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Die Gartenlaube (1895)/Heft 35

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[581]

Nr. 35.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Sturm im Wasserglase.

Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts.
Von Stefanie Keyser.

 (1. Fortsetzung.)

Der Saal, in dem sich der Hofstaat der Augustenburg versammelte, war ein Abbild jener Zeit, welche die nichtigsten Dinge am wichtigsten nahm und geraden Sinn ebenso geschmacklos fand als gerade Linien an Gerät und Schmuck.

Verschobenes goldenes Muschelwerk verzierte die Stuckdecke; launenhaft bog sich die goldene Quaste des wie eine Zipfelmütze gestalteten Porzellanofens zur Seite; die Bronze der Kandelaber, auf denen die Wachskerzen flammten, zeigte gewundene Form, die eher an weiche Schnuren als an hartes Metall gemahnte, selbst das Holz der Eiche, aus dem Tische und Sessel geschnitzt waren,

Auf dem „Gefährt“.
Gemälde von C. Reichert.

[582] mußte sich krümmen wie Schlangen und Teckelbeinchen, sein schönes tiefes Braun war unter weißem Lack verschwunden.

Mit blinkenden Nadeln und klirrenden Scherchen reihten sich die Damen des Hofes um die Tafeln, flimmernde Rosetten auf den gepuderten Toupets, Gold- und Silberspitzen an den Röcken und in fischbeinstarrenden Schnebbenleibchen.

Die Herren gingen und standen in kunstvollen Positionen um sie herum und machten die Cour, was wie ein ernstes Geschäft angesehen wurde.

Gegen die farbenschillernden seidenen Prachtgewänder der Hofgesellschaft stachen düster die dunklen Kutten der beiden Mönche ab, die an einem besonderen Tisch saßen, den Wachspfannen, Paletten, Pinsel und Farbenmuscheln bedeckten.

Auf einer erhöhten Stufe thronte in ihrem mit Purpurdamast bezogenen Sessel Augusta Dorothea, ein Hermelinmäntelchen um die noch schönen Schultern geschlagen, nadelspitze Stöckel unter den schmalen Füßchen, auf dem Haupt die Fontange, wie der aus Spitzen und Schleifen sich türmende Kopfputz nach seiner Erfinderin, einer Geliebten Ludwigs XIV., genannt wurde. Durch ihre juwelengeschmückten Finger glitten die vor ihr ausgebreiteten Zeichnungen und Gemälde: Entwürfe Severins für die Wachsfigurendarstellungen.

Kiliane chassierte lächelnd herein, begleitet von Konrad, dem noch die Lippen leise bebten, heißes Rot auf den Wangen glühte.

Tief verneigten sich beide.

Mit flüchtigem Nicken dankte Augusta Dorothea, und ein Wink ihrer dunklen Augen, deren Ausdruck zwischen Ueberspanntheit und Hinterhältigkeit wechselte, schob gleichsam die jungen Sendboten mit ihren Eröffnungen den obersten Hofchargen zu. Ihro wünschte nicht gestört zu sein.

„Das Fräulein kommt ohne Bild?“ fragte in tadelndem Tone die Oberhofmeisterin, welche an der Tafel der Hofleute den Vorsitz führte. „Ist der Herr Superintendent seiner Herrschaft nicht zu Diensten gewesen?“

„Der Herr Superintendent vermochte mir nicht sofort Auskunft zu geben,“ berichtete Kiliane; „aber er war begeistert für die erlauchten Frauen dieses Fürstenhauses und gedenkt seine Meinung von der Kanzel herab noch mehr zu bekräftigen.“

„Hoffentlich ist der Junker geschickter gewesen,“ wandte sich der Hofmarschall an Eichfeld. „Wie steht’s mit dem Wein, den Pferden, dem Geld?“

„Auch ich komme mit leeren Händen,“ stammelte verlegen Eichfeld; „der Herr“ – „Sekretarius Struve“ schwebte auf seinen Lippen.

„Der Herr Kanzler,“ fiel Kiliane ein, „wird die erhaltenen Aufträge seiner Zeit seinem gnädigsten Herrn unterbreiten.“

„Die Reden des Fräulein von Heymbrot sind überzuckerte bittre Mandeln,“ seufzte die Oberhofmeisterin, während Kiliane an ihren Platz unter den Hofdamen glitt. „Von dem Superintendenten haben wir uns eine seiner Strafpredigten zu gewärtigen.“

„Der sonst so gefügige Kanzler säumig!“ sagte der Hofmarschall den Kopf schüttelnd. „War er allein?“ fragte er Eichfeld, der sich ebenfalls zurückziehen wollte.

„Der Sekretarius Struve war bei ihm,“ erwiderte Konrad zerstreut und folgte Kiliane.

Der Hofmarachall zog die Luft durch die Zähne. „Natürlich – Struve! Der Aktenwurm, der sich immer unterfängt, ein Gesetzbuch dem Willen Ihrer Durchlaucht entgegenzustellen.“

Ein Lachen unterbrach ihn.

Severin nahm eben der ersten Hofdame die kleine Aebtissin von Wachs weg, welche dieselbe mit großen Hüftpolsterm versehen hatte, und schob ein verblichenes Gobelinstückchen hin. „Wollen sich die Damen nach diesen Gestalten richten,“ sagte er mit seiner gedämpften Stimme.

„Ohne Puder und Reifrock! Wie unanständig!“ tönte es entsetzt um die Tafel.

„In Dunkel gehüllt, nur wenigen bekannt scheint die fromme Sage zu sein, die wir hier bildlich vorführen wollen,“ bemerkte Timotheus mit gutmütigem Spott.

„Vielleicht gestatten Ihre Durchlaucht,“ sagte die Oberhofmeisterin, „durch eine Reihenerzählung – das neue Gesellschaftsspiel aus Braunschweig – Licht in das Dunkel zu bringen.“

Und als ein Lächeln um den launenhaft geschürzten Mund der Fürstin die Bitte gewährte, fuhr sie scharf fort: „Da das Fräulein von Heymbrot hente zum Fabulieren aufgelegt scheint, kann Sie beginnen.“

Kiliane sah einen Augenblick schweigend durch das Fenster nach den schattenhaften Umrissen der Kevernburg, die, vom Mond matt erleuchtet, jenseit der Gärten auftauchten. Dann hob sie an: „Dort, wo jetzt nur zerklüftete Trümmer aufragen, stand in alten Zeiten eine stolze Burg mit zinnigen Mauern und hohen Türmen. Von ihr aus beherrschte der erlauchte Ahnherr dieses fürstlichen Hauses das Land und Volk zu seinen Füßen. Er lebte in Glanz und Pracht. Die Wände der Gemächer bedeckten weiche seidene indische Stoffe; die Schatzkammer füllten silberne Schilde, goldene Spangen; Edelgestein funkelte an den Harfen, deren süßer Klang die Burg durchzitterte.“

Unmerklich hatte Severin ihr das schmale Gesicht zugewendet; aus den verschleierten Augen spann sich sein Blick zu ihr hin.

Sie fing ihn auf. Uebermütig hob sie das Köpfchen. „Und die Minnesänger sangen von Liebe vom ersten Nachtigallenschlag bis zum Morgengruß des Wächters auf der Zinne,“ fuhr sie mit ihrer hellen klingenden Stimme fort.

„Aber eitle Sinnenlust bethörte den Grafen dennoch nicht; er gründete das Walpurgiskloster auf dem benachbarten Waldberg,“ schnitt Timotheus ruhig die üppige Schilderung ab.

Severins Haltung war wieder wie vorher: unbeweglich, der fein geformte Kopf leicht gesenkt, die Augen niedergeschlagen.

Kiliane schwieg schelmisch lachend, und die alte Oberhofmeisterin erzählte weiter von einer schönen Hofjungfrau, Gertrudis genannt, die im Frauengemach saß und spann, während ihr Anbeter, der beim Grafen Rittertum erlernte, sein Pferd vor ihrem Bogenfenster tummelte.

„Aber es waren zwei Edelleute,“ verbesserte Kiliane, einen winzigen Spinnrocken mit schmalem Rosenband umwindend, „einer mit hellbraunem Haar und der andre mit schwarzen Augen und Bart – ein angenehmer Tollkopf.“

„Hoho! der Erste duldete den Zweiten nicht!“ rief Eichfeld.

Der erste Kammerherr, dem als Zeichen höchster Geckerei die Locken der Perücke bis auf den Degengriff fielen, lachte schadenfroh. „Aber der Zweite kam in galanten Strümpfen angestochen und trug zwei Uhren.“

„Die noch nicht erfunden waren,“ brummte Timotheus.

„Wenn die ehrwürdigen Väter alles so genau wissen,“ rief lachend Kiliane, „so mögen sie auch die Sage vollenden.“

Und bereitwillig erzählte Timotheus von einem großen Fest auf der Kevernburg und verlor sich in Schilderungen von Humpen, die immer riesiger wurden, je länger er sein chinesisches Täßchen mit Thee ansah.

Als er aber an die Liebesflamme kam, die in den Herzen der beiden Ritter für das schöne Fräulein aufloderte, da schnupfte er in der Verlegenheit so lange, bis Eichfeld aufbraufte:

„Es giebt in solcher Lage nur einen Ausweg: Einer ist zu viel auf der Welt. Der Edelmann mit dem hellbraunen Haar forderte den schwarzlockigen Unverschämten zum Kampf auf Leben und Tod.“

„Und wie ging es weiter?“ fragte gemütlich Timotheus. „Denn es muß doch der Wahrheit gemäß erzählt werden.“

Eichfeld schwieg. Das Ende war nicht nach seinem Sinn.

Da löste ihn Severin mit seiner gedämpften und doch so wundersam bestrickenden Stimme an: „Es war im Morgengrauen des nächsten Tages, als die beiden Ritter in dem stillen Thal am Fuße des Walburgisberges zusammentrafen. Die letzten Schläge des Glöckchens auf dem Kloster verhallten; sie hatten für und für die Nacht geklungen. Klirrend traten die beiden Kämpen sich gegenüber.

Da teilten sich die Zweige der Waldbäume des Klosterberges, und Gertrudis trat hervor im schwarzen Nonnengewand, den Schleier über dem Antlitz. Schweigend streckte sie die Hand zwischen die dräuend gehobenen Schwerter. Hinter ihr folgte der Zug der Klosterfrauen, und leise tönte der Sang, der bei der Einkleidung gesungen wird: ‚Dem Reich der Welt entsagte ich.‘

Die sündigen Edelinge beugten sich. Unwiderruflich entrückt war ihnen die Gottesbraut. Die Nonne kehrte zurück in ihre Klause und ging ein in den ewigen Frieden.“

Fast nur flüsternd fielen seine letzten Worte von den fein geschnittenen Lippen, als dürfe die einschlafende Unrast des Lebens nicht geweckt werden.

Es war totenstill geworden.

An Kiliane allein glitt der Zauber der Rede machtlos ab. Mit fast grausamer Kälte forschte ihr Blick in dem Antlitz Severins, auf dessen Stirn ein düstrer Zug brütete.

[583] War der blasse junge Meister wirklich so versenkt in fromme Gedanken und heilige Darstellungen? Langsam näherte sie sich ihm. Die Seide ihrer Robe knisterte leise, da sie ihm gegenüber trat.

Seine Lider blieben gesenkt, sein Blick auf seiner Hände Werk gerichtet.

Es war die Nonne Gertrudis, ein kleines Meisterstück. Er that eben an dem blonden Köpfchen den letzten Strich, der den reizenden Mund so eigentümlich mit einer halb schelmischen, halb weichen Linie abschloß.

Es durchfuhr Kiliane bis in die Fingerspitzen: sie erblickte ihr reizendes Miniaturbild.

Mit stockendem Atem beugte sie sich vor.

Im selben Augenblick zerbrach die Wachsfigur in den schlanken nervigen Fingern des düstren Meisters. Gleichgültig warf er die Stücke in die über blauer Spiritusflamme stehende Pfanne.

Empört, und doch von einem Schauder überrieselt, den sie weder erklären, noch bewältigen konnte, schaute Kiliane auf den Bossierer; er schien noch blasser geworden zu sein.

Ein kurzer Blick von Timotheus traf beide. „Haben Ihre Durchlaucht nichts für das Fräulein von Heymbrot zu thun?“ ließ sich seine behagliche Stimme vernehmen.

Im nächsten Augenblick lag eine Strähne rote Seide in Kilianes Händen, vom ersten Kammerherrn überbracht, und Konrad stand vor ihr, allen andern den Rang als Garnwinde ablaufend.

Während sie die zarten Fäden von seinen Händen löste flüsterte er: „Warum nützt das Fräulein jede Gelegenheit, um mich zu kränken?“

Sie antwortete nicht, hörte nicht, was er sprach, sah mit verstörten Augen an ihm vorüber.

Da knäuelten seine Finger ohne Rücksicht die Seidensträhnen zusammen.

Sie hielten ein rosiges Wirrsal in den Händen.

Eine Flötenuhr schlug und spielte ein Schlummerlied.

Die Fürstin erhob sich, um in ihr Leibzimmer sich zurückzuziehen.

Als die Thür sich hinter ihr geschlossen hatte, glitt der erste Kammerherr an Eichfeld heran. „Kommt der Herr noch mit auf mein Zimmer zu einer Partie Trischak?“ flüsterte er. Das gefährliche Hazardspiel war verboten.

„Ja, ja, ich komme,“ erwiderte Eichfeld zerstreut, mit zornigem Blick noch einmal Kiliane suchend.

Auch sie sah ihn jetzt rasch an. Welch harten Ausdruck die zarten Züge tragen konnten! Fast verächtlich wandte sie das Köpfchen ab.

Er biß die Lippen zusammen und stürzte fort.

Der Arbeitssaal leerte sich. Das leise Schleifen der Schuhe auf dem spiegelnden Parkett verhallte, die Stimmen verloren sich in Korridoren und Treppen.

Nur Kiliane hatte unter dem Beistand der Garderobenmädchen noch eine Weile zu schaffen an den Schränken. Reihum mußten die Hofdamen die kostbaren Stoffe verwahren. Die Woche war an ihr.

Es war still im Schloß geworden.

Aber von draußen tönte ein Brausen herein: der Tauwind hatte sich erhoben. Die Bäume im Schloßgarten ächzten, in den weiten Schornsteinen tobte der Wind wie ein Gefangener.

Die Dienerinnen knixten und eilten ihren Kammern zu.

Als die letzte ging Kiliane.

Ihre Gedanken wurden wie von einer unsichtbaren Gewalt immer wieder zurückgetrieben zu Severin.

Sie konnte des Entsetzens nicht Herr werden, das sie empfand, als ihr kleines Ebenbild im Nonnenschleier in den blassen Fingern zerdrückt wurde.

Sie kannte sonst keine Furcht, wie die meisten Menschen, die nichts zu verlieren haben.

Heute aber überrieselte sie ein unheimliches Gefühl, als sie, eine Kerze in der Hand, durch die öden Prunkgemächer ging, welche sie durchschreiten mußte, um auf den Korridor zu gelangen.

Es blies ein kalter Hauch durch alle Schlüssellöcher; in dem Audienzsaal schienen Schatten aus den schweren Purpurbehängen des Thronhimmels zu huschen.

Ihr Fuß zögerte, bevor sie den gelben Saal betrat. Spukhafte Gerüchte gingen über ihn: im großen Spiegel, der von der Decke bis zum Boden reichte, sollten sich Gestalten zeigen, die nicht davor standen.

Mit leisem Grauen öffnete sie die Thür. Der Geruch von Weihrauch, der die Kapelle nebenan erfüllte, kam ihr entgegen. Das Licht ihrer Kerze schwankte auf dem gelben Atlas der Wände und krummbeinigen Sessel und blitzte aus den vergoldeten Schildern der Wandleuchter.

Einen scheuen Blick warf sie nach dem gespensterhaften Spiegel – da – ein erstickter Schrei brach über ihre Lippen – in dem schweren Bronzerahmen stand ein schmaler schwarzer Schatten, nicht ihr eigenes farbiges Bild.

Gewaltsam sich fassend, blickte sie noch einmal hin.

Der Schatten war verschwunden; aber das hohe Glas zitterte wie eine Wasserfläche, und aus dem schwankenden Grund starrte jetzt ihr Antlitz sie wunderlich verzerrt an.

Der Leuchter entfiel ihrer Hand, daß er klirrend am Boden rollte – die Kerze erlosch.

Von Entsetzen geschüttelt, floh sie aus dem Saal, die Treppe hinauf und in ihr Mansardenzimmer.

Keuchend rang sie nach Atem.

Da tönte leises Psalmodieren von der Kapelle unten. Klagend mischte es sich wie Bußgesang in die heulende Stimme des Frühlingssturmes, der mit seinem mächtigen Atem alles Leben in der Natur aufweckte.


Wie Grau in Grau gemalt ragte die alte Neidecke hinter ihren zinnigen Ringmauern empor. Die Fensterreihen der stolz sich aufschwingenden Fassaden lagen öde. Langsam zerrann der Schnee auf den Giebeln. Wie mit toten Augen schauten die steinernen Statuen, die das grünspanüberzogene kupferne Dach umstanden, über die vereinsamten Gärten, Rennbahnen und Reitplätze hin.

Das Ticktack der Schloßuhr tönte geheimnisvoll hernieder, an die unaufhaltsam ablaufende Zeit gemahnend.

In einem Vorzimmer des Schlosses harrte, schwerer Sorgen voll, Struve, jeden Augenblick gewärtig, mit den Aktenstücken, die er unter dem Arm trug, in das Audienzgemach berufen zu werden.

Es war eine wichtige Angelegenheit, die jetzt von Fürst und Kanzler beraten wurde. Sie betraf den Protest des Herzogs von Weimar gegen die Erhebung des Grafen Anton Günther in den Fürstenstand. Der Prozeß, den die beiden gekrönten Häupter derohalb seit länger als einem Jahrzehnt beim Reichskammergericht führten, war nun so weit verwickelt, daß es weder vorwärts noch rückwärts mehr ging.

Da sendete gestern der Herzog ein Ultimatum. Er drohte mit Besetzung des lehnspflichtigen Landes, wenn der Fürst seine Ansprüche nicht voll anerkannte.

Minute auf Minute verging – der Geheimsekretarius wurde nicht zu seinem Fürsten beschieden. Seine Vorschläge zu einem gütlichen Vergleich mit Weimar, die er ausgearbeitet hatte, begehrte Serenissimus nicht zu hören.

Jetzt führte der Sturm zwölf Glockenschläge in die Weite: die Stunde der Audienz war vorüber.

Die Thür öffnete sich; rückwärts schritt der Kanzler unter tiefen Verbeugungen heraus. Dann richtete er sich auf und ging gravitätisch die Marmortreppe hinab, gefolgt von seinem Sekretarius.

„Wessen haben wir uns zu gewärtigen?“ fragte Struve gespannt.

„Nur der Huld und hohen Gewogenheit,“ erwiderte der Kanzler, den Abglanz der Gnadensonne noch auf dem Antlitz.

„Serenissimus waren gerade mit Dero Münzsammlung beschäftigt. ,Es ist alles eitel‘ geruhten Sie zu sagen; ,ob der Mensch die Welt in Brand gesteckt hat wie der lorbeerbekränzte Nero auf dieser römischen Münze, oder schon in der Wiege gestorben ist wie der kleine Prinz auf dem Silberthaler dort, dem seine Eltern den Gedenkspruch prägen ließen: „in Thränenbächen“ – was ist von der Macht, der Furcht, der Liebe, dem Schmerz übrig geblieben? Die Münzen haben verschiedene Bilder; das ist alles.‘ Welcher Esprit!“

Struve meisterte mühsam seine Ungeduld. „Aber wie lautet die allerhöchste Resolution hinsichtlich des Streitfalles mit Weimar?“

„Abwarten!“ erwiderte der Kanzler. „Seine Durchlaucht klopften mich auf die Schulter und meinten: ,In der Zwischenzeit wird sich schon etwas ereignen, lieber Heymbrot.‘ Ein echt staatsmännisches Wort.“

[584] „Was sich ereignet, das wird der Einmarsch sein!“ sagte Struve, die Papiere in seiner Hand zerdrückend. „Sind der Herr Kanzler bei Seiner Durchlaucht nicht vorstellig geworden, welche Lasten dadurch der Landschaft aufgelegt, welche Verheerungen angerichtet werden können?“

„Durch solche Reden würde man in die tiefste Ungnade fallen, mein Lieber,“ belehrte der Kanzler gelassen.

Ein Zug Trabanten, ausgerüstet mit Sporen und Karabinerriemen, kam ihnen von der Küche her entgegen, in verdeckten Schüsseln den ersten Gang mach dem Tafelzimmer tragend. Ein Unteroffizier der Leibgarde, den Hut unter dem Arm, marschierte voraus, ein anderer folgte nach.

„Es ist ein Poupetou von Schnepfen, die meine Federschützen erbeutet haben,“ flüsterte wichtig der vorübereilende Oberjägermeister dem Kanzler zu.

Struve zog finster die Brauen zusammen. Für die Bewachung der Schnepfenpastete war bestens gesorgt. Wer schützte Stadt und Landschaft?

Der Schloßhauptmann, der mit den andern Hofkavalieren zur Tafel zog, sah ihm nach. „Der junge Sekretarius Struve war sichtlich in Sorge,“ sprach er. „Er ist zwar ein Schwarmgeist, trägt sogar eine Stutzperücke, wenn er aufs Schloß geht; aber ich glaube, er ist ein heller Kopf. Soll wirklich gar nichts geschehen?“

„Das Notwendigste,“ antwortete der Leibarzt, ein älterer Mann mit verschlossenen Gesichtszügen, der am Fenster stand und das tiefziehende schwere Gewölk beobachtete, das der Wind von Süden hertrieb. „Sobald das Wetter es erlaubt, müssen Seine Durchlaucht sich in die warmen Bäder von Aachen begeben.“

Und nun war im Schloß nicht mehr die Rede vom Krieg, sondern einzig von der Badereise.

Denn noch galt das Wort Ludwigs XIV.: „L’Etat c’est moi!“ Der die neue Losung: „Der König ist der erste Diener des Staates!“ ausgeben sollte, Friedrich II. von Preußen, war noch nicht geboren.

Und man lebte zudem in der Zeit des Rückschlages, der auf die Not des Dreißigjährigen Krieges, die harte Arbeit der ihm folgenden Jahrzehnte kommen mußte. Nach Luxus und Genuß trachteten alle Stände; und die, welche berufen waren, über das Wohl der Bevölkerung am Staatsruder zu wachen, trugen ihren Stellungen hauptsächlich durch ehrfurchtgebietende Perücken, stattliche Doppelkinne Rechnung und bekundeten feigen Widerwillen gegen Anforderungen der Pflicht.

Aber auf einzelne fiel doch schon ein Strahl der neu aufsteigenden Zeit, die sich später den Namen des Jahrhunderts der Aufklärung verdienen sollte.

Auch Christian Struve gehörte zu diesen. Außer dem Titel eines Doktors beider Rechte brachte er von der Universität Jena die Erinnerung heim an manchen freien Geistesblitz der gelehrten Professoren, an frisch aufbrausende Gespräche, welche die jungen Musensöhne über ihre weißen Thonpfeifen und Lichtenhainer Kännchen hinweg miteinander gepflogen hatten.

Aber er mußte einsehen, daß die Zeitenuhr in seiner Vaterstadt fast noch auf derselben Stelle stand wie ehedem.

Während er über die offenen Gossen sprang, in die kleine Rinnsäle vom abschüssigen Pflaster liefen, den Ausguß der Drachenköpfe vorsichtig vermied, welche das von den Dächern tauende Wasser herabspieen, zersann er sich den Kopf, wie der drohenden Gefahr vorzubeugen wäre.

War nirgends ein Beistand zu finden?

Da tauchte in seiner Erinnerung ein junger aber ernster Herr auf, ein Gesicht mit klugen Augen, deren gesammelter Blick aus der Tiefe herausdrang: der Erbprinz Günther von Sondershausen, schon bei Lebzeiten seines Vaters die Seele der dortigen Regierung.

Er würde dereinst nach dem Aussterben der hiesigen Linie der Herr auch dieses Landes sein.

Struve war ihm vorgestellt worden, als er bei den Verhandlungen über die Einführung des Erstgeburtrechtes in Schwarzburg als Protokollführer diente.

Die Erinnerung wehte ihn wie ein frischer Luftzug an.

Er legte seine Notizen nicht mutlos beiseite, als er in seinem schönen Haus in der vornehmen Rittergasse angelangt war. Er setzte sich an seinem Schreibtisch nieder und begann eine Abhandlung darüber auszuarbeiten, wie der Gegner für seine rechtmäßigen Forderungen zu entschädigen und hinwiederum dem unnatürlichen Verhältnis ein Ende zu machen sei, daß über dieses kleine Land drei Herren herrschten: der Fürst, der Herzog von Weimar und der Kaiser.

Manchmal zwar erschien über den Gesetzbüchern ein schönes Mädchengesicht mit sittsam niedergeschlagenen Augen und purpurrotem Mündchen, das man mit einem Dreier zudecken konnte, wie die landläufige Rede war.

Aber er sagte sich, daß es für sein empfindliches Gefühl und seine Manneswürde besser sei, solch holder Vorstellung nicht nachzuhängen. Die Erinnerung an Kilianes Neckerei schuf ihm Unbehagen. Welche Suppe mochte ihm der mutwillige Kobold eingebrockt haben, die ihn die schöne Magdalene unbarmherzig ausessen lassen würde?

Denn – Magdalene hatte noch kein vollkommenes Vertrauen zu ihm gefaßt.

Schon als vor etlichen Wochen der Kanzler die Räte und Diener mit ihren Frauen zu „Caffee mit Sahne und Zucker“ lud, hatte er die betrübende Erfahrung gemacht. Dieweil er Christelchen, der Tochter des Justizienrats, das Filetzeug brachte, gab ihm Magdalene ihre Unzufriedenheit dadurch zu erkennen, daß sie ihm verwehrte, ihr beim Heimgang die seidene Saloppe um die Schultern zu hüllen. Sie hielt ihn für wandelbar, ihn – einen Struve!

Deshalb war es ratsam, bis der erste Zorn vergangen war, die Lieben ad acta zu legen. – –

Aber einmal kam der Frühlingswind mit warmem Hauch durch das Fenster, blätterte spielenden Fingers in den moderigen Urkunden, daß der Doktor beider Rechte sich nicht mehr zu finden wußte.

Da widerstand er dem Lenzeszauber nicht länger. Er trat an das Fenster mit den großen hellen Glastafeln, die eine prunkliebende Großmutter statt der Butzenscheiben hatte einsetzen lassen.

Mit tiefem Atemzug sog er den kräftigen Hauch ein, den die Erde seiner weiten das Haus umgebenden Gärten ausströmte. Welche verheißungsvolle Tragknospen die Birnbänwe bedeckten, die seines Großvaters Hand veredelt hatte! Das Aprikosenbäumchen, der Augapfel seines verstorbenen Vaters, hatte in dem geschützten Winkel, wohin nur die Mittagssonne kommen konnte, schon seine rosigen Blüten entfaltet. „Die kleinen Vöglein“, wie die Bibel die Bienen nennt, summten darum. Vom Geflügelhof her, den noch seine wirtliche Mutter angelegt hatte, tönte das sanft einschläfernde Gurren der Tauben.

Jede Generation hatte an dem wohlhäbigen Familiennest gebessert, und in jener Zeit, wo Festsitzen so üblich war wie heute das in der Welt Herumfahren, erntete der Nachkomme, was der Vorfahr gesät hatte.

Und aus den hellen, aber einsamen Stuben, aus dem Veilchendust der Rondelle, dem süßen Gesang des Sprosserpärchens, das in dem zart umlaubten Jelängerjeliebergang sich sein Nestchen baute, schien ihm immer dieselbe Mahnung zu kommen: es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.

Er hatte keine Ruhe mehr bei seiner Arbeit.

Es dämmerte schon so stark, daß er die Buchstaben, die so umkräuselt waren, als trügen auch sie Perücken, nicht mehr erkennen konnte.

Der Bediente mußte ein paar Bürstenzüge über die Schuhe thun, daß die goldenen Schnallen funkelten; die Spitze des dreieckigen Hutes in die Stirn gedrückt, den Rohrstock in die Hand – Christian wollte einmal wieder vor der Superintendentur „gassieren“.

Von weitem erschaute er den Lichtstrahl, der aus Magdalenes Fenster fiel. Es war der weichen Abendluft geöffnet. Er erkannte die feine Profillinie ihres Köpfchens neben dem Myrtenbäumchen auf der Fensterbrüstung.

Der weite Pfarrhof lag öde und still.

Aus dem Kantorenhäuschen tönte der Klang des Cembalo. Sebastian Bach spielte.

Da traf ein leises Singen sein Ohr.

„Siehe! ich stehe vor der Thür und klopfe an!“

setzte eine Stimme wie ein Hauch, aber fest und sicher ein. Dann klang es wie verhaltenes Schluchzen.

In seiner weichen Stimmung griff ihm der Gesang doppelt an das Herz.

Stand nicht eine weibliche Gestalt, den Kopf geneigt, dort in dem dunklen Eckchen unter dem Rosenbusch vor der Thür des Kantorenhauses?

[585]

Photographie im Verlag von Franz Hanfstaengl in München.
Am Sonntagmorgen.
Gemälde von Emil Brack.

[586] Immer hilfsbereit, ging Christian Struve darauf zu. „Fehlt der Demoiselle etwas?“ fragte er leise.

Er hatte trotz der Dämmerung an der Kleidung erkannt, daß das Mädchen nicht von niedrigem Stande war, obgleich es ein Tüchlein über den Kopf geknüpft trug in nicht ganz städtischer Weise.

„Ach nein,“ flüsterte eine süße Stimme in dem singenden Dialekt des Thüringer Waldes, „ich weine vor Freude. Der Herr muß nämlich wissen: ich bin mit der Musik groß gezogen worden wie die Amseln und Drosseln im Wald. So spielte mein Vater selig auch, wenn es Abend war, die Lehrjungen ausgedudelt und ausgefiedelt hatten, Mutterchen die Kühe mit den läutenden Glocken in den Stall gebracht hatte. Es war der Kantor Michael Bach im Waldamt Gehren, und das Stück, das der Sebastian spielt, ist eine Motette von ihm.“

„Demoiselle ist die Tochter von Michael Bach, unserem berühmtesten Kantor?“ fragte Struve überrascht.

Sie nickte. Dann aber sagte sie fast feierlich: „Der Sebastian da drinnen ist mehr. Hört Er, wie die Antwort: ‚Sei willkommen, Du edler Gast,‘ sich aufbaut, immer wieder wie aus unerschöpflicher Quelle in veränderter Gestalt aufsteigt? Ach, Vater, wenn Du das erlebt hättest!“ Und hingerissen, selbstvergessen setzte sie laut wieder ein:

„Siehe! ich stehe vor der Thür und klopfe an!“

Die Musik brach ab; rasche Schritte stürmten an das Fenster. Es wurde aufgeschoben – der mit echt deutschen Ecken und Kanten versehene Kopf des jungen Organisten fuhr heraus.

Die Sängerin war geräuschlos davon geflattert.

Weit bog sich Bach vor. Seine lebhaften, aber kurzsichtigen Augen, über denen starke Brauen sich wölbten, hefteten sich auf den weitergehenden Sekretarius.

Dann schob er brummend das Fenster wieder zu. Der stattliche Mann konnte doch nicht so süß gesungen haben! Und wer verstand hier so richtig zu pausieren?

„Ei, ei!“ rief eine krächzende Stimme hinter Christian. Es war der Justizienrat, der Vater des heirathsfähigen Christelchen, früher zärtlicher Freund, jetzt grätiger Gegner. „Auf welchen Wegen wandelt der Herr Sekretarius?“

„Was will der Herr Justizienrat damit sagen?“ fragte Christian scharf.

„Hä! hä!“ lachte der andere auf seinem einzigen Zahn. Dann rief er laut: „Nichts für ungut, Herr Sekretarius, daß ich das Nachtschwälbchen verscheuchte, mit dem Er unter dem Rosenbusch sponsierte. Ihre hellen Strümpfchen rannten durch die Dunkelheit davon wie Bachstelzenbeinchen.“

„Herr Justizienrat!“ rief Struve entrüstet.

„Hä! hä!“ der Herr Kollege stampfte davon.

Magdalenens Fenster klirrte zu.

In äußerster Empörung stand Struve auf dem dunklen stillen Pfarrhof. Der Justizienrat war verschwunden; er konnte doch auch nicht auf der Straße einen Krakehl anfangen! Nun, morgen in der Session wollte er den heimtückischen Mann für seine Stichelreden bezahlen!

Aber auch Magdalene stellte seine Geduld auf harte Probe. Wie konnte sie jedem giftigen Wort Gehör geben?

Mit dem Gassieren: dem sittig am Fenster vorüber Wandeln, sich mit den Augen Festhalten, da die Hände es noch nicht dürfen, auf respektvoll werbenden Gruß ein schüchtern verheißendes Gegengrüßen in Empfang nehmen – mit all diesem süßen Zeitvertreib war es vorüber.

Finster kehrte Christian zu seinen Akten zurück.

(Fortsetzung folgt.)


Spaziergänge in chinesischen Arbeitervierteln

Von Ernst von Hesse-Wartegg.

An den „Sehenswürdigkeiten“ chinesischer Städte, an Tempeln, Pagoden und Ehrenpforten, hat sich der Europäer gewöhnlich bald satt gesehen, denn der großen Mehrzahl nach sind sie von einem ewigen Einerlei. Kam ich im „Reiche der Mitte“ in eine mir noch unbekannte Stadt, so bangte mir gewöhnlich schon vor dem Confuciustempel oder der Pagode, die ich besichtigen sollte. Was wirklich interessant wäre wie die Kaiserpaläste und Ahnentempel in Peking, ist nicht zugänglich, und wo diese Kaiserpaläste und Tempel wirklich zugänglich wären wie in Nanking, sind nur noch traurige Ruinen davon übrig.

Weit interessanter als diese Bauten in den chinesischen Städten ist das Leben und Treiben ihrer Einwohner, darunter vor allem die chinesische Industrie. Nach dem allgemeinen Ueberblick, den der Aufsatz „Ein Tag in China“ in Nr. 47 des vor. Jahrg. der „Gartenlaube“ den Lesern geboten, darf ich bei ihnen für eine Schilderung meiner im vorigen Jahre persönlich gesammelten Eindrücke auf ebensoviel Verständnis wie Interesse rechnen. Kam ich in eine chinesische Stadt, so ließ ich mich von meinem Dolmetscher gewöhnlich zuerst in die Geschäftsstraßen führen, wenn die engen, dunklen, feuchten Gäßchen der meisten Städte den Namen „Geschäftsstraßen“ überhaupt verdienen würden. Allerdings war ich selbst dort viel mehr der Gegenstand der Neugierde, als es die Chinesen für mich waren. So lange ich mich mitten durch das rege Gewühl und Gedränge fortbewegte, beschränkte sich mein neugieriges Gefolge gewöhnlich nur auf etwa ein Dutzend Personen; blieb ich irgendwo stehen, so verdoppelte sich der mich umdrängende Menschenhaufen, und begann ich gar durch meinen Dolmetscher zu fragen oder zu feilschen, dann schrieen die bezopften Straßenjungen vor lauter Verwunderung und lockten noch die Menschen aus den Seitengäßchen herbei. In der ersten Zeit war mir diese schmutzige, zerlumpte Gesellschaft in hohem Grade lästig, aber später gewöhnte ich mich daran. Bei solchen Gelegenheiten kam mir immer der erste Chinese in Sinn, den ich als kleiner Junge in Europa gesehen habe. War ich ihm dort etwa nicht ebenfalls nachgelaufen? Wurde er nicht durch böse Gassenjungen geneckt und beim Zopfe gezupft und ausgelacht? Jetzt zahlten seine Landsleute mir diese Neugierde zurück.

In Canton kümmern sie sich um die Europäer wenig mehr. Canton, diese größte Stadt des „Reiches der Mitte“, ist an Europäer schon seit dreihundert Jahren gewöhnt, man sieht ihrer dort viel mehr als in anderen Städten Chinas, und das Gefolge beschränkt sich gewöhnlich nur auf ein halbes Dutzend Menschen, die man sich hier auch leichter vom Leibe halten kann. Dazu ist Canton das Paris, oder ich möchte lieber sagen, das New York von China, Peking ist sein Washington. Canton ist der Hauptsitz der chinesischen Industrie; Hunderttausende sind dort mit der Anfertigung von Waren beschäftigt, die auf zahllosen Dschunken und Kanalbooten, auf dem Rücken von Mauleseln oder Lastträgern durch das ganze Reich geführt werden; in Canton sind die geschicktesten Arbeiter, die reichsten Kaufleute, die schönsten Läden, und wohin ich auch kam, nach Ningpo und Hangtschou, nach Tschingkiang und Sutschou und Wuhu, Städte in Nord und Süd – in den Industrievierteln fand ich mit geringen Abweichungen doch nur den Abklatsch des industriellen Lebens von Canton. Es ist in dieser Hinsicht die Hauptstadt Chinas, alles andere Provinz.

Gerade wie es in vielen Städten Europas der Fall ist, so sind auch in den chinesischen Städten die einzelnen Industrien gewöhnlich in bestimmten Quartieren zu finden; hier eine Gasse, vielleicht ein bis zwei Kilometer lang, gefüllt mit Goldarbeiterläden, die sich dicht aneinander reihen, so daß ich oft gar nicht wußte, ob ein Schaukasten zu dem einen oder dem anderen Laden gehörte; bog ich um eine Straßenecke, so befand ich mich vielleicht im Viertel der Fächerfabrikanten, in der nächsten Straße in jenem der Möbeltischler etc.

Ein Haus gleicht dort dem andern: das untere Stockwerk wird ganz von dem Geschäft eingenommen, das von der einen Hauswand zur anderen offen steht, um das in den düsteren Gäßchen an und für sich spärliche Licht einzulassen; im oberen Stockwerke sind die Wohnungen, und vor jedem Hause baumeln die roten, gelben, goldenen ober schwarzen langen Schilder herab, mit gewöhnlich vergoldeten oder schwarzen Schriftzeichen; ein Wald von Schildern, der jeden Ausblick verhindert, das Sonnenlicht ausschließt und die Gäßchen selbst in ewige Dämmerung hüllt, während die Schilder darüber glitzern und glänzen. Man [587] denke sich nur sämtliche Firmentafeln des Wiener Grabens, oder der Berliner Friedrichstraße, statt an den Häusern befestigt, vor denselben von Stangen der Länge nach herunterbaumeln! Unten in den Gäßchen ein ewiges Gewoge und Getriebe, ein Lärmen und Schreien und Stoßen und Drängen, ein Hin- und Herzerren und Schieben und Drücken von Zehntausenden bartloser, langbezopfter halbnackter Gestalten, alle auf der Jagd nach Erwerb, alle im Kampf ums Dasein. Rechts und links in den kleinen finsteren Gewölben aber wird gehämmert und geklopft, gesägt und gefeilt, ohne Unterlaß vom Morgengrauen bis zur anbrechenden Dunkelheit. Ueberall wird so emsig gearbeitet, als gälte es, Bestellungen auszuführen, die unbedingt am Abende fertig sein müssen. Welcher Fleiß! Welche Unermüdlichkeit des Schaffens!

In diesen Industrievierteln Cantons wie anderer chinesischen Städte sah ich niemals die Menschen rasten und ruhen, ausgenommen, sie lagen still und tot unter dem weißen Leichentuche, aufgebahrt in denselben Läden, in denen sie ihr ganzes Leben in rastloser Arbeit verbracht hatten. Herrschte doch gerade während meines Aufenthaltes in Canton die sibirische Beulenpest, diese furchtbare Epidemie, welche täglich Tausende fortraffte! Aber in den Läden ringsum wurde dabei doch rastlos gearbeitet, obschon niemand wußte, ob nicht die Arbeit unter seinen Händen seine letzte war, ob nicht der tückische Tod sich ihn als nächstes Opfer ausersehen hatte! Wanderte ich durch diese Straßen, Kampfer im Munde und ein mit Kampfergeist getränktes Taschentuch vor der Nase, so vergaß ich über dieser Emsigkeit des Schaffens selbst die furchtbaren Verhältnisse, die eben in Canton herrschten. Ich war der einzige Spaziergänger, der einzige Müßiggänger unter all diesen Zehntausenden und hätte mich selbst hinsetzen mögen, um mitzuthun! Betrachte ich heute die Dutzende von Sachen, die ich auf meinen Spaziergängen in den chinesischen Städten erworben habe, dann sehe ich im Geiste auch die Arbeiter vor mir, die sie verfertigten, diese halbnackten, schweißtriefenden, emsigen Gestalten, wie sie stumm, ihrer Arbeit vollständig hingegeben, auf dem feuchten Boden kauern, und der höchst eigentümliche Geruch, der all den Industriestädten Chinas eigen ist, haftet auch meinen Fächern und Stickereien, Stoffen und Gerätschaften noch heute an. Entfalte ich eine der herrlichen Stickereien, so ist bald mein ganzes Zimmer mit diesem berauschenden moderigen Duft geschwängert, ein Gemenge von Opium-, von Sandelholz- und Theegeruch. Er ist unangenehm, bedrückend, ich möchte sagen Furcht einflößend. Er erinnert an Grüfte. Es sind ja in der That Grüfte, in denen die großen Massen der Chinesen arbeiten, und auch ihre Arbeit ist furchteinflößend. Wie, wenn diese Hunderte von Millionen fleißiger Menschen ihre althergebrachten Werkzeuge fortwürfen und zu unseren modernen Arbeitswaffen, zu unseren Maschinen, griffen? Wie, wenn ein industrieller Li Hung Tschang den rastlosen Fleiß, die Fertigkeit dieser größten Arbeiterarmee der Welt gegen die unserige, europäische, ins Feld führte und in China Hunderte von Fabriken, von Hochöfen und Gießereien schaffen sollte? Was würde dann aus uns?

Dieses Gedankens konnte ich mich niemals erwehren, wenn ich die Chinesen bei der Arbeit sah, und als Europäer, als Weißer, dankte ich im stillen der Vorsehung, daß sie den Chinesen wohl Fleiß, Enthaltsamkeit, Kraft, Geschicklichkeit, aber keinen – Fortschrittsgeist gegeben hat! Wie vor Tausenden von Jahren, so arbeiten sie heute noch mit den gleichen rohen Werkzeugen, und ich kaufte mir in China dieselben Fläschchen, die man unter den Pyramiden in den Gräbern der alten Aegypter gefunden hat – Artikel, welche die Chinesen damals in alle Welt versandten, bis andere Völker, andere Kulturen des Abendlandes als ihre Konkurrenten auftraten und sie vom Markt verdrängten. Aber droht die mongolische Flut nicht von neuem wieder über das Abendland hereinzubrechen?

Nicht so bald! Der konservative Zug der Chinesen, die Achtung vor dem Althergebrachten schützt uns noch für lange Zeit vor ihnen. Kennen sie doch die Europäer schon seit Jahrhunderten und ihre Werkzeuge, ihre Maschinen, ihre praktischen Arbeitseinrichtungen schon seit Jahrzehnten. Die weißen Barbaren brachten ihnen bequeme Arbeitswaffen, einfach, leicht, der doppelten Leistung fähig, aber die Mongolen ließen sie unbeachtet und arbeiteten mit den alten plumpen schweren Werkzeugen weiter, dabei möglicherweise besser, sorgfältiger als wir mit unserer praktischen Schulung und unseren praktischen Werkzeugen. Man sehe sich nur ihre Bronzen, ihre Holzschnitzereien, ihre Lackwaren, Porzellane, Möbel an! Jeder Artikel ist das Werk einer einzigen Familie, vielleicht eines einzigen Arbeiters, denn Arbeitsteilung kennt der Chinese nicht. Sang Ding oder Han Tschang hat möglicherweise die Form für seine Bronze selbst modelliert, die Metallmischung und den Guß vorgenommen; er hat selbst mit dem Stichel die einzelnen Figuren ciseliert und emailliert, vergoldet und vollendet. Sang Ching macht nicht etwa nur die Holzarbeit eines Möbels. Er webt die Stoffe, macht die Stoffmuster, das Gerippe des Möbels, schnitzt kunstvolle Verzierungen, lackiert und tapeziert selbst. Mag man über die bizarren Formen dieser uns fremdartig berührenden Erzeugnisse lächeln, jedes Stück hat doch einen gewissen Charakter und zeigt etwas Individuelles. Maschinen wurden schon vor fünfzig Jahren eingeführt, und die Engländer boten alles Erdenkliche auf, sie unter die Leute zu bringen, aber die Chinesen nahmen nur solche an, welche kraftspendend waren, andere jedoch, welche die Handarbeit selbst übernehmen und vollkommener verrichten, wie z. B. die Nähmaschinen, wiesen sie zurück. Tausend Fächer, einander so gleich wie ein Ei dem anderen, werden Stück für Stück, Blatt für Blatt von einem einzigen Arbeiter geschnitzt, gebunden, gemalt und verkauft. Reichen bei größeren Arbeiten die Hände nicht aus, so werden die Füße, die Zehen zu Hilfe genommen, und mancher Chinese leistet mit seinen Zehen Besseres als mancher Weiße mit seinen Händen. Sie haben ein erstaunliches Geschick; jeder einzelne ist ein Meister Hämmerlein. In manchen chinesischen Dörfern fand ich keinerlei Kaufläden, und als ich mich erkundigte, wo denn die Menschen ihre Stoffe, Schuhe, Gerätschaften u. s. w. hernähmen, hieß es, sie verfertigen sie selbst. In Bauernhäusern fand ich uralte Webstühle, vor den Häusern saßen Frauen, die Kleider nähten, hockten Männer, die Sandalen flochten. Ist etwas zu besorgen, wozu ihnen die Werkzeuge fehlen, so rufen sie irgend einen der wandernden Handwerker. Schmiede, Flickschneider, Schuster, Barbiere, Gewerbtreibende aller Art wandern von Ort zu Ort, gerade so, wie ich es auch in Korea getroffen habe – ich darf dafür auf mein Buch über Korea (Dresden, C. Reißner) verweisen – und wie es bei uns die Scherenschleifer thun. Wo sie Arbeit finden, wird Halt gemacht, das Ränzlein ausgepackt und gearbeitet. Auf dem Wege von Zikawei nach Sutschan begegnete ich einem Schmied, der eben im Begriffe war, seine ambulante Schmiede einzurichten, um einige Flickarbeiten zu besorgen. Statt wie bei uns die Ränzchen auf dem Rücken zu tragen oder einen Handwagen mit sich zu führen, schieben die chinesischen Handwerker ihre Siebensachen auf einem unförmlichen Schubkarren vor sich her, oder sie verteilen sie in zwei flache Körbe und hängen diese an die beiden Enden eines mannslangen armdicken Bambusrohres, das sie auf den Schultern oder am Nacken tragen. So befördern sie meilenweit Lasten, welche wir nicht hundert Schritte weit tragen würden, ohne erschöpft zu sein. Mein guter Schmied hatte an dem einen Ende des Bambusrohres einen Blasbalg hängen, an dem ein unförmiges Stück Eisen, sein Ambos, festgebunden war. Am anderen Ende hing ein schwerer Korb mit alten Eisenstücken, Werkzeugen und einem Kohlensack. Darüber thronte eine Pfanne und ein irdener Topf. Während ich meinen „Tiffin“ (Gabelfrühstück) einnahm und ein wenig ruhte, beobachtete ich seine Thätigkeit. Er legte den Ambos auf einen Stein, den er zuvor mit etwas feuchter Erde bedeckt hatte, holte die Pfanne hervor, die er mit Kohlen füllte, fügte durch eine Oeffnung in der ersteren den Blasbalg ein und begann das Feuer anzufachen. Dann füllte er den Topf in dem nahen Kanal mit Wasser, und nun sah ich erst, daß er im Begriffe war, zuerst seine Mahlzeit zu kochen, denn er warf eine Handvoll gepreßtes Seegras in den Topf, dazu eine Menge gekochten Reis. Mit einem Appetit, als wäre es Trüffelragout, verschlang er dann dieses Gemengsel, und derselbe Topf diente ihm später zum Abkühlen der Eisenstücke und Gerätschaften, die ihm von den Einwohnern zur Ausbesserung gebracht wurden.

In den Städten halten sich diese wandernden Künstler länger auf; sie bleiben stunden- auch tagelang an irgend einer Mauer hocken und warten auf Kundschaft. In Tschinkiang am Jangtsekiang wohnte ich einer ergötzlichen Scene bei. Es war gerade großer Festtag, die Feier irgend eines Provinzheiligen, und in der Stadt drängten sich viele Tausende von Landleuten aus der ganzen Provinz. Ein zerlumpter struppiger Mongole kam durch die Hauptstraße gewandert und kauerte vor einem an der Schattenseite im Freien thätigen Barbier nieder. Bevor er sich seinen Schädel kahl rasieren ließ, zog er seine blaue Aermeljacke aus und warf sie [588] einer wandernden Flickschneiderin zu, die vor seinen Augen mitten auf der Straße die Schäden ausbesserte. Da kam ein Flickschuster mit seinem Schnappsack herbeigelaufen, und wie in England die Bootblack- (d. h. Stiefelwichs-) Jungen, so wies auch dieser mongolische Crispinusjünger beharrlich auf die Schäden an den Filzschuhen des Chinesen. Nach längerem Geschrei und Geplapper schienen die beiden handelseinig; der Schuster zog dem Chinesen die Schuhe ab, setzte sich neben das Flickweib und begann nun seinerseits, Lederflecken auf die Löcher der Fußbekleidung zu setzen.

Leder findet in China bei weitem nicht die ausgebreitete Verwendung wie bei anderen Völkern. Lederschuhe sieht man fast gar nicht, denn die Fußbekleidung der ärmeren Klassen besteht aus Strohsandalen, jene der bemittelteren aus Seide, mit Filzsohlen.

In gar manchen Industrien sind uns die Chinesen wie gesagt trotz ihrer primitiven Werkzeuge ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Ihre Silberarbeiten sind bewundernswert; einzelne Arbeiter modellieren, schmieden und vergolden die herrlichsten Vasen, Prunkbecher, Blumenhalter etc. mit Hunderten von getriebenen Figürchen, kaum ein oder zwei Centimeter groß, aber so zart gearbeitet, daß man die Gesichtszüge und den Faltenwurf der Gewänder daran unterscheiden kann; dann werden diese Arbeiten von denselben Künstlern noch ciseliert.

Noch zarter und künstlerischer sind die herrlichen Stickereien. Viele Tausende von Männern und Frauen sind in Canton mit Stickarbeiten beschäftigt, die auch in großen Mengen nach Europa ausgeführt werden und hier willige Abnehmer finden. Monatelang wird manchmal an einem Stück gearbeitet; die Blumen, Vögel, Schmetterlinge etc. werden ihnen nicht vorgezeichnet; sie arbeiten direkt nach dem Muster auf der Seide und führen bestimmte Stickereien auf beiden Seiten derselben aus, wobei sie die Enden der Fäden so geschickt verarbeiten und verstecken, daß man sie nicht entdecken kann. Die schönsten Muster werden in Seidenstoffe auf ganz einfachen Webstühlen eingewebt. Mit den Geheimnissen der Färberei sind sie, obwohl sie von der Chemie als Wissenschaft keine Ahnung haben, wohl vertraut, und die von ihnen gefärbten Stoffe halten die Farben besser als diejenigen, die sie von Europa geliefert bekommen. In der Zartheit und Genauigkeit von Holz-, Elfenbein- und Steinskulpturen stehen sie unerreicht da. Mit großer Findigkeit benutzen sie z. B. in geädertem Marmor die dunklen Adern, in Astholz die Astknoten für die Zwecke ihrer Arbeit; aus einer knorrigen Wurzel schneiden sie im Handumdrehen einen langbärtigen Götzen, aus einem vielkantigen Speckstein einen grotesken Alten, wobei ihnen die Auswüchse und Vorsprünge des Materials eher förderlich als hinderlich sind. An Häuserfronten, Thüren, Wänden, Möbeln bringen sie derlei Skulpturen an, wo sich nur Platz bietet, schneiden, polieren, vergolden und bemalen sie mit großer Kunst, aber sie verstehen es nicht, den Figuren die richtigen Verhältnisse, landschaftlichen Darstellungen die Perspektive zu geben. Das zeigt sich auch bei ihren Malereien. In Canton fand ich Tausende mit dem Bemalen des sogenannten Reispapiers beschäftigt, eine Eigenartigkeit der chinesischen Industrie. Dieses vermeintliche Reispapier, zart, blendend weiß, sehr gebrechlich und federleicht ist keineswegs Papier, sondern das Mark einer Abart des Brotfruchtbaumes, das sehr sorgfältig herausgeschnitten und dann mit dünnen breiten Messern in ganz dünne Scheiben geschnitten wird. Auf diese Scheiben malen die Chinesen mit Wasserfarben alle möglichen Bildchen aus dem Volks- und Familienleben, Porträts, Landschaften etc.; aber sie haben es nicht gelernt, den Bildern Schatten zu geben, ja in einem Porträt wird beispielsweise die Schattierung als Fehler angesehen; bei Darstellungen von Landschaften denken sie sich dieselben nicht von einem einzigen Standort aus gesehen, sondern sie verändern denselben jeweilig und malen also eine entfernt stehende Person ebenso groß und mit ganz denselben Einzelheiten wie eine nahestehende, nur stellen sie die letztere tiefer, die entfernt stehende höher im Bilde.

In der Mehrzahl der Städte, selbst der kleinsten, werden Seidenstoffe gewebt, aber nirgends befindet sich eine Fabrik in unserem Sinne des Wortes; die Seide wird in einzelnen Familien verarbeitet, deren wertvollste Habe ihr unförmiger Webstuhl bildet. Und doch verstehen diese armen, unwissenden Mongolen bessere Seidenstoffe zu machen als wir. Die Worte Seide (Setum), Satin, Senshaw, die heute in der ganzen Welt eingebürgert sind, stammen aus dem Chinesischen, wo sie Sse, Ssetun und Ss’inscha heißen. In Nanking ließ ich mich in die berühmte kaiserliche Seidenfabrik führen, wo die Seide für den kaiserlichen Hof in Peking sowie für die Ahnen- und Götzenopfer angefertigt wird, gewaltige Mengen, denn in Peking werden für Opferzwecke jährlich dreißigtausend Stück Seide allein verbrannt! Statt einer Fabrik fand ich dort eine Reihe schmutzstarrender dunkler Räume und in jedem einen plumpen vorsündflutlichen Webstuhl; aber auf diesen entstanden allmählich unter meinen Augen die herrlichsten Damastbrokate, welche am chinesischen Kaiserhofe die Bewunderung der Gesandten in so hohem Grade erregen!

Welche Künstler die Chinesen in Bezug auf das Porzellan sind, ist ja bekannt; von China kam die Porzellanfabrikation auch nach Korea und von dort nach Japan, wo man heute vielleicht noch zarteres Porzellan macht wie in dem eigentlichen Mutterlande desselben.

Ob es wohl bekannt ist, daß der Name „Porzellan“ nicht aus diesem letzteren, sondern aus dem – Portugiesischen stammt? Als die Portugiesen vor drei Jahrhunderten die zarten durchscheinenden gebrechlichen Theetassen zum erstenmal sahen, hielten sie das Material für geschliffene Perlmuttermuscheln, im portugiesischen Porcellana genannt, und dieser Name blieb dem Porzellan in den meisten Ländern und Sprachen bis auf den heutigen Tag.

Papier war ihnen schon im ersten Jahrhundert vor Christo bekannt, aber gerade so wie damals machen sie es heute noch aus Bambusfasern, die sie in einem großen Mörser zerstampfen und mit etwas Baumwollfaser mischen. Sie selbst betrachten das koreanische Papier als das beste, und bis auf die jüngste Zeit bestand ein Teil des Tributs, welchen Korea an den Kaiser von China zu zahlen hatte, in Papier. Aus derselben Zeit stammt die Erfindung der Tusche, die sie immer noch aus denselben Stoffen, Oel-, Kohlen- und Fichtenholzruß (also nicht etwa aus dem Tintenfisch, wie es in Europa vielfach angenommen wird), erzeugen. Vielfach wurde von seiten der Europäer in China versucht, besonders bei Artikeln, welche nach Europa ausgeführt werden, den Chinesen billigere Erzeugungsmethoden beizubringen, aber sie bleiben mit rührender Beharrlichkeit bei ihren althergebrachten Methoden, wie sie möglicherweise schon zur Zeit des Confucius gebräuchlich waren. Fast könnte man daran verzweifeln, daß sie sich in ihren Industrien überhaupt aufrütteln lassen, wenn nicht die wohlfeilen europäischen Produkte die chinesischen unterbieten und deshalb immer mehr und mehr Eingang finden würden.

Der Chinese ist viel zu sehr Rechenmeister und Handelsmann, um sich auch dann auf seine Ueberlieferungen zu steifen, wenn es ihm an den Geldbeutel geht, einzelne Artikel hat er schon aufgegeben, um sie durch europäische zu ersetzen, andere europäische hat er selbst zu erzeugen begonnen. So z. B. machen die Chinesen wohl schon seit langer Zeit Nähnadeln, aber jede einzelne wird mit der Hand gefeilt und gebohrt und ist deshalb nicht nur kostspielig, sondern auch so plump, daß sie sich mit unseren spottbilligen Nadeln gar nicht vergleichen lassen. Bekanntlich werden unsere Nadeln in kleine schwarze Paketchen gepackt. Die guten chinesischen Damen stießen sich anfänglich an der schwarzen Unglücksfarbe des Packpapiers und meinten, wenn die Nadeln in rotes Papier gepackt wären, würden sie sie doch versuchen. Natürlich beeilten sich die Birminghamer, ihre zarten Produkte für den chinesischen Markt in schönes rotes Papier zu hüllen, und jetzt haben sich die Chinesen so sehr an die billigen europäischen Nadeln gewöhnt, daß sie auch schwarze Packungen annehmen. Der chinesischen Nadelindustrie aber ist der Garaus gemacht. In den entfernten Provinzen des Innern schmieden sich die Bauern ihre Nadeln freilich noch immer selbst. Auch den Nutzen von Glas haben sie einsehen gelernt, das sie bis zum Verkehr mit den Europäern gar nicht gekannt haben. Ihre Fensterscheiben waren Papierbogen, ihre Spiegel aus Metall. Allmählich lernten sie das Schmelzen des Glases, und Tausende von Tonnen mit Glasscherben und alten Flaschen wurden jährlich nach China exportiert; jetzt verstehen sie es schon, den Kies selbst zu schmelzen und Glasscheiben zu erzeugen, so daß die Ausfuhr von Glasscheiben nach China vollständig aufgehört hat. Aber Spiegel können sie noch immer nicht erzeugen, dafür schleifen sie ihre runden Metallspiegel so glänzend, daß dieselben wirklich Ersatz für die Glasspiegel bilden.

Auch Brillen fanden bei den Zopfträgern willigen Eingang, aber weit davon, sie aus Europa einführen zu lassen, machen sie die Linsen ebenso wie die Horneinfassungen selbst; je größer die Linsen, je dicker die Rahmen, desto besser, denn es gehört in China

[589]

Voll Dampf voraus!
Gemälde von H. v. Bartels.

[590] zum guten Ton, große Brillen zu tragen. Die Mandarine, Beamten, wohlhabenden Geschäftsleute und die Compradores (Zahlmeister) der europäischen Kaufleute tragen gewöhnlich unförmig große Augengläser mit Krystallscheiben darin, welche ihr halbes Gesicht bedecken. Unsere europäischen Linsen können sie nicht gebrauchen, weil diese ihrer Ansicht nach viel zu klein sind. Deshalb bestehen in China eigene Schleifereien solcher Linsen, und da ihr Glas zu unrein ist, verwenden sie nur Krystall und schleifen die Linsen so lange, bis sie den betreffenden Augen entsprechen. Auf meiner Reise den Jangtsekiang aufwärts im vergangenen Frühjahr legte unser Schiff auch in Wuhu an, und begleitet von einem dort bekannten Theehändler, brachte ich mehrere Stunden in den dortigen Geschäftsvierteln zu. Auf dem Wege dahin begegneten wir einem dem Theehändler bekannten Chinesen, der eben zum Sekretär des Tao-Tais (Präfekten) ernannt worden, war. Durch unseren Dolmetscher ließ er uns mitteilen, er wäre eben im Begriff, zum Optikus zu gehen, um sich Brillen für seine schwachen Augen schleifen zu lassen. Offenbar schämte er sich vor uns, als Beamter noch keine Brille zu tragen. Thatsächlich sahen wir ihn bei einem Brillenmacher halten, und als wir zwei Stunden später zufällig wieder vorbeikamen, rief er uns lächelnd zu, die Linsen wären nun für sein Auge passend geschliffen. Der Neugierde halber blickte ich durch diese riesigen kreisrunden Gläser; sie waren flach wie Fensterscheiben.

Aus dem ganzen industriellen Leben der Chinesen konnte ich erkennen, daß sie mit Zähigkeit an ihren althergebrachten Werkzeugen und Herstellungsarten festhalten und ungemein schwer dazu gebracht werden können, sich die unsrigen anzueignen. Selbst im Auslande, wie z. B. in Kalifornien, wo sie, wie ich in meinem Buch über das Land (Leipzig, G. Weigel) geschildert habe, doch mitten unter den Amerikanern leben und arbeiten, haben sie ihre altchinesischen Handwerksmethoden beibehalten; ja, sie lassen sich ihren ganzen Bedarf an Kleidern, Gerätschaften, Werkzeugen etc. aus China bringen, statt die praktischen, billigen amerikanischen Artikel anzuschaffen. Nur Industrien, die sie vor der Berührung mit den Europäern nicht besaßen, nehmen sie willig an, vorausgesetzt, daß ihnen deren Nützlichkeit einleuchtet. So war es gar nicht schwer, den Gebrauch von Petroleum und damit auch Petroleumlampen bei ihnen einzuführen, aber die letzteren machen sie jetzt in Canton schon selbst und verschicken sie jährlich nach vielen Tausenden ins Innere. Ebenso unbekannt war ihnen unsere Eisenindustrie mit ihren großen Gießereien, ihren gewaltigen Stahlwerken, Maschinen aller Art. Es dauerte gar nicht lange, so besaßen sie an verschiedenen Orten Arsenale und Maschinenwerkstätten, geleitet von Europäern, die sie aber allmählich durch eingeborene Ingenieure und Mechaniker zu ersetzen bestrebt sind. Augenblicklich sind sie daran, den Eisenbahnbau von Europäern zu studieren, um seinerzeit ihre Eisenbahnen selbst bauen zu können.

Trotz der großen Erfindungen, welche die Geschichte den Chinesen des Altertums zuschreibt, sind die heutigen Bewohner Chinas kein erfindungsreiches Volk; dafür ist ihr Nachahmungsvermögen ungewöhnlich stark ausgeprägt. Haben sie einmal europäische Gegenstände, von deren Nützlichkeit sie überzeugt sind, und werden sie durch Europäer in die Geheimnisse ihrer Herstellung eingeweiht, so ist es ihnen ein Leichtes, selbständig zum Nachteil der europäischen Industrien weiter zu schaffen.

In Hongkong, Shanghai, Singapore und anderen Großstädten Ostasiens ist die Kleinindustrie fast ganz in die Hände der Chinesen übergegangen, denn der Europäer kann mit ihnen nicht konkurrieren. Der Bedarf an Kleidern und Schuhwerk für die dort ansässigen Europäer wird größtenteils von Chinesen geliefert, die sich auch in diesen Sachen als sehr flinke, verläßliche und äußerst anspruchslose Arbeiter erweisen. Für neue Kleider, Wäsche oder Schuhe Maß zu nehmen, ist nicht ihre Sache; aber sobald ich ihnen ein europäisches Kleidungsstück als Muster mitgab, verfertigten sie danach in der kürzesten Zeit genau das gleiche Kleidungsstück zu erstaunlich billigen Preisen. Ganze Anzüge aus guten europäischen Stoffen wurden mir in Shanghai und Singapore für zehn bis zwölf Silberdollars (nach dem gegenwärtigen Werte 20 bis 25 Mark) binnen vierundzwanzig Stunden geliefert. Nur muß in kleineren Orten darauf Bedacht genommen werden, diesen bezopften Kleiderkünstlern nicht etwa geflickte Kleider als Muster mitzugeben, weil das neue Kleidungsstück dann gewiß den gleichen Flickschaden an der gleichen Stelle zeigen würde.


– Der gute Kamerad. –

Ein Geburtstagslied für meine Frau.
Melodie: „Ich hatt’ einen Kameraden.“

Und wenn sich zwei gefunden,
Wie man’s beim Wandern thut,
Und sind zu allen Stunden
Einander treu verbunden,

5
Da geht das Wandern gut.


Wohl über Stock und Steine
Geht’s da im muntern Lauf,
Und strauchelt auch der eine,
Er ist ja nicht alleine,

10
Der andre hilft ihm auf.


An guten Tagen laben
Die zwei sich im Verein;
Sie teilen, was sie haben,
Um auch bei kleinen Gaben

15
Noch doppelt reich zu sein.


Und ist ein Berg erklommen,
So schau’n sie gern zurück.
„Hab Dank, daß Du gekommen
Und hast mich mitgenommen,

20
Zu unser beider Glück!“


„Ja, solchen Kameraden –
Wer nähme den nicht mit!
Du hältst auf allen Pfaden,
Den krummen und den graden,

25
Mit mir den gleichen Schritt.“


Wie viele der Begleiter
Sind längst nicht mehr zu seh’n!
Gottlob, daß wir noch heiter
Die Lebensstraße weiter

30
Und Arm in Arme geh’n!


Und wenn am Schluß der Reise
Auch uns der Abschied naht,
Dann klingt noch leise, leise
Die alte treue Weise:

35
Mein guter Kamerad!

 E. Hermann.


Freiheit.

Novelle von A. von Klinckowstroem.

  (Schluß.)

[„]Sie haben die ganze Zeit über bei uns ausgehalten,“ begann Wildenberg in warmem Ton, der Hellas ohnehin gespannte Nerven erzittern ließ. „Das war schön, denn wenn die Leute sehen, daß ihre Herrschaft ein Herz für sie hat und in schweren Stunden zu ihnen steht, so nehmen sie noch einmal so willig ihre Arbeit auf sich.“

„Sie vergessen, daß dieser Brand vor allem meine eigenen Interessen geschädigt hat und daß daher schon der Eigennutz mich treiben mußte, zu sehen, wie weit der Schaden sich ausdehnen werde.“

„Nein, nein, verletzen Sie sich nicht selbst! Sie werden mir nicht weismachen, daß die Sorge um Ihren Besitz Sie die Nacht hindurch bei uns gehalten hat.“

„Und was denn sonst?“ unterbrach sie ihn herb.

Er lachte sorglos. „Als ob ich Sie nicht besser kennte! Die Sorge um die Bewohner der Mühle war’s, und auch ein wenig die Sorge um uns. Ja, meine Gnädigste, Ihr gutes Herz und Ihr Gerechtigkeitsgefühl haben Sie nicht ruhen lassen, während wir uns mühten, und es war gut, daß Sie uns durch Ihre Gegenwart bis zum letzten Augenblick angefeuert haben. Wer weiß, ob wir sonst so eifrig gewesen wären. Für mich wenigstens kann ich nicht stehen. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich so wohlgemut in das brennende Haus hineingegangen wäre, hätte ich nicht den dunkeln Drang gefühlt, in Ihren Augen ein wenig großzuthun. O, ich hätte nach dem Muster der mittelalterlichen Ritter noch ganz andere Dinge vollbracht um ein Wort des Lobes von Ihren Lippen!“

[591] Trotzdem das alles offenbar scherzhaft gemeint war, hatte seine Stimme einen weichen erregten Klang. Das Alleinsein mit der schlanken blonden Frau wirkte wie berauschend auf ihn und ließ ihn allerlei Thorheiten sprechen, die er bei nüchterner Ueberlegung unterdrückt haben würde. Er vergaß in seiner glücklichen Unbefangenheit den praktischen Dingen des Lebens gegenüber, daß sie die Besitzerin von Strehlen war, von altem Adel, eine der besten Partien des Landes; für ihn war sie in diesem Augenblick nur ein reizvolles, begehrenswertes Weib, dessen Gegenwart ihm allmählich seine Sinne zu verwirren begann. Hella aber reizte der vertrauliche, fast siegesgewisse Ton, den er anschlug, nur noch mehr. Sie lachte spöttisch auf.

„Was Sie mir da sagen, hat nicht ganz den Reiz der Neuheit. Mit einigen Abweichungen habe ich Aehnliches schon von den meisten Herren der hiesigen Gegend gehört.“

„Können Sie sich darüber wundern? Ich finde es nur zu begreiflich, daß alle, die in Ihren Zauberkreis geraten, ein wenig von ihrer Vernunft einbüßen und Thorheiten sprechen.“

„Ja, ich wundere mich allerdings darüber, denn wer mich kennt, muß auch wissen, daß ich für dergleichen nicht empfänglich bin. Doch die Herren glauben ja immer, jede Frau, in erster Linie die unverheiratete, müsse sich von jeder, selbst der abgeschmacktesten Huldigung, die ihr pflichtschuldigst dargebracht wird, beglückt fühlen.“

Er schwieg, verletzt durch diese höhnische Erwiderung auf seine warmen Worte.

„Ich sage ‚pflichtschuldigst‘, weil es hier in der Gegend zum guten Ton gehört, mir den Hof zu machen,“ fuhr sie achselzuckend fort. „Und doch hätten die Herren der Nachbarschaft allmählich merken können, daß ich nicht gesonnen bin, meine Freiheit gegen eine sehr viel schlechtere Lage einzutauschen, ganz abgesehen davon, daß mein Name und meine gesellschaftliche Stellung mir gewisse Standesrücksichten auferlegen, welche ich auf keinen Fall außer acht lassen will. Glauben Sie mir, die Selbständigkeit ist für eine in jedem Sinn unabhängige Frau von zu großem Wert, um sie für eine Illusion hinzugeben.“

Es that ihm in der Seele weh, daß sie so unweiblich, so rücksichtslos von oben herab sprach. Er hätte sie so gern auf der Höhe erhalten, auf der sie bisher für ihn erhaben über alle anderen stand. „Eine Illusion?“ wiederholte er mechanisch, bemüht, den aufsteigenden Groll zu überwinden.

„Ja, eine Illusion! Oder ist diese sogenannte Liebe, die mir zuwider ist, etwas anderes als eine Einbildung, gerade lebendig genug, um die Gefühlsseligen und Thörichten über sich selbst zu täuschen?“

Wildenberg vermied es, sie anzublicken; er schritt eine Weile schweigend neben ihr her und sagte dann leise: „Glauben Sie mir, es wird eine Zeit kommen, in der Sie bereuen werden, einer leidenschaftlich vorgefaßten Meinung das Glück geopfert zu haben, das wir alle nur in der Gemeinschaft mit einem anderen geliebten Menschen finden.“

Sie warf den Kopf zurück. „Bin ich etwa unglücklich?“

„Die Stunde, in der Sie es sein werden, kommt unfehlbar!“

„Ich zweifle daran, daß Sie das erleben werden.“

„Wohl möglich, da ohnehin meines Bleibens hier nicht mehr lange ist! Aber ich bin sicher, daß Sie sich dieser Stunde und dieses Gesprächs noch einmal erinnern werden.“

Sie hatten inzwischen den Park erreicht und Hella trat durch die Gitterpforte ein, um ihren Weg direkt nach dem Schloß zu nehmen, während Wildenberg nach dem Gutshof hin links abbiegen mußte. Er lüftete den Hut und verbeugte sich. Vielleicht hatte er erwartet, daß sie ihm die Hand reichen werde, aber sie konnte sich nicht dazu entschließen, sondern neigte nur den Kopf und wandte sich dann parkeinwärts. Nach wenigen Schritten jedoch blieb sie unschlüssig stehen und machte eine Bewegung, als wollte sie ihn zurückrufen, aber er sah sich nicht mehr um, sondern schritt rasch davon.

Zu erregt, um sich niederzulegen, änderte Wildenberg nach kurzem Besinnen seine Richtung und bog in die Dorfstraße ein, die im Zwielicht des düstern Septembermorgens schweigend und menschenleer vor ihm lag. Die Leute, erschöpft von der nächtlichen Anstrengung, hatten sich niedergelegt und die Morgenarbeit für heute hinausgeschoben. Hier und da nur schimmerte aus dem Fenster eines der niedrigen Häuschen der Schein eines Lichtes oder des flammenden Herdfeuers. Die einsame Wanderung that ihm wohl und beruhigte seinen fieberhaften Pulsschlag. Vor dem Pfarrhause blieb er stehen und sah hinauf. Die Läden waren geschlossen, offenbar schlief hier noch alles. Doch nein, das letzte Fenster des Erdgeschosses dort zur rechten Hand stand offen, und zwischen dem Weingerank kam ein kleiner dunkler Kopf zum Vorschein.

„Fräulein Lili! Sie sind es?“ rief er froh überrascht.

„Ich konnte nicht schlafen,“ gab sie in eifrigem Flüsterton zurück. „Als das Feuer gelöscht war und die Leute zurückkehrten, gingen die andern zu Bett, aber ich war zu aufgeregt und hätte doch kein Auge schließen können. Unser Kutscher, der auch mit dabei war, hat erzählt, daß Sie in das brennende Haus eingedrungen seien und das arme Kind gerettet hätten – o, das war gut, das war edel von Ihnen!“

„Sie dürfen von dieser That nicht so viel Aufhebens machen, Fräulein Lili. Hätte ich’s nicht gethan, so wäre wohl im nächsten Augenblick ein anderer vorgegangen. Ich war nur zufällig der erste, dem nach dem Schrecken die Geistesgegenwart zurückkehrte.“

„Ja, aber die andern hatten eben nicht die Geistesgegenwart! Es soll Ihnen nicht gelingen, Ihre Heldenthat zu verkleinern. Großer Gott, wenn Sie nun verbrannt wären!“ Ein Schauer überlief sie unwillkürlich.

„Dann würde mich außer meiner alten Mutter wohl schwerlich jemand betrauert haben.“

„Und wir alle? Tante Hella und ich? Und der Herr Pfarrer?“

„O, Fräulein Hella würde sich bald getröstet haben!“ sagte er nicht ohne Bitterkeit.

„Aber wir hier nicht. Doch gottlob, da stehen Sie ja frisch und gesund! Nur etwas bleich sehen Sie aus – Sie sind doch nicht krank?“

Er lächelte. Ihr besorgter Eifer und der warme Ton ihrer Stimme thaten ihm wohl. „Es fröstelt mich ein wenig,“ sagt er, „und ich bin nach den Erlebnissen dieser Nacht begreiflicherweise etwas abgespannt, aber die kalte Morgenluft hat mir gut gethan.“

Der dunkle Kopf verschwand vom Fenster, gleich darauf erschien Lili in der Thür.

„Kommen Sie rasch herein! Das ganze Haus schläft zwar noch, aber ich weiß Bescheid und koche Ihnen schnell eine Tasse heißen Kaffee. Sie sehen wirklich sehr schlecht aus!“

Er zögerte einen Augenblick, dann folgte er ihr in das dämmerige Haus und nahm in des Pastors Lehnstuhl am Fenster Platz. Die Müdigkeit kam nun doch plötzlich über ihn, und halb im Traum, den Kopf zurücklehnend, folgte er mit den Augen der schlanken zierlichen Gestalt, die geräuschlos hin und her huschte, und Zucker und Milch herbeischaffte, während auf dem Tisch das Spirituslämpchen einen bläulichen Schein verbreitete und das Wasser mit singendem Ton zu sieden begann. Der heiße Trank, den ihre geschäftigen Hände ihm reichten, durchströmte seinen Körper mit wohliger Wärme. Wie teilnehmend und herzlich sie war und wie hausmütterlich um ihn bemüht! In dem halbwachen Zustand, in dem er sich befand, gingen ihm allerlei sonderbare Vorstellungen durch den Sinn. Es war ihm, als sei er daheim im eigenen Hause, als sei sie, mit der er sich hier so traulich im Morgendämmern allein befand, die Seine. Allmählich verflossen die Züge dieser Frau vor seinen Augen in undeutlichem Nebel; bald war es Hella, die er zu sehen glaubte, bald wieder Lili. Er konnte die beiden in seinem Herzen nicht voneinander trennen. Dieses Doppelgefühl wurde ihm mehr und mehr zur Qual in diesem Augenblick, in dem eine bleierne Müdigkeit sich auf ihn niedersenkte und er vergebens sich mühte, zum Bewußtsein seiner selbst zu kommen. Der Pfarrer, der zwei Stunden später nichts ahnend in sein Studierzimmer trat, fand zu seinem Erstaunen einen fest schlafenden Gast in dem Lehnstuhl, welcher sonst seiner eigenen beschaulichen Ruhe geweiht war.

Zu derselben Stunde saß Gräfin Lotti im Schlafzimmer ihrer Cousine und ließ sich von ihr die Erlebnisse der Nacht schildern. Aber Hella war merkwürdig zurückhaltend und verwies die Gräfin an Wildenberg und den Oberinspektor, als diese das Nähere über die heldenmütige Rettung des Kindes zu hören wünschte.

„Du sträubst Dich dagegen, ihm Deine Anerkennung zu zollen,“ bemerkte die Gräfin trocken. „Das ist ein schlimmes Zeichen.“

Diesmal war Hella im voraus gewappnet und entgegnete kühl: „Ich sträube mich durchaus nicht dagegen, aber es ist mir zuwider, durch allzu viel Lob den Wert einer That abzuschwächen. Uebrigens ist inzwischen etwas vorgefallen, was meine Aufmerksamkeit [592] in noch höherem Maße in Anspruch nimmt. Von Lilis Vater ist vorhin ein Brief gekommen, in dem er seine Tochter zurückverlangt.“

„Ich denke, er ist ein Mensch, dem man ein junges Mädchen unter keiner Bedingung anvertrauen kann?“

„Allerdings, aber gesetzlich steht ihm das Recht der Bestimmung über seine Tochter zu. Nach Ansicht der Herren vom grünen Tisch ist dieser Mann noch immer ein besserer Berater und Hüter seiner Kinder als die ehrbarste Frau. Er hat noch keine Strafen abzubüßen gehabt, folglich ist er ein ehrenhafter Mensch.“

„Aber Du kannst doch nicht im Ernst daran denken, ihm die Kleine wieder zu überlassen?“

„Gewiß nicht! Wenigstens werde ich jedes Mittel versuchen, mein moralisches Recht geltend zu machen. Ich glaube mich auch nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß es sich zunächst nur um eine Gelderpressung handelt. Die ganze Art, wie der Brief gehalten ist, läßt darauf schließen, daß der Elende gegen eine bestimmte Zahlung seine augenblicklichen Ansprüche aufgeben werde; denn im Grunde muß ihm die Tochter doch nur eine Last sein, wenn er auch schreibt, daß ihm in seinem augenblicklichen Geschäft – Gott weiß, worin dieses Geschäft besteht! – eine weibliche Hilfe nötig sei.“

„Nun, so zahle! Auf ein paar hundert Mark wird es wohl nicht ankommen.“

„Selbstverständlich nicht. Was mich im Augenblick aber mehr beschäftigt, das ist die Frage, wie man das Kind in Zukunft vor diesen Wünschen des Vaters sicherstellen und etwaigen neuen und gesteigerten Geldforderungen vorbeugen kann.“

„So frage Deinen Anwalt oder sprich zunächst einmal mit ein paar vernünftigen Männern, die Dir vielleicht zu raten vermögen – mit Boße oder Wildenberg.“

„Soviel wie die beiden weiß ich auch von jnristischen Dingen.“

„Nun ja, mein Herz, ich will Deinen Kenntnissen durchaus nicht zu nahe treten, aber andere sehen doch die Sache mit anderen Augen an und da ergiebt sich leicht ein neuer Gesichtspunkt. Wie wäre es, wenn wir Wildenberg zu Tisch herüberbitten ließen? Du weißt, ich unterhalte mich gern mit ihm. Nach dem Essen hast Du dann Gelegenheit, diese Angelegenheit mit ihm zu besprechen.“

Hellas Gesicht verfinsterte sich. „Meinst Du nicht, daß Du zu entgegenkommend bist?“

„Aber Beste, bei mir hat es doch wahrhaftig keine Gefahr! Eine alte Frau, Mutter von drei halberwachsenen Kindern! Nein, ich glaube, Du kannst ganz ruhig sein. Wildenberg wird keinen Johannistrieb in meinem Herzen voraussetzen, sondern meine freundliche Teilnahme als das nehmen, was sie ist. Außerdem ist er der Held des Tages uud hat fast ein Recht, gefeiert zu werden. Ich hoffe daher, Du läßt mir und ihm zu Gefallen ein paar Flaschen Champagner kalt stellen. Das hebt die Stimmung.“

„Wenn es durchans Dein Wunsch ist –“

„Ja, was kannst Du denn dagegen haben? Man könnte meinen, Du fürchtetest Dich, mit ihm zusammenzukommen, wüßten wir nicht alle, daß Du mit dem undurchdringlichen Panzer Deiner Prinzipien gewappnet bist.“

Der gutmütige Spott verfehlte nicht seine Wirkung. Hella gab noch und schickte zum Oberinspektorat hinüber, um die Herren einzuladen.

Der Vorschlag der Gräfin in Betreff des Champagners erwies sich als ein vortrefflicher, denn die Stimmung der kleinen Tafelruude, die sich um die Mittagszeit im Schloß zusammenfand, war zuerst ein wenig frostig und steif. Wildenberg und Hella vermieden es, mehr als das Rotwendigfte miteinander zu sprechen; nur der Oberinspektor erging sich in wortreichen lauten Schilderungen der nächtlichen Erlebnisse, wobei ihn die Gräfin, die ihren Spaß daran hatte, launig unterstützte. Sieh, sieh, dachte sie, die beiden andern beobachtend, es hat etwas zwischen ihnen gegeben – keine direkte Aussprache, aber doch etwas dem Aehnliches!

Wildenberg wies die übertriebenen Lobeserhebungen, die ihm von dem Oberinspektor zuteil wurden, fast ärgerlich zurück. Es war ihm durchaus unangenehm, zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gemacht zu werden, und doch verletzte es ihn zugleich, daß sich die Schloßherrin mit keiner Silbe daran beteiligte. Er sah, daß ihre Augen mehr als einmal auf seiner verbundenen linken Hand hafteten, aber sie fragte nicht, ob er Schmerzen habe oder ob die Brandwunden schlimmer Natur seien. Die frohe Stimmung, in der er vormittags das Pfarrhaus verlassen hatte, erlosch auf diese Weise, und nur die gutlaunige Heiterkeit der Gräfin und der prickelnde Reiz des Champagners vermochten es, ihn dem Unmut zu entreißen, der ihn zu beherrschen drohte.

Nach Tisch, als man beim Kaffee unter der Säulenhalle saß, holte Hella den Brief von Lilis Vater herbei und las ihn vor, indem sie die Herren bat, mit ihrer Meinung nicht zurückzuhalten. Herr Boße war auch gar nicht zurückhaltend, sondern schlug mit der Hand schallend auf den Tisch, für welche Freiheit er sich sofort bei der Gnädigen entschuldigte, und rief, der Kerl verdiene für seine Unverschämtheit in Stock und Eisen gelegt zu werden. Da das aber der einzige Rat war, den er zu geben vermochte, so überließ er bald Wildenberg das Wort, auch seine Meinung zu äußern. Hella hatte ihn bisher nicht angesehen, aber die Gräfin, die ihn beobachtete, war erstaunt über den Ausdruck peinlichen Schmerzes, der sich in seinem Gesicht aussprach. Wie sich Hella jetzt zu ihm wandte, fiel es auch ihr auf uud sie stutzte.

„Gnädiges Fräulein,“ begann er rasch, „Sie wollen und können doch nicht daran denken, einem Mann, wie Sie ihn eben schilderten, irgend ein Recht über Fräulein Lili einzuräumen.“

„Ich glaube, daß ich gesetzlich dazu verpflichtet wäre. Aber es handelt sich eben darum, einen Ausweg zu finden, der den Mann zum Verzicht auf dieses Recht bringt.“

„Dieser Ausweg könnte nur in einem beglaubigten Verzicht von seiten des Vaters und in einer Adoption von Ihrer Seite bestehen.“

„Oder in einer Heirat!“ warf die Gräfin dazwischen

„Ich wüßte nicht, was die Kleine dabei gewinnen sollte!“ rief Hella scharf. „Sie ginge nur aus der Gewalt und Vormundschaft des einen Mannes in die eines andern über! Mit ihrer Carriere wäre es in beiden Fällen vorbei.“

„Ah bah, Carriere? Thorheit!“ warf die Gräfin dazwischen.

„Wollen Sie mir gestatten, gnädiges Fräulein, noch heute nach der Stadt zu fahren und mit einem Rechtsanwalt Rücksprache zu nehmen?“ fragte Wildenberg eifrig.

„Ich danke Ihnen, ich kann das ganz gut allein abmachen.“

„Vergeben Sie mir, wenn ich aufdringlich erscheine – aber der Gedanke, daß Fräulein Lili uns verlassen könnte, mit der Aussicht auf ein solches Los, geht mir so nahe, daß ich nicht unthätig zur Seite stehen kann. Ich bin fassungslos dem Unerwarteten gegeuüber.“

Er sprach unbedacht aus, was er empfand, ohne zu überlegen, wie seine Worte etwa von den Anwesenden aufgefaßt werden würden. Offenbar ging ihm die ganze Sache sehr nahe. Die Gräfin lächelte vor sich hin, Hellas Gesicht aber blieb undurchdringlich. Herr Boße schlug nur vor, selbst zu Herrn von Wentzel hinzufahren und ein verständiges Wort ohne Zuhilfenahme juristischer Einmischung mit ihm zu sprechen, doch auch das wurde von Fräulein von Ostrau abgelehnt. Sie hatte jetzt offenbar ihren Entschluß gefaßt, mit dem festen Vorsatz, sich darin durch nichts erschüttern zu lassen. Diese Wahrnehmung wirkte verstimmend auf die Anwesenden, und die Gräfin gab ihrer Mißbilligung offen Ausdruck, indem sie aufsprang und achselzuckend, die Hände auf dem Rücken verschränkt, in den Garten hinausging. Sie gab damit das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch.

Eine Viertelstunde später traf Lotti ihre Cousine allein. Hella hatte wohl ihren Eintritt überhört und stand am Fenster, die Stirn gegen die Scheiben gepreßt. Als die Gräfin die Hand auf ihre Schulter legte, zuckte sie zusammen und wandte sich hastig um, wie unwillig über die Störung.

Lotti erschrak über den entgeisterten starren Ausdruck des blassen strengen Gesichts. „Nun?“ sagte sie leichthin „Bist Du zu irgend einem Entschluß gekommen?“

„Mit Bezug auf Lili?“

„Ja.“

„Gewiß – ich bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß es das beste ist, sie in sicherer Begleitung ihrem Vater zu schicken und ich werde das morgen thun.“

„Das kann, das darf nicht Dein Ernst sein!“

„Ich bin bei reiflichem Nachdenken anderer Ansicht geworden. Wie ich den Mann kenne, wird ihm die Tochter höchst unbequem sein. Er hat nicht darauf gerechnet, daß wir seiner Forderung freiwillig nachkommen, und wird uns das Mädchen binnen kurzem wieder zurückschicken und sich hüten, sie ein zweites Mal zu verlangen.“

[593]

Auf Berges Höhe.
Gemälde von Th. Pixis.

[594] „Aber das Kind, die Lili! Hast Du gar nicht bedacht, was für schreckliche Tage sie durchzumachen haben wird? Allein mit einem Trunkenbold, dessen Häuslichkeit obendrein nicht einmal für die Aufnahme eines so verwöhnten Wesens eingerichtet sein wird.“

„Für Lili wird es eine ganz gute Lehre sein. Wie Du eben sagtest, ist sie in unserem Kreise zu sehr verwöhnt worden und muß wieder lernen, sich in andere Verhältnisse zu schicken, da sie doch einmal darauf angewiesen ist, sich auf eigene Füße zu stellen.“

„Es ist eine schöne Sache um die Prinzipien,“ rief die Gräfin ärgerlich, „wenn man nur nicht seinen Nächsten damit so herzlich unglücklich machte! Uebrigens wirst Du im Grunde Dir selbst und auch mir kein X für ein U machen.“

„Was willst Du damit sagen?“

„Nun denn, ganz ohne Umschweife: die Gründe, die Du laut aussprichst, sind durchaus nicht ausschlaggebend für Dich. Der eigentliche treibende Beweggrund, der Dich veranlaßt, Lili jetzt Hals über Kopf fortzuschicken, ist die Eifersucht.“

„Lotti!“

„Jawohl, die Eifersucht! Du mußt mir das schon verzeihen, ich habe immer das Vorrecht gehabt, Dir gegenüber alles auszusprechen, was mir durch den Sinn geht. Daß Du Dich für Wildenberg interessierst, steht fest. Deine Prinzipien gestatten Dir nicht, ihn zu heiraten – gut! Du kannst es aber auch nicht ruhig mit ansehen, daß eine andere sich das aneignet, was Du aus falschem Selbstgefühl verschmähst. Und weil Du gleich mir bemerkt hast, daß sein Gefühl zwischen Dir und Deiner Pflegetochter geteilt ist, daß Ihr beide, wenn auch in ganz verschiedener Weise, seine Phantasie beherrscht, so suchst Du einen Vorwand, um Lili so schnell als möglich aus seinem Gesichtskreise zu entfernen und Deinen Triumph voll auskosten zu können. Aber Du irrst Dich. Gerade die Entfernung Lilis wird sie dem Zurückbleibenden nur um so teurer machen. Der Fehlende hält unsere Phantasie fest, die ihn mit hundert kleinen Erinnerungen umkleidet. Wir empfinden eine Lücke, welche die Anwesenden nicht auszufüllen vermögen, unsere Gedanken begleiten ihn, und schließlich sehnen wir uns in einem Grade nach dem Vermißten, daß wir uns am liebsten aufmachen möchten, um hinterher zu laufen. – So, nun habe ich meinem Herzen Luft gemacht, und nun magst Du thun, was Du für richtig hältst.“

„Niemand außer Dir hätte wagen dürfen, mir etwas Derartiges zu sagen, ich will es unserer alten Freundschaft zugute halten und versuchen, zu vergessen. Aber ich bitte Dich ernstlich, nicht mehr auf diesen Gegenstand zurückzukommen. Alles hat seine Grenzen und meine Geduld hat die ihrigen erreicht. Ueberlaß Du es ruhig mir, so zu handeln, wie ich es für recht halte – ohne Kommentare!“

„Sonst zeigst Du mir die Thür, nicht wahr? Ich will Dir die Mühe ersparen und reise morgen freiwillig ab. Es ist mir nicht gegeben, mit dem, was ich denke und fühle, hinterm Berg zu halten, und ich kann es auch nicht ruhig mit ansehen, wie Du Dein und Lilis Lebensglück mutwillig zerstörst.“

„Ich kann Dich naturlich nicht halten, wenn Dir der Aufenthalt hier nicht mehr zusagt,“ gab Hella frostig zur Antwort. „Du weißt, wie lieb Du mir bist und wie sehr mich Dein Besuch freut, aber ich kann mich selbst Dir zu Gefallen nicht mehr ändern und muß schon so verbraucht werden, wie ich nun einmal bin.“

„Und Du bestehst also darauf, die Kleine ihrem Vater zu schicken?“

„Für einige Zeit jedenfalls. Inzwischen werde ich mit meinem Rechtsanwalt Rücksprache nehmen, aber es bleibt dabei, daß Lili morgen Strehlen verläßt.“

„So wird sie es in meiner Begleitung und unter meinem Schutze thun. Ich selbst werde sie zu dem alten Trunkenbold bringen und ihn mit allen Strafen der irdischen und himmlischen Gerechtigkeit bedrohen, wenn er das Kind nicht gut behandelt.“

„Ich bin Dir natürlich sehr dankbar, wenn Du das thust, würde aber selbstverständlich für eine zuverlässige ältere Begleiterin gesorgt haben.“

Die beiden Damen trennten sich mit kaltem Gruße und vermieden bis zum Augenblick der Abreise jede intime Begegnung. Die Gräfin, eine von der Welt verzogene Frau, war es gewohnt, ihren Kopf für sich zu haben und für ihre Einfälle stets lebhaften Beifall zu finden. Der schroffe Widerstand, den ihre Cousine ihr entgegensetzte, verleidete ihr den Aufenthalt, und Hella wieder empfand jede unberufene Einmischung als einen unberechtigten Angriff auf ihre Selbständigkeit. Ihr Zusammensein endete daher beinah immer mit einem heftigen Streit und plötzlicher Abreise der einen; trotzdem liebten sie einander und versuchten es in jedem Jahr aufs neue, sich zu vertragen.

Lili selbst zeigte sich halb erschrocken, halb erfreut über die Abwechslung, welche diese Reise ihr bringen sollte. Sie war das unruhige Zigeunerleben von klein auf zu sehr gewohnt, um eine ausgesprochene Abneigung gegen den Gedanken zu empfinden, für einige Zeit in den väterlichen Haushalt zurückzukehren, dessen Jämmerlichkeit sie mit jugendlicher Unbefangenheit kaum bemerkt hatte. Die Aussicht, diesem Haushalt selbständig vorstehen zu können, hatte sogar einen gewissen Reiz für sie. Nur als Wildenberg, der es sich nicht hatte nehmen lassen, sie zur Station zu begleiten, ihr zum Abschied die Hand reichte und bewegt rief: „Auf baldiges Wiedersehen! Und möchte es Ihnen inzwischen gut ergehen!“ da lief ein Schatten über ihr Gesicht, als komme zum erstenmal die Ahnung über sie, was es mit dieser Trennung auf sich habe, und sich hastig zum Fenster des Eisenbahnwagens hinausbeugend, sagte sie lachend zwar, aber mit Thränen in den Augen: „Wie sollte es mir nicht gut ergehen, trage ich doch Ihren Vierklee bei mir!“

Gleich darauf setzte der Zug sich in Bewegung. Wildenberg blieb auf der Plattform stehen, bis er seinen Blicken entschwand. Es war ihm ganz sonderbar zu Mut. Der sonnige Tag, die warme Septemberluft vermochten nicht, in ihm ein Wohlgefühl zu erwecken, und als er durch die Strehlener Dorfstraße ritt und zum Pfarrhause hinüberblickte, fiel ihm ein, wie er zum erstenmal hier vorübergekommen war und wie damals Lilis dunkles Köpfchen durch die Lücke der Fliederhecke gelugt hatte. Bisher war ihm Strehlen immer als ein schöner Ort erschienen – in diesem Augenblick kam ihm seine ganze Umgebung öde und reizlos vor. Er konnte nicht über ein inneres Unbehagen hinweg, das ihn nicht losließ, das sich mehr und mehr steigerte und ihn unlustig zu allem machte. Da er für den Abend keine Einladung ins Schloß erhielt, so ging er zu dem Pfarrer hinüber, aber seine Unruhe steigerte sich hier bis zur Unerträglichkeit. Lilis Abwesenheit machte sich gebieterisch fühlbar. Seine Gedanken folgten ihr und beschäftigten sich unablässig mit ihrem Schicksal. Er sah sie im Geist in der dürftigen Umgebung des väterlichen Haushalts, in der Gesellschaft des verkommenen Mannes, und eine große Angst griff ihm plötzlich erkältend ans Herz. Welchen Gefahren konnte sie bei ihrer Jugend nicht in dieser Gesellschaft ausgesetzt sein!

Seine Unruhe steigerte sich wennmöglich noch am folgenden Tag. Er sehnte sich nach Lili in einem Grade, wie er es nicht für möglich gehalten haben würde, so daß Hella ganz in den Hintergrund seiner Gedanken trat und der gewohnte Ritt mit ihr unterblieb, trotzdem sie zu Pferde an dem Oberinspektorat vorüberkam. So wie so hatte sich seit der Brandnacht eine Scheidewand zwischen ihnen aufgebaut, die eine unbefangene Unterhaltung nicht aufkommen lassen wollte.

Nachwittags, wie er der Säemaschine ins Feld hinaus folgte, trat sie plötzlich durch das Parkgitter zu ihm auf den Weg. Sie pßegte sonst diese Zeit in ihrem Zimmer mit Lesen oder Schreiben hinzubringen, es lag also wohl ihrem unerwarteten Erscheinen eine bestimmte Absicht zu Grunde. Aber er dachte kaum darüber nach; er war so völlig erfüllt von dem Bilde der Abwesenden und von der Sorge um sie, daß er gleich von ihr zu sprechen begann, ohne zu bemerken, wie wenig seine Gefährtin darauf einging. Er hatte niemals Komödie spielen und mit seinen Gefühlen zurückhalten können, und was seine Worte nicht ausdrückten, das verriet der Ton seiner Stimme.

Hella ging schweigend neben ihm her. Nach ein paar Schritten jedoch kehrte sie um und bemerkte mit schwachem Lächeln, daß sie die Wärme unangenehm empfinde und ihren Spaziergang lieber auf gelegenere Zeit verschieben wolle.

„Sie sehen schlecht aus, gnädiges Fräulein!“ sagte er teilnehmend, ihr zum erstenmal voll ins Gesicht blickend. „Sie haben sich in der Brandnacht zuviel zugemutet und die Folgen machen sich jetzt geltend. Zu warm? Ich bitte Sie! Wir haben kaum vierzehn Grad, und die Luft ist leicht wie nie. Soll ich Sie nicht heimbegleiten?“

Sie richtete sich straff auf, obgleich ihr Gesicht in der That leichenblaß war, und winkte abwehrend mit der Hand, indem sie [595] mit einem Versuch zum Scherz meinte: „Halten Sie mich etwa für ein nervenschwaches Frauenzimmer, das in Ohnmacht fallen könnte? Nein, nein, setzen Sie ruhig Ihren Weg fort, ich gehe die wenigen Schritte durch den Park allein zurück!“

Er bestand nicht weiter auf seinem Vorschlag, da er wußte, daß sie es nicht liebte, ihre einmal ausgesprochene Absicht gekreuzt zu sehen; aber er blickte ihr mit unwillkürlicher Besorgnis nach, und es kam ihm vor, als sei ihr Schritt nicht ganz so sicher und fest wie sonst.

Hella ging langsam nach dem Hause zurück und begab sich in ihr Zimmer, dessen Thür sie hinter sich verschloß. Dort sank sie mit einem unartikulierten rauhen Laut zu Boden, die Arme auf den Sitz eines Diwans werfend und das Gesicht darin vergrabend. Ein krampfhaftes Zittern durchschauerte ihren Körper, ihr Stolz rang mit Aufbietung aller seelischen Kräfte gegen den Jammer, der über sie hereinbrach. Es nützte nichts mehr, Verstecken vor sich selbst zu spielen – ja, was sie zu Lilis rascher Entfernung bestimmt hatte, das war häßliche brennende Eifersucht! Was sie eben noch veranlaßt hatte, mit Wildenberg zusammenzutreffen, das war das leidenschaftliche Verlangen ihres Herzens gewesen, den Eindruck zu verwischen, den ihre Worte in jener Nacht auf ihn gemacht haben mußten, und ihren Hochmut bei dem ersten entgegenkommenden Wort von seiner Seite zu den Toten zu werfen!

Hella schlug die Hände vor das Gesicht, wie um die zornige Schamröte zu verbergen, die über ihre Züge flammte, und sprang auf. Wie? Ihr ganzes Leben, alle die Grundsätze, zu denen sie sich bisher bekannt hatte, sollten nichts als Komödie gewesen sein? Sie sollte aus keinem andern Thon geknetet sein als alle die andern Frauen, auf die sie stets mit so viel Ueberlegenheit herabgeblickt hatte?

Wer ihr zwei Stunden später begegnete, hätte keine Spur mehr von dem Sturm bemerkt, der in ihrer Seele getobt hatte. Ruhig ging sie ihren Obliegenheiten nach, beriet mit ihren Beamten und bewies eine geistige Klarheit und Urteilsschärfe, die diesen Bewunderung abnötigte. Nur eine gewisse Starrheit des Gesichtsausdrucks fiel an ihr auf, und Herr Boße äußerte seiner Frau gegenüber vertraulich, die Trennung von Lili scheine der Gnädigen doch näher zu gehen als man gedacht habe, sie sei sehr verändert gewesen. Spät am Abend noch ließ sich Wildenberg bei ihr melden, wurde aber nicht empfangen. Die Gnädige sei nicht wohl, hieß es. Er bedauerte das lebhaft, denn er hatte eigentlich von ihr Abschied nehmen wollen; er hatte den plötzlichen Entschluß gefaßt, am folgenden Morgen in der Frühe abzureisen. Es blieb ihm nur übrig, ihr schriftlich Lebewohl zu sagen, und er that es in warmen herzlichen Worten, ohne indes den Grund zu nennen, der ihn forttrieb.

Hella ahnte diesen Grund, las ihn zwischen den Zeilen und ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen. Wie sehr sie in ihrer Vermutung recht gehabt hatte, bewies ihr ein Brief, den sie wenige Tage darauf von Lili erhielt.

„Ich bin sehr glücklich, Tante Hella,“ hieß es darin. „Und Du sollst die erste sein, der ich davon Mitteilung mache. Wildenberg ist hier, und ich bin seit wenigen Stunden seine Braut. Stelle Dir vor, daß der einfältige Mensch behauptet, er habe es ohne mich nicht länger in Strehlen ausgehalten. (Ich wollte es natürlich nicht glauben, denn da er Dich dort hatte, so brauchte er mich eigentlich gar nicht.) Papa gab, nachdem Hans mit ihm eine längere Unterredung gehabt, seine Einwilligung. Ich habe nur etwas Herzklopfen, wenn ich an Dich denke. Wieviel Zeit und Mühe hast Du an mich verwandt, um mich für meinen Beruf vorzubereiten, und nun lasse ich alles im Stich und werde eine ganz gewöhnliche Gutsfrau. Aber ich bin überzeugt, Du freust Dich viel zu sehr über mein Glück, um mir meine Fahnenflucht zu verübeln. Man muß eben ein Ausnahmemensch sein wie Du, um in der Freiheit und Selbständigkeit Befriedigung zu finden. Hans läßt sich Dir bestens empfehlen. Der Elende hat die Stirn, mir zu sagen, er wäre sich seiner Liebe zu mir erst bewußt geworden, als ich davongefahren sei! Da muß ich Dir wohl noch ganz besonders danken, daß Du mich fortschicktest, sonst wäre ihm dieser glückliche Einfall wahrscheinlich gar nicht gekommen. Er meinte auch, Du hättest alles gemerkt. Nun, auf jeden Fall sind wir Deiner Billigung sicher, und das ist die Hauptsache. Ueber den Hochzeitstag haben wir natürlich noch nichts festgesetzt, darüber schreibst Du uns vielleicht noch Deine Bestimmung.“

Hella ließ den Brief sinken und biß die Zähne zusammen. Das klang alles so selbstverständlich und heiter, ihr wurde so vollständig die Rolle der mütterlichen Beschützerin zugeteilt, als könne es nicht anders sein. Die kleine Schreiberin lief mit ihren jungen leichten Füßen sorglos dem Glück entgegen, ohne eine Ahnung, daß sie ein anderes Herz zu Boden trat.

Und ein paar Wochen später kam wiederum ein Brief: „Wünsche uns Glück, Tante Hella, morgen ist unser Hochzeitstag!“

Die Empfängerin sah nach dem Datum – es war vom vorhergehenden Tage. Also jetzt, während sie den Brief hielt, war es voraussichtlich geschehen, hatte die Trauung stattgefunden! Langsam, wie geistesabwesend ging sie durch die Säulenhalle in den herbstlichen Park hinaus, durch raschelndes welkes Laub, das der Nordwind vor ihr Hertrieb, nach der Pforte, welche auf die jetzt kahlen Felder führte. Es fröstelte sie; das Vorgefühl der mit dem Herbst beginnenden unaufhaltsamen Verödung legte sich erdrückend schwer auf ihre Seele. Zum erstenmal empfand sie das Bewußtsein, inmitten derselben ganz allein zu sein, wie eine körperliche Pein. Und sie lehnte die Stirn gegen den Stamm des fast entblätterten Ahornbaums, neben dem sie stand, und fing an zu weinen.

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Blätter und Blüten


Auf dem „Gefährt“. (Zu dem Bilde S. 581.) Rotblühende Heideflächen, Wacholdergebüsch, hier und dort eine vom Wind zerzauste Kiefer oder weißstämmige Birke, dann moorige, von langem Riedgras umsäumte Wasserbecken, Wiesenpläne, teils mit Wallhecken umhegt, Erlengestrüpp – in der Ferne zwischen hohen Schwarzpappeln ein Kirchturm und über dem von Kiefernwäldern eingerahmten Bilde ein melancholisch grauer Wolkenschleiwr, das ist das Revier, auf welchem ich im September mit meiner Luska nach jungem Birkwild suche. Es ist zwar keine Jagd, bei der es fortwährend lustig knallt wie in den Zuckerrüben und Kartoffelbreiten, wenn es den Hühnern gilt, aber das scheue, edle Wild und die menschenleere und doch so reizvolle Landschaft ziehen mich alljährlich mächtig hin in das weite hannoverische Heideland. Wie eine Elfe, so leicht und anmutig gaukelt in flüchtigster Zickzacksuche die edle Langhaarige über die blühende Heide unermüdlich vor mir hin und her. Jetzt wirft sie die Nase in die Luft und hundert Schritt weit geht es direkt gegen den Wind in immer langsamer werdendem Trabe, bei dem der Körper mehr und mehr erstarrt, bis sich endlich keine Muskel mehr bewegt und die Hündin, regungslos wie ein Steinbild, den Kopf weit vorgestreckt, in die Ferne stiert. Dann wendet sie langsam den gierig die süße Witterung kauenden Fang, ob ich auch komme. Bald bin ich neben ihr: „Vorwärts!“ Rasch geht es nachziehend 50 Schritt voran – – dann liegt sie auf dem Boden, dreht den Fang nach links, nach rechts, gerade aus und kriecht wie eine Schlange durch die lange rote Heide – – hier hat das „Gesperre“ gelegen – aber es hält nicht, es ist 200 Schritt weit gelaufen und dort hinten, viel zu weit zum Schuß, steht es auf und streicht nach den Wallhecken hin. Auf ihnen werden wir es wiederfinden. Jetzt steht meines Freundes Kurzhaariger. Meine Hündin äugt es und sofort steht auch sie – sie sekundiert, sagt der Jäger. Aber langsam zieht sie hin zu ihm und beide arbeiten jetzt gemeinschaftlich das „Gefährt“ (nicht „Geläuf“, weil der Birkhahn zur „hohen Jagd“ gehört), die Spur des Birkhahns, wie es unser Bild zeigt. Das muß flink gehen. Birkwild läuft sehr rasch und weit und mit zu langsam nachziehenden Hunden ist hier nichts zu machen – aber auch mit keinen, die rascher und immer rascher dem „Gefährt“ folgen und schließlich, wie es so oft bei Hunden der Fall, welche die Birkhahnjagd nicht kennen, zu hitzig werden, aus der Hand gehen und das edle Wild heraushetzen. So schnell wir gehen können, folgen wir den sicheren Hunden, die hin und wieder nur eine Sekunde lang vorstehen, um auf uns zu warten, dann aber wieder dem „Gefährt“ in allen seinen Schlangenwindungen nachziehen, nach hohem Gestrüpp – Possen, sagt man in der Heide – und „Machandelbüschen“ hin. Die Hunde werden vorsichtiger – wir sind unserem Wilde näher – jetzt heißt es aufgepaßt. Bald ist der Kurzhaarige vorn, bald die Langhaarige – Schritt für Schritt geht’s weiter. Endlich stehen sie fest vor, 30 Schritt vor einem dichten Erlenhorst. Rasch gehe ich in weitem Bogen um den Busch – mein Freund bleibt neben den Hunden. Jetzt kracht und klatscht es im Geäst und 40 Schritt neben mir streicht der schwarze Hahn mit schnellem Schwingenschlage leicht wie eine Taube dahin – – es knallt, die Federn stieben, und schräg nach unten schießend, ist er im Gestrüpp verschwunden. Karl Brandt. 

[596] Heinrich Marschners hundertster Geburtstag. Am 16. August 1895 waren hundert Jahre verflossen seit der Geburt eines der bedeutendsten Tondichter der neueren Zeit, nämlich Heinrich Marschners, dessen Schöpfungen ein echt deutsches Gepräge tragen und zum Teil außerordentlich volkstümlich geworden sind. Von seinen zahlreichen Opern haben sich zwei, „Der Templer und die Jüdin“ und „Hans Heiling“, bis heute auf der Bühne lebendig erhalten: in ihnen erklingen die reizvollsten Töne der musikalischen Romantik, und dabei wissen sie den frischen Volkston oft in meisterhafter Weise zu treffen. Das letztere gilt ganz besonders aber auch von Marschners prächtigen Männerchören und Liedern, in denen sich so ganz das kerndeutsche Empfinden des Komponisten ausspricht. Wir wollen daher seinen Gedenktag nicht vorübergehen lassen, ohne einen kurzen Rückblick auf des Meisters Leben und Schaffen zu werfen. – Marschner wurde am 16. August 1795 (nicht 1796, wie man es noch in älteren Quellen angegeben findet) zu Zittau in Sachsen geboren. Er wollte sich zuerst der Jurisprudenz widmen, wandte sich aber bald ganz der leidenschaftlich geliebten Musik zu und wurde ein Schüler des damaligen Leipziger Thomaskantors Schicht. Er bildete sich zunächst zum Klaviervirtuosen aus, lernte in Wien Beethoven kennen und erhielt 1817 eine Musiklehrerstelle in Preßburg, wo er seine ersten Versuche in der Opernkomposition unternahm. Eines dieser Erstlingswerke schickte er an den von ihm hochverehrten und zum künstlerischen Vorbilde auserkorenen Karl Maria von Weber in Dresden, der es 1819 zur Aufführung brachte. 1822 siedelte Marschner nach der sächsischen Residenz über, wo er 1824 zum Musikdirektor der deutschen und italienischen Oper ernannt wurde. Der vertraute Umgang mit Weber, der den jungen Kunstgenossen rasch liebgewann, förderte diesen außerordentlich; Webers Einfluß tritt auch in der ersten Oper, die Marschners Ruf begründete, dem 1828 erschienenen „Vampyr“, unverkennbar zu Tage.

Heinrich Marschner.
Photographie im Verlage der Verlagsgesellschaft für Kunst
und Wissenschaft in München.

Marschner ist aber durchaus kein Nachtreter des Freischütz-Komponisten zu nennen, wenn er auch seine künstlerische Individualität an ihm gebildet hat. Sein frischestes Werk ist „Der Templer und die Jüdin“ (1829), das leider an einem durchaus ungenügenden Texte (nach W. Scotts „Ivanhoe“) krankt; sein reifstes, im Stil einheitlichstes und vollendetstes ist „Hans Heiling“ (1833), das noch besonders dadurch bemerkenswert ist, daß es Richard Wagner in seinem „Fliegenden Holländer“ ganz unverkennbar beeinflußt hat. Aus den genannten drei Opern Marschners sind viele Nummern allbekannt geworden, wie z. B. „Im Herbst, da muß man trinken“ aus dem „Vampyr“; „Wer ist der Ritter hochgeehrt“, „’s wird besser geh’n“ aus dem „Templer“ etc. Wie in diesen Werken schon seine Begabung für die charakteristische Liedform besonders hervortritt, so gehören viele seiner Männerchöre (z. B. das herrliche Lied „Frei wie des Adlers mächtiges Gefieder“) zu den Perlen unserer Musiklitteratur, die von den Gesangvereinen nicht unbeachtet gelassen werden sollten. Ueber Marschners Lebensumstände ist noch nachzutragen, daß er 1827 als Kapellmeister nach Leipzig und 1831 als Hofkapellmeister nach Hannover ging. 1859, in der Reaktionszeit, ward der allgemein verehrte Künstler, der kein Hehl aus seiner freisinnigen Denkungsweise machte und dadurch in höfischen Kreisen Anstoß erregte, mit dem Titel eines Generalmusikdirektors pensioniert. Er starb am 14. Dezember 1861 in Hannover, vor dessen Hoftheater sich jetzt sein Denkmal erhebt. E. M.     

Am Sonntagmorgen. (Zu dem Bilde S. 585.) Wie friedlich sitzt hier der Herr Kantor am frühen Sonntagmorgen bei dem wichtigen Hauptgeschäft seiner Toilette! Das helle Sonnenlicht scheint in sein Stübchen herein, spiegelt sich in dem sauber geordneten Waschgeschirr und wirft blanke Lichter über das grauatlassene Staatshabit, das der Eigentümer schon gestern abend sorgsam auf der Truhe ausbreitete. Der schwarze Amtshut und die blankgeputzten Schnallenschuhe sind auch dicht dabei, und darüber hängt die getreue Geige, welche so oft den ins Unmögliche sich versteigenden Gesang der Dorfjugend wieder ins richtige Geleis zu lenken hat. Aber nur Geduld! Ihrer aller Zeit ist noch nicht gekommen, vorerst sitzt der Herr Kantor in Kniehosen und geblümter Schoßweste, den Kopf in ein Tuch gehüllt, und müht sich, sein Zopfband richtig um den End- und Glanzpunkt der ganzen gepuderten Herrlichkeit zu schlingen. Man sieht es ihm an, welche Wichtigkeit er diesem Geschäfte beimißt und wie wenig verloren er die Zeit erachtet, welche er allsonntäglich darauf verwendet, um dann eine Stunde später im Schmuck dieser majestätischen Perücke den Kirchweg anzutreten. – Die „gute alte Zeit“ mit ihrer friedlichen Stille und genügsamen Unbequemlichkeit sieht uns aus diesem hübschen Bilde ganz leibhaftig an! Bn.     

Voll Dampf voraus! (Zu dem Bilde S. 589.) Vorwärts! – Die See brandet haushoch gegen die Molenköpfe des Hafens. Jetzt sind die gewaltigen Steinquadern bis tief unten entblößt, und jetzt wieder flutet der schäumende Schwall donnernd bis oben über die Mauern, und wild jagt der spritzende Gischt über die Kuppeln der Feuertürme. Aber vorwärts – dennoch vorwärts!

Ein schwaches Geräusch, wie ein ferner Paukenschlag, durchdringt das Tosen. Und wieder – und abermals! Es ist die höchste Zeit, dem draußen bei dem Unwetter festgekommenen Dreimaster zur Hilfe zu eilen; die rasche Folge der Notschüsse, dies unbeschreiblich ans Herz greifende dumpfe Flehen aus Todesnot lehrt es!

Und vorwärts! Der Kapitän des Schleppers steht auf seiner Brücke fest wie aus Erz gegossen. Sein Arm ist ausgestreckt, wie er das Kommando giebt. Eherne Züge zeigen sich unter dem nassen Südwester. Sie sehen kalt und gelassen aus, aber drinnen in der Brust schlägt ein warmes Herz, ein Herz voll Pflichtgefühl, voll Menschenliebe.

Zu Hunderten halten die Menschen auf den inneren Molen dem sprühenden Seewasser stand und folgen mit weit geöffneten Augen, fast atemlos, dem Manöver des Schleppers. Dieser hat sich quer von der Mole ab in den Hafen gedreht: die Trosse, das starke Tau, die seinen Bug gegen die Wellenrichtung halten soll, ist wie Glas gesprungen, und schon sieht jeder, wie die wütende See das noch unbehilfliche Fahrzeug gegen die Quadern der Ausfahrt schleudert. Man preßt die Hand des Nachbarn; ein Zittern läuft durch die Kniee.

Aber der Kapitän versteht seinen Renner zu meistern und herumzuwerfen. Zwar streift der Steuerbord-Radkasten noch den Molenkopf, daß es weithin kracht von splitterndem Holz; jetzt aber ist der Dampfer frei, und tief in die Brandung gräbt er seine Brust und dann hebt er sie wieder triumphierend, während das Wasser stromweise von den Außenbordleisten fließt. Hipp – hipp – Hurra! Ein dreifaches, elementar aus den Herzen brechendes Hoch gellt ihm nach. Der Kapitän wendet sich einen Augenblick zurück und winkt seinen Dank.

Und nun verschwindet das kämpfende Fahrzeug immer mehr in dem Wolkengrau, das über der schäumenden Fläche lagert. Man sieht schwächer und schwächer, wie es aufwärts steigt und sinkt; immer länger wird die horizontale Rauchsäule, die dem Schornstein schwarz entquollen ist. Stunde auf Stunde verrinnt. Die halbe Nacht vergeht. Die Leute auf den Molen rühren sich nicht vom Fleck. – Endlich – endlich – ein rotes und ein grünes Licht und ein Weißes darüber!

Noch immer heult der Sturm und wütet die Brandung. Da jagt es dunkel und groß durch die Einfahrt. Noch ein heftiges Schleudern und das ruhige Wasser ist erreicht. Das brave Schiff hat sein aufopferndes Werk glücklich vollendet!

Und wieder gellt das Hurra dnrch die Nacht. Hunderte von Händen wollen helfend zupacken, wollen den gedrängt auf dem Deck hockenden geretteten Seeleuten, die ihr Fahrzeug freilich verloren haben, ein Obdach bieten, wollen dem einfachen, tapferen Manne mit den ehernen Zügen ihre Bewunderung, ihren Stolz, ihre Liebe kundgeben. Und dieser sucht mit dem Blick das sich schiebende, schwärzliche Menschengewimmel zu durchdringen: er sucht nach Weib und Kind! Gott sei Dank, sie haben sich wieder!

Was für ihn auf dem Spiel gestanden hat, das kann niemand ihm nachfühlen; aber jedermann weiß, daß es allezeit, nach wie vor, bei dem Appell an seine Pflicht, bei ihm heißen wird: Voll Dampf voraus! Johannes Wilda.     

Auf Berges Höhe. (Zu dem Bilde S. 593.) Ganz oben in der Scharte zwischen steilen Wänden liegt ein uraltes Wallfahrtskirchlein, und am Tag Mariä Himmelfahrt geht ein großer Zug aus dem Thal hinauf, um vor dem Gnadenbild zu beten. Dann aber, wenn Messe und Predigt vorbei sind, steigt man auf den nahen Felsgipfel, wo die weite Rundsicht nach allen Seiten sich aufthut; dort wird Speise und Trank aus den Rucksäcken geholt und ein vergnügtes Mahl in der herrlichen Gottesluft gehalten. Die Gesellschaft ist gemischt: neben den richtigen Bäuerinnen sitzen Stadtdamen, die in der Sommerfrische das Bauernkleid tragen, einige davon müssen gegen den Luftzug der Höhe ein Tuch umnehmen. Man kann auch die übrigen nach Gesicht und Haltung leicht herausfinden. Ganz unverfälscht echt aber ist der Anführer in Lederhosen mit dem großen Strauß am Bergstock, der eben jodelnd seinen Hut einigen Nachzüglern entgegen schwingt. Und über dem ganzen Bild liegt ein Abglanz jener freudigen Sommerstimmung, die jeder kennt, welcher einmal an wolkenlosem Augusttag auf solcher Höhe Rast gehalten hat! Bn.     

Caritas. (Zu unserer Kunstbeilage.) In der Sprache der Kunst hat das Wort „Caritas“ im Laufe der Zeiten einen ganz bestimmten Begriff angenommen. Bedeutet es ursprünglich die Nächstenliebe im weitesten Sinne, so haben die Künstler es geprägt zum besonderen Ausdruck für die Mutterliebe. Wie unter „Pietà“ die leidende, schmerzensreiche, so war unter „Carità“ die sorgende, nährende, hütende Mutterliebe verstanden. Eine Darstellung dieses Begriffes ist nun auch das Gemälde von J. Koppers, das unsere heutige Kunstbeilage wiedergiebt. Fröhlich schwelgen die kleinen Pfleglinge in der Fülle üppiger Früchte, der Mutter Schoß ist ihnen Paradies. Aber auch der erwachsene Knabe zur Rechten schaut mit vollem Hoffnungsblick zum Himmel empor. Von der Hand, die sich sanft auf seine Schulter legt, geht es wie ein Strom von Vertrauen durch sein Inneres; er fühlt es und weiß es: so lange diese Hand über ihm waltet, ist er geborgen.

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manicula 0Hierzu Kunstbeilage X: „Caritas.“0 Von J. Koppers.

Inhalt: Sturm im Wasserglase. Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts. Von Stefanie Keyser (1. Fortsetzung). S. 581. – Auf dem „Gefährt“. Bild. S. 581. – Am Sonntagmorgen. Bild. S. 585. – Spaziergänge in chinesischen Arbeitervierteln. Von Ernst von Hesse-Wartegg. S. 586. – Voll Dampf voraus! Bild. S. 589. – Der gute Kamerad. Ein Geburtstagslied für meine Frau. Gedicht. Von E. Hermann. S. 590. – Freiheit. Novelle von A. von Klinckowstroem (Schluß). S. 590. – Auf Berges Höhe. Bild. S. 593. – Blätter und Blüten: Auf dem „Gefährt“. Von Karl Brandt. S. 595. (Zu dem Bilde S. 581.) – Heinrich Marschners hundertster Geburtstag. Mit Bildnis, S. 596. – Am Sonntagmorgeu. S. 596. (Zu dem Bilde S. 585.) – Voll Dampf voraus! Von Johannes Wilda. S. 596. (Zu dem Bilde S. 589.) – Auf Berges Höhe. S. 596. (Zu dem Bilde S. 593.) – Caritas. S. 596. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.