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Die Gartenlaube (1896)/Heft 13

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[201]

Nr. 13.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (12. Fortsetzung.)

Das Haus des Hofrats Bertram lag inmitten des Badeorts. Es war eine hübsche geräumige Villa, von geschmackvollen Gartenanlagen umgeben, aber der vollste Gegensatz zu dem düsteren Burgheim. Hier war alles hell, luftig und sonnig, und das weiße Haus, mit seinen Altanen, die im Sommer von wildem Wein umrankt waren, sah so recht aus, als ob das Glück und die Zufriedenheit darin wohnten.

Für den Augenblick freilich gaben sich dieses Glück und diese Zufriedenheit in etwas lärmender Weise kund. In dem Speisezimmer, dessen Fenster und Thüren auf den Garten hinausgingen, tobte die gesamte Nachkommenschaft des Herrn Hofrats umher, drei kräftige Buben, mit krausen Haaren, braunen Augen und roten Backen, allesamt dem Vater ähnlich. Der älteste hatte seine beiden jüngeren Brüder als Pferdchen an eine lange Leine gespannt


Im Frühling.
Nach einer Originalzeichnung von R. Püttner.

[202] und trieb sie unter lautem Hallo mit der Peitsche an. Das ging um Tisch und Stühle herum, gelegentlich auch darüber hinweg, und es war ein Lachen und Jauchzen ohne Ende.

In diesen Lärm hinein gerieten nun die Eltern, die aus dem Wohnzimmer kamen und von der wilden kleinen Gesellschaft beinahe umgerannt wurden. Wenn Bertram selbst nur etwas stattlicher geworden, aber im großen und ganzen doch derselbe geblieben war wie vor zehn Jahren, so hatte sich seine Gattin um so auffallender verändert. Niemand würde in dieser kleinen blühenden Frau, die von Gesundheit förmlich strahlte, das zarte, blasse und schmächtige Wesen von früher wiedererkannt haben, das vor Schüchternheit kaum die Augen aufzuschlagen wagte und überhaupt nur sprach, wenn die gestrenge Schwägerin es erlaubte. Die Frau Hofrätin war noch immer eine sehr anmutige Erscheinung, wenn ihre Gestalt auch etwas zur Fülle neigte, und das zierliche Spitzenhäubchen auf dem blonden Haare, der moderne und geschmackvolle Anzug standen ihr jedenfalls besser als damals die dunkle Trauerkleidung. Von ihrer Schüchternheit schien auch nicht viel übrig geblieben zu sein, denn sie fuhr mitten unter ihre Sprößlinge mit einer Energie, die nichts zu wünschen übrig ließ.

„Wollt Ihr wohl Ruhe halten, Ihr Jungen! Das ist ja ein Höllenlärm, den Ihr da vollführt, man kann sein eigenes Wort nicht verstehen!“

„Ruhe!“ kommandierte jetzt auch Bertram. „Achtung – Stillgestanden – Richt’ Euch!“

Das Kommando wurde pünktlich befolgt, die Jungen standen wie die Mauern und der älteste salutierte mit der Peitsche.

„Brav gemacht!“ lobte der Vater. „Ihr wißt wenigstens Order zu parieren.“

„Auf zwei Minuten,“ fiel Selma ein. „Dann geht die wilde Jagd von neuem los. Du läßt den Knaben zu viel Freiheit, sie sind schließlich gar nicht mehr zu bändigen in ihrer Wildheit.“

„Nun, Du bändigst sie schon, sie haben vor Dir ja mehr Respekt als vor mir,“ meinte der Hofrat. „Aber jetzt lauft hinüber in den Stall, Jungen, sagt dem Sepp, er solle anspannen und an der Gartenseite vorfahren – marsch!“

Der Auftrag wurde mit einer förmlichen Begeisterung aufgenommen, die drei Knaben stürzten in den Garten und unternahmen dann einen Wettlauf nach dem Stallgebäude, Bertram blieb mit seiner Frau allein.

„So, jetzt haben wir Ruhe!“ sagte er. „Ich will zu Lady Marwood fahren. Ich habe um zwölf Uhr meinen Besuch angesagt und bin neugierig, was aus dem zarten schönen Mädchen geworden ist, das wir damals in Luksor sahen. Erinnerst Du Dich noch ihrer, Selma?“

„O gewiß. Ich sah sie bereits gestern bei ihrer Ankunft, als sie hier vorbeifuhr; aber sie trug einen dichten Schleier, so daß ich die Züge nicht unterscheiden konnte. Glaubst Du, daß sie ernstlich leidend ist?“

„Es scheint so, da sie mich gleich am ersten Tage rufen läßt und sich für einen längeren Aufenthalt in Kronsberg eingerichtet hat, die Villa ist für den ganzen Sommer gemietet. Indessen, diese vornehmen Damen bilden sich oft ein, leidend zu sein, wenn sie Langeweile haben. Wir werden ja sehen, jedenfalls kann ich mich bei ihr mit einer willkommenen Nachricht einführen. Sie weiß es vermutlich noch nicht, daß Sonneck hier ist, er hat mir selbst gesagt, daß er seit Jahren nicht mehr in Verkehr mit ihr steht.“

Selma hatte sich niedergesetzt und stützte nachdenklich den Kopf in die Hand. „Was sagst Du eigentlich zu Sonnecks Verlobung?“

„Bravo!“ habe ich gesagt. „Es war das Gescheiteste, was er thun konnte, nun es entschieden ist, daß er in Deutschland bleibt, und die Elsa ist auch gescheit, daß sie ihn nimmt, denn einen besseren Mann bekommt sie überhaupt nicht.“

„Glaubst Du denn, daß sie freiwillig Ja gesagt hat? Der Großvater wird es wohl befohlen haben. Dieser Egoist bedenkt sich ja nicht einen Augenblick, sie dem alten Manne zu opfern, weil es sein Freund ist.“

„Dem alten Manne?“ wiederholte Bertram unwillig. „Nun, auf Sonneck paßt doch diese Bezeichnung sicher nicht, der ist interessanter als ein ganzes Dutzend unserer jungen Herren, zumal für ein Mädchen wie Elsa.“

„Aber sie ist achtzehn Jahre alt und er vierundfünfzig!“

„Nun dafür ist er eben Lothar Sonneck, bei dem machen die Jahre nichts aus. Elsa wird künftig einen weltberühmten Namen tragen und eine Stellung einnehmen, um die sie manches junge Mädchen beneiden dürfte.“

„Aber dann ist es eine bloße Vernunftheirat, lieben kann sie ihn doch unmöglich.“

„Warum denn nicht?“ rief der Hofrat ungeduldig. „Du meinst wohl, es müsse bei jeder Werbung so romantisch zugehen wie bei uns? Ich mußte Dich Deiner liebenswürdigen Schwägerin ja erst abkämpfen und ein förmliches Komplott mit Ehrwald schmieden. Weißt Du noch, wie er die unglückliche Ulrike eine volle Stunde lang mitten in den heißen Wüstensand setzte, nur damit ich Dir auf den Trümmern des Karnaktempels eine Liebeserklärung machen konnte? Ja, ja, mir ist es sauer genug geworden.“

„Die Liebeserklärung oder der Kampf?“ fragte die Frau Hofrätin mit einiger Schärfe.

„Beides, denn es war eine Erklärung mit Hindernissen,“ versetzte Bertram lachend. „Aber was schreibt Dir denn Ulrike eigentlich? Du erhieltest ja vorhin einen Brief aus Martinsfelde. Ist es nun endlich verkauft? Die Bahngesellschaft wollte ja Ernst machen und drohte mit dem Zwangsverfahren. Das hat hoffentlich gewirkt.“

„Ja wohl, der Verkauf ist vor acht Tagen abgeschlossen worden. Du weißt ja, Ulrike sträubte sich bis zum letzten Augenblick dagegen und hätte freiwillig nie ihre Zustimmung gegeben. Sie ist schließlich der Notwendigkeit gewichen, scheint aber ganz verzweifelt darüber zu sein.“

„Sie ist nicht gescheit!“ sagte der Hofrat ärgerlich. „Sie wird sich doch nicht bis in ihr spätes Alter hinein mit der Wirtschaft plagen wollen, und einen solchen Preis wie die Bahngesellschaft zahlt ihr niemand. Jeder andere würde diesen Verkauf als einen Glücksfall betrachten und sie lamentiert darüber!“

„Mir thut Ulrike leid,“ erklärte Selma. „So lange sie die Wirtschaft führte, hatte sie doch immer noch eine Beschäftigung, einen Lebenszweck. Jetzt ist das zu Ende und ein anderes Gut wird sie sich schwerlich kaufen, sie hing ja mit allen Lebensfasern an Martinsfelde, das schon ihren Eltern gehörte. Ihr herbes rücksichtsloses Wesen hat ihr nirgends Freunde geschaffen, nun steht sie ganz vereinsamt da und sieht einem öden, trostlosen Alter entgegen. Ihr Brief zeigt, wie tief sie das fühlt, er klingt ganz verzweifelt. Was meinst Du, Adolf, ich möchte sie für einige Wochen einladen. Ist es Dir recht?“

„Warum denn nicht?“ lachte Bertram. „Ich fürchte mich nicht vor Deiner gestrengen Schwägerin und es steht jawohl auch nicht mehr zu befürchten, daß Du wieder unter ihr Scepter gerätst. Treibt sie es gar zu arg, so komplimentiere ich sie mit der größten Liebenswürdigkeit zum Hause hinaus; Du weißt ja, das verstehe ich ausgezeichnet.“

Sie wurden unterbrochen, denn eben fuhr draußen der Wagen vor, geleitet von den drei Jungen. Nun gab es ein jubelndes Abschiednehmen von dem Vater und dann hing sich die ganze Gesellschaft an die Mutter und begleitete sie unter Lärmen und Lachen in das Wohnzimmer. Es ging immer sehr lustig zu im Hause des Hofrat Bertram.




Kronsberg hatte die Genugthuung, diesmal schon sehr früh einen vornehmen Kurgast zu begrüßen. Sonst pflegten um diese Zeit nur jene Familien zu kommen, die die hohen Preise der Hauptsaison scheuten. Es war ein Ausnahmefall, daß eine Persönlichkeit wie diese reiche englische Dame schon im Mai eintraf, und sie mußte sehr reich sein, das bewies ihr Auftreten.

Sie hatte nicht nur die schönste und teuerste Villa des ganzen Kurortes für sich allein gemietet, sondern auch einen Kammerdiener vorausgesandt, der alles nach ihren Wünschen und Gewohnheiten einrichten mußte. Ihm folgten Wagen und Pferde, dann traf die Dienerschaft ein und endlich erschien Mylady selbst. Die ganze Villa bevölkerte sich zum Dienste einer einzigen Frau und der Haushalt wurde auf einem Fuß eingerichtet, wie es sonst nur bei Fürstlichkeiten zu geschehen pflegt.

Es war um die Mittagsstunde, als Lothar Sonneck in das Haus trat und dem Diener, der ihn in Empfang nahm, seine Karte übergab. Die Villa war erst vor einigen Jahren entstanden, als Kronsberg bereits den Aufschwung zum Weltkurorte nahm, und konnte selbst einem verwöhnten Geschmack als Sommersitz für einige Monate genügen, aber die ganze innere Einrichtung war jetzt ergänzt und teilweise völlig umgestaltet worden, das zeigte sich schon in dem Salon, wohin der Gast geführt wurde. Kostbare Decken und Teppiche, reichgewirkte Vorhänge, die offenbar aus dem Orient stammten, eine Fülle von Blumen und eine Menge wertvoller [203] und künstlerischer Kleinigkeiten, die überall aufgestellt waren, gaben dem Raume ein ebenso vornehmes wie behagliches Ansehen. Sonneck fand aber nicht viel Zeit, sich umzublicken, er war kaum eingetreten, als sich eine Seitenthür öffnete und Lady Marwood erschien.

„Herr Sonneck, welche unverhoffte Freude!“ rief sie, ihm beide Hände entgegenstreckend. „Sie sind auch in Kronsberg, und hier, in dem fernen deutschen Alpenlande, sehen wir uns wieder!“

„Nach zehn Jahren!“ ergänzte er, die dargebotenen Hände mit vollster Herzlichkeit ergreifend. „Sie sehen, ich mache von einem alten Rechte Gebrauch und überfalle Sie gleich am ersten Tage Ihres Aufenthaltes, Mylady.“

„Um Gotteswillen, nur nicht diesen Titel!“ wehrte sie heftig ab. „Für Sie bin und bleibe ich Zenaide, wie Sie mir der alte teure Freund bleiben. Aber nun kommen Sie, lassen Sie uns plaudern! Was führt Sie nach Kronsberg? Sind Sie der Kur wegen hier? Ich las es in einer Zeitung, daß Sie eines hartnäckigen Leidens wegen nach Europa zurückgekehrt seien, ist das wahr?“

Sie that all diese Fragen hastig nacheinander, ohne eine Antwort abzuwarten, zog ihn neben sich auf den Diwan nieder und begann ein lebhaftes Gespräch, in das Lothar ebenso lebhaft einstimmte; allein sein Auge hing dabei fragend und forschend an dem Antlitz der schönen Frau, die er nicht wiedergesehen hatte seit jener Stunde, wo er in Luksor von ihr Abschied genommen.

Aus dem schlanken Mädchen mit den sanften, träumerischen Zügen war eine blendende, siegesbewußte Schönheit geworden, und die einst so elfenhaft zarte Gestalt hatte sich zum vollsten, üppigsten Reiz entwickelt. Der herrliche Kopf mit dem bläulich schwarzen Haar wurde jetzt so hoch und stolz getragen, als wollte er die ganze Welt herausfordern, und jenes orientalische Element, das trotz ihrer deutschen Abkunft schon damals, wenn auch verschleiert, in der Erscheinung Zenaidens lag, trat jetzt schärfer und deutlicher hervor. Es war, als ob etwas von dem glühenden Hauch ihrer Heimat sie umschwebte und durchflammte, und jenes Feuer, das einst halb verborgen in den großen tiefdunklen Augen schlief, war heraufgestiegen aus der Tiefe und loderte heiß und verzehrend in dem Blick.

Lady Marwood war schöner, viel schöner als Zenaide von Osmar es je gewesen, doch jener eigenartige, halb schwermütige Reiz, der das junge Mädchen umgab, war verschwunden, die glänzende Weltdame zeigte keine Spur mehr davon. Ihre Unterhaltung war sprühend lebendig, aber es lag etwas Ruheloses, Unstetes darin. Sie sprang ganz unvermittelt von einem Gegenstande zum andern über und ihr ganzes Wesen verriet eine nervöse Ueberreiztheit.

„Ja, ich bin so eine Art Zugvogel geworden,“ sagte sie lachend. „Immer auf der Wanderung, von einem Ort zum andern! Ich war in Deutschland und Italien, in Frankreich und der Schweiz, gelegentlich auch einmal wieder in Kairo, und nun haben mich die Aerzte eines Nervenleidens wegen nach Kronsberg geschickt, das ja jetzt Mode geworden ist und aller Welt helfen soll. Ich hätte auch gar nichts dagegen gehabt, die Saison hier zuzubringen, aber welch ein Einfall, mich schon im Mai hierherzuschicken, wo der Ort noch wie ausgestorben ist und das Gebirge noch halb im Schnee begraben liegt! Ich wollte von Rom, wo es nachgerade unerträglich heiß wurde, noch auf sechs Wochen nach Paris gehen und dann herkommen, allein die Aerzte sind Tyrannen. Sie schreckten mich mit allerlei düsteren Prophezeiungen, bis ich nachgab und in die eisige Verbannung ging.“

„Die Verbannung ist so schlimm nicht,“ versetzte Sonneck lächelnd. „Der Frühling zieht ja endlich auch hier ein, wenn auch spät genug, und die Umgebung ist wunderschön, ein großartiges, mächtiges Alpenpanorama.“

„Aber keine Menschen! kein Leben! keine Bewegung! Und das alles brauche ich.“

„Wirklich? Sonst liebten und suchten Sie gerade die Einsamkeit –“

„Sonst, ja sonst!“ unterbrach sie ihn ungeduldig. „Das ist eben anders geworden. Jetzt kann ich die Einsamkeit nicht ertragen und gerade dazu wollen die Aerzte mich verurteilen. Nur deshalb allein haben sie mich nicht nach Paris gelassen. Ruhe! Ruhe! Darauf läuft ja ihre ganze Weisheit hinaus. Ein abscheuliches Wort – ich werde schon krank, wenn ich es nur höre!“

Sie sprang auf und begann hastig und ruhelos im Zimmer hin und her zu gehen. Sonneck sah es jetzt erst, wie krankhaft das Wesen der jungen Frau war, deren Bild er so ganz anders in der Erinnerung hatte. Als er damals von seinem Zuge in das Innere Afrikas zurückkehrte, war Zenaide mit ihrem Gemahl in England gewesen, und auch bei seinen späteren Besuchen in Kairo hatte er sie niemals getroffen, obwohl sie oft monatelang bei dem Vater weilte.

„Sie sind seit drei Jahren nicht in Kairo gewesen,“ hob er wieder an. „Ich hörte es, als ich auf meiner Rückkehr nach Europa wieder dort rastete. Ihr Haus stand verschlossen und verödet.“

„Jawohl, verödet!“ wiederholte sie mit Bitterkeit. „Das ist es für mich immer seit dem Tode meines Vaters gewesen, selbst wenn ich es bewohnte. Seitdem liebe ich Kairo nicht mehr, es ist mir, als hätte ich mit ihm meine Heimatsrechte dort verloren. Und unseren Landsitz am Nil habe ich verkauft. Ich mochte nicht wieder den Fuß dorthin setzen, mochte überhaupt nicht mehr daran erinnert sein!“

„An Luksor, wo Ihre liebsten Kindheits- und Jugenderinnerungen wurzeln?“

„Und wo das Unglück meines Lebens seinen Anfang nahm – ich hasse Luksor!“ Sie schleuderte das Wort mit einer wilden Energie heraus. Lothar schwieg, er wußte ja, daß sie sich dort mit Marwood verlobt hatte, und kannte auch den Tag, an dem es geschehen war, er ahnte längst den Zusammenhang. Zenaide blieb plötzlich stehen und richtete finster das Auge auf ihn.

„Wozu denn dies rücksichtsvolle Schweigen? Sie wissen ja doch alles, mein Vater hat Ihnen später oft genug sein Herz ausgeschüttet. Mein armer Vater! Er klagte sich so bitter an, weil diese Heirat sein Wunsch gewesen war, und doch hat er mich nicht dazu gedrängt, nicht einmal überredet. Ich war es, die freiwillig den Entschluß faßte, die Schuld trifft mich allein!“

„Ihre Ehe war keine glückliche, ich weiß es,“ sagte Sonneck halblaut. Die junge Frau lachte grell und höhnisch auf.

„Wie rücksichtsvoll Sie sich ausdrücken! Nein, sie war in der That nicht glücklich, das ist jetzt auch der Welt kein Geheimnis mehr! Ich liebte Marwood ja nicht, darüber täuschte ich mich auch nicht einen Augenblick, als ich ihm die Hand reichte; aber ich glaubte mich geliebt, weil er so beharrlich um mich warb und sich durch keine Kälte, keine Ablehnung zurückschrecken ließ. Schon in den ersten Wochen meiner Vermählung sah ich klar: es war Eitelkeit, Eigensinn gewesen, die Hartnäckigkeit eines Charakters, der gerade das Versagte erzwingen will. Die träge kalte Natur dieses Mannes ist ja überhaupt keiner Liebe fähig, und nun war ich an ihn gekettet und sollte mein Leben lang die Kette tragen, die mir ein Unheil, ein Fluch geworden war!“

„Zenaide, Sie regen sich furchtbar auf mit diesen Erinnerungen,“ mahnte Lothar in dem Wunsche, sie abzulenken. „Wir wollen sie ruhen lassen, wenigstens in den ersten Stunden des Wiedersehens.“

„Nein, nein!“ unterbrach sie ihn ungestüm. „Ich muß mich endlich einmal aussprechen, ich bin ja immer nur von Dienern und Fremden umgeben! Wie konnte mein Vater es zulassen, daß Marwood mich nach England führte? Er kannte es ja doch; mir hatte man es in den glänzendsten Farben geschildert, aber als ich zum erstenmal die Küste betrat, in Reif und Nebelgrau, da fror ich bis ins innerste Herz hinein. Ich, deren Heimat das Sonnenland war, sollte in Kälte und Nebel atmen. Ich war an den freien großen Verkehr im Hause meines Vaters gewöhnt und nun dies Leben, das wir in London und auf unseren Gütern führten! Abgeschlossen von allem, was nicht zur englischen Hocharistokratie gehörte, denn mein Herr Gemahl war ungemein exklusiv in diesem Punkte! Es war immer derselbe tödlich langweilige Kreislauf von Jagden und Dinners auf dem Lande, von Routs und Bällen in der Stadt, die Menschen um mich nur Marionetten, von lächerlichen Vorurteilen wie von einer chinesischen Mauer umgeben, kein Schritt unbewacht, kein Atemzug frei – ich erstickte in diesem Leben!“

Sie preßte beide Hände gegen die Brust, als fühlte sie noch jetzt dies Ersticken, und fuhr dann in steigender Erregung fort: „So lange mein Vater lebte, schreckte ich noch vor dem Aeußersten zurück. Er litt schon so schwer unter dem inneren Zerwürfnis meiner Ehe, er sollte sie nicht auch noch öffentlich beklatscht und in den Staub gezerrt sehen. Als er jedoch tot war, als ich nicht mehr zu ihm flüchten konnte, da war es vorbei mit meiner Fähigkeit zum Ertragen, da zerriß ich die Ketten und wurde frei – frei! Die Freiheit hat mich freilich viel gekostet, meinen Glauben an Gott, an die Menschen, an mich selbst – ich habe nichts mehr auf der Welt!“

Die letzten Worte erstickten fast in einem krampfhaften, thränenlosen Schluchzen; die junge Frau warf sich stürmisch in

[204]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Geborgen.
Nach dem Gemälde von C. Raupp.

[205] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [206] einen Sessel und verbarg das Gesicht in den Polstern. Sonneck trat zu ihr und legte leise seine Hand auf ihren Arm.

„So dürfen Sie nicht sprechen, Zenaide,“ sagte er mit tiefem Ernst. „Sie sind ja Mutter!“

„Eine Mutter, der man ihr Kind genommen hat!“ fuhr sie auf, mit sprühenden Augen. „Ich habe meinen Percy ja zurücklassen müssen. Marwood beansprucht natürlich seinen Sohn und Erben und doch ist er mein Kind, er hat mein Blut in den Adern. Da sehen Sie es selbst, ob er seinem Vater gleicht oder mir!“ Sie wies auf ein Aquarellbild, das auf dem Schreibtische den Hauptplatz einnahm und einen Knaben in Matrosenkleidung darstellte. Es war ein schönes Kind mit dunklen Haaren und den großen dunklen Augen der Mutter. Lothar schritt dorthin und blickte prüfend auf das Bild.

„Ja, er hat Ihre Züge,“ sagte er mit voller Bestimmtheit. „Vor allem Ihre Augen.“

„Nicht wahr? Und seit drei Jahren habe ich ihn nicht gesehen und muß es dulden, daß er fern von mir, daß er im Hasse gegen mich erzogen wird!“

„Sie übertreiben, ein achtjähriges Kind kann man doch noch nicht zum Haß erziehen.“

„Warum denn nicht, wenn es planmäßig geschieht? Und daran wird Marwood es nicht fehlen lassen! Sie kennen ihn nicht, wie ich ihn kenne! Wie oft habe ich daran gedacht, mein Kind heimlich zu entführen und mit ihm zu fliehen, zunächst nach Kairo und dann weiter, immer weiter und wäre es bis in die fernste Wüste, wo niemand uns findet, wo –“

„Um Gottes willen, nur das nicht!“ fiel Sonneck erschrocken ein. „Marwood würde Sie zu finden wissen, er würde Ihnen das Kind gewaltsam entreißen, ihm steht das Gesetz zur Seite.“

Die junge Frau lachte wieder auf, so wild und verzweifelt wie vorhin. „O ja, das weiß ich, das hat man mir hinreichend klar gemacht: der Sohn gehört dem Vater! Die Rechte der Mutter schützt kein Gesetz, die darf man ungestraft mit Füßen treten – ich habe es erfahren!“

Ein leises Klopfen an der Thür unterbrach die erregte Scene und gleich darauf trat ein Diener ein, um zu melden, daß Herr Hofrat Bertram soeben vorgefahren sei. Zenaide sah auf und fuhr mit dem Taschentuch über das glühende Antlitz.

„Ah, der Arzt! Ich vergaß, daß er sich für diese Stunde angemeldet hat. – Sie wollen schon fort? Nein, nein, das dürfen Sie nicht! Wir haben noch gar nicht von Ihnen gesprochen und ich habe noch so unendlich viel zu fragen und zu hören.“

„Der Arzt hat immer den Vortritt,“ warf Sonneck ein, der in der That Miene machte, zu gehen, obgleich auch er noch eine Mitteilung auf dem Herzen hatte.

„O, sein Besuch wird nicht allzulange dauern und dann bin ich wieder ganz zu Ihrer Verfügung. Das Gute muß man festhalten, es wird einem selten genug zu teil. Nicht wahr, Sie bleiben?“

Die Bitte klang beinahe leidenschaftlich und Lothar gab nach. Er übernahm es, den jetzt eintretenden Hofrat vorzustellen, und betonte, daß er mit ihm befreundet sei. Lady Marwood empfing denn auch infolgedessen den Arzt sehr liebenswürdig.

„Herr Sonneck ist mir eigentlich mit seinem Besuche zuvorgekommen,“ sagte Bertram nach der ersten Begrüßung. „Ich wollte mich mit der Nachricht von seinem Hiersein bei Ihnen einführen, Mylady, und hoffte dann nicht so unwillkommen zu sein, als es der Arzt gewöhnlich ist.“

Zenaide hatte sich längst wieder gefaßt, sie war jetzt ganz die vornehme Dame und ihre Lippen kräuselten sich spöttisch, als sie erwiderte: „Unwillkommen? Man lehrt uns ja die Aerzte als Retter und Heilbringer zu betrachten!“

„Aber Sie glauben nicht daran, Mylady?“

„Ich bin in diesem Punkte sehr ungläubig, Sie sehen jedoch, ich gebe mich trotzdem in Ihre Hände. Herr Sonneck, ich bitte Sie, mich für eine Viertelstunde zu entschuldigen. Ich sende Ihnen inzwischen eine Erinnerung an Kairo. Betrachten Sie sich ganz als zu Hause, Sie haben das ja bei uns stets gethan.“

Sie klingelte, gab mit leiser Stimme einen Befehl und ersuchte den Arzt dann, ihr in das Nebenzimmer zu folgen. Sonneck war wieder an den Schreibtisch getreten und betrachtete nachdenklich das Bild des kleinen Percy, als die Mittelthür sich öffnete und ein junger Orientale erschien.

Er war kaum dem Knabenalter entwachsen, etwa sechzehn Jahre alt und von tiefbrauner Färbung, mit einem Gesicht, das durchaus nicht hübsch zu nennen war, denn die charakteristischen Kennzeichen der afrikanischen Rasse, die niedrige Stirn und die breiten, aufgeworfenen Lippen prägten sich sehr deutlich darin aus. Er trug die reiche Tracht, in welche die vornehmen Familien Kairos ihre eingeborenen Diener zu kleiden pflegen, weite orientalische Beinkleider, über dem weißen, faltigen Obergewand ein offenes goldgesticktes Jäckchen und einen gleichfalls reichgestickten Fez auf dem dunklen Haar. Der junge Aegypter brachte ein vergoldetes Kaffeeservice von feinster arabischer Arbeit und ein mit Elfenbein ausgelegtes Kästchen, in dem sich Cigaretten befanden. Verwundert riß er die glänzend schwarzen Augen auf, als der fremde Herr ihn in der Sprache seiner Heimat anredete.

„Nun, Hassan, bist Du mit nach Europa gekommen? Wie gefällt es Dir in dem fremden Lande mit den hohen Bergen und den dunklen Wäldern?“

„Herr, Du kennst mich?“ stammelte Hassan ganz verwirrt und bestürzt.

„Ich sah Dich vor sechs Jahren in Kairo bei Deinem Herrn und auch schon früher in Luksor. Weißt Du noch von Luksor und von dem schönen weißen Kinde, das Deine junge Herrin damals begleitete, und mit dem Du spielen durftest? Es trug immer weiße Kleidchen –“

„Und langes goldenes Haar!“ fiel Hassan mit aufleuchtenden Augen ein, „aber es ging fort, weit über das Meer und kam nicht wieder.“

„Nun, wer weiß, vielleicht siehst Du es einmal hier wieder,“ sagte Sonneck lächelnd. Es freute ihn, daß Elsa noch nicht vergessen war. Das „schöne weiße Kind mit dem langen goldenen Haar“ hatte freilich bei dem damals so verwahrlosten kleinen Aegypter die Rolle einer Märchenfee gespielt, und deshalb mochte ihm die Erinnerung an sie nicht ganz erloschen sein.

Hassan staunte noch immer darüber, daß der Fremde, der so ganz das Aussehen eines vornehmen Europäers hatte, das Arabische so fließend sprach, aber es machte ihn zutraulich und er antwortete bereitwillig auf alle Fragen. Er berichtete, daß sein Vater, der einstige Gärtner auf der Osmarschen Besitzung, schon seit Jahren tot sei. Seine ältere Schwester war schon als Kind für den persönlichen Dienst der jungen Herrin bestimmt und ihrer Fürbitte verdankte es der Bruder, daß man auch ihn später mit nach Kairo nahm. Nach dem Tode des Konsuls hatte Lady Marwood den Knaben mit nach Europa genommen, wo er und die Schwester sie auf ihren Reisen begleiteten. Er hatte auch schon etwas Deutsch gelernt, denn die Herrin liebte nichts, was an England erinnerte, sie sprach immer nur deutsch oder arabisch mit ihrer Umgebung.

Die orientalische Unterhaltung wurde durch die Rückkehr Bertrams unterbrochen. Lothar ging ihm rasch entgegen und fragte mit gedämpfter Stimme: „Nun, wie steht es? Doch hoffentlich kein ernstes Leiden?“

Der Arzt zuckte die Achseln.

„Wir haben es mit den Nerven zu thun. Damit ist eigentlich nichts und doch wieder alles gesagt, denn hier handelt es sich leider um mehr als um die Modekrankheit. Lady Marwoods Nerven sind in einer so gefährlichen Weise überreizt, daß es die höchste Zeit ist, ernstlich einzugreifen, wenn nicht schweres Unheil entstehen soll. Leider scheint die Dame keine sehr gehorsame Patientin zu sein und ich werde wohl öfter auf Ihren Einfluß rechnen müssen, denn wir haben einen schlimmen Feind zu bekämpfen – das Morphium! Doch darüber sprechen wir noch, jetzt muß ich fort.“

Er reichte ihm die Hand und ging. Gleich darauf erschien auch Zenaide, gab Hassan einen Wink, sich zu entfernen, und nahm ihrem Gaste gegenüber auf dem Diwan Platz.

„Nun wollen wir es uns heimisch machen,“ sagte sie. „O, ich habe Ihre kleinen Liebhabereien nicht vergessen, ich kenne sie noch ganz genau.“ Sie reichte ihm den Kaffee und die Cigaretten. Sonneck bemerkte mit einigem Befremden, daß sie gleichfalls eine der letzteren nahm. Die Damen rauchten ja viel in Kairo, Zenaide hatte das jedoch nie gethan, sondern stets den größten Widerwillen dagegen gezeigt. Das war eben auch „anders geworden“, wie so vieles!

„Wie gefällt Ihnen Hofrat Bertram?“ fragte er. „Flößt er Ihnen Vertrauen ein?“

„Wenigstens mehr als meine römischen Aerzte, er hat eine ruhige, bestimmte Art, die sehr angenehm berührt. Im übrigen singt er genau dasselbe Lied wie seine Herren Kollegen. Ruhe, [207] Stille, Einsamkeit – das habe ich nun nachgerade bis zum Ueberdruß gehört. Doch wir wollten ja von Ihnen sprechen! Der Doktor sagt mir, Sie würden nicht nach Afrika zurückkehren, sondern in Europa bleiben, er habe Ihnen das zur unabweisbaren Pflicht gemacht. Werden Sie denn ein ruhiges Privatleben aushalten?“

„Ich werde es wohl müssen. Man fügt sich schließlich immer der eisernen Notwendigkeit, und die Früchte meiner zwanzigjährigen Arbeit da drüben, das, was ich für mein Vaterland erreicht und errungen habe, das ist ja nicht verloren. Es bleibt freilich noch viel zu thun übrig, aber ich habe es in starke, kühne Hand gelegt. Ich habe mir ja in Reinhart einen Nachfolger erzogen.“

Sonnecks Blick streifte wie unwillkürlich das Gesicht der jungen Frau, als er den Namen aussprach, aber sie stäubte ruhig die Asche von ihrer Cigarette und fragte kühl: „Reinhart? Wer ist das?“

„Erinnern Sie sich des Namens nicht mehr? Mein junger Gefährte, der mich damals auf meinem Zuge begleitete. Er ist seitdem oft und viel genannt worden in der Oeffentlichkeit – Reinhart Ehrwald!“

„Ah so! Nun, der Name ist freilich bekannt genug. Man kann ja keine Zeitung in die Hand nehmen, wo von Afrika die Rede ist, ohne auf diesen Herrn Ehrwald zu stoßen. Er wird auf eine Weise in den Vordergrund gestellt, die beinahe kränkend ist für Sie und Ihre Verdienste. Sind Sie nicht eifersüchtig?“

„Auf meine Freunde bin ich nie eifersüchtig,“ versetzte Lothar ruhig, „und Reinhart ist mir ein Freund geworden, wie man ihn selten findet. Ich wußte es freilich schon damals, als ich ihn mit nach Kairo nahm, daß mein Schüler mich dereinst überflügeln werde, aber es geschah schneller, als ich dachte. Damals war ich noch sein Mentor, der den jungen Tollkopf zügeln und bändigen mußte; sobald jedoch der Ernst an ihn herantrat, zeigte er sich als Mann. Ich verdanke es nur seiner Energie und Aufopferung, daß ich lebend von jenem Zuge zurückkehrte.“

„Sie erkrankten damals schwer, ich weiß,“ warf Zenaide ein.

„Ja, es war der erste schwere Anfall jenes Leidens, das mich seitdem nie ganz verlassen hat. Es war mir noch vergönnt, das Ziel zu erreichen und die Entdeckung und ihre Früchte dem deutschen Namen zu sichern. Aber nun handelte es sich um die Rückkehr, auf einem Wege, den vor uns noch kein Europäer gezogen war, durch Gebiete, wo die Gefahren nur so aus dem Boden emporwuchsen. Als ich mich dafür entschied, wußte ich, daß ich meine ganze Kraft und Erfahrung einzusetzen hatte, und da gerade warf mich die Krankheit nieder und hielt mir monatelang Geist und Körper in Bann. Ich konnte nichts leiten, nicht einmal mehr Rat geben, denn das Fieber machte mich größtenteils besinnungslos, ich mußte alles in Reinharts Hände legen.“

Er hielt einen Augenblick inne, als erwartete er irgend eine Aeußerung, die aber nicht erfolgte, und fuhr dann mit steigender Wärme fort: „Da führte er, der damals Sechsundzwanzigjährige, der sich auf dieser Reise erst die Sporen verdienen sollte, die ganze Expedition allein zurück. Er regierte mit eiserner Hand unsere Leute, die nach Art der Eingeborenen mehr als einmal in Meuterei ausbrechen wollten, als sie sahen, daß ich nicht mehr an der Spitze stand; er bezwäng jede Gefahr, warf jedes Hindernis nieder, und das alles mit dem Hemmnis eines Totkranken, den er mit sich führte. Wie oft hat er seine und des ganzen Zuges Sicherheit preisgegeben, nur um mich zu schützen, wie oft das Unglaublichste geleistet, um mir die nötige Hilfe und Erquickung zu schaffen! Er brachte mich glücklich zurück zur Küste, wo ich genas. Was das heißen will unter solchen Verhältnissen, das weiß ich allein! Wenn man ihn jetzt wirklich in den Vordergrund stellt, selbst gegen mich – bei Gott, er hat es verdient!“

Es geschah vielleicht nicht ganz ohne Absicht, daß Sonneck so viel von dem Manne sprach, den er einst als jungen unbekannten Fremdling in das Osmarsche Haus eingeführt hatte. Sein Auge ruhte noch immer forschend auf dem Antlitz der jungen Frau, aber die unausgesprochene Frage fand keine Antwort. Zenaide hatte sich in die Kissen des Diwans zurückgelehnt und blies langsam blaue Rauchwölkchen aus ihrer Cigarette. Sie hörte zu, aber mit einer Miene, als erzählte man ihr die gleichgültigsten Dinge.

„Nun, jedenfalls haben Sie ihm den Weg zur Höhe geebnet,“ sagte sie endlich mit einem leichten Achselzucken. „Er hat vermutlich nur eine Schuld der Dankbarkeit abgetragen. In welchem Teile Afrikas weilt er denn jetzt?“

„Augenblicklich ist er in Europa und auf dem Wege hierher.“

Die junge Frau richtete sich plötzlich auf. „Hierher – nach Kronsberg?“

„Allerdings. Er geht nach Berlin, um persönlich mit der deutschen Regierung zu verhandeln, die ihm eine Stellung im Kolonialdienst angeboten hat. Da wir uns seit Jahresfrist nicht gesehen haben, so wird er mich zuerst hier aufsuchen. Sein letzter Brief kam aus Genua, ich kann ihn jeden Tag erwarten.“

Es trat eine augenblickliche Pause ein, dann warf Zenaide ihre Cigarette fort und sagte ebenso kühl wie vorhin: „So? Nun, das ist für Sie ja sehr erfreulich. Doch nun zu einer Frage, die mir – verzeihen Sie – für jetzt interessanter ist. Kronsberg war ja der Ort, dem ich damals meinen Liebling, die kleine Elsa von Bernried, abtreten mußte. Das Kind war mir ans Herz gewachsen, ich hätte es so gern behalten, aber der Großvater verlangte es mit aller Entschiedenheit. Er hieß ja wohl Helmreich?“

„Allerdings,“ bestätigte Sonneck, erstaunt über dies treue Gedächtnis, das nur in einem einzigen Punkte zu versagen schien – wenn es sich um „diesen Herrn Ehrwald“ handelte, dessen Vornamen man nicht einmal mehr kannte.

„Der alte Herr ist vermutlich längst tot. Wissen Sie, was aus seiner Enkelin geworden ist? Ich wollte schon in den nächsten Tagen Erkundigungen einziehen, aber Sie können mir jedenfalls die beste Auskunft geben.“

„O ja, das kann ich,“ versetzte Lothar lächelnd. „Und da komme ich auch endlich zu einer Mitteilung, die ich die ganze Zeit schon auf dem Herzen habe. Professor Helmreich ist nicht gestorben, wie Sie voraussetzen. Er wohnt eine halbe Stunde von hier und seine Enkelin lebt in seinem Hause.“

„Wie, klein Elsa ist hier? Ich kann sie sehen?“

„Gewiß, aber aus klein Elsa ist ein großes, schönes Mädchen geworden, das Sie schwerlich wiedererkennen würden und das seit acht Tagen – meine Braut ist!“

Zenaide fuhr auf und blickte ihn in grenzenloser Ueberraschung an. „Ihre Braut? Unmöglich – Sie scherzen!“

Ueber Lothars eben noch so strahlende Züge legte sich ein Schatten und in seiner Stimme klang eine leise Bitterkeit, als er erwiderte: „Ist das Ihr Urteil über meine Verlobung?“

„Nein, nein!“ fiel die junge Frau hastig ein. „Sie mißverstehen mich! Mein Erstaunen galt nur Ihrem Entschluß, sich überhaupt noch zu vermählen.“

„Und Sie meinen, daß dieser späte Entschluß eine Thorheit ist und vielleicht auch ein unverzeihlicher Egoismus, wenn es sich dabei um ein achtzehnjähriges Mädchen handelt? – Vielleicht haben Sie recht!“

„Ich meine, daß Ihr Weib glücklicher sein wird als ich es gewesen bin an der Seite eines Mannes, dessen Jahre den meinigen entsprachen,“ sagte Zenaide ernst. „O, darin liegt das Glück nicht, ich habe es erfahren! Meine herzlichsten, innigsten Wünsche für Sie und Ihre junge Braut!“ Sie streckte ihm in der That mit vollster Innigkeit die Hand hin, die er bewegt an seine Lippen zog.

„Ich danke Ihnen für diese Worte. Zenaide, glauben Sie mir, ich bedarf der Ermutigung!“

„Weshalb?“ fragte sie neckend. „Vielleicht weil mein süßer kleiner Trotzkopf es Ihnen angethan und sie so ganz erobert hat? Ja, Sie werden nicht so sehr leicht mit ihm fertig werden! Klein Elsa hatte schon damals einen sehr entschiedenen Willen und wußte ihn nachdrücklich durchzusetzen. Nehmen Sie sich in acht! Ich fürchte, ich fürchte, der große Afrikaheld beugt sich ganz dem Scepter seiner jungen Frau.“

Es lag etwas unendlich Liebenswürdiges in ihrer Neckerei, in der Art, wie sie ihm mit dem Finger drohte, aber Sonneck schüttelte leise den Kopf.

„Sie sind im Irrtum. Elsa ist ein ernstes, stilles Mädchen geworden, das weder Trotz noch Uebermut mehr kennt. Der Großvater hat da mit einer allzu strengen Erziehung viel oder vielmehr alles geändert. Doch Sie werden das ja selbst sehen.“

Er stand auf, um sich zu verabschieden, und verhieß, in den nächsten Tagen mit seiner jungen Braut wiederzukommen. Lady Marwood entließ ihn mit der ganzen Herzlichkeit und Vertraulichkeit der früheren Zeit, aber Lothars Stirn war umwölkt, als er das Haus verließ. Er dachte an jene Warnung, die er damals gegen Osmar ausgesprochen hatte, und die nicht gehört worden war. Es war gekommen, wie er es vorhergesagt, wie er es gefürchtet hatte!

(Fortsetzung folgt.)


[208]

Bremens jüngste Bildungsstätte.

Von Dr. A. Beyer.
Mit Abbildungen nach Photographien
von Louis Koch in Bremen.

Das Museum für Völkerkunde in Bremen.

Die freie Hansestadt Bremen, welche in den letzten Jahren durch großartige gemeinnützige Unternehmungen, wie die Anlage des Freihafens, die Weserkorrektion u. dergl., so viel für Hebung von Handel und Schifffahrt gethan, hat sich durch das kürzlich eröffnete neue Städtische Museum für Natur-, Völker- und Handelskunde ein neues Ruhmesblatt erworben und dadurch bewiesen, daß auch die geistigen Interessen in der Handelsstadt an der Weser in keiner Weise vernachlässigt werden. Wer, mit der Bahn in Bremen ankommend, aus dem neuen Hauptbahnhof heraustritt, dem fällt zu seiner Rechten sofort das stattliche hohe Gebäude des Städtischen Museums ins Auge, dessen schlichte Außenseite keineswegs das prächtige Innere vermuten läßt. Die Veranlassung zum Bau dieses Museums gab einerseits die völlig ungenügende Unterbringung der naturgeschichtlichen Sammlungen, anderseits die Handelsausstellung, welche 1890 einen Teil der großen Nordwestdeutschen Gewerbe- und Industrieausstellung in Bremen bildete. Dank dem bereitwilligen Entgegenkommen und der Opferfreudigkeit Bremischer Kaufleute konnte hier zum erstenmal der Versuch gemacht werden, durch Vorführung der mannigfachen Produkte überseeischer Länder ein anschauliches Bild des Bremischen Handels zu geben. Der große Erfolg dieser Handelsausstellung, welche noch drei Jahre lang in dem provisorischen Holzbau im Bürgerpark erhalten blieb, ließ den Wunsch rege werden, die mit so vielen Kosten aus allen Ländern herbeigebrachten Sammlungen für die Dauer in einem eigenen Gebäude festzuhalten. Dasselbe sollte zugleich dazu dienen, die städtischen Sammlungen für Naturgeschichte und Ethnographie aufzunehmen. Man wollte eine Art Handelsmuseum ins Leben rufen, welches sowohl dem großen Publikum zur Unterhaltung und Belehrung wie dem Kaufmanns- und Gewerbestande zu fachmäßiger Unterweisung und Benutzung dienen sollte. In kurzer Zeit war durch namhafte Spenden seitens der Sparkasse und privater Kreise eine Summe von 400 000 Mark aufgebracht, wozu der Staat den gleichen Betrag gab, so daß eine Bausumme von 800 000 Mark vorhanden war. Im Februar 1892 wurde mit dem Bau begonnen. Die innere Ausschmückung des Gebäudes, die Ueberführung und Neuordnung der Sammlungen aus der alten Handelsausstellung und dem Domsanbau nahm ebenfalls längere Zeit in Anspruch, so daß die Eröffnung erst im Januar d. J. erfolgen konnte. Das Gebäude besteht aus einem großen rechteckigen Kerne von 60:43 m Größe, in dem sich die Ausstellungsräume befinden, und einem mehrfach gegliederten Vordergebäude von 30:15 m, welches die Eingänge, Treppen, den Hörsaal und sonstige Räume enthält. Außer dem Erdgeschoß giebt es in dem Gebäude noch zwei Stockwerke. In den Kellerräumlichkeiten befindet sich unter anderem auch ein etwa 15 m langes Aquarium. Was die innere Einrichtung anlangt, so stellt das Bremer Museum gewissermaßen einen neuen Typus dar, indem es weit mehr als andere Museen auf den Laien Rücksicht nimmt. Bei strengster Wahrung des wissenschaftlichen Charakters bei der Aufstellung der einzelnen Objekte ist man bestrebt gewesen, die Wissenschaft möglichst zu popularisieren und dabei auch den Kunstgeschmack zu befriedigen.

Durch das von zwei riesigen Sphinxen eingefaßte Portal, an dessen Seiten sich die Büsten Darwins und Alexander von Humboldts befinden, treten wir in die auch dekorativ sehr wirkungsvoll gehaltene Vorhalle. Die Decke hat eine symbolische Darstellung der 12 Himmelszeichen zum Schmuck, während die Zwickelbögen in der Mitte der Hauptwand mit allegorischen Figuren ausgefüllt sind. Auf der einen Seite der junge, von Wissensdrang erfüllte Forscher mit der in leuchtender Schrift angebrachten Devise „ad astra" (zu den Sternen empor); auf der andern der Greis, der das Rätsel der Natur vergeblich zu lösen gesucht und dem seine melancholische Fauststimmung auf dem Gesichte geschrieben steht; auf seinem aufgeschlagenen Buche lesen wir das Wort „Ignorabimus“ (wir werden es nicht wissen)! In den übrigen Feldern sind Attribute des Handels und der Schiffahrt angebracht. Alle diese Bilder rühren vom Dekorationsmaler O. Bollhagen her, der auch die großen Wandgemälde im Hauptraum geschaffen hat. An den Wänden der Vorhalle befinden sich Abgüsse von Altertümern aus Guatemala, ein Geschenk der Centralverwaltung der königlichen Museen in Berlin; links ist ein großes Modell des Kaiser Wilhelm-Denkmals in Bremen aufgestellt. Aus diesem Vorraum gelangen wir in den prächtigen durch alle drei Stockwerke reichenden Lichthof, der im Verhältnis von 16:26 m Größe gehalten und mit Glasdach versehen ist, wodurch überallhin volles Tageslicht verbreitet wird. Der Gesamteindruck ist ein großartiger. Auch hier trägt der feinsinnige plastische und malerische Schmuck viel zur Gesamtwirkung bei. So bemerken wir in den Nischen, welche die obere Hälfte des Raumes aufweist, plastische, vorzüglich modellierte allegorische Darstellungen der Erdteile, des Handels, der Schiffahrt, der Industrie und Landwirtschaft, in den Hauptzwickeln dagegen Originalfresken, welche die Zoologie, Botanik, Mineralogie, Prähistorik darstellen.

Das Battakhaus aus Sumatra.

Unsere Abbildung vom Lichthofe zeigt uns diesen prächtigsten Teil des Museums von der chinesischen Abteilung aus gesehen. Im Vordergrunde seitwärts stehen zwei stilvolle Schränke mit chinesischen und japanischen Gegenständen, darunter eine schöne Sammlung chinesischer Musikinstrumente. [209] In der Mitte erblicken wir einen japanischen Krieger in seiner kunstvollen Panzerrüstung. Das merkwürdige kegelförmige Gebäude im Innern des Lichthofes ist eine Ansiedlung der Maschukulumbe vom mittleren Sambesi. Dieses Negervolk lebt in Hütten, welche kreisförmig die Viehhürde einschließen. Das hier dargestellte Haus ist aus Stengeln der Mohrenhirse erbaut und mit einem Bewurf versehen; links von der Thür ist ein Boot mit Rudern. An einem Baume lehnen Ruder und gabelförmige Stangen, welche dazu dienen, die in den Fluß getriebenen Antilopen unter Wasser zu drücken. Vor dem Hause stehen zwei Maschukulumbe. Charakteristisch ist die riesige Haartracht des Mannes, welche aus den Haaren von Frauen und Sklaven mit vieler Mühe hergestellt wird. Auf der andern Seite der Hütte befindet sich der Schädelbaum mit den Schädeln erschlagener Feinde. – Die ganze Gruppe ist nach Angaben des Professor Holub (Wien), des besten Kenners der Maschukulumbe, hergestellt. – Im ersten Stockwerk, welches die naturwissenschaftlichen Sammlungen enthält, erblicken wir links zwei große Elche, Männchen und Weibchen, aus Norwegen, auf der vorderen Seite das große Skelett eines Elefanten u. a. Von den plastischen Figuren des zweiten Stockwerks sind einige, wie Ackerbau und Industrie, auf unserm Bilde ebenfalls sichtbar.

Gegenüber der Maschukulumbegruppe ist ein Battakhaus aufgestellt, von dem wir eine besondere Abbildung bringen. Die Battak bewohnen die Hochebenen Sumatras und besitzen eine eigenartige, nicht unbedeutende Kultur, da wir bei ihnen eine eigene Schrift, Pflug, Spinnrad u. dergl. vorfinden. Auf einer Pflanzung bei Deli auf Sumatra wurde jenes Battakhaus für das Bremer Museum hergestellt; auf Pfählen erbaut, läßt es die Kunstfertigkeit der Battak im Flechten erkennen. Vor der Thüre lehnt ein Mann, während seitwärts eine Frau, mit einem Säugling auf dem Rücken, den Reis stampft.

Durchblick von der chinesischen Abteilung nach dem Lichthofe.

In ähnlicher Weise sind noch mehrere ethnographische Gruppen aufgestellt, während andere wieder dem Handelsinteresse dienen. So finden wir die Haupteinfuhrartikel Bremens in großen Kollektivausstellungen vertreten und meist noch durch charakteristische Gemälde oder große Modelle erläutert. Die Bremer Tabakbörse hat eine große Zahl von Tabakproben und Originalballen ausgestellt, eine Bremer Firma einen mächtigen Zigarrentempel. In großen Kiosken sind die Gruppen „Kaffee“ und „Getreide“ untergebracht. Rechts ist die großartige Baumwollausstellung der Bremer Baumwollbörse, an den Wänden prächtige, von O. Bollhagen gemalte Bilder, welche die Gewinnung und Verschiffung der Baumwolle darstellen. Sehr reichhaltig sind auch die Abteilungen „Reis“ und „Petroleum“, und durch höchst lehrreiche große Modelle wird die Gewinnung des Indigo, des Schellacks, der Jute, des Salpeters veranschaulicht. Ein anderes zeigt einen Bazar der ostindischen Stadt Agra.

Außer diesen Haupthandelsartikeln Bremens umfaßt die Handelsabteilung Gruppen von Handelsprodukten überseeischer Herkunft, die nach ihren Ursprungsländern geordnet sind. Rechts vom Eingange gelangen wir nach den Gruppen Brasilien, Kolumbien, Peru, Westindien, Argentinien, Mexiko. Zu letzterer gehört ein schönes Panorama einer mexikanischen Stadt mit kleinen, naturgetreu von Indianern nachgebildeten Volkstypen, sowie eine prächtige ethnographische Gruppe, in deren Hintergrunde eine Landschaft von der Hochebene Mexikos mit den beiden Schneebergen Popocatepetl und Jztaccihuatl angebracht ist. Links vorn erhebt sich eine Ruinenstätte, den Trümmern der Pyramide von Xochicalco genau nachgebildet, in deren Nähe Exemplare des Orgel- und Feigenkaktus grünen. Ein Mann ist beschäftigt, den Saft der Agaven durch Aussaugen zu gewinnen, um daraus das Nationalgetränk Pulque herzustellen. Rechts vorn ist eine Hütte der Eingeborenen, aus der eine Mestize heraustritt, um einem Reiter in der nationalen Ledertracht eine Erfrischung zu reichen. – Durch die besonders reichhaltigen Abteilungen China und Japan gelangen wir nach der [210] Südseite des Gebäudes zu den deutschen Kolonien. Es wird hier eine sehr große Zahl von Produkten unserer west- und ostafrikanischen Besitzungen in übersichtlicher Weise vorgeführt.

Hieran schließt sich eine sehr wirkungsvolle Gruppe aus dem deutsch-ostafrikanischen Schutzgebiete. Durch die offene Rückseite einer Hütte fällt der Blick auf eine Landschaft am Kilimandscharo mit der deutschen Station Moschi, Mannschaften der Schutztruppe (Sudanesen) sind vor der Station marschfertig aufgestellt. Ein Soldat der Schutztruppe in feldmarschmäßiger Ausrüstung verabschiedet sich von einem Negermädchen, das die Tracht der Küstenbevölkerung trägt. – Weiter folgen die Abteilungen Südafrika, Sundainseln, Australien und Südsee, Ostindien und Ceylon. Eine schöne Gruppe aus der letztgenannten Insel ist in unserer untenstehenden Abbildung wiedergegeben. Im Hintergrunde erblicken wir eine charakteristische Landschaft Ceylons mit einigen Eingeborenen. Vorn Singhalesen mit einem jungen Elefanten, rechts eine Originalhütte von der Malabarküste, ausgestattet mit einer Bettstelle und anderem Hausgerät. Eine Frau aus dem Tamulenstamme ist im Begriff, Kaffee durch Stampfen zu enthülsen. – Durch die letzten Sektionen, Mittelmeerländer und Nordische Länder (Rußland, Skandinavien), hindurch gelangen wir zu der Fischereiausstellung, welche alles auf die deutsche Hochseefischerei Bezügliche enthält. Von hier führt ein besonderer Eingang nach dem sehr schönen, zweckmäßig eingerichteten Aquarium, das eine wertvolle Ergänzung der zoologischen Sammlungen bildet.

Die Singhalesengruppe aus Ceylon.

Im ersten Obergeschoß befinden sich die naturhistorischen Sammlungen. Der vordere Teil desselben enthält in großen Glasschränken die deutsche Fauna, in eine Reihe von Tiergruppen (Lebensgemeinschaften) zusammengefaßt. So finden wir besondere Gruppen von Füchsen, Bibern, Alpentieren, Dachsen, Spechten, Eulen, eine Ruinengruppe mit Vögeln etc. Alle diese Gruppen sind mit peinlichster Sorgfalt dem Leben nachgebildet und völlig naturgetreu. Eine Anzahl schöner Skelette bildet den Uebergang zu der systematischen Zoologie. Besonders hervorragend ist das riesige Skelett eines Finnwals (Balaenoptera musculus), von 24 m Länge, ein Geschenk des Naturwissenschaftlichen Vereins in Bremen. Derselbe hat auch den auf der gegenüberliegenden Seite befindlichen diluvialen irischen Riesenhirsch dem Museum gestiftet. Wir staunen über die Unzahl von Tieren aller Art, die wohlgeordnet in Schränken aufgestellt sind: Säugetiere, Vögel, Reptilien, Käfer, Schmetterlinge, Korallen, Konchylien etc. Ueberall ist durch zahlreiche schöne Abbildungen und Präparate für das Verständnis des Laien gesorgt. Auch die mineralogischen und geologischen Sammlungen sind hier untergebracht.

Im zweiten Obergeschoß betreten wir zunächst die prähistorische Abteilung. In der Mitte befindet sich ein Steinkistengrab (Hünengrab), das in der Gegend von Buxtehude aufgefunden und nach dem Bremer Museum übergeführt wurde. Interessant ist ferner die naturgetreue Nachbildung eines römischen Bohlweges aus den oldenburgisch-hannöverschen Mooren. Zahlreiche Urnen und Gerätschaften aus der Steinzeit sind in den Schränken ringsum untergebracht. Nicht minder anziehend ist die Abteilung Botanik. Hier finden wir z. B. die vollständige Bremer Flora übersichtlich an Drehständern befestigt

Der Hauptteil dieses Geschosses wird aber durch das eigentliche Handelsmuseum in Anspruch genommen. Es ist dies eine ganz neue Einrichtung. Während im Erdgeschoß die Handelsprodukte nach den Ursprungsländern aufgestellt waren, sind sie hier rein systematisch geordnet, um einen Ueberblick über die wichtigsten Handelsartikel zu gewinnen. Die einzelnen Warenproben sind von Bremer und auswärtigen Firmen für das Museum geschenkt. Vertreten sind die Gruppen Getreide, Mehle und Mehlfabrikate, Stärke, Hülsenfrüchte, Gewürze, Farbstoffe, Gummi und Harze, Oele und ölliefernde Stoffe, Gespinststoffe (Flachs, Hanf, Wolle, Baumwolle, Seide etc.), Erze und Mineralien, Kohle, Kautschuk und Guttapercha, Leder, Gerbstoffe, Dungstoffe u. a. Eine hervorragend schöne Ausstellung von Gespinststoffen und fertigen Fabrikaten zeigt die große Bedeutung dieses Bremischen Industriezweiges. Außer den eigentlichen Handelsprodukten ist ferner eine Anzahl von Industrien zur Anschauung gebracht, bei denen sich der Uebergangsprozeß aus dem Rohmaterial zum fertigen Fabrikat ohne Schwierigkeit vorführen ließ. Das ist z. B. der Fall bei Glas, Porzellan, Steingut, Drechslerei, Wollkämmerei, Braunkohlenindustrie, Papierfabrikation, Kork, Linoleum u. a.

Den Beschluß des Handelsmuseums bildet eine sehr schöne [211] Vorführung der Torfgewinnung und der Produkte der Moorkultur. Der letzte Teil des dem Publikum zugänglichen Raumes enthält große Modelle des Bremer Freihafens, der Weserkorrektion, eine Darstellung des Weserlaufs von Bremen bis Bremerhaven u. dergl. In den übrigen Räumlichkeiten dieses Stockwerkes liegen die Arbeitszimmer des Direktors und der Museumsbeamten, sowie die Räume des Naturwissenschaftlichen Vereins und der Geographischen Gesellschaft. –

Wir haben unseren Rundgang beendet und sind aufs höchste befriedigt von der Fülle und Schönheit des Gesehenen. Ueberall zeigt sich das Bestreben, die einzelnen Gegenstände nicht in langweiliger rein systematischer Aufstellung vorzuführen, wie dies sonst vielfach in Museen zu geschehen pflegt, sondern in möglichst naturgetreuer Weise ein Lebensbild, sei es der Pflanzen, Tiere oder Völker, zu bieten. In äußerst geschickter Weise ist dies bei allen Abteilungen des Museums gelungen, indem Plastik und Malerei sich in den Dienst der Wissenschaft gestellt haben. Möge das neue Städtische Museum für Natur-, Völker- und Handelskunde in Bremen jederzeit seiner hohen Aufgabe gerecht werden und eine Quelle der Belehrung und Bildung für jedermann sein, dann wird es unter den Bildungsanstalten Bremens stets eine der ersten Stellen einnehmen!


Ein Nationaltag für deutsche Kampfspiele!

Von H. Raydt.
Motto: Der Beginn ist die Hälfte des Ganzen.     

Ich weiß es noch wie heute und doch ist es über dreißig Jahre her. Der Geschichtslehrer meines kleinen Heimatgymnasiums schilderte uns mit begeisterten Worten das Leben und Treiben jener großartigen Wettkämpfe, welche einst im Thale von Olympia an den Ufern des Alpheios und Kladeos im alten Griechenland in vierjähriger Wiederkehr veranstaltet wurden. Mit jugendlicher Wärme und Frische pries der schon bejahrte Herr insbesondere das nationale Band, welches diese Triumphe griechischen Wesens, griechischer Gymnastik und griechischer Jünglingserziehung um das ganze in der damaligen bekannten Welt zerstreute griechische Volk geschlungen hatten. Da entfuhr mir die Frage: „Ist denn nicht auch ein deutsches Olympia möglich?“ Der freundliche alte Herr schaute den thörichten Knaben mit einem mitleidigen Lächeln an und antwortete kurz: „Nein, jenes war die klassische Zeit der höchsten Kultur der Menschheit; jene waren Griechen und wir – nein, nein,“ setzte er hinzu, nach seiner Eigenart erregt werdend, wenn ihm etwas nicht recht in den Sinn wollte, dessen innere Berechtigung er doch vielleicht ahnte, „nein, nein, die Verhältnisse müßten sich denn sehr ändern, nein, nein, dumme Frage, wir können doch nicht wieder alte Griechen werden!“ Und damit war die Sache unter dem Gelächter der Klassengenossen abgethan. Ich schlich mich in der sich anschließenden Freiviertelstunde etwas beschämt auf den Schulhof: als ich dort aber an dem immer bereitstehenden hohen Reck einigemal die Riesenwelle gemacht hatte, war das drückende Gefühl über die mir gewordene Abfertigung wieder fort und ich sagte mir: „Nun, einiges können wir doch ebenso gut wie die alten Griechen, und das deutsche Olympia bekommen wir doch!“

Ein anderes Bild … Am 5. Oktober vorigen Jahres war in Hannover der Vorstand des Centralausschusses zur Förderung der Volks- und Jugendspiele in Deutschland zu einer Sitzung zusammengetreten und auf der vom Vorsitzenden festgestellten Tagesordnung stand, infolge einer von Dr. F. A. Schmidt–Bonn gelegentlich gegebenen Anregung, die Frage eines nationalen deutschen Olympia. Die Schwierigkeit des Unternehmens wurde eingehend erörtert, und doch entschloß man sich einstimmig, im Verein mit der deutschen Turnerschaft mutig an die Aufgabe heranzugehen. Es herrschte eine weihevolle Stimmung in der kleinen Versammlung, als der Vorsitzende, der in gemeinnütziger Thätigkeit unermüdliche und sehr erfahrene preußische Landtagsabgeordnete v. Schenckendorff-Görlitz, mit bewegter Stimme die Wichtigkeit des Beschlusses hervorhob und in warm empfundenen patriotischen Worten die Hoffnung aussprach, daß etwas Großes auch hieraus für unser liebes deutsches Vaterland erwachsen möge.

Da stand mit einem Male mein alter Lehrer im Geiste wieder vor mir, wie er mit hastiger Stimme sprach: „Nein, nein, die Verhältnisse müßten sich denn sehr ändern!“

Nun, Gott sei Lob und Dank, sie haben sich sehr geändert! Es ist seitdem über unser deutsches Volk ein Segen hereingebrochen, dessen Größe, meine ich, von der Mehrzahl unserer Zeitgenossen noch lange nicht genug erkannt wird. Die Hoffnung unserer Väter und der Traum unserer Jugend ist verwirklicht worden. Ein neues deutsches Kaiserreich ist in Macht und Herrlichkeit erstanden, und kräftig in seiner Einheit steht das einst mißachtete Volk der „Träumer und Denker“ da. Der nationale Gedanke schlägt im innersten Wesen der Einzelnen immer tiefere Wurzeln und entwickelt seine schaffende Kraft in immer stärkerem Maße, wenn auch andere Bewegungen einen Schatten auf das lichtvolle Bild werfen. Auch die auf der ganzen weiten Erde zerstreuten Deutschen, sie empfinden den vom Mutterlande wehenden nationalen Hauch und fühlen sich mit starkem Herzensbande mit uns eins in echtem, treuem Deutschtum.

Ja, es hat sich vieles zum Besseren geändert im deutschen Vaterlande, und so können ernste Männer getrosten Mutes den Versuch wagen, ein deutschnationales Olympia ins Leben zu rufen.

Weitere Untersuchungen haben die Schöpfer des Gedankens in ihrem festen Willen bestärkt. In allen Schichten des Volkes haben sie wärmste Sympathie gefunden, unter anderm hat sich auch aus eigenster Anregung der neugebildete Bund für Sport, Spiel und Turnen, welcher unter der Leitung von Dr. Karl Peters steht, zur Mitwirkung bereit erklärt.

So traten denn Herr von Schenckendorff und seine Freunde am 19. Januar dieses Jahres in Berlin mit dazu gewählten Vertretern der deutschen Turnerschaft zum fröhlichen Beginn zusammen. Der genannte Vorsitzende entrollte vor uns das Bild eines nationaldeutschen Olympia, wie ein solches in unserer Zeit sich vielleicht verwirklichen läßt. Nach eingehender Erörterung wurde folgendes beschlossen.

Im Mittelpunkte sollen alle Leibesübungen stehen, welche in Deutschland getrieben werden. Genannt wurden Turnen, alle Volks- und Jugendspiele, Schwimmen, Rudern, Radfahren, Fechten und Ringen. Eine einseitige Gipfelleistung soll jedoch nicht zum Siege führen, vielmehr muß der Sieger auch in entgegengesetzten Uebungen, z. B. Fechten und Fußball, seine Gewandtheit zeigen, da als Ideal die vollkommene harmonische Ausbildung des ganzen Körpers anzustreben ist. Alles professionelle Athletentum ist aufs strengste ausgeschlossen. Pferderennen u. dergl. werden aus praktischen, nicht aus prinzipiellen Gründen ebenfalls nicht veranstaltet. Die Feier soll durch musikalische und andere Aufführungen verschönt werden. Die ganze Veranstaltung muß auf deutschnationalem Boden stehen.

Als Ort der Wettspiele wurde Leipzig gewählt. Man will versuchen, in Gemeinschaft mit dem Deutschen Patriotenbunde, welcher zum 18. Oktober 1913 auf dem Leipziger Schlachtfelde ein Denkmal zu errichten beabsichtigt, dort einen deutschen Nationalpark und in diesem einen großen Nationalspielplatz mit allen zugehörigen Einrichtungen zu schaffen. Gelingt dies nicht, so soll ein anderer Platz bei Leipzig gewonnen werden. Für Leipzig ausschlaggebend war die allen deutschen Stämmen gemeinsame nationale Erinnerung, die centrale Lage, die allgemeine Sympathie für die Stadt, sowie der Umstand, daß sie imstande sein wird, auch einer sehr großen Anzahl von Fremden gastliche Aufnahme zu gewähren.

Als Zeit wurde vorläufig der Monat Juli in Aussicht genommen und eine regelmäßige Wiederkehr der Feier in dreijährigem Zwischenraum. Zum erstenmal soll dieselbe im Jahre 1900 stattfinden.

Was nun den Namen der Veranstaltung anbelangt, so war klar, daß man die bisher für diese Bestrebungen gebrauchte Bezeichnung „nationaldeutsches Olympia“ nicht weiter verwenden könne. Es erwies sich nicht so leicht, einen richtigen Namen zu finden. Schließlich vereinigte man sich, Jahnschen Gedanken folgend, auf „Nationaltag für deutsche Kampfspiele“.

Zu weiteren Schritten wurde ein engerer Ausschuß eingesetzt. Derselbe besteht aus je drei Vertretern der deutschen Turnerschaft und des Centralausschusses für Volks- und Jugendspiele. Erstere sind Dr. Götz-Leipzig, Vorsitzender der Deutschen Turnerschaft, [212] Professor Rühl–Stettin, Geschäftsführer der Deutschen Turnerschaft, und Dr. F. A. Schmidt–Bonn, Mitglied des Ausschusses der Deutschen Turnerschaft; als letztere sind zu nennen Abgeordneter von Schenckendorff–Görlitz, erster Vorsitzender des Centralausschusses, Königlicher Wirklicher Rat Weber–München, Mitglied des Centralausschusses, und Direktor Professor H. Raydt–Hannover, Geschäftsführer des Centralausschusses. An letzteren sind vorläufig alle bezüglichen Anfragen zu richten. Derselbe wird bald eine eingehende Denkschrift über die ganze Frage veröffentlichen. In der Osterzeit wird in Leipzig eine weitere Beratung stattfinden. Alle Schritte bis dahin leiten die Herren von Schenckendorff und Dr. Götz in Gemeinschaft. In München soll am 11. und 12. Juli d. J. gelegentlich des Kongresses für Volks- und Jugendspiele der „Nationaltag für deutsche Kampfspiele“ zur öffentlichen Diskussion gestellt werden. Die einleitenden Reden halten Dr. F. A. Schmidt–Bonn und Direktor Raydt–Hannover. Auch sollen dort zum erstenmal Kampfspiele der gedachten Art vorgeführt werden, deren Veranstaltung unter der Leitung des Königlichen Wirklichen Rats Weber-München liegt.

Möge denn der Nationaltag für deutsche Kampfspiele glücklich zur Ausführung gelangen! Möge derselbe die Blüte der deutschen Jünglinge aus dem In- und Auslande alle drei Jahre auf dem Leipziger Schlachtgefilde versammeln! Möge vor allem derselbe dazu beitragen, die sittliche Kraft unseres Volkes zu heben, und möge die Feier ein festes nationales Band um alles schlingen, was deutsch redet, deutsch denkt, deutsch will und deutsch handelt!


Der Klageschrei.

Eine türkische Geschichte von Rudolf Lindau.


Ali Bey war eine beliebte und gleichzeitig gefürchtete Persönlichkeit am Hofe des Sultans, wo er den Titel eines Geheimschreibers führte und die Aufgabe hatte, den Großherrn zu zerstreuen und zu erheitern. Er war klein und häßlich, mit hoher Brust, mächtigen Schultern, krummen Beinen, und er besaß die Kräfte eines Riesen. Wer sein großes flaches Gesicht, in dem alles breit war: Stirn, Nase, Mund, Kinn – einmal gesehen hatte, konnte es nicht wieder vergessen, aber nicht allein wegen seiner Häßlichkeit, sondern weil aus Ali Beys schönen dunkeln Augen Herzensgüte so unverkennbar leuchtete, daß man sich seiner gern erinnerte; selbst die Kinder kamen vertraulich zu dem unförmlichen Zwerge und ließen es sich gefallen, daß er ihnen mit seinen kurzen dicken Händen über das weiche Haar strich.

Ali Bey sah den Sultan zu jeder Stunde des Tages, häufiger als alle andern Beamten, und erfreute sich in vollem Maße der Vorrechte eines Hofnarren. Die Kunst, die er hauptsächlich übte und in der er es zu großer Meisterschaft gebracht hatte, war die, andere Personen darzustellen in Gang und Bewegungen, Haltung des Hauptes, Blick, Sprache und Stimme. Zwar waren es immer nur Zerrbilder, die er zeigen konnte, aber stets von sprechender Aehnlichkeit, so daß derjenige, der unfreiwillig dazu gesessen hatte, sogleich von allen erkannt wurde. – Eines Tages beging der sonst so kluge Ali Bey eine große Thorheit. Er wagte es, die Stimme und Gebärde des Sultans nachahmend, einem Diener einen Befehl zu erteilen. Dies wurde dem Padischah von einem geheimen Feinde Ali Beys hinterbracht, und da der Sultan an demselben Tage unerfreuliche Nachrichten vom Kriegsschauplatze empfangen hatte, infolgedessen übler Laune war und sich nicht die Mühe geben wollte, dies zu verbergen, so ließ er an Ali Bey seinen Unwillen aus. Mit harten Worten verbannte er ihn aus seiner Nähe und vom Hofe: „Geh zum Scharfrichter und laß Dir von ihm den Strick geben, an dem Du gehängt zu werden verdientest. Meinetwegen magst Du damit die toten Hunde von den Straßen in das Meer schleifen. Es ist ein ehrlicheres Handwerk als das eines elenden Spaßmachers.“

Ali Bey begab sich geradeswegs zum Henker des Palastes. „Hast Du einen Befehl erhalten, der mich betrifft?“ fragte er.

„Ich sollte Euch hängen, Bey. Alles war bereits zu Eurer Hinrichtung vorbereitet. Dann, vor einer Stunde etwa, kam ein Gegenbefehl: Effendimis hätten Euch begnadigt. – Allah schenke Euch ein langes Leben, Bey!“

„Der Sultan hat befohlen, Du sollest mir den Strick geben, der zu meiner Hinrichtung bestimmt war.“

„Hier ist er, Bey!“ sagte der Scharfrichter und überreichte dem Zwerg einen langen starken Strick aus Hanf.

Ali Bey prüfte ihn aufmerksam. „Würde das Seil nicht zerrissen sein?“ fragte er. „Ich bin ein schwerer Mann.“

„An dem Seile könnten zehn von Eurem Gewicht hängen, es würde nicht zerreißen. – Ich bin sorgfältig in der Wahl meines Handwerkszeuges.“

„Das ist gut,“ sagte der Bey. Darauf machte er dem Henker ein Geldgeschenk und entfernte sich. Er ging aber nicht nach Hause, sondern suchte seinen jüngeren Bruder Namens Nassuch Haga auf, der, wennschon er nur den Rang eines Hauptmanns bekleidete, die Seele der geheimen Polizei von Stambul war. Nassuch Haga hatte dieselben schönen treuen Augen wie Ali; im übrigen glich er diesem aber gar nicht, denn er war ein großer, stattlicher Mann, edel von Angesicht. Nassuch Haga liebte seinen Bruder und war tief betrübt, als dieser ihm erzählt hatte, er sei in Ungnade gefallen. „Was beabsichtigt Ihr fortan zu thun?“ fragte er. „Mein Haus ist das Eure, das wißt Ihr.“

„Ich werde in meinem Konak bleiben,“ antwortete Ali Bey, „ich bin mit Geldmitteln reichlich versehen … Was ich thun werde? – Vorläufig mich gedulden, bis Anzeichen vorliegen, daß der Unmut des Großherrn sich gelegt hat. – Aber ich habe Dir noch etwas Besonderes zu sagen.“

„Sprecht, Bey!“

„Sollte Dir von Deinen Leuten hinterbracht werden, daß ich mich am Seraï-burnu[1] aufhalte und mich gelegentlich damit beschäftige, ein Boot um die Spitze zu ziehen, so wundere Dich nicht darüber.“

„Weshalb wollt Ihr Euch mit so harter Arbeit quälen, um wenige Para zu verdienen?“

„Der Sultan hat mir ein Seil geschenkt. Damit sollte ich fortan meinen Lebensunterhalt verdienen. Er meinte, es würde mir gute Dienste leisten, um tote Hunde von der Straße in das Meer zu schleifen. Er hat mir aber in dieser Beziehung keinen bestimmten Befehl gegeben, und ich will es lieber benutzen, um Schiffe und Boote durch den Strom zu ziehen.“

Ali Bey sagte dies mit der ernsten Miene, die er niemals ablegte, auch wenn er scherzte. Nassuch Haga glaubte, dies sei jetzt wieder der Fall. Die Achtung vor dem ältern Bruder, die er nie beiseite setzte, nötigte ihn jedoch, sich den Anschein zu geben, als ob er Alis Worten Glauben beimesse. „Ich danke Euch für die Mitteilung, Bey,“ sagte er. „Meine Leute werden Euch bei Eurer Beschäftigung nicht stören, ja, wenn Ihr es wünscht, zu Euren Diensten sein.“

Auf dem Wege nach seiner Wohnung kaufte Ali den groben Anzug eines gemeinen Hafenarbeiters und als solcher fand er sich am nächsten Morgen am Seraï-burnu ein.

Wer diesen Punkt einmal gesehen hat, kann ihn nicht wieder vergessen, denn er ist von großer Schönheit, lieblich und erhaben zugleich. Ali Bey ließ sich auf dem grünen Rasen des Ufers nieder und lange Zeit ruhten seine Augen nachdenklich und teilnahmlos auf den sanft bewegten Wassern des schwarzblauen Meeres; [213] dann schweiften sie hinüber nach Skutari, Kadikeuy und Moda, wo bunte Häuser, weiße Moscheen und Minarets und dunkle schlanke Cypressen sich gegen den klaren Morgenhimmel abzeichneten. In der Ferne erkannte er die schönen Umrisse der dicht bewaldeten Prinzeninseln, und seine Augen folgten den zahllosen großen und kleinen Fahrzeugen, die sich in lautloser Stille kreuzten, die hohe See suchten oder, vom Schwarzen Meere kommend, den Bosporus herunter, dem „Horn“ zusteuerten. In den Lüften wiegten sich silbergraue Möwen und mächtige dunkle Weihen. Es war ein Bild erhabener Ruhe und es leuchtete Frieden in die Brust des armen Zwerges, der den Sultan uneigennützig geliebt und die strenge Behandlung, die ihm zu teil geworden war, schmerzlich empfunden hatte.

Palmsonntag in den Abruzzen.
Nach dem Gemälde von C. Tiratelli.

In der Nähe des Ufers schaukelte sich ein kleines Fischerboot, das Ali Bey bisher noch nicht beachtet, das aber, als er es erblickt hatte, seine Aufmerksamkeit fesselte. Der Insasse desselben war ein Jüngling von etwa achtzehn Jahren, dessen Aussehen und Wesen dafür sprachen, daß er das schwere Gewerbe der Fischerei, wennschon er dabei sachverständig zu Werke zu gehen schien, nur zu seinem Vergnügen betreiben könne. Sein Gesicht, von großer Anmut, war heller als das der gewöhnlichen Fischer, und weiß glänzten in der Sonne seine wohlgeformten nackten starken Arme. Alle Bewegungen des jugendlichen Körpers waren edel und frei.

Diesem Jüngling war vor einer Woche ein sonderbares Begebnis zugestoßen. Als er sich, gegen Sonnenuntergang, über den Bord seines kleinen Fahrzeuges beugte und mit großer Kraftanstrengung das schwere Netz heraufzog, flog ein von sechs Ruderern getriebener schmaler Kaïk an ihm vorüber, in dem vier dicht verschleierte Damen und zwei schwarze Haremswächter saßen. Der junge Fischer hob den Kopf einen Augenblick, beugte sich dann aber sogleich wieder zu seiner Arbeit, denn es war ihm zur zweiten Natur geworden, dem Gesetze zu gehorchen, das dem Gläubigen verbietet, eine fremde Frau dreisten Blickes anzuschauen. – Er hatte einen guten Fang gethan. In dem Netze, das er in das Boot gezogen, wimmelte es von silberschuppigen und roten großen und kleinen Fischen. Er packte sie sorgfältig in einen Korb, der neben ihm stand, legte das Netz kunstgerecht zusammen und ruderte sodann ans Ufer, wo er oberhalb des Sommerpalastes an einem kleinen Landungsplatze für Fischerboote anlegte und ausstieg. Er hatte soeben sein Fahrzeug an einer kurzen Kette befestigt, den schweren, mit Fischen gefüllten Korb auf die Schulter geschwungen und schickte sich an, das Ufer zu verlassen, als ein schwarzer Haremsdiener auf ihn zutrat.

„Folge mir!“ sagte der Neger. „Ich habe einen Käufer für Deine Fische.“

„Ich verkaufe meine Fische nicht,“ antwortete der junge Mann und wollte seinen Weg fortsetzen.

„So folge mir dennoch!“ sagte darauf der Schwarze. „Einer vornehmen Dame verlangt’s danach, von Deinen soeben gefangenen Fischen zu genießen. Du wirst nicht ungefällig sein wollen.“

Darauf mochte der Jüngling keinen abschlägigen Bescheid geben. Er wandte sich um und bedeutete den Neger, daß er ihn [214] begleiten werde. Dieser schritt voran und machte bald vor einer schmalen Thüre Halt, die in der Mauer angebracht war und Eingang zu dem Blumengarten des Harems gewährte. Dort verschwand der Diener, die Pforte hinter sich schließend; aber nach wenigen Minuten wurde diese ein wenig geöffnet, und der Fischer erblickte eine junge weiße, verschleierte Sklavin, deren dunkle Augen sich freundlich auf ihn richteten.

„Wir bemerkten Dich soeben, als Du Dein Netz aufzogst,“ sagte die Sklavin; „es schien viele Fische zu enthalten. Würdest Du uns einige davon überlassen?“ Und damit reichte sie dem Jüngling einen kleinen Korb aus feinem Geflecht.

„Gern thue ich das,“ antwortete der Fischer. Er wählte aus seinem Vorrat die besten und schönsten Fische, füllte das Körbchen damit und reichte es der Dienerin zurück.

„Hab’ Dank!“ sagte diese. „Und hier … nimm Deinen wohlverdienten Lohn!“ Sie streckte die Hand aus und wollte dem jungen Fischer ein Goldstück geben. Der aber machte eine artig abwehrende Bewegung und sagte: „Es freut mich, Euch gefällig sein zu können; aber ich treibe keinen Handel und kann deshalb die Gabe, die Ihr mir anbietet, nicht nehmen.“

„So bist Du kein Fischer?“

„Ich bin ein Freund vom Fischfang und habe mich fleißig darin geübt, aber ich betreibe ihn nicht als Gewerbe.“

Die Sklavin dachte einige Minuten nach, dann wandte sie sich wieder zu dem Jüngling. „Es wäre unschicklich, Dir einen Lohn aufdringen zu wollen; aber Du mußt uns ermöglichen, unsere Erkenntlichkeit auszudrücken für das Geschenk, das Du uns so artig machst und das wir annehmen. Darum bitte ich Dich, sei morgen nachmittag, eine Stunde vor Sonnenuntergang, an dieser selben Stelle. Dann werden wir uns wiedersehen. Und wenn Du uns einige von Deinen schönen Fischen mitbringen willst, so sollen sie mit Dank angenommen werden … Willst Du mir Deinen Namen nennen?“

„Ich heiße Murad.“

Am nächsten Tage war der junge Fischer zur bestimmten Stunde an der kleinen Thür des Blumengartens. Nachdem er sich dem Schwarzen, der dort Wache hielt, gezeigt hatte, ging dieser davon, um bald darauf in Begleitung der Sklavin zurückzukehren. Sie begrüßte Murad wie einen guten Bekannten und nahm mit freundlichem Dank einen kleinen Korb entgegen, der zwischen frischem Gras und grünen Blättern eine Auswahl schöner Fische enthielt. Dann übergab sie Murad eine kleine Schachtel aus Silber. „Dies zum Dank für Deine Gefälligkeit,“ sagte sie dabei. „Hoffentlich ist es Dir nicht unbequem,“ fügte sie hinzu, „uns auch in Zukunft mit Deinen Fischen zu versorgen. Uns würdest Du damit eine Freude machen. Ich werde Dich morgen und während der folgenden Tage zu dieser Stunde hier erwarten.“

Die silberne Schachtel enthielt einen kostbaren Ring, dessen Wert Murad jedoch nicht zu schätzen wußte. Da er zu klein für seine Hand war, so steckte er ihn in seinen Gürtel.

Die täglichen Zusammenkünfte zwischen dem Fischer und der Sklavin dauerten seit einer Woche. Während dieser Zeit hatte Murad noch zwei andere Geschenke erhalten: eine Pfeifenspitze aus Bernstein mit Edelsteinen verziert und eine seidene Schärpe. Murad, der weder habgierig noch eitel war, beachtete diese Sachen nur wenig. – „Ihr seid zu gütig,“ sagte er der Sklavin beim Empfang des dritten Geschenkes. „Eure Freigebigkeit macht mich verlegen. Ich bitte, setzt derselben Schranken! Sie vermindert allzusehr den schon so geringen Wert der Gefälligkeit, die ich Euch erweise; diese gleicht nun beinahe einem vorteilhaften Geschäft, das ich mache; doch möchte ich, daß mein einziger Verdienst wäre, Euch Freude zu bereiten.“

Die Sklavin war erstaunt, den jungen Fischer so gewandt sprechen zu hören. „Ich wünschte,“ sagte sie, „daß meine Freundin Dich hörte. Vielleicht wird sie mich nächstens begleiten.“

Es war am Morgen nach dieser Unterhaltung, als Ali Bey die Schönheit und Gewandtheit des jungen Fischers zuerst bemerkte. Als dieser ans Land stieg, begrüßte ihn der Zwerg mit freundlichen Worten.

Wenn man Ali Bey in die Augen gesehen hatte, so vergaß man seine Häßlichkeit und erkannte, daß man es mit einem guten und traurigen Menschen zu thun hatte. Murad antwortete auf den Gruß des Zwerges mit großer Höflichkeit und ließ sich bereitwillig in eine Unterhaltung mit ihm ein. Im Verlauf derselben sagte er, es wäre seine Absicht, im Laufe des Nachmittags wiederzukommen und bis gegen Sonnenuntergang zu fischen.

„So werden wir uns wohl in einigen Stunden wieder treffen,“ antwortete Ali Bey, und damit trennten sich die beiden. Ein jeder nahm eine freundliche Erinnerung an den andern mit auf den Weg.

Ali Bey begab sich vom Seraï-burnu zu seinem Bruder Nassuch Haga, dessen Mahl er teilte. Nach dem Essen sagte Ali: „Ich habe auf der Seraïspitze einen jungen Fischer kennengelernt, über den Du mir Auskunft verschaffen sollst.“ Er beschrieb darauf Murad, dessen Aussehen und Wesen sich seinem Gedächtnis eingeprägt hatten.

Nassuch Haga lauschte ehrerbietig, bis der ältere Bruder zu Ende gesprochen hatte, dann sagte er: „Es trifft sich so, daß ich Euch die Auskunft, die Ihr verlangt, sogleich geben kann. Hättet Ihr von einem Fischer gesprochen, der seine Netze bei Topané oder Sirkédschi auswirft, so hätte ich Euch bitten müssen, mir einige Tage Zeit zu geben, um Erkundigungen über ihn einzuziehen; aber da es meine Pflicht ist, jedermann zu kennen, der sich in der Nähe des kaiserlichen Palastes zu schaffen macht, so kann ich Euch sogleich die Lebensgeschichte des jungen Fischers erzählen, nach dem Ihr fragt. – Er ist in Stambul geboren und führt den türkischen Namen Murad, aber er ist fremder Abkunft, der Sohn Timbooks, des vor zwanzig Jahren vom Throne gestoßenen und aus seiner Heimat verbannten Chans von Georgien. Timbook besitzt einiges Vermögen und hat einen Konak in der Nähe der Hagia Sofia gekauft, den er, seitdem er in Stambul weilt, bewohnt. Da nach langer und sorgfältiger Beobachtung seiner Person festgestellt worden ist, daß er keinerlei politische Verbindungen unterhält oder sucht, vielmehr ein ruhiges, zurückgezogenes Leben führt, so wird er allseitig mit der Ehrerbietung behandelt, die ein fremder Fürst, der die türkische Gastfreundschaft nicht mißbraucht, beanspruchen darf. Dies ist auch der Grund, weshalb ich Murad, den einzigen Sohn Timbooks, nicht in seinem Vergnügen störe, an der Seraïspitze zu fischen. Eigentlich soll sich, außer den Fahrzeugen des Palastes, kein Boot dort aufhalten; aber der Pascha, mein hoher Vorgesetzter, hat sich auf meinen Vortrag damit einverstanden erklärt, daß zu Gunsten des jungen Fürsten eine Ausnahme gemacht werde. – Dieser scheint übrigens nicht einmal zu wissen, daß er hoher Abkunft ist – sein Vater wird es ihm verheimlicht haben, um ihn nicht in gefährliche Unternehmen zu verwickeln und führt ein so ehrenhaftes, harmloses Leben, daß ich schon seit Monaten es aufgegeben habe, ihn überwachen zu lassen. Doch kann ich dies sogleich wieder anordnen, falls Ihr, Bey, Wert darauf legen solltet, Näheres über ihn in Erfahrung zu bringen.“

„Es ist mein Wunsch, daß Murad in keiner Weise behelligt werde,“ antwortete Ali; „ich finde Gefallen an dem jungen Mann.“

„Es wird geschehen, wie Ihr befehlt, Bey.“

Im Laufe des Nachmittags begab sich Ali wieder nach der Seraïspitze, wo er Murad bereits bei der Arbeit fand. Er selbst setzte sich am Strande nieder und schaute trübselig auf die See. Er grämte sich nicht darüber, eine einflußreiche Stellung verlören zu haben; was an seinem Herzen nagte, war die Gleichgültigkeit des Sultans, der ihn wegen einer verzeihlichen Leichtfertigkeit zum Tode verurteilt und, nachdem er ihn begnadigt, ohne einen Schatten von Bedauern aus seiner Nähe verbannt hatte. Und doch war Ali dem Großherrn jahrelang ein treuer Diener gewesen und er liebte ihn! Aber das hatte er niemand zeigen können, und der Sultan wußte es nicht.

Ali Bey und Murad hatten sich durch eine Handbewegung begrüßt. Seitdem hatte der junge Fischer den Zwerg von Zeit zu Zeit beobachtet und dessen Trübsinn bemerkt. Nun trieb er sein leichtes Boot dem Ufer zu, und als er wenige Schritte vor Ali angelangt war, sagte er: „Auf dem Wasser weht eine erfrischende Brise. Wenn Ihr mit meiner Gesellschaft fürlieb nehmen wollt, so bitte ich Euch, in meinen Kaïk zu steigen.“

Ali Bey folgte der Einladung, und auf dem Meere, während der langen Pausen zwischen dem Auswerfen und dem Einziehen des Netzes, ließ er sich in eine Unterredung mit Murad ein, die alsbald eine vertrauliche wurde. Doch erkundigte sich Ali Bey nicht nach Murads Verhältnissen, noch ließ er durchblicken, daß er bereits vieles davon kenne; er erzählte vielmehr, ohne auf Einzelheiten einzugehen, von seiner eigenen Vergangenheit: daß er den Hof kenne und während einer Reihe von Jahren in der Gunst des [215] Sultans eine gewisse Stellung eingenommen, die er durch einen von ihm selbst begangenen Fehler eingebüßt habe.

„Wenn der Wechsel in Euerm Schicksal Euch betrübt, so muß auch ich ihn bedauern,“ sagte Murad; „an Eurer Stelle würde ich aber, so glaube ich, froh sein, meine Freiheit wieder gewonnen zu haben, denn ich möchte, außer von meinem Herrn Vater, von niemand abhängig sein.“

„Dein Leben kann sich so gestalten, daß Dir Abhängigkeit auch von einer andern Person als von Deinem Herrn Vater teuer wird.“

„Ich verstehe Euch nicht.“

„Wenn Du Dich vermähltest und Deine Gemahlin lieb gewönnest, so würdest Du in einer gewissen Abhängigkeit von ihr leben müssen.“

„Ich würde ihr Herr sein, und wenn ich das nicht bleiben könnte, so würde ich mich lieber von ihr trennen.“

„Auch wenn sie Dir sehr teuer wäre?“

„Auch wenn sie mir sehr teuer wäre!“

„Dann würdest Du in meine Lage kommen, frei zu sein, ohne Deiner Freiheit froh zu werden.“

„Die Traurigkeit des Freien steht mir höher als die Zufriedenheit des Sklaven.“

„Er ist fürwahr ein Fürstensohn,“ sagte sich Ali, aber er lenkte die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand.

Die Sonne neigte sich dem Abend zu. Wie eine feine Decke aus durchsichtigem dunkeln Purpur lagerte sich das Licht über die schwarzblauen Wasser. Murad hatte sein Netz in das Boot gezogen und zusammengelegt. Der Zwerg saß am Steuerruder und beobachtete das stille gute Arbeiten des schönen, ernsten jungen Mannes. Jetzt zog dieser einen flachen Korb aus feinem Weidengeflecht hervor, den er zunächst mit frischen Blättern und grünem Gras bedeckte und auf den er sodann in gefälliger Anordnung etwa ein Dutzend der schönsten Fische ausbreitete, die er im Laufe des Nachmittags gefangen hatte. Als er mit der zierlichen Arbeit fertig war, hob er den Kopf, und Ali Bey freundlich anblickend, sagte er: „Ihr fragt mich nicht, für wen diese Fische bestimmt sind?“

„Die Fische sind Dein Eigentum und dasselbe gilt von dem, was Du mit ihnen vorhast,“ antwortete Ali Bey.

„Von den Fischen werde ich später, mit Eurer Erlaubnis, einige nach Eurer Wohnung tragen; von meinem Vorhaben aber spreche ich gern mit Euch, schon weil Ihr mir vielleicht einige Aufklärung geben könnt, die ich allein, bei meinem Mangel an Erfahrung, nicht finden kann.“ – Darauf erzählte Murad alles, was auf sein Zusammentreffen mit der Sklavin Bezug hatte.

Als Murad geendet hatte, sagte Ali Bey: „Ich möchte Dir raten, den Verkehr mit jener Sklavin abzubrechen.“

„Dazu sehe ich keinen Grund.“

„Glaube mir, dem Aelteren und Erfahreneren; der Verkehr mit dem Harem ist für jedermann, der nicht zum Harem gehört, gefährlich.“

„Ich thue nichts Unrechtes. Wenn ich alle Gefahren des Lebens fürchten wollte, so würde ich nie zur Ruhe kommen.“

„Möge Allah Dich behüten!“ sprach Ali Bey.

Als Murad bald darauf mit der Sklavin zusammentraf, sagte diese, nachdem sie den Korb mit den Fischen in Empfang genommen hatte: „Meine Freundin ist gekommen, um mit Dir zu sprechen. Sie steht hinter der Thür.“

„Ich wüßte nicht, was ich Eurer Freundin sagen könnte,“ antwortete Murad, den Ali Beys Ermahnungen nachdenklich gemacht hatten. „Es ist wohl besser, daß ich mich entferne.“

Da vernahm er eine sanfte Frauenstimme, dicht in seiner Nähe, ohne daß er jedoch die Sprecherin sehen konnte: „Ich bitte Euch, zu bleiben … Ich möchte einige Fragen an Euch richten … Wie alt seid Ihr?“

„Mein Vater sagte mir vor einigen Monaten, ich sei achtzehn Jahre alt geworden.“

„Dies sagte er ohne Zweifel, weil er daran dachte, Euch zu vermählen.“

„Das weiß ich nicht.“

„Möchtet Ihr Euch verheiraten?“

„Es ist Sache meines Vaters, das zu bestimmen. Ich habe noch nicht daran gedacht. Ich thue, was er befiehlt.“

„Wenn Ihr nun aber erführet, daß eine vornehme Dame, eine Prinzessin vielleicht, Euch zum Gemahl auserkoren hätte, würdet Ihr derselben nicht bereitwillig folgen?“

„Es ist undenkbar, daß einer Prinzessin Wahl auf mich fallen sollte.“

„Aber wenn dem so wäre?“

„Dann würde ich meinen Vater zu bewegen suchen, auf die Ehre zu verzichten, Schwiegervater einer Prinzessin zu werden.“

„Warum?“

„Weil ich Herr in meinem Harem sein will.“

„Das würdet Ihr sein.“

„Das weiß ich nicht. Ich habe gehört, daß der Gemahl einer Prinzessin nicht selten von der, die ihn verehren und ihm gehorsam sein sollte, hochmütig und herablassend behandelt wird. Sie würde mich vielleicht daran erinnern, daß ich vor meiner Verheiratung ein armer Mann war, daß ich ihrer nicht würdig wäre. Das könnte ich nicht ertragen.“

Die Stimme schwieg einige Zeit. Dann sagte sie: „Wenn eine Prinzessin Euch zum Gemahl auserwählte, so würde sie dies thun, weil sie Euch liebte. Wenn sie Euch aber liebte, so würde sie wohl achthaben, Euch nie zu kränken.“

Darauf gab Murad leise lachend zurück: „Ich glaube nicht, daß ich in die Lage kommen werde, die Hand einer Prinzessin auszuschlagen oder anzunehmen, und ich brauche darüber nicht nachzudenken … Ist es Euer Wunsch, daß ich morgen wieder einige Fische hierher bringe?“

„Darum bitte ich Euch,“ sagte die Stimme, die entmutigt und traurig klang, und dann entfernte sich Murad. Die Unterhaltung mit der Unsichtbaren erschien ihm als der Zeitvertreib einer müßigen Haremsdame. Er legte derselben keine Bedeutung bei und sprach darüber am nächsten Tage ganz unbefangen mit Ali.

Murads Besuche an der Haremspforte dauerten ununterbrochen fort. Er traf fortan nur noch mit der ihm bekannten Sklavin zusammen; aber einmal glaubte er in der schmalen Spalte zwischen den Thürangeln und der Mauer etwas Weißes zu erblicken, den Schleier einer Frau, die ihn beobachtete. Er gab jedoch nicht zu erkennen, daß er dies bemerkt hatte, und wechselte wie gewöhnlich einige unbefangene Worte mit der Sklavin, die ihm die Fische abnahm.

(Fortsetzung folgt.)




Nansens und Andrées Nordpolunternehmen.


Mit tausend Schrecken hat die Natur die Pole der Erde umringt. Frost und Hunger, Eisberge und heulende Schneestürme, eine monatelange Nacht bilden um die rätselhaften Gebiete einen Bannkreis, wie er in Märchendichtungen grausiger und unüberwindlicher kaum dargestellt werden könnte. Und doch ziehen seit Jahrhunderten Ritter des Geistes in dieses verzauberte Eisland, suchen den Bannkreis zu durchbrechen und schlagen ihr Leben in die Schanze, um die Wissenschaft mit neuen Entdeckungen zu bereichern. Wie groß ist nicht die Reihe der mutigen Polarfahrer, wie viele von ihnen haben nicht in den fernen Eiswüsten den Heldentod für die Wissenschaft gefunden! Wie oft haben sich Stimmen erhoben, man solle doch ablassen von dem fruchtlosen Beginnen, die Fahne des Sieges auf den Polen aufzupflanzen! Und doch erhebt sich stets von neuem der trotzige verwegene Mut, der die Menschen alle Gefahren gering achten läßt und sie zu Beherrschern der Länder und Meere gemacht hat. Jahraus, jahrein rüstet man neue Expeditionen nach den Eisgefilden in Nord und Süd und nicht eher wird das kühne Menschengeschlecht ruhen, als bis es siegreich seinen Fuß auf die geheimnisvollen Pole gesetzt hat. Ja, zum Teil scheint schon dieses Ziel erreicht zu sein. Aus dem fernen Sibirien drang vor wenigen Wochen die Kunde durch alle civilisierten Länder, dem kühnen Polarforscher Fridthjof Nansen sei es gelungen, den Nordpol zu entdecken, und er sei auf der Heimfahrt begriffen! Man darf in die Wahrheit dieser Nachricht sehr berechtigte Zweifel setzen, und doch erregt sie das allgemeinste Interesse; ruft sie uns doch in Erinnerung zurück, daß vor Jahr und Tag eine Schar kühner Männer im Dienste der Wissenschaft in das rauhe Eismeer hinausgesegelt und hinter dessen düstern Nebeln verschwunden war. Mit Glück- und Segenswünschen begleitete man damals die polwärts ziehenden Seefahrer, denn ihr Unternehmen war einzig in seiner Art. Ihr Führer, Fridthjof Nansen, beseelt von dem Wagemut der alten Wikinger, hatte dem Eismeer das Geheimnis seiner Strömungen abgelauscht und darauf einen Plan gegründet, den Nordpol zu erreichen. An die Ostküste Grönlands spült das Eismeer allerlei Gegenstände. Darunter hatte man Dinge gefunden, [216] die von den Ländern um die Beringstraße und von den neusibirischen Inseln stammen mußten. An die Ostküste Grönlands wurden Trümmer des im Jahre 1881 in neusibirischem Eise zu Grunde gegangenen Expeditionsschiffes „Jeanette“, Wurfhölzer der Eingeborenen von Alaska, Auswürflinge nordamerikanischer Vulkane herangeschwemmt – aus diesen und anderen Beobachtungen schloß Nansen, daß es eine Meeresströmung geben müsse, die von der Beringstraße nach den neusibirischen Inseln und von da quer über den Nordpol zu Grönlands Gestaden führt. Dieser Strömung wollte er nun sein Schiff anvertrauen, sich von ihr von Neusibirien treiben lassen und hoffte, daß er mit ihr den Nordpol erreichen und dann an die Ostküste Grönlands gelangen würde. Er war darauf gefaßt, daß sein Schiff im Winter festfrieren würde, aber das beunruhigte ihn nicht; als Passagier der Eisscholle wollte er ja gerade das so viel umworbene Ziel erreichen.

Fridthjof Nansen.
Nach einer Aufnahme von L. Szacinski in Christiania.

Nansen hatte sich bereits, bevor er mit diesem Plane hervortrat, einen hohen Ruf als Polarforscher erworben. Geboren am 10. Oktober 1861 in der Nähe von Christiania, studierte er in den Jahren 1880 und 1881, wobei er sich eifrig allerlei Leibesübungen, namentlich dem Schneeschuhlaufen, widmete. Im Sommer 1882 machte er seine erste Reise ins Eismeer mit dem Seehundsfänger „Wiking“. Eine Zeit lang war er darauf Konservator am Zoologischen Museum in Bergen und vollbrachte im Jahre 1888 eine Großthat als Polarforscher: in Begleitung von nur fünf Mann durchquerte er auf Schneeschuhen Grönland. In etwa einem Monat legte er über die öden Flächen des vereisten Kontinents gegen 500 km zurück, ertrug dabei Fröste von –50° C und erreichte Höhen von 3000 m über dem Meeresspiegel!

Andrées Polarballon.

Kein Wunder, daß einem so entschlossenen und bewährten Manne Mittel zu einer Nordpolfahrt bereitwilligst zur Verfügung gestellt wurden! Nansen war bald in der Lage, ein vorzügliches Expeditionsschiff zu bauen, das er „Fram“, d. h, „Vorwärts“, taufte. Dieses Polarschiff ist nicht groß, denn bei 40 m Länge hat es 11 m Breite, und seine Besatzung besteht nur aus 12 Mann. Es ist ein dreimastiger Schooner mit einer Maschine von 160 Pferdekräften; es sollte aber nur 2 Monate nach der letzten Kohleneinnahme unter Dampf sein und sonst die Segel benutzen. Höchst eigenartig ist die Konstruktion des „Fram“. Um den gewaltigen Eispressungen des Polarmeeres stand zu halten, ist er möglichst stark und aus den besten Hölzern gebaut. Allein die 12 Zoll dicke „Eishaut“ kostete gegen 22000 Mark. Dabei hat das Schiff möglichst wenig vorspringende Ecken und Kanten. Glatt wie ein Aal soll es zwischen den Eisschollen hindurchschlüpfen. Wenn sich aber dennoch die Eismassen um das Schiff lagern und es in seinen Umarmungen festhalten würden, soll es dem mächtigen Drucke nach oben entweichen können. Seine Seiten sind nämlich nach unten zu abgeschrägt, so daß es von den zusammendrängendem Eismassen gehoben wird, und seine Unterseite ist so flach, daß es, auf eine Scholle gedrängt, nicht kentert.

Auch sonst ist die Ausrüstuug mustergültig. Die Außenseiten der Mannschaftskojen, des Schiffsaals und der Kajüte sind mit verschiedenen Lagen von Filz, Kork, Tannenbrettern, Linoleum, Rentierhaardecken etc. verwahrt. Zur Erwärmung und zum Kochen wurden außer Kohlen Spiritus und Petroleum mitgenommen. Ja selbst elektrische Lampen wurden in das Polarmeer geschafft. Eine Windmühle, die auf dem Schiffe aufgestellt werden kann, liefert die Kraft zur Bewegung einer Dynamomaschine!

Doch was sind Pläne, was sind Entwürfe! Expeditionen verlaufen fast niemals programmmäßig, am allerwenigsten Nordpolexpeditionen. Fast scheint es, daß auch Nansen diese Kreuzung seiner Pläne erleben mußte. Am 20. August 1893 wurde der „Fram“ zuletzt im Karischen Meer gesehen. Er war mit Proviant auf fünf bis sechs Jahre versehen und sollte nach Jahr und Tag an der Ostküste Grönlands wieder auftauchen. Nun verbreitet, wie schon erwähnt, der sibirische Kaufmann Kuchnarow die Nachricht, daß Nansen Land am Nordpol entdeckt habe und zurückkehre. Bestätigt sich die Nachricht, dann haben Unglücksfälle oder unüberwindliche Schwierigkeiten die Polarfahrer genötigt, ihren Plan zu ändern und über Sibirien zurückzureisen. –

Gleichviel aber, ob es Nansen gelungen ist, seinen Fuß auf den Nordpol zu setzen, oder ob er, ohne den eisigen Bannkreis durchbrochen zu haben, heimkehrt, es rüsten sich andere, auf einem ganz neuen und ungewöhnlichen Wege nach dem Nordpol zu ziehen. Nicht auf Schiff und Schlitten setzen sie ihre Hoffnungen; im Luftballon durch die Lüfte wollen sie nach dem geheimnisvollen unerforschten Punkt der Erde fliegen! Der Gedanke, den Nordpol mit Hilfe des Luftballons zu erreichen, ist nicht neu. Schon vor Jahren (vgl. Jahrg. 1883, S. 346) hat die „Gartenlaube“ über solche Pläne ihren Lesern berichtet. Nunmehr soll aber der abenteuerliche Entschluß, als „Passagiere des Windes“ über den Nordpol hinwegzufliegen, von drei kühnen Schweden in die That umgesetzt werden. Der schwedische Ingenieur Andrée ist der Leiter dieses verwegenen Unternehmens und ihm wollen sich als Gefährten der Meteorologe Nils Ekholm und ein dritter noch ungenannter Mann anschließen. Andrée läßt, gestützt auf die neuesten Errungenschaften der Ballontechnik, einen Ballon aus möglichst undurchlässigem Stoff bauen, der bei 20,5 m Durchmesser etwa 4500 cbm Gas fassen soll. Um gegen Feuchtigkeit und vor Gasverlust geschützt zu werden, ist der Ballon oben mit einer Kappe von ölgetränktem Zeug und in seinem unteren Teile mit einem Gürtel versehen, wie dies auf unserer Abbildung angedeutet ist. Unter der Gondel befindet sich die Vorratskammer der Expedttion, und eine Strickleiter führt zu dem automatischen Ventil. Der Ballon wird 2100 kg Ballast mitführen, der hauptsächlich aus Nahrungsmitteln besteht. Der Proviant soll für 4½ Monate reichen. Auch Segel werden an dem Ballon angebracht, um eventuell eine Ablenkung des Kurses von der Windrichtung zu ermöglichen.

Nansens Polarschiff "Fram".

Das Luftschiff soll auf Spitzbergen gefüllt werden und dann gegen den Nordpol aufsteigen. Andrée will sich möglichst in einer Höhe von 200 bis 300 m über dem Meere halten und die Fahrgeschwindigkeit durch ausgeworfene Schlepptaue mäßigen. Jedes dieser Taue erhält am unteren Ende schwächere Stellen, damit, falls der Ballon bei schneller Bewegung

[217]

Photographie im Verlag von Braun, Clément & Cie. in Dornach.
Vor dem Stadtthor.
Nach einem Gemälde von A. Moreau.

[218] irgendwo hängen bleibt, die Taue an diesen Stellen und nicht oben am Tragringe reißen.

Ob nun eine Ballonfahrt nach dem Nordpol Aussicht auf Erfolg überhaupt haben kann, darüber sind die Meinungen der Fachleute geteilt. Ist es wirklich möglich, einen Ballon mit so geringen Gasverlusten zu bauen, daß er eine Fahrt von 30 Tagen aushalten würde, was Andrée erstrebt, dann würde er wohl die in Frage kommenden Strecken zurücklegen können. Man nimmt an, daß er am Schlepptau mit einer Geschwindigkeit von 13,68 km in der Stunde fortfliegen würde. In 30 Tagen könnte er also 9849,6 km zurücklegen. Andrée meint aber, daß er nur 3700 km zu fliegen brauchte, um, nachdem er den Nordpol passiert, wieder bewohnte Länder zu erreichen. Selbstverständlich sind das nur bloße Annahmen, da wir über die Windverhältnisse am Nordpol nicht unterrichtet sind. Es ist auch fraglich, ob die Luftschiffer immer in der geplanten Höhe von 200 bis 300 m werden bleiben können; sie können ja auf Landmassen stoßen, die sich 1000 m und mehr über den Meeresspiegel erheben, dann wird ihr Ballon entsprechend steigen müssen, was das Opfern des Ballastes und Gasverluste zur Folge haben wird. Dadurch würde aber die Tauglichkeit des Ballons zur längeren Fahrt wesentlich beeinträchtigt werden.

Schließlich muß noch die Landung in Betracht gezogen werden. Sie ist das schwierigste Stück jeder Ballonfahrt. Andrée will Schlitten und Boot mitführen, um, falls er zur Landung vorzeitig gezwungen würde, auf diesen in bewohnte Stätten wandern zu können. Wird es ihm nun bei den schwierigen Terrainverhältnissen des zerklüfteten Polareises möglich sein, den Schlitten oder über offenem Meerwasser gar das Boot klar zu machen? Man kann mit vollem Rechte daran zweifeln.

Die Luftfahrt über den Nordpol hinweg bleibt darum auf alle Fälle ein Wagstück im vollsten Sinne des Wortes. Es giebt Fachleute, die das Beginnen einfach als einen Selbstmord bezeichnen und von ihm abraten, da das Ergebnis einer solchen Fahrt kein besonders großes sein kann. Die Nebel der Polargegend werden zumeist den Luftfahrern den Ausblick verhüllen und bei der Schnelligkeit der Fortbewegung werden auch genauere Beobachtungen nicht gut möglich sein. Anderseits wird aber betont, daß schon ein solcher Rekognoscierungsflug die wertvollsten Aufschlüsse über Verteilung von Land und Wasser am Nordpol geben könnte.

Im Grunde genommen setzt jeder, der eine Erforschungsreise in die Polarmeere antritt, sein Leben aufs Spiel. Schiffer wie Schlittenfahrer sind ebenso auf das Glück angewiesen wie der Luftschiffer. Der Passagier des Windes umgeht aber viele Gefahren, die den an der Erde und am Eise klebenden Polarfahrern drohen. Er braucht auch nicht so lange zu ringen wie diese. Dauerten die Entscheidungen über das Schicksal der bisherigen Polarexpeditionen lange, langsam dahinschleichende Jahre, so wird über das Schicksal der Passagiere des Windes in wenigen Wochen, wenn nicht Tagen von den Mächten der Eiswelt entschieden werden.

Ein Wagnis ist dieser kühne Flug nach dem Nordpol – aber doch ein Wagnis im Dienst der Wissenschaft! Es steht jedem frei, für diese hohen Ziele sein Leben in die Schanze zu schlagen, und wenn der Polarballon wirklich von Spitzbergens Boden sich über die Einöden des Eismeeres erheben sollte, dann mögen die Passagiere des Windes sicher sein, daß alle Herzen ihnen den günstigsten Wind und glückliche Heimkehr wünschen. C. Falkenhorst.     


Im Banne des Lichts.

Von M. Hagenau.


Seit uralten Zeiten wird die Sonne als die Quelle alles Lebens auf Erden anerkannt. In ihren Strahlen sind geheimnisvolle Kräfte vereint, die von der Wissenschaft als Wärme, Licht und chemische Kraft bezeichnet werden. Ein Sonnenschein, der in das Zimmer dringt und auf den zitternden Luftstäubchen erglitzert, bietet eine ganze Anzahl von Mysterien, an deren Entschleierung der menschliche Geist unablässig arbeitet. Wie vieles ist uns aber bis heute im Wesen und in den Wirkungen des Sonnenlichtes unerklärlich! Zweifellos bestehen die wichtigsten Beziehungen zwischen dem Lichte und dem Leben – aber wir kennen nur ihre Gesamtsumme; die Einzelheiten der verwickelten Vorgänge entziehen sich unseren Blicken. Was wir jedoch bereits mit bloßen Augen sehen können, das ist auffallend genug. Wir wissen, daß die Pflanzenwelt völlig unter der Herrschaft des Lichtes steht. Wir sehen, daß die Sonne auf das Wachstum der Pflanzen eine richtende Kraft ausübt. Werden gerade Sproßachsen oder Wurzeln wachsender Pflanzenteile nur von einer Seite allein oder von der einen stärker als von der anderen beleuchtet, so krümmen sie sich so lange, bis sie die Richtung des auffallenden Lichtstrahles angenommen haben. Wir nennen diesen Vorgang Heliotropismus und diejenigen Organe der Pflanzen, welche sich dem Lichte zuwenden, positiv heliotropisch, diejenigen, die sich dagegen von dem Lichte abwenden, negativ heliotropisch.

Diese Erscheinungen vollziehen sich nach gewissen Gesetzen. Die Richtung der Lichtstrahlen ist zunächst für diese Orientierungsbewegungen der Pflanzen bestimmend, ferner werden dieselben nur oder in höherem Maße durch die stärker brechbaren, also blauen und violetten Lichtstrahlen hervorgerufen.

Giebt es nun nicht ähnliche Beziehungen zum Lichte in der Tierwelt? Gewiß, und jeder von uns hat sie gesehen. Fliegt nicht die Motte ins Licht? Werden nicht die Ameisen durch die Sonnenstrahlen, die ihr Nest treffen, zum Hochzeitsfluge hervorgelockt? Ziehen nicht sogar wir selbst helle, sonnige Wohnungen dunkeln Räumen vor? Erheitert uns nicht der Sonnenschein, während die Finsternis uns niederdrückt? Gewiß steht auch die Tierwelt und mit ihr der Mensch im Banne des Lichts, nur daß die Wirkung desselben bald deutlicher, bald schwächer zu Tage tritt. Es giebt Forscher, welche von der seelischen Stimmung, die das Licht in uns erzeugt, und von der Thatsache, daß es Tiere giebt, die ohne Licht leben, ausgehen und die Tierwelt in eine lichtliebende und eine lichtscheue teilen. Sie haben es leicht, viele der rätselhaften Erscheinungen auf ihre Weise zu erklären. Die Motte fliegt nach ihnen ins Licht, weil ihr der Gegenstand neu ist, und sie stirbt den Flammentod – aus Neugierde. Solche Uebertragung menschlicher Gefühle und Geistesregungen auf Motten- und Mückenseelen ist mindestens gewagt. Vielleicht ist die Motte bei ihrem Todesfluge gar nicht neugierig, sondern folgt einem Naturgesetz, das sie zwingt, diese Flugbahn zu beschreiben, wie die heliotropische Pflanze sich in der Richtung der sie treffenden Lichtstrahlen krümmt. Vielleicht! Es giebt auch einen Heliotropismus der Tiere, untersuchen wir ihn und sehen wir zu, ob seine Erscheinungen nach einem Gesetz verlaufen!

Die Männer der Wissenschaft haben sich bis jetzt wenig mit diesen Vorgängen befaßt. In älteren Werken finden sich nur einige wenige gute Beobachtungen verstreut. Die besten hat ohne Zweifel der berühmte Erforscher der Polypen Trembley gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts angestellt. Er brachte das Kunststück fertig, Wasserflöhe durch eine bewegte Kerze im Kreise herumzutreiben. „Ich observierte,“ schreibt er in seinen „Abhandlungen“, „Polypen bei dem Lichte eines Wachsstockes, denen ich den Tag über viele Wasserflöhe gegeben hatte; des Abends waren davon noch einige im Glase übrig, welche die Polypen nicht verzehrt hatten. Ich merkte, daß sie sich größtenteils nach der Seite des Wachsstockes gezogen hatten. Ich veränderte den Platz und sie auch. Sie begaben sich wieder dahin, wo ich den Wachsstock hingesetzt hatte. Da ich nun selbigen viele Male auf eine andere Stelle gesetzt und gesehen hatte, daß sich ihm die Wasserflöhe allezeit wieder näherten, so führte ich den Wachsstock langsam um das Glas herum, ohne anzuhalten. Sie folgten und machten solchergestalt einige Touren in selbigem herum. Ich habe auch mehreremal Gelegenheit gehabt, diesen Versuch zu wiederholen.“

Ferner beobachtete Trembley, daß sich die Polypen an die „hellste“ Seite des Glases begaben; er setzte ein mit Polypen gefülltes Glas in ein Mufffutteral, an dessen Längsseite sich eine Oeffnung befand, und konnte beobachten, daß die Polypen sich nach der Glasseite hinzogen, die der beleuchteten Oeffnung gegenüberlag, dergestalt, daß sie zusammen die Figur eines Dachsparren bildeten.

Spätere Forscher, die sich mit der Frage beschäftigten, prüften die Tiere auf ihr Verhalten gegen gewisse Lichtwirkungen ohne besonderes System, so daß wir diese Arbeiten hier nicht zu erwähnen brauchen. Einen bedeutenden Fortschritt brachten erst die Untersuchungen an Infusorien, welche von einigen Forschern im Laufe des letzten Jahrzehnts gemacht wurden und aus welchen hervorging, daß diese Tierchen ihre Bewegungen nach den Lichtstrahlen einrichten. Die eingehendsten und grundlegenden Versuche verdanken wir aber Dr. J. Loeb. Das Ergebnis seiner Arbeiten hat dieser neuerdings in dem Werke „Der Heliotropismus der Tiere“ (Würzburg, Verlag von Georg Hertz) veröffentlicht, und wir erfahren daraus, daß diese Erscheinungen im Tierreiche völlig mit dem Heliotropismus der Pflanzen übereinstimmen. – –

Die Gesetze des tierischen Heliotropismus lassen sich sicher an [219] den jungen Raupen des Weißdornspinners (Porthesia chrysorrhoea) nachweisen, die im Frühling und im Sommer leicht zu beschaffen sind. Für unsere Zwecke können wir nur junge Räupchen, die eben aus ihrem Gespinst hervorgekrochen sind und noch nicht gefressen haben, brauchen. Wir müssen sie im nüchternen Zustande der Wirkung des Lichtes aussetzen.

Etwa hundert Stück dieser Raupen legen wir in ein Reagenzglas oder Probierröhrchen, wie es die Chemiker brauchen, und schließen es mit einem Stöpsel zu. Damit begeben wir uns in ein Zimmer, das nur ein Fenster hat und dessen Temperatur mindestens über 12 bis 15° C. beträgt. Den Tisch überziehen wir mit schwarzem matt glänzenden Papier und legen das Probierröhrchen so darauf, daß die Längsachse desselben senkrecht gegen die Fensterebene gerichtet ist. Die Tiere, die bis dahin über das ganze Glas zerstreut waren, fangen an, sich nach einer und derselben Richtung zu bewegen. Sie kriechen an die obere Seite des Glases, richten den Kopf gegen das Fenster und kriechen, die Bauchseite und den Kopf der Lichtquelle zugewendet, unter fortwährenden pendelartigen Seitwärtsbewegungen des Kopfes in gerader Richtung an die Fensterseite des Probierröhrchens. Der Vorgang erfordert je nach der Temperatur und dem Zustande der überwinterten Tiere etwa eine bis fünf Minuten. Alle ohne Ausnahme (wenn sie nicht etwa krank sind) begeben sich in der Richtung der Lichtstrahlen an die Fensterseite des Glases. Drehen wir jetzt das Glas um 180° so, daß das früher dem Fenster zugewandte Ende desselben jetzt von diesem abgewendet ist, so kriechen die Raupen in der oben beschriebenen Weise wieder dem Fenster zu und bleiben an diesem Ende des Probierröhrchens festsitzen.

Stellen wir die Längsachse des Glases parallel mit der Fensterebene, so verteilen sich die Raupen gleichmäßig über das ganze Glas, und zwar derart, daß sie wieder die Bauchseite dem Fenster zukehren. Legen wir aber das Kölbchen so, daß seine Längsachse einen auch nur kleinen Winkel mit der Fensterebene bildet, so wandern die Raupen nach dem Ende des Glases, welches dem Fenster am nächsten ist.

Das Licht wirkt auf sie dauernd als Reizursache. Ist die Stöpselseite vom Fenster abgekehrt, so können wir das Röhrchen öffnen; keine Raupe wird ihren Platz verlassen, um aus dem Käfig zu entweichen. Man kann die Raupen auf diese Weise tagelang gefangen halten. Ist aber die dem Fenster zugekehrte Seite offen, so kriechen natürlich binnen weniger Minuten alle Raupen heraus.

Diese Heliotropischen Erscheinungen vollziehen sich in direktem Sonnenlichte in derselben Weise – nur wesentlich rascher. Künstliche Lichtquellen, welche blaue und violette Strahlen enthalten, wirken in gleicher Weise. Die Raupe wird von der Petroleumflamme ebenso angezogen wie die Motte, aber ihre Fortbewegung wird nicht zu einem Todesmarsche; da sie langsam kriecht, so hat sie Zeit, von der wachsenden Hitze veranlaßt, umzukehren, ehe sie die Zone der tödlichen Temperatur erreicht hat.

Durch einfache Versuche mit farbigen Gläsern ist auch leicht der Nachweis zu liefern, daß nicht die roten und gelben, sondern vorwiegend die blauen und violetten Strahlen, ebenso wie bei den Pflanzen, richtunggebend bei den Tieren wirken.

Aber auch in anderer Beziehung sind diese Raupen den Pflanzen in ihrem Verhalten ähnlich. Außer dem Heliotropismus giebt es auch einen Geotropismus der Pflanzen. Die Wurzel ist positiv geotropisch, d. h. sie folgt der Schwere, der Anziehungskraft der Erde; andere Teile der Pflanzen sind negativ geotropisch, d. h. sie wachsen in einer der Schwerkraft entgegengesetzten Richtung. Die Raupen des Weißdornspinners sind negativ geotropisch, d. h. sie haben das Bestreben, emporzusteigen, und wir sehen sie stets an der oberen Seite des Glases. So sind ihre Bewegungen durch zwei Naturkräfte bedingt. Bei genügender Wärme (etwa 20 bis 22° C.) und bei bestimmtem Ausschluß der Lichtwirkung können wir sie durch Umdrehen des Glases zwingen, den Marsch nach oben zu beginnen.

Bei diesen Raupen können wir noch eine andere Erscheinung kennenlernen: die Kontaktreizbarkeit. Wenn wir ihnen hohle und erhabene (konkave und konvexe) Gegenstände zum Niederlassen geben, so werden sie stets die konvexen Flächen wählen, während viele andere Insekten sich stets an konkaven Gegenständen niederlassen.

Diese drei Arten der Reizbarkeit kann man am leichtesten an Tieren darthun, die eben aus dem Neste, in dem sie überwintern, ausgeschlüpft und noch nüchtern sind. Sobald sie gefressen haben, nimmt ihre Reizbarkeit stetig ab und zur Zeit der Häutung sind sie gegen die Einwirkung des Lichtes oder der Schwerkraft völlig unempfindlich.

Diese so seltsamen Eigenschaften der Raupen sind für ihre Lebensweise bestimmend und nutzbringend. Sie überwintern in Gespinsten. Die Wärme weckt sie aus dem Winterschlaf. Der positive Heliotropismus und der negative Geotropismus zwingen sie, an den Sprossen bis zur Spitze aufwärts zu kriechen, und die Kontaktreizbarkeit hält sie an den kleinen konvexen Knospen fest. Das Tier ist bis zur Nahrungsquelle geleitet worden. Gewinnt es nicht den Anschein, als ob der geheimnisvolle „Instinkt“ sich in diesem Falle in die Wirkung verschiedener Naturkräfte, welche das Tier gebieterisch treiben, auflöste? Freilich erweckt in uns auch die neue Erklärung die Frage nach dem Warum? Trösten wir uns, da wir keine Antwort geben können, mit dem Bewußtsein, daß wir wieder einmal erst am Ausgangspunkt einer neuen Erforschungsbahn stehen!

Wir haben bis jetzt Tiere beobachtet, die positiv heliotropisch sind, vom Lichte angezogen werden. Es giebt aber auch Tiere, die negativ heliotropisch sind, sich vom Lichte abwenden.

Wir wählen, um auch diese Erscheinungen vorzuführen, ziemlich ausgewachsene Larven der blauen Schmeißfliege (Musca vomitoria); wie ekelhaft diese Geschöpfe sind, so interessant ist die Beobachtung ihres Verhaltens gegen das Licht. Wir wollen einen der Versuche mit Loebs eigenen Worten wiedergeben: „Ich setzte eine Partie von Tieren auf ein horizontales Brett, das ich in die Sonne stellte. Es war nachmittags vier Uhr, die Strahlen fielen schräg ein und ich blendete die von oben her durch das Fenster des Dunkelzimmers einfallenden Strahlen ab, indem ich den dicht schließenden Laden, soweit als thunlich, herunterließ. Die Tiere wurden sofort, als sie in die Sonne kamen, gerichtet, mit dem Kopf gegen die Zimmerseite, mit dem Hinterleib gegen das Fenster. Mit mathematischer Genauigkeit krochen so die Tiere in der Richtung der Strahlen. Wenn man durch einen Federhalter einen Schatten werfen ließ, so konnte man bemerken, daß die Tiere genau parallel mit dem Rande des Schattens sich gegen die Zimmerseite bewegten. Die richtende Kraft der Strahlen war so stark, daß die Tiere dicht am Rande des Schattens hinkrochen, ohne daß sie hineingelangten. Es war, als seien sie an den Lichtstrahl, der ihren Körper durchsetzte, aufgespießt.“

Daß nicht die Helligkeit, sondern die Richtung der Strahlen allein für die Bewegung maßgebend ist, beweist noch folgender Versuch: Wir nehmen einige der Larven und setzen sie in ein Probierröhrchen; dieses legen wir auf einen Tisch so, daß die Längsachse des Glases senkrecht zu der Fensterebene steht. Durch einen Schirm beschatten wir die dem Fenster zugekehrte Hälfte des Probierröhrchens, während wir auf die dem Zimmer zugekehrte Hälfte direktes Sonnenlicht fallen lassen. Beim Anfang des Versuches befinden sich die Larven in der beschatteten Hälfte. Man sollte meinen, daß diese negativ heliotropischen Tiere, die das Licht fliehen, in dem Schatten bleiben würden. Weit gefehlt! Die Richtung der Lichtstrahlen ist für sie die treibende Kraft. Sofort wandern die Larven aus dem beschatteten Teile an die Zimmerseite in das direkte Sonnenlicht und bleiben hier am äußersten Ende des Glases sitzen.

Doch genug dieser Beispiele! Es ist überhaupt nicht möglich, den reichhaltigen Stoff, den uns der tierische Heliotropismus bietet, in dem Rahmen eines Artikels auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln. Unser Zweck besteht darin, die Naturfreunde unter unseren zahlreichen Lesern auf diese wunderbaren Erscheinungen aufmerksam zu machen und ihnen das fesselnde Werk von Loeb zur fleißigen Beachtung zu empfehlen. Der Frühling naht – die Raupen werden aus ihren Nestern auskriechen, bunte Schmetterlinge werden auf den Wiesen gaukeln. Der Sammler wird hinausziehen in Flur und Feld – er findet Freude am Beobachten der Natur; ein Raupenhäuschen, in dem er die Verwandlung der Insekten beobachtet, fesselt ihn tagelang. Vielleicht wird er sich durch diesen Artikel angeregt finden, was da kriecht und fliegt noch von einem anderen Standpunkte zu betrachten, die Versuche, die wir hier berührt haben, zu wiederholen, neue zu ersinnen und so mit neuem Wissen seinen Geist zu bereichern.


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Blätter und Blüten.


Palmsonntag in den Abruzzen. (Zu dem Bilde S. 213.) „Sie nahmen Palmenzweige und gingen hinaus, ihm entgegen, und schrieen: Hosianna, gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Das sind die Worte des Textes, der am Palmsonntag in allen christlichen Kirchen der Welt laut wird, und die katholische fügt ihm noch ihre „Palmen“ hinzu, Zweige der Sahl- oder Palmweide, der am frühesten blühenden in Deutschland, wirkliche Palmwedel der Phoenix dactylifera, der Dattelpalme, in Palästina, Griechenland, Spanien und Italien, gebleicht und äußerst kunstvoll geflochten, aber an Stelle dieser auch Zweige der silberblättrigen Olive.

Der italienische Palmsonntagsjubel kommt unserem Christbaumjubel nahe. In den Abruzzen ziehen die Burschen in der Morgenfrühe freudig hinaus nach den Oelgärten, schlagen die wohlbelaubten Aeste aus den Wipfeln der Oliven und schleppen sie wie in Prozession vor das Portal der Pfarrkirche. Andere haben schöne „Palmen“ schon tags vorher bereitet, haben die feinsten Spitzen ausgeschnitten und um ein unbelaubtes Aestchen gebunden und das Kunstwerk durch buntes Papier, gemachte Rosen, flatternde Bänder und Flittergold vollendet.

Die Glocken läuten. Der Gottesdienst beginnt, und vor dem Altar steht es wie ein grüner Wald, den der Wind hin- und herbewegt. Die Bewegung wird lebhafter, die Stimmen erheben sich bei der heiligen Handlung der Palmenweihe, bei welcher die Zweige mit acqua santa besprengt und mit Weihrauch beräuchert werden. Dann eilt alles auf den rauhen Gebirgswegen nach Hause. Die geweihten „Palmen“ werden über die Thür, an den Spiegel, an die Krippen in den Ställen gesteckt: jedes Zweiglein bringt nach dem Glauben der Leute Glück und schützt vor Feuer.

Wer das Bedürfnis fühlt, mit dem schmollenden Liebchen oder dem grollenden Freunde Frieden zu schließen, schickt oder überbringt ihm die „Palme“. Dazu geht im Abruzzenland das Dialektsprüchlein:

     „Ecche la parma se vo’ fa’ la pace,
     Non è chiù tiempo da facce la guerra.“

(„Willst Frieden du, nimm hier die Palme an,
Der Krieg ist zwischen uns nun abgethan.“)

Die Mädchen benutzen die Palmsonntagspalme als Orakel. Sie werfen die Blätter auf die glühenden Kohlen und sprechen:

„Geweihte Palme,
Einmal im Jahr nur bist du uns gegeben,
Sag mir, ob ich das nächste werd’ erleben!“

Günstiges Zeichen ist’s, wenn dann die Blätter knisternd aufspringen.Woldemar Kaden.     

Geborgen. (Zu dem Bilde S. 204 und 205.) Von den schönen Seen, in denen sich das bayrische Alpenland spiegelt, ist der Chiemsee der größte; wenn der Sturm seine Wogen aufwühlt, kann seine Flut toben wie das Meer, und die Inseln, die er umhegt, machen auf den Besucher in hohem Grade den Eindruck völliger Weltentrücktheit. Mit Herrenwörth ist das freilich anders geworden, seit König Ludwig II. das stolze Prunkschloß dort errichten ließ und alljährlich im Sommer Tausende von Touristen mit dem Dampfer hinüberfahren, um seine Prachtgemächer anzustaunen. Besser hat Frauenwörth mit seiner alten Klosterkirche, dem lindenbeschatteten Wirtshaus und den niedrigen Fischerhäusern jenen idyllischen Charakter bewahrt, der von Scheffel und Stieler in Liedern gepriesen und von den besten Landschaftsmalern Münchens in stimmungsvollen Bildern verewigt worden ist. Von all diesen Meistern hat aber keiner so wie Carl Raupp die Poesie dieser Inselidylle ins Herz geschlossen, hat keiner so wie er sich in diese Welt eingelebt und dem Chiemsee wie dem Fischervölkchen, das an seinen Ufern und auf seinen Fluten sich regt, eine gleiche Fülle künstlerischer Motive entnommen. Die „Gartenlaube“ hat schon manches schöne Bild dieser Art ihren Lesern vorgeführt; auch unser heutiges zeigt im Hintergrunde die Kirche von Frauenwörth, und das junge Weib, das rüstigen Arms seinen Kahn dem Ufer zulenkt, ist eine Tochter der Insel.

„Geborgen“ hat der Künstler das Bild genannt: geborgen vor dem am Himmel drohenden Wetter wird in wenigen Minuten die teure Last sein, welche auf dem Haufen frisch gemähten Grases ruht, das schlafumfangene Zwillingspaar, das die Bäuerin mitnehmen mußte, als sie auf die Feldarbeit zur Krautinsel hinüberfuhr. Die zwischen Herren- und Frauenwörth gelegene kleinere und unbewohnte Insel, die diesen Namen führt, gehört mit ihren Feldern, Gärten und Wiesen den Fischern und Handwerkern, die auf Frauenwörth wohnen, zu eigen. Da die Männer tagsüber an die eigene Berufsarbeit gebunden sind, fällt die Feldarbeit auf der Krautinsel den Frauen zu. Fehlen ältere Kinder zur Hut der kleineren, dann müssen die Mütter von solchen diese mit sich hinübernehmen. Die süßen Zwillinge im Kahne der Bäuerin ahnen nichts von der drohenden Gefahr. Der Mutter aber fällt ein Stein vom Herzen, als sie noch vor Ausbruch des Gewitters mit fester Hand ihr Schiff zum Landen gebracht hat. Noch ist es still in der Luft, der See glatt und ruhig, die Insel selbst wird eben noch vom letzten Sonnenblick bestrahlt. Bald jedoch werden die Wogen sich übereinander türmen, durch den rauschenden Regen werden zuckende Blitze fahren, während die zarten Kleinen in sicherer Hut weiterschlummern, von Mutterliebe – geborgen! P.     

Wirtschaftliche Frauenhochschulen. Vor einiger Zeit (vgl. Nr. 1 dieses Jahrgangs) brachte die „Gartenlaube“ einen Artikel, der die Aufmerksamkeit der Leser auf die von Fräulein Ida von Kortzfleisch geplanten wirtschaftlichen Frauenhochschulen lenkte. Seitdem haben sich die darin ausgesprochenen Gedanken viele neue Anhänger erworben. Es gilt nun vor allen Dingen, die zum Bau der Hochschule notwendigen Mittel aufzubringen. Freunde des gemeinnützigen Unternehmens haben eine eigenartige Sammlung ins Werk gesetzt und bitten alle deutschen Frauen um thätige Unterstützung. Wer ein Herz für die Sache hat, sollte erstens selbst eine Mark opfern, zweitens aber zehn Damen werben, die denselben Beitrag zahlen und zugleich in ihrem Bekanntenkreise ebenfalls 10 Mark aufbringen. Damit hat die Sammlung ihr Ende erreicht; eine weitere Fortsetzung etwa nach dem Muster der Schneeballkollekten wird nicht gewünscht. Ueber sämtliche Beiträge wird quittiert, und zwar erhält die erste Dame eine blaue Quittungskarte, ihre 10 Gehilfinnen bekommen rote Karten und die in der dritten Reihe stehenden Zahler (Damen und Herren) grüne. Jede, die sich verpflichten will, „blaue Dame“ zu werden, wende sich an Fräulein Josephine v. Teichmann, Berlin W. Ansbacherstr. 54, III. Sie bekommt dann 1 blaue, 10 rote und 100 grüne Karten zugesandt. Die roten und die grünen hat sie mit ihrem Namen zu unterzeichnen. Sobald sie eine „rote Dame“ geworben hat, übergiebt sie dieser 1 rote und 10 grüne Quittungskarten. Die „rote Dame“ händigt ihren Zahlern die grünen Quittungen gegen den Betrag von 1 Mark ein. Hat sie alle 10 Karten untergebracht, so sendet sie die gesammelten 10 Mark nebst der eigenen elften an ihre „blaue Dame“. Außerdem ist sie verpflichtet, Namen und Adressen ihrer Zahler beizufügen. Die Gesamtsumme, die dann also 111 Mark beträgt, sowie die Verzeichnisse aller Zahler werden von der „blauen Dame“ an die Centralstelle: Frl. von Teichmann übersandt. Sollte mancher die Verpflichtung der „blauen Dame“ zu groß erscheinen, so möge sie wenigstens „rote Dame“ werden und 10 Mark zusammenbringen. Wir wünschen der Veranstaltung innigst den besten Erfolg.

Vor dem Stadtthor. (Zu dem Bilde S. 217.) Frühlingswehen! Vereint mit dem jungen Grün, dem ersten Blütenduft und dem milden goldenen Sonnenschein, übt es einen unwiderstehlichen Zauber auf Menschenherzen aus. Besonders freudig begrüßt der Städter den Einzug des Lenzes. Es hält ihn nicht mehr in den dumpfen Mauern der Stadt. Hinaus muß er ins Freie, den Frühling in Feld und Au in voller Pracht zu schauen! Nicht nur in der Neuzeit ist dieser Drang vorhanden; er lenkte schon die Schritte unserer Vorfahren vor die Thore der Stadt. So sind auch aus der altertümlichen Stadt an der Seeküste die Patrizier, deren Tracht auf das siebzehnte Jahrhundert hindeutet, hinausgewandert vor die Festungsmauern, um draußen im Freien den Lenz zu genießen. Und sie wurden dabei von denselben Stimmungen bewegt wie wir Kinder des neunzehnten Jahrhunderts es bei ähnlichen Anlässen auch heute werden. Mögen sich die Trachten, Lebensgewohnheiten und Sitten ändern, im Fühlen und Empfinden, im Herzen und Gemüt ist der Mensch im Laufe der Zeiten sich gleich geblieben! Frühlingswehen draußen in der Natur weckte und weckt auch immer aufs neue frohen Frühling im Herzen!


KLEINER BRIEFKASTEN.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Anfrage. Ein vollständig gebundenes Exemplar vom „Siebenbürgischen deutschen Tageblatt“ und „Siebenbürgischen deutschen Wochenblatt“ ist zum Besten einer armen deutschen evangelischen Schule in Siebenbürgen zu verkaufen. Nähere Auskunft erteilt die Buchhandlung von W. Krafft in Hermannstadt oder die Buchhandlung von C. Herrmann in Schäßburg.

Amateurphotograph in B. Sie klagen uns, daß Sie mit Ihren Landschaftsaufnahmen nicht so glücklich sind wie andere, denn während bei den andern der Himmel durch Wolken belebt oder abschattiert werde, sei er auf Ihren Aufnahmen einförmig weiß und unschön. Sie sind nur ein Anfänger, aber dennoch auf richtiger Fährte, wenn Sie hinter dem schönen Himmel anderer Photographen einen Kunstgriff vermuten. Sie haben recht, oft wird der schöne Himmel „hineingeheimnist“, und dann wird aus der öden Photographie erst ein „Bild“! Einen abschattierten Himmel erhält man, wenn man die kopierte Landschaft mit schwarzem Papier zugedeckt unter eine reine Glasplatte legt und in zerstreutem Licht (nicht in direktem Sonnenlicht) einen breiten Pappdeckel oder eine umgebogene Blechtafel so darüber hin und her schiebt, daß die Luft auf dem Bilde allmählich anläuft und oben dunkler wird als an der Horizontlinie. – Und einen Wolkenhimmel? Den können Sie sich leicht beschaffen. Ziehen Sie mit Ihrer Camera hinaus ins Freie und machen Sie eine Reihe von Wolkenaufnahmen mit verschiedener Beleuchtung. Dann suchen Sie ein passendes Wolkennegativ heraus und kopieren dasselbe in Ihre Landschaft hinein. Wie das zu machen ist, das erfahren Sie aus dem Büchlein W. K. Burtons „ABC der modernen Photographie“ (Düsseldorf, Ed. Liesegangs Verlag), welches entschieden die zweckmäßigste Anleitung für den Anfänger bildet. Dort finden Sie viele der „Kunstgriffe“ und „Geheimnisse“ klar dargelegt und Sie werden durch dasselbe nach und nach in die „Kunst“ der Lichtzeichnung eingeweiht.


Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (12. Fortsetzung). S. 201. – Im Frühling. Bild. S. 201. – Geborgen. Bild. S. 204 und 205. – Bremens jüngste Bildungsstätte. Von Dr. A. Beyer. S. 208. Mit Abbildungen S. 208, 209 und 210. – Ein Nationaltag für deutsche Kampfspiele! Von H. Raydt. S. 211. – Der Klageschrei. Eine türkische Geschichte von Rudolf Lindau. S. 212. – Palmsonntag in den Abruzzen. Bild. S. 213. – Nansens und Andrées Nordpolunternehmen. Von C. Falkenhorst. S. 215. Mit Bildern S. 216. – Vor dem Stadtthor. Bild. S. 217. – Im Banne des Lichts. Von M. Hagenau. S. 218. – Blätter und Blüten: Palmsonntag in den Abruzzen. Von Woldemar Kaden. S. 220. (Zu dem Bilde S. 213.) – Geborgen. S. 220. (Zu dem Bilde S. 204 und 205.) – Wirtschaftliche Frauenhochschulen. S. 220. – Vor dem Stadtthor. S. 220. (Zu dem Bilde S. 217.) – Kleiner Briefkasten. S. 220.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 13. 1896.


Der Brückeneinsturz in Freiburg i. B. In der zweiten Woche des März, in welcher anhaltender Regen und plötzliche Schneeschmelze in vielen Gegenden Deutschlands große Überschwemmungen herbeiführten, sind die Flußthäler des Schwarzwalds besonders schwer heimgesucht worden. Leider haben diese Ueberflutungen auch den Verlust von Menschenleben zur Folge gehabt, so die der Dreisam den Tod zweier angesehenen Beamten, die in Ausübung ihres Berufes ein Raub der Wellen wurden. Die Dreisam wird von zahlreichen wilden Bergbächen gespeist, deren gleichzeitiges jähes Anschwellen die Katastrophe herbeiführte. Es war am 8. März abends 10 Uhr, als die plötzliche Ueberschwemmung für die schöne Breisgaustadt Freiburg eine gefährliche Wendung nahm.

Der Einsturz der Schwabenthorbrücke in Freiburg im Breisgau.
Nach einer Photographie von E. Kempke in Freiburg i. Br.

Der eiserne Steg an der Fabrikstraße wurde von der tobenden Flut weggerissen und mit zahlreichen Baumstämmen und anderen Trümmern gegen die nahe Schwabenthorbrücke getrieben. Unter dem südöstlichen ihrer drei Bogen entstand eine vollständige Stauung, und das Wasser drängte nunmehr mit umso größerer Gewalt nach der Stadtseite. Um Mitternacht war die niedriggelegene Karthäuserstraße bereits überschwemmt, aber schon war auch die Feuerwehr und unter dem Befehl des Erbgroßherzogs von Baden das Militär zur Stelle, um den gefährdeten Anwohnern Hilfe zu leisten. Die Schwabenthorbrücke wurde für das Publikum gesperrt, dagegen leiteten von ihr aus die obersten Beamten der Stadt die Vorkehrungen, welche den Schutz der Ufer und der weiteren Brücken bezweckten. Daß die Brücke selber dem Ansturm der Flut nicht gewachsen sei, scheint man nicht befürchtet zu haben; da brach zwischen 3 und 4 Uhr nachts ihr nordwestlicher Bogen jählings in sich zusammen. Der Oberbürgermeister Winterer und andere städtische Beamten konnten sich retten; den Landeskomissar Geheimen Oberregierungsrat Siegel und den Stadtdirektor Geheimen Regierungsrat Sonntag verschlang dagegen die Flut. Bald fiel auch die übrige Brücke mit dem nächsten Pfeiler in Trümmer. Der Bruch des Gasrohres verbreitete Finsternis ringsumher. Die Leitung der Schutzmaßregeln übernahm nun der Major v. Lindenau. Sie wurden auch erfolgreich durchgeführt und weiteres Unheil von ähnlicher Größe verhütet. Die telegraphisch herbeigerufenen Pioniere aus Kehl machten sich sofort nach ihrer Herbeikunft an die Sprengung des noch stehenden Brückenpfeilers und an die Hebung der Trümmer, um einen rascheren Abfluß des noch immer gewaltig angeschwollenen Wassers zu bewirken.

General Baldissera. An die Spitze des tapferen, aber vom Schlachtenglück nicht begünstigten italienischen Heeres in Abessinien ist General Baldissera getreten. Ob es ihm gelingen wird, die Fehler seines Vorgängers Baratieri wieder gut zu machen und die Scharte von Adua auszuwetzen? Man hofft es; denn Baldissera hat sich auf Afrikas Boden in der Erythräischen Kolonie bereits einmal als Krieger und Diplomat bewährt. Anton Baldissera steht gegenwärtig im 58. Lebensjahre, 1838 ist er als Sohn eines österreichischen Statthaltereirates in Udine geboren, zu Wiener-Neustadt erhielt er seine militärische Erziehung und diente bei dem 59. Infanterieregiment. Im österreichischen Heere machte er 1859 den Feldzug gegen Italien mit, kämpfte mit Auszeichnung und wurde zum Hauptmann im Generalstabe befördert. Auch in dem Kriege von 1866 zeichnete er sich in der Schlacht bei Custozza aus. Nach erfolgtem Friedensschluß verließ Baldissera die österreichischen Fahnen, denen er bis dahin treu gedient hatte, und trat in die italienische Armee ein. Der Hauptmann rückte hier langsam in höhere Stellungen empor, bis er im Jahre 1889 die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Als Generalmajor erhielt er die Führung der Expedition nach Massaua. Während Baldissera als Befehlshaber in der Kolonie wirkte, gelang es den Italienern, die ersten Erfolge auf dem abessinischen Hochlande zu erzielen. Baldissera gebührt auch das Verdienst, die eingeborenen Truppen, die ursprünglich ein zuchtloses Gesindel bildeten, in eine brauchbare Miliz verwandelt zu haben. Leider wurde er nach kurzer Wirksamkeit abberufen, weil die öffentliche Meinung über Ausschreitungen oder zu strenges Vorgehen seiner Untergebenen entrüstet war. Nach seiner Rückkehr in die Heimat wirkte Baldissera als Brigadier in Calabrien, war später Divisionär in Bari und wurde 1893 zum Generallieutenant befördert.

General Baldissera.

Baldissera ist tapfer, aber kühl in seinem Wollen und nicht nur ein kluger Heerführer, sondern auch ein gewandter Diplomat. Man sagt von ihm, daß er während seiner ersten Thätigkeit in Afrika verstanden habe, selbst ohne Schlacht zu siegen. Sollte diese seine Kunst sich diesmal wieder bewähren und zu einem Abessinien wie Italien versöhnenden Friedensschluß führen, dann wäre wohl damit die beste Lösung dieser afrikanischen Wirren erreicht.

Teure Gespinste. Die trauliche Spinnstube mit ihren schnurrenden Rädern ist dem größten Teile des heranwachsenden Geschlechtes kaum noch dem Namen nach bekannt; die prosaische Spinnmaschine hat Frickas Erbe verschlungen. Aber ganz und gar ließ sich das Spinnrad nicht verdrängen. Die Garne zu den allerfeinsten Batisten und Spitzen können nur auf dem Rade gesponnen werden, und während die Maschine Leinengarn nur etwa bis zur Feinheitsnummer 300, von unten angefangen, liefert, bringt es die menschliche Hand bis zur Feinheitsnummer 1600. Derartige Garne fertigt man auf dem Spinnrad in Belgien. In Brabant soll das Pfund des feinsten Leinengarnes bis zu 4000 Frank bezahlt werden, ein fabelhaft klingender Preis! Belgische Leinenzwirne, d. h. gezwirnte Garne, wie sie zu den feinsten Brüsseler Spitzen verwendet werden, kommen je nach der Güte des Rohmaterials und der Feinheit des Gespinstes bis zu 850 Mark für das Pfund zu stehen.

Nächst Belgien liefern der Reihe nach Frankreich, England, Schottland, Böhmen die feinsten und teuersten Leinengarne und Leinenzwirne, alle werden aber von Indien in Feingespinsten übertroffen. Dort sollen – allerdings aus Seide – Gewebe, groß genug zur Bekleidung eines erwachsenen Menschen, von solcher Feinheit hergestellt werden, daß man ein solches Kunstwerk in einer Nußschale unterbringen kann.

Hauswirtschaftliches.

Braune Bübchen nennt sie das Nesthäkchen des Hauses, die wohlschmeckenden Klößchen, welche Mutter aus den Resten von Milch-, Apfel- oder Rosinenreis herstellt, und die allen Hausfrauen als rasch zu bereitendes süßes Restergericht empfohlen werden können. Man verrührt die Reisreste mit einigen Löffeln frischer Milch, einem Ei, einigen Löffeln Obstgelée und zerbröckelten Makronen, und formt auf einem Brett, das mit geriebener Semmel bestreut wurde, kleine, länglichrunde Bällchen davon. Man bäckt sie in Backfett rasch goldbraun und wälzt sie dann sofort in geriebener Schokolade, worauf man sie mit einer Fruchtsauce zu Tisch gibt. L. H.     

[220 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]


  1. Seraï-burnu, d. h. die Seraïspitze, auch Ak Agalar Kapussi genannt, ist die äußerste Nordostspitze der zwischen dem Goldenen Horn, dem Bosporus und dem Marmarameer gelegenen Halbinsel, auf der Konstantinopel erbaut ist. In der Nähe derselben befanden sich die alten byzantinischen Paläste, später errichtete Sultan Mehmed der Eroberer dort ein Schloß, das von seinen Nachfolgern vollendet wurde und den Namen Top-Kapuseraï erhielt. In der unmittelbaren Nähe des Wassers, durch einen schmalen Strand und eine starke Mauer, einen Ueberrest der alten Stadtmauer, von demselben getrennt, lag der im Jahre 1865 abgebrannte, von Blumengärten umgebene, für den Harem des Sultans bestimmte sogenannte Sommerpalast, von dem jetzt keine Spur mehr vorhanden ist. Am Seraï-burnu, wo die Wasser des Goldenen Horns mit denen des Bosporus und des Marmarameeres zusammentreffen, herrschen starke Strömungen, die, namentlich bei südlichen Winden, von den kleinen „Kaïks“ mit nur einem Ruderer nicht ohne Hilfe überwunden werden können. Diese Fahrzeuge werden sodann an eine Leine genommen und von einem oder mehreren Schiffern am Ufer um die Seraïspitze und die nordöstliche Seite der Halbinsel gezogen.