artikel über Friedrich Hessing in Nr. 10 der „Gartenlaube“ folgende Bemerkung hinzufügen zu dürfen: „Mein Ausdruck, daß Hessing sichere Erfolge bei der Behandlung chronischer Erkrankungen des Rückenmarks durch seine Korsettbehandlnng erzielt habe, könnte mißverstanden werden. Es soll damit nur gesagt sein, daß er in den Fällen, welche für die mechanische Behandlung zugängig sind, durch diese allein sichere Erfolge erzielt hat.“

Konfirmandinnen in einer holländischen Dorfkirche. (Zu dem Bilde S. 221.) Ostern ist da und mit ihm der weihevolle Zeitpunkt der Konfirmation. In allen evangelischen Gemeinden bereitet man die Jugend für diese ernste kirchliche Handlung vor und eine der letzten Stunden dieses Konfirmandenunterrichts wird uns auf dem trefflichen Bilde von Grust vorgeführt. Die schlichte und so ansprechende Tracht der holländischen Dorfmädchen paßt vorzüglich zu der Stimmung, welche in solchen Augenblicken die Schülerinnen verklärt. Wie andächtig und tiefergriffen lauschen sie den Worten des Predigers, wie spiegelt sich die Reinheit der jungen Seelen in den klaren Blicken! Selig sind die reinen Herzens sind … Möchte doch an ihnen allen auch in schweren Prüfungen des Menschenlebens dieser Spruch des Evangeliums in Erfüllung gehen! *      
[240] Der siebzigste Geburtstag des Herzogs Georg II. von Sachsen-Meiningen wird am 2. April in seinen Landen mit aufrichtiger Teilnahme begangen. Das Herzogtum hat seiner Regierung Zeiten friedlicher Blüte und gar manche Förderung der allgemeinen Interessen zu danken; der Herzog hat die Residenzstadt Meiningen erweitert und verschönert und einem ihrer Kunstinstitute, dem Hoftheater, einen Weltruhm verliehen, an welchem sein persönliches Verdienst bedeutenden Anteil hat. Herzog Georg II. wurde am 2. April 1826 als einziger Sohn des Herzogs Bernhard II. zu Meiningen geboren. Ehe er seine militärische Laufbahn in der preußischen Garde begann, besuchte er die Universitäten Bonn und Leipzig. Im Gegensatz zu seinem Vater widerstrebten seine Gesinnungen nicht der nationalen Politik, welche 1866 den Norddeutschen Bund ins Leben rief, und als der Vater dem Beitritt zu diesem die Abdankung vorzog, übernahm Georg die Regierung. 1867 zum General der Infanterie der preußischen Armee ernannt, begleitete er während des deutsch-französischen Krieges das 95. Regiment, dessen Chef er ist, in allen Kämpfen bis zur Einschließung von Paris. In den folgenden Friedensjahren widmete er nach seiner Vermählung mit der Schauspielerin Helene Franz, die er zur Freifrau von Heldburg erhob, ein Hauptinteresse der Ausführung des Planes, das Meiningensche Hoftheater zu einer Musteranstalt auf dem Gebiete der Darstellung unserer klassischen Dramen zu machen. Die Gastspiele desselben auf den hervorragenden Bühnen Deutschlands und auch im Ausland fanden die allgemeinste Anerkennung, und in Bezug auf historische Ausstattung und lebensvolles Zusammenspiel haben sie weithin als Vorbild gewirkt. Aus seiner ersten Ehe mit Prinzessin Charlotte, der Tochter des Prinzen Albrecht von Preußen, stammt der Erbprinz Bernhard, der, seit 1878 mit Prinzessin Charlotte von Preußen, einer Tochter des späteren Kaisers Friedrich, vermählt, gegenwärtig als kommandierender General des 6. preußischen Armeecorps in Breslau lebt. Von seinen weiteren drei Kindern ist der zweite Sohn, Prinz Ernst, mit einer Tochter des bekannten Schriftstellers Wilhelm Jensen verheiratet und lebt mit dieser in Florenz.

Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen.
Nach einer Aufnahme von Reichard u. Lindner, Königl. Hofphotographen (Inhaber J. Reichard) in Berlin.

Hünengräber. (Zu dem Bilde S. 233.) Ein seltsam gefügtes und angeordnetes Steinwerk führt uns der Künstler in seinem stimmungsvollen Bilde aus der Lüneburger Heide vor. Wir erkennen einen gewaltigen Steinblock, der an einem Ende von zwei kleineren Blöcken unterstützt wird, mit dem andern anscheinend unmittelbar dem Erdreich aufliegt. Ein Kreis aufrechtstehender Steine bildet seine nächste Umgebung. Solche Steinwerke findet man ziemlich zahlreich in weiten Gebieten der norddeutschen Tiefebene und das Volk weiß wohl, daß sie Grabdenkmäler darstellen. Oft hat man unter ihnen in der That aus Steinen zusammengefügte Grabkammern gefunden. Beim Oeffnen derselben kamen verwitterte menschliche Gebeine, Urnen mit Ueberresten halbverbrannter Leichen und allerlei Schmuck und Geräte zum Vorschein. Welches Volk hat wohl diese wunderbaren Gräber errichtet? Die Phantasie der schlichten Landbewohner war um eine Deutung der Funde nicht verlegen. Ein Geschlecht von Riesen soll nach der Sage einst in Deutschland gehaust und seine Toten in dieser Weise bestattet haben. Darum heißen auch jene Steine im Volksmunde Riesenkeller, Riesenstuben, Riesenbetten oder Hünengräber.

Die wissenschaftliche Untersuchung der uralten Grüfte hat jedoch diese Sage nicht bestätigen können. Aus den Gebeinen erkannte man, daß jenes Volk nicht größer und stärker gebaut war als die Menschenrassen, die heute noch Europa bewohnen. Leider aber vermochte die Forschung an Stelle der Volkssage keine bestimmte Erklärung zu setzen. Wohl versuchte man, aus den Funden, die in den Grabkammern gemacht wurden, auf deren Alter zu schließen, aber da häuften sich nur die Schwierigkeiten; denn unter diesen Felsblöcken liegen neben menschlichen Gebeinen Geräte aus den verschiedensten Epochen der Urgeschichte des Menschen. Neben Münzen aus römischer und byzantinischer Zeit hat man Schmuck und Geräte zu Tage gefördert, die aus der Bronzeepoche und selbst aus dem Steinzeitalter stammen.

Schwieriger wurde noch die Deutung, als man eine Uebersicht über die geographische Verbreitung der Hünengräber gewann. Man begegnet ihnen nicht allein in Norddeutschland; außerordentlich zahlreich sind sie in England und auf den Orkney- und Shetlandinseln vertreten; zu Hunderttausenden lagern sie in den weiten Steppen Rußlands und des nördlichen Asiens; groß ist ihre Anzahl in Frankreich; sie umsäumen die Küsten Nordafrikas, fehlen nicht in Palästina und wurden auch in Indien gefunden. Ursprünglich wollte man die Schaffung dieser stets nach einem gleichen Plane errichteten Gräber einem unbekannten Volke zuschreiben, das in vorgeschichtlicher Zeit schon ausgestorben wäre und als Spuren seiner Wanderungen durch weite Länder die Steingräber zurückgelassen hätte. Aber diese Deutung ist weiter nichts als eine geistreiche Hypothese, eine Annahme, die durch überzeugende Beweise nicht gestützt werden kann. Viel glaublicher klingt eine andere Erklärung. Demnach wären diese Steingräber nicht von einem einzigen „Hünenvolke“ errichtet worden, sondern in alten Zeiten hätten viele Völker die Sitte gehabt, ihre Toten in solchen Grüften zu bestatten. Jahrtausendelang hätte diese Sitte bestanden und wäre erst in den Anfängen der uns durch Überlieferung bekannten geschichtlichen Zeit aufgegeben worden. Befriedigend ist auch diese Erklärung keineswegs. Immer noch webt über den Hünengräbern das Geheimnis; wir sehen die Steindenkmäler, die in grauer Vorzeit errichtet wurden, wissen aber nichts von den längst verschollenen Geschlechtern, deren Leid und Ruhm sie verewigen sollen! *      

Frühlingsregen. (Zu unserer Kunstbeilage.) Frühlingsregen – laues Getröpfel, flüchtig vorübergehend wie die Thränen der Jugend! Gleich wird die Sonne wieder durchs Gewölk brechen, dann duften die frischbetauten Fliederbüsche in den Vorgärten der Villenstraße doppelt süß, und die hübsche Sechzehnjährige freut sich im Vorübergehen über den neuen Sonnenschein, sie selbst ebenso frisch und herzerfreuend wie Blütenzweige und Himmelsblau! Es herrscht Lenz im Leben, Lenz in der Natur: was kann es auf der Welt Schöneres geben? Bn.     


Ohne uns keine Ostern!
Nach der Originalzeichnung von Jos. Ben. Engl.


manicula 0Hierzu die Kunstbeilage IV: „Frühlingsregen.“ Von J. R. Wehle.

Inhalt: [ Hier z. Zt. nicht dargestellt. ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[240 a] 0


Die Gartenlaube.

Beilage zu No 14. 1896.



Auf dem Gelände der Berliner Gewerbeausstellung. Zwar ist die große Weltausstellung, die man anfänglich im Jahre 1896 in Berlin abhalten wollte, rasch zu einer nationalen und dann noch rascher zu einer ganz lokalen Gewerbeausstellung zusammengeschrumpft, aber eins muß man den Unternehmern lassen: sie verstehen es, von dieser „Schau“ so viel zu singen und zu sagen, als gelte es, Paris und Chicago nicht nur hinsichtlich des Defizits glänzend zu überholen. Die Teilnahme für das Werk ist allenthalben, und nicht nur in Deutschland, gründlich geweckt; man findet das kräftige Hammerplakat in Londoner Frisierstuben so gut wie in pommerschen Dorfkneipen. Berlin besucht schon jetzt in hellen Haufen das Treptower Gelände; an warmen Sonntagen wimmelt’s dort von Neugierigen, obgleich es einstweilen außer Baum- und Buschwerk, das eben den ersten feinen grünen Schleier um sich geworfen hat, außer noch unvollendeten Gebäuden und gewaltigen Baugerüsten, riesigen Stein- und Sandhaufen noch wenig zu sehen gibt. Und nun gar der Kaiser selbst dem Beispiele seiner Berliner gefolgt ist, zählt die Besichtigung der Ausstellung vor der Eröffnung zur Modesache. Am 6. März machte er mit seiner Gemahlin Treptow den angekündigten Besuch. Es interessierte sie besonders das Alpenpanorama, dessen Schöpfer, den Maler Rumpelsbacher, wir auf unserem Bilde rechts vom Kaiserpaar sehen. Die Leiter der Ausstellung, die Kommerzienräte Goldberger und Kühnemann, hatten sich ins Feiertagskleid geworfen und die Wege aufs beste vorbereitet. Wir finden sie auf unserem Holzschnitte links vom Kaiserpaar, zwischen ihnen steht der Chef des kaiserlichen Zivilkabinetts v. Lucanus. Auch den Chef des Ausstellungsgeneralstabes, den Architekten Hoffacker, der den „Feldzugsplan“ für 1896 entwarf und bis jetzt siegreich durchführte, ließ der Kaiser sich vorstellen; der vielgeplagte Mann, der an diesem 6. März vielleicht seit Monaten zum erstenmal zehn Minuten lang auf demselben Fleckchen der Ausstellung stehen bleiben konnte, hat sich neben Rumpelsbacher postiert, während die äußerste Rechte General Graf Wedel und Hofmarschall Graf zu Eulenburg eingenommen haben. Auf dem linken Flügel, nahe dem noch nicht vollendeten Brauereigebäude, bemerkt man den Flügeladjutanten Oberst v. Moltke und den Kammerherrn der Kaiserin, Graf Keller. Auf die noch unfertige und nicht sonderlich einladende Scenerie blickt der Turm der grauen, hübsch gelegenen Dorfkirche von Stralau. Wenige Wochen werden verrinnen, und er wird erstaunt zwischen sauber geputzten Häusern, Hallen und Hainanlagen schwärzliches Menschengewimmel sehen, und das in einem Maße, wie er sich dessen selbst aus den glorreichsten Tagen des vormaligen „Stralauer Fischzuges“ nicht erinnern kann.

Auf dem Gelände der Berliner Gewerbeausstellung.
Nach einer Aufnahme des Verbandes für Photographie und deren Vervielfältigungsarten für die Gewerbeausstellung 1896, G. m. b. H. in Berlin.

Kofferüberzug. Mit unansehnlich gewordenen Handkoffern geht kein Mensch gern auf Reisen, denn selbst der nicht Eitle liebt doch ein gefälliges Aussehen und weiß, daß gerade auf Reisen der äußere Eindruck für die Beurteilung unserer Mitreisenden ausschlaggebend ist. Wer darum solch außen schlecht gewordenen Handkoffer besitzt, der verleihe ihm rasch entschlossen durch einen zierlichen Ueberzug wieder ein gutes Aussehen. Ein Meter grauer Drell wird für einen mittleren Handkoffer reichen. Man steckt ihn möglichst glatt über die Außenflächen und knifft die Seiten genau nach dem Koffer ein, worauf man den überflüssigen Stoff abschneidet und die Ränder nun mit brauner Wollborte einfaßt. Um die Henkel des Koffers durch den Ueberzug zu leiten, schneidet man große Knopflöcher hinein, die man recht fest ausnäht und unterwärts noch mit einem dagegen gesetzten Streifen vor dem Ausreißen sichert. Für das Kofferschloß in der Mitte näht man ein nach diesem zurechtgeschnittenes Stück Zeug, das man mit brauner Borte einfaßt und mit einem Monogramm ziert. Man befestigt diese Lasche auf dem Rande des Ueberzugs so, daß sie über das Schloß auf die andere Seite des Koffers greift, wo man sie, nachdem man ihr an der Spitze ein kleines Knopfloch gegeben, an einen dort befindlichen kleinen Knopf knöpft. In dem Ueberzug bringt man im Raum zwischen Henkel und Ecke auf der oberen Seite je zwei Knopflöcher, auf der unteren zwei Knöpfe an, ebenso näht man in jede Querseite je ein Knopfloch und einen Knopf, so daß der Ueberzug überall dicht anschließt. He.     


Hauswirtschaftliches.

Marinierte Eier sind den wenigsten Hausfrauen bekannt, trotzdem sie besonders bei Herren ungeteilten Beifall finden. Zur Eierzeit wird deshalb eine Vorschrift zu solchen Eiern willkommen sein, zumal sie einfach und leicht ausführbar ist. Man kocht etwa 18 Eier hart, schält sie und legt sie in einen kleinen Steintopf. Dann kocht man 1 l Essig mit 15 g Pfeffer, 15 g Ingwer und ebensoviel Jamaikapfeffer 10 Minuten, fügt zuletzt ein Bündelchen feine Kräuter und 10 g feinen Zucker hinzu und gießt diesen Essig durch ein Sieb auf die Eier. Nach dem Erkalten der Marinade wird der Topf mit Pergamentpapier überbunden und drei Wochen an einen kühlen Ort gestellt. Dann sind die Eier gut. Man nimmt sie beim Anrichten aus der Marinade, schneidet sie mitten durch und garniert sie mit einem Kranz junger Kresse. L. H.     

Kalter Apfelpudding aus gedörrten Aepfeln. Am Abend zuvor weicht man 250 g Apfelschnitten ein, setzt sie am folgenden Morgen mit dem Einweichwasser auf, kocht sie eine Viertelstunde, gießt dann die Hälfte dieses Wassers ab, welches mit Zusatz von Obstsaft noch eine gute Suppe gibt, fügt nun ein Glas Weißwein, den nötigen Zucker, etwas Zitrone und ein Stückchen Vanille dazu und kocht die Apfelschnitten weich, ohne daß sie zerfallen dürfen. Sie werden zum Abtropfen auf ein Sieb gelegt und die Brühe mit 3 Tafeln roter Gelatine verrührt. Wenn sie zu steifer Gallerte erstarrt ist, schneidet man sie in Stücke. Man schlägt ½ l süße Sahne zu steifem Schaum, stößt 20 kleine Makronen und füllt kurz vor dem Anrichten eine Glasschale abwechselnd mit Apfelschnitten, Makronen, Gallerte und Rahmschaum, worauf man die letzte Schicht, welche aus Schlagsahne gebildet wird, noch mit abgetropften Hagebutten oder Kirchen belegt. L. H.     

[240 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]