Die Gartenlaube (1895)/Heft 34
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Nr. 34. | 1895. | |
Sturm im Wasserglase.
Thüringen lag tief in Schnee gebettet.
Auf den altersgrauen Ringmauern der schwarzburgischen Residenzstadt, die den Aar in Namen und Wappen führt, bauschten sich weiße Kissen; die spitzen Giebel der Häuser, die Türme trugen flockige Hauben.
Alle scharfen Ecken verschwanden unter der weichen Hülle; über die Gassen breitete sie sich als reines leuchtendes Tuch.
Das freundliche Bild verriet nichts von den dunklen Fäden, die darunter zu schicksalsvollen Schlingen und Knoten für Menschenlose sich verwebten.
So munter die glitzernden Sternchen das Schloß Neidecke umstäuperten – es war ein ernster stiller Mann, der darin hauste. Dem Grafen Anton Günther hatte sich der größte Wunsch seines Lebens, den Fürstentitel zu besitzen, nur erfüllt, damit er erkannte, daß jedes noch so heiß begehrte Ziel von seinem Glanz und Zauber verliert, sobald es erreicht ist. Kein Sohn sproßte neben ihm auf, dem er die erlangte Würde hätte vererben können. Einsam lebte er in dem stolzen Bau. Von seiner Gemahlin Augusta Dorothea war er, der lutherische Fürst, getrennt, seit sie ihrem geliebten Vater, dem Herzog Anton Ulrich von Braunschweig, in die katholische Kirche gefolgt war. Außerhalb der Ringmauern seiner Residenz hatte sie sich ihren Fürstensitz erbaut.
Jedoch nicht nur die Sorge um die wachsende Entfremdung zwischen dem Fürstenpaar furchte die Stirnen der vertrauten Räte. Der Herzog Johann Wilhelm von Weimar, dem die Lehnsoberhoheit über das Land zustand, erhob Einspruch gegen die Standeserhöhung, durch welche er sein Recht gefährdet glaubte. Hinter den Fenstern des Kanzleigebäudes, die der Frost allnächtlich mit zierlichen Kreuzen zeichnete, türmten sich Berge von Aktenstücken über die unliebsame Sache. In das Federgekritzel klang allmählich drohendes Waffengeklirr.
Und wenn auch der damaligen Regierungskunst entsprechend die Unterthanen in Unkenntnis über die Maßregeln ihrer Herrschaft belassen
[566] wurden, so lag doch auf den Gemütern der Einwohner jener Druck, der oft unheilvolle Ereignisse ankündigt.
Scheinbar ging zwar das Leben im gewohnten Geleise; aber scheinbar war auch die weiße Decke unwandelbar, und doch bestand sie aus Märzenschnee, dessen Vergänglichkeit sprichwörtlich ist, und Ostern war bereits vor der Thür.
In der Superintendentur wurden alle Vorbereitungen zu den kirchlichen Feierlichkeiten getroffen.
Der Kastenknecht und die Magd gingen mit Besen und Scheuerwisch hinüber nach der Oberkirche; der Bediente, ein Schulmeisterkandidat, der sich im Dienst des Kirchenhauptes zu seinem Beruf ausbildete, versah die silbernen Altarleuchter mit hohen gelben Wachskerzen.
Und in der Wohnstube saßen Magdalene, die neunzehnjährige Tochter des Hauses, und Fieke, die, obgleich nur ein paar Jahre älter, doch schon als geschickteste Nähterin der Stadt galt, und besserten das weiße Altartuch aus, das während der Leidenszeit aufgelegt wurde.
„Horch!“ plauderte Fieke, und ihr aufgestülptes Näschen hob sich neugierig nach dem Fenster, „der junge Kantor Sebastian Bach paukt seinen Schülern das Sonntagslied ein.“
Aus dem kleinen Kantorenhaus, das sich den Wohnungen der Geistlichkeit anreihte, tönte es, von tapfern Taktschlägen geleitet, herüber: „Verzage nicht, du Häuflein klein.“
„Ein Lied, in Kriegsgefahr zu singen?“ verwunderte sie sich, während ihre Nadel in der Luft schwebte. „Wir leben doch im tiefsten Frieden!“
„Vielleicht wissen es der Herr Vater und sein Kantor besser,“ sagte ernst Magdalene, die so gerade auf ihrem hochlehnigen Stuhl saß, daß das amarantfarbige Kamisol kein Fältchen schlug vom zarten Spitzengekräusel des eckigen Ausschnitts bis zu der straff zusammengeschnürten Schnebbe.
Fieke spitzte förmlich die Ohren. Da jedoch keine Erklärung folgte, spähten die blauen Augen, die wie ein paar Schlehen in dem rotbackigen Gesicht saßen, abermals zum Fenster hinaus. „Nun guckt nur! Da holt das Bäschen vom jungen Bach, das vorige Woche vom Walde herabgezogen ist, am Pfarrbrunnen das Wasser! Ihrer Muhme, der Jungfer Wedemannin, bei der sie wohnt, steht der Waisenhausbrunnen doch vor der Nase.“ Sie kicherte. „Ja so! sie wird dem Vetter zu Gefallen gehen. Aber daß sie ein Tüchlein über den Kopf bindet wie eine Walddirne, schickt sich nicht allhier.“ Selbstgefällig tippte sie an ihr Häubchen, dessen Spitze von einer Florschleife emporgesträubt war.
„Noch viel weniger schickt es sich, einem Junggesellen zu Gefallen zu gehen,“ rügte Magdalene, die zart gezeichneten Brauen emporziehend.
„Wenn das Bärbchen Marei ihn aber heiraten will!“ lehnte Fieke sich auf, und wieder schwebte ihre Nadel in der Luft. „Wie sie den Kopf nach der Melodie wiegt! Sie soll singen können wie ein Waldvöglein, und sie ist auch so braun wie eine Drossel. Plautz! Da wirft unser Herr Kantor den ganzen Chor zur Thür hinaus, daß der lange Chorpräfekt über seinen Degen stolpert. Haben gewiß wieder einmal greulich queruliert.“
Bei dem Lärm war Barbara Marie Bachin mit ihrer Wasserkanne aufgefahren wie die Haubenlerchen, die in den Schneefurchen gepickt hatten.
Nun fiel die wilde Schar der Chorknaben mit Schneebällen über sie her.
Da erhob sich Magdalene zu ihrer ganzen zierlichen Höhe. Das feine Gesichtchen schaute unter dem hochtoupierten leicht gepuderten braunen Haar streng auf die kleinen Sünder hinaus.
Erschrocken duckten sie sich, rafften ihre blauen Kurrendemäntelchen zusammen und liefen davon.
Ein dankbarer Blick aus den glänzenden dunklen Augen begleitete das Knixchen des Waldvögleins vor der Superintendententochter. Dann lugte es scheu nach dem Kantorenhaus zurück.
Sebastian Bach stand auf der Schwelle. Sein Gesicht mit den starken festen Zügen drückte Zufriedenheit mit dem vollführten Strafgericht aus, während er die Thür schloß – lautlos; denn der Hausklingel hatte er gleich beim Einzug um ihres unreinen Tones willen das Zünglein festgebunden.
„Wie Mamsell Lenchen sich eine Würde geben kann,“ bewunderte Fieke, wieder eifrig nähend. „Sie ist zur Frau Hofrätin geboren. Gelt, wenn Sie den Herrn Sekretarius Struve bekommt, schenkt Sie mir zum Brautputz das rote Kamisol da? Thu’ Sie nur das Gelübde! das hilft immer.“
In Magdalenes Wangen war eine tiefe Röte gestiegen; aber spröde erwiderte sie: „Um einen Mann zu bekommen, thut kein sittsames Mädchen ein Gelübde.“
Fiekes Mund mit der immer gesprächsam aufgeschürzten Oberlippe blieb offen stehen. „Auch nicht, wenn es der Herr Sekretarius ist?“ rief sie. „Der einmal Hofrat wird, wie alle seine Altvordern, dem die Leute auf der Straße ausweichen und der doch so wohlwollend mit dem Aermsten spricht? Der schöne Mann! Eine so hohe Statur, eine so stolze weiße Stirn hat keiner von den hiesigen Honoratioren aufzuweisen.“
„Du hast ihn Dir ja sehr genau angesehen,“ unterbrach sie Magdalene gereizt.
Fieke lachte. „Ach, das thun noch ganz andere Mädchen, als ich bin. Justizienrats Christelchen guckt sich noch die Augen nach ihm aus, und – hi! hi! – das Hoffrölen Kiliane von Heymbrot schäkert gar zu gern mit ihm.“ Sie sah voll Genugthuung, wie Magdalenes Hände zu zittern begannen. „Ja, ja, wenn die Demoiselles nur nicht immer thäten, als machten sie sich nichts aus den Mannsleuten!“ Dann hielt sie den gründlich gestopften Zipfel des Altartuches gegen das Licht. „Das Hoffrölen hat eigentlich recht, wenn sie sagt: ‚ein Loch ist vornehmer als eine Flicke.‘“
„Das sieht der leichtsinnigen Heymbrotin ähnlich,“ erwiderte Magdalene geringschätzig.
„Aber Lenchen,“ verwies sie ihre Mutter, eine blasse Frau mit sanften Zügen, die bei den letzten Worten ins Zimmer getreten war. „Das arme verwaiste Kind hat es nicht besser gelernt. Sie ist wie eine Lilie auf dem Felde.“ Dann setzte sie für Fieke das Vesperbrot hin und fragte: „Bist Du jetzt oft draußen auf dem Schlößchen Augustenburg?“
„Erst vorige Woche war ich wieder dort,“ erzählte Fieke selbstgefällig. „Der Oheim des Frölen, der Herr Kanzellarius von Heymbrot schickte mich hinaus, weil sie ein zerrissenes Schnupftuch bei ihm hatte liegen lassen. Sie hat freilich keine Zeit zum Flicken. Muß den ganzen Tag das Mannsvolk am Narrenseil hinter sich herziehen. – Schön ist’s dort! Das Wachsfigurenkabinett der Frau Gräfin – ja so! – Fürstin heißt’s jetzunder – man sieht sich nicht satt. Und die beiden Wachsbossierer, die aus dem Kloster in Erfurt gekommen sind, verstehen ihre Sache. Aber so hübsch alles ist – eine unvergnügte Ehe führen die Herrschaften doch. Er, der Fürst, früher immer auswärts. beim Kaiser in Wien, bei seinen Schwägern in Braunschweig zur Jagd, jetzt in der weitläufigen Neidecke, wo alles so versteinert und öde ist wie im verwunschenen Schloß. Sie mit ihrem eigenen Hofstaat, in der Augustenburg, wo“ – ihre Stimme sank zum Flüstern herab – „wo es umgeht.“
Die Hausfrau hatte sorgenvoll geseufzt zu Fiekes Reden. Jetzt mahnte sie: „Gewöhne Dir doch den Aberglauben ab! Wenn Du in einem Hause gewesen bist, wollen abends Kinder und Gesinde nicht mehr aus der Stube hinaus. – Nein,“ unterbrach sie sich, als Fieke das Butterbrot in ihr Handkörbchen packen wollte, „bei uns mußt Du Deine Mahlzeiten selbst verzehren. Es ist nicht recht von dem Riesen Goliath, dem Märten, daß er sich von Dir ernähren läßt.“
„Wenn’s weiter nichts ist! Wir wollen uns doch heiraten,“ widersprach Fieke.
„Fiekchen, nimm Deinen Verstand zusammen,“ redete die Hausfrau milde zu. „Woher wollt Ihr die hundert Meißenschen Gülden nehmen, die der Schutzbürgersohn bei uns nachweisen muß, wenn er die Erlaubnis zum Heiraten haben will?“
Fiekes Augen funkelten. Aber die aufstutzige Rede, die ihr auf der Zunge saß, blieb ungehalten.
Helles Geklingel tönte von der Straße herein. „Das Hoffrölen!“ rief sie hinausschauend. „Nee, die Pracht! Als käme unsere Frau Fürstin selbst.“
Die Superintendentin rückte die weiße, mit gebrannten Spitzen umsäumte Dormeuse auf dem Kopf zurecht. „Das Fräulein kommt also im Auftrag Ihrer Durchlaucht. Wir wollen ihr entgegen gehen, Lenchen!“
Magdalene preßte die Lippen zusammen und erhob sich.
Fieke benutzte den Aufstand, um ihr Butterbrot doch im Körbchen zu verstecken.
[567] Ein glänzender Zug bewegte sich über den weiten Kirchplatz: den Pfarrhof. Voraus lief im kurzen Zotteltrabe ein Läufer, trotz des Schnees in blau und gelbe Seide gekleidet, eine Art bebänderten Schäferstab in der Hand. Ihm folgte ein Gespann von zwei weißen Hirschen mit mächtigen Geweihen, die einen gleich einer Muschel geformten Schlitten zogen, dessen Vordertheil, empor gebogen, einen kleinen zielenden Amor trug. Ein Reitknecht führte vom Sattelhirsch aus das Gespann; auf der Pritsche saß ein Mohr im scharlachnen goldbordierten Kaftan, auf dem Turban den Halbmond, an der Seite den krummen Sarazenensäbel.
Nachlässig graziös lehnte Kiliane von Heymbrot in dem Schlitten, umwogt von den bauschigen Falten des karmoisinroten Seidenkleides, über das ein meergrüner marderverbrämter Pelz geworfen war. Die emporgeschlagene Kapuze umrahmte ein Gesicht, zart weiß und rosig, als habe einer der in die Mode gekommenen Pastellmaler es hingehaucht. Leuchtend blaue Augen schauten heraus, in deren Tiefe ein verschlossener rätselhafter Ausdruck lag.
Mit großem Umschweif vollzog sich die Anfahrt vor der Superintendentur.
Unter dem Beistand des Mohren kam Kiliane glücklich auf die hohen Stöckelschuhe zu stehen. Sie breitete die übereinander geschlagenen Reifen des Rockes aus, bis dieselben so aufgebläht waren, daß sie nur von der Seite durch die Thür gelangen konnte.
Dann aber ging alles rasch von statten. Sie versank anmutig vor der ihr entgegentretenden Mutter, nickte mit einem Lächeln, das um den weichen Mund wie leiser Spott sich kräuselte, der eiskalt knixenden Tochter zu und eilte die steile Treppe zur Oberstube hinan, an deren Thür ihr die hohe mannhafte Gestalt des Superintendenten Olearius entgegentrat.
Farbenschillernd, seidenrauschend, nach Eau de Lavande duftend, trat sie in das niedrige Gemach, wo feierlich auf den Bücherbrettern die großen Bände sich reihten, welche den Bibeltext in sieben alten Sprachen enthielten, das Bild Luthers aus einfachem schwarzen Rahmen herabschaute, umgeben von Waffentrophäen, welche evangelische Streiter während des Dreißigjährigen Krieges getragen hatten.
„Ich komme im Auftrag Ihrer Durchlaucht,“ begann sie in glattem Hofton.
„Und war der pomphafte Aufzug schicklich während der Faatenzeit für einen Besuch beim ersten Geistlichen des Landes?“ sagte Olearius gemessen. Ihr ernst in die Augen sehend, fuhr er fort: „Was würde zu solcher Ueppigkeit die selige Frau Mutter des Fräuleins sagen? Sie waltete in würdiger Schlichtheit neben Ihrem seligen Herrn Vater auf dem Amt Kevernburg, und nimmer wurde damals Eitelkeit an den seligen kleinen Junkern und der kleinen Kiliane gesehen.“
Kilianes Rosenfarbe war erblichen, der Glanz der Augen schien erloschen. Dann antwortete sie mit klangloser aber fester Stimme: „Der Herr Superintendent sagt es selbst: sie sind alle selig, nur ich allein bin bei dem großen Sterben verschont geblieben, und nun habe ich der zu gehorchen, die mir alles giebt, was zu des Lebens Notdurft gehört: seidene Strümpfe und deutsche Diamanten, Flitternadeln, Puder und Schminke“ – der Ton war höhnisch geworden; sie hielt inne. „Verzeihung, Hochehrwürden, daß ich diese profanen Dinge nenne. Im übrigen: Ihro Durchlaucht hat diesen Aufzug befohlen.“
Und auf dem Sessel, den er ihr anbot, Platz nehmend, ging sie rasch zu ihrem Auftrag über: „Die Frau Fürstin Augusta Dorothea läßt fragen, ob im Kirchenarchiv sich ein Bild erhalten hat von dem alten Walpurgiskloster, das in der Reformation aufgehoben wurde.“
„Ich weiß von keinem solchen, will aber nachsehen lassen,“ erwiderte Olearius gemessen. „Wozu bedarf die Frau Fürstin desselben?“
„Zu einer Darstellung für ihr Wachsfigurenkabinett,“ antwortete Kiliane. „Hochehrwürden wissen, wie sie daran hängt. Sie nennt es: Mon plaisir – mein Vergnügen.“
Tief hatte sich die ernste Stirn des Geistlichen gefaltet. „Also für und für nur Spielereien auf der Augustenburg,“ sagte er nachdrücklich.
„Sie hat keine Kinder, darum spielt sie selbst mit Puppen,“ entschuldigte Kiliane. „Und sie ist nicht umsonst die Tochter des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig. Nach einem seiner Schlösser hat sie die Augustenburg gebaut, sie ist ihm in das katholische Bekenntnis gefolgt, und sie erfreut sich daran, nach lebenden Personen Puppen anzufertigen, wie er in seinen Romanen die pikanten Histörchen aller Höfe an die Oeffentlichkeit brachte.“
„Die Frau Fürstin hat in erster Linie Landesmutter zu sein,“ entgegnete Olearius mit seiner weithin schallenden Kirchenstimme. „Monpläsir nennt sie ein Wachsfigurenkabinett, läßt Damaste und Sammete für dasselbe zerschneiden, in ihrer Porzellanfabrik zu Dorotheental Schälchen und Teller für die Puppenküche machen – und ihr Vergnügen sollle es sein, Stiftungen für die Armen zu gründen, Leinwand für die Kranken zu zerschneiden, in der Hofküche die Hungernden zu speisen, wie es die hochgebornen Frauen dieses Hauses bishero allezeit gethan haben. Und gerade jetzt, mehr als sonst, wäre ihr Platz hier an der Seite ihres Gemahls, inmitten der Unterthanen, und alle ihre Gedanken müßten darauf gerichtet sein, die düsteren Wolken zerstreuen zu helfen, die über Stadt und Land sich zusammenziehen.“
Kiliane sah ihn fragend an. „Gerade jetzt? Düstere Wolken?“
Aber er schloß seine Rede: „Solche Mahnungen sendet jedoch der erste Geistliche des Landes nicht durch ein Hoffräulein, die thut er von seiner Stätte aus kund“ – er erhob den Kopf – „von der Kanzel.“
Die Worte dröhnten durch das ganze Haus.
In der Unterstube hatte Fieke vor Angst die Hände gefaltet. Magdalene besserte gefaßt weiter die schadhaft gewordenen Kreuze in der Kante des Altartuches aus.
„Er fällt aus dem Hofton,“ sagte besorgt die Mutter. „Jetzt rückt das Fräulein den Sessel – es ist überstanden. Sie wird kein Verlangen tragen, uns ein Visite abzustatten, wird froh sein, wenn sie zum Haus hinaus ist. Komm, Lene, wir wollen sie geleiten!“
Droben an der Treppe verabschiedete sich Olearius.
Heiße Röte brannte auf den Wangen Kilianes; aber ehrfürchtig verneigte sie sich vor dem strengen Kirchenhaupt.
Dann streckte sie seiner stillen sanften Frau mit zutraulichem Lächeln die Hand hin, welche diese voll mütterlicher Teilnahme ergriff.
Magdalene stand so steif in der Thür, als habe sie die Elle verschluckt, mit der sie soeben die alten Kirchenspitzen für die Kanzelbekleidung Fieke zugemessen hatte.
Bei ihrem Anblick begann es in Kilianes Augen aufzublitzen. „Soll ich ein Kompliment an den Sekretarius Struve bestellen?“ fragte sie und sah übermütig in das junge Gesichtchen, das so kühl sich ihr zuwandte. „Ich fahre zum Onkel Kanzler; da wird er mir schon seinen charmanten Diener machen.“
Ein Blick voll stolzer Zurückweisung traf sie aus den Rehaugen Magdalenes. „Wer den charmanten Diener in Empfang nimmt, kann dafür das Kompliment machen,“ sagte herbe ihr kleiner roter Mund.
Kiliane verneigte sich, mutwillig lachend. „Soll mir ein besonderes Vergnügen sein.“ Damit verschwand sie.
„Lenchen, sei doch nicht so kurz angebunden,“ ermahnte leise die Mutter. „Bei einer Neckerei verhält sich ein junges Mädchen verschämt.“
Stumm ging Magdalene in die Stube zurück und nahm ihr geflicktes Kreuz in die eiskalt gewordenen Hände, während Fiekes neugierige Augen dem davonsausenden Schlitten nachsahen. –
Die Silberglöckchen der Hirsche läuteten dem herrschaftlichen Gebäude zu, welches der Kanzler als Diensuwohnung inne hatte.
Märten, der auf Struves Empfehlung das Winterholz für die Amtsstuben im Vorhof spaltete, riß die Thorflügel so kräftig auf, daß der eine halb aus den Angeln flog; da hielt ihn der riesenhafte junge Mensch wie ein Steinpfeiler fest.
Das Hoffräulein fuhr vor einer hohen Pforte vor, über der ein Wappenschild mit Wage und Schwert die Macht des Regentenhauses über Leben und Tod bekundete.
Ah! Da kam auch der Geheimsekretarius Struve aus der Kanzleistube im untern Gestock ein Aktenstück unter dem Arm, die Feder hinter dem Ohr.
Er trat heran, das Fräulein zu begrüßen. Aber „der charmante Dieuer“ fiel etwas flüchtig aus.
Gespannt sah er dem Amtsboten entgegen, der an seinem langen Stabe eilfertig von der Neidecke herüber gestapft kam und meldete: „Elf Uhr morgen wollen Seine Durchlaucht den Vortrag des Herrn Kanzlers entgegennehmen.“
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[569] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [570] „Morgen, immer morgen,“ murmelte Struve, sichtlich Kilianes Gegenwart vergessend.
Sie brachte sich wieder in Erinnerung.
„Ich war in der Superintendentur,“ neckte sie, neben ihm dem Hause zuschwebend. „Hätte Ihm gern ein Kompliment mitgebracht; aber mein Erbieten wurde nicht angenommen.“
Einen Augenblick stockte sein Fuß. Die schönen braunen Augen sahen sie vorwurfsvoll an. „Warum verschwendet das Fräulein seine Zuvorkommenheit an Personen, die sich derselben durchaus nicht würdig fühlen?“
Sie lachte laut auf. „Das heißt: die sie nicht verlangt haben. Ist das der Dank für mein Bemühen, Ihm bei Seiner Amourschaft Beistand zu leisten?“
Jetzt wurde sein regelmäßig geschnittenes Gesicht fast streng. „Ich bitte gehorsamst, an einen bürgerlichen Mann nicht das Maß eines Hofkavaliers zu legen. Von einer Amourschaft ist nicht die Rede, sondern von meinem aufrichtigen Streben, für meinen bescheidenen Herd eine liebe Hausfrau zu gewinnen.“
Sie hielt sich die Ohren zu. „Mon Dieu! Wäge Er nicht jedes Wort! Er scheint heute keines guten Humors zu sein – ah! Da steht ja unser Bärenschlitten! Ist vielleicht in ihm eine Verstimmung von der Augustenburg hereingefahren worden?“
Struve schüttelte bekümmert den Kopf, während er sie die Treppe hinauf geleitete. „Wenn uns nichts anderes nagte als die Forderungen der Frau Fürstin, die der Herr Kammerjunker von Eichfeld überbracht hat!“
Ein helles Rot stieg bei dem Namen in Kilianes Gesicht auf; aber wie gewaltsam bekämpft, verflog es im Nu.
Struve bemerkte es nicht.
Auf dem Gang, der nach dem die Amtsstuben enthaltenden Flügel führte, steckten die Räte die Köpfe zusammen. Der Sekretarius geleitete Kiliane rasch hindurch, offenbar bestrebt, die geflüsterten Reden vor ihr zu verheimlichen.
Aber ihr feines Ohr fing doch auf: „Weimar – Ultimatum“ – und als sie schon auf der Schwelle zum Zimmer des Kanzlers stand, noch den Schall eines letzten Wortes, das ihr die Verstörung erklärte.
Struve schloß, nach ihr eintretend, schleunig die Thür.
Gravitätisch wie immer lehnte Herr von Heymbrot an seinem Schreibpult, stattlich sich abhebend von dem hohen Bücherbrett, unter dessen zurückgeschlagenem goldbefransten Vorhang die juristische Weisheit der Zeit in schweinsledernen Einbänden sich zeigte.
Der Kammerjunker von Eichfeld stand vor ihm in brokatener Bratenweste, goldgesticktem Atlasrock, den dreieckigen Hut unter dem Arme.
Seine Augen leuchteten auf, als Kiliane erschien.
Sie blinzelte durch die krausen goldigen Wimpern flüchtig nach ihm hin, während sie zu dem Kanzler eilte. „Ich komme, nach dem Wohlbeanben meines gnädigen Oheims –“
„Man schweige,“ unterbrach sie dieser. Dann auf ein Bündel Rechnungen deutend, die auf dem Tische lagen, sprach er zu Eichfeld weiter: „Also: Ihro wünschen, daß wir diese Kramzettel bezahlen. Silberborten und Goldposament für das Monpläsir – hm – hm.“
„Zum zweiten: der Malaga geht zur Neige,“ fügte Eichfeld hinzu.
„Zum dritten: wir brauchen mehr Pferde,“ ergänzte Kiliane. „Bei den Ausfahrten von dem Gefolge reicht die lange Kutsche nicht aus für die Reifröcke.“
Der Kanzler nahm umständlich eine Prise aus der Dose, die das Bild seines fürstlichen Herrn in Perlenfassung zeigte, und stäubte mit spitzen Fingern den Schnupftabak vom Spitzenhalstuch.
Struve kam seiner Antwort zuvor. Er schlug sein Aktenstück auf und sagte ehrerbietig aber bestimmt: „Laut dieser Rechnungslegung ist der Etat für die Augustenburg bereits überschritten. Es wäre ratsam, Ihro Durchlaucht vorzustellen, daß unnütze Geldausgaben gerade in jetziger Zeit zu vermeiden sind.“
„Da der Krieg vor der Thür steht,“ setzte Kiliane hinzu, die erlauschten Worte gebrauchend.
„Krieg?“ rief erregt der Junker, und seine Hand ballte sich trotz der Spitzenmanschette kräftig um den Griff des Galanteriedegens.
„Man schweige!“ rief erschrocken der Kanzler.
Aber Kiliane kicherte weiter: „Krieg mit Weimar, das die stattlichen Greuadiere hat und o! rote Husaren.“
In dem Junker regte sich das Blut der kampflustigen Streithähne, die seit Jahrhunderten aus der Eichfeldburg hervorgebrochen waren. „Mit den Husaren und Grenadiers wollen wir es wohl aufnehmen,“ sprach er zuversichtlich.
Kiliane funkelte ihn spöttisch an. „Wolle der Herr Kammerjunker nur wenigstens einen Husaren am Leben lassen! Diese angenehmen Tollköpfe, die hinfliegen wie der Wind – die wären nun mein Vergnügen!“
Eichfeld stampfte leise mit dem elastischen Fuß auf.
„Man schweige!“ gebot der Kanzler. „Ich werde seinerzeit und bei günstiger Gelegenheit die Wünsche Ihrer Durchlaucht vor das hohe Ohr Seiner Durchlaucht bringen. Bon soir!“
Die beiden jungen Hofleute waren entlassen.
Kiliane eilte die Treppe hinab, indem sie trällerte.
Wer nicht wohl tanzen kann, soll sich vom Reigen scheiden,
Wer saget, was er denkt, der soll den Hof vermeiden.“
Eichfeld wollte ihr nach.
Da tönte es von einer ernsten treuherzigen Stimme an sein Ohr: „Guten Abend, Herr Junker Konrad.“
Aus dem Winkel neben der Treppe trat ein Mann in grobem Rock, Lederhose, eine große Peitsche in der Hand. Es war der Hofmeier des Eichfeldhofes. Unter den buschigen Brauen, den in die Stirn hängenden Haaren schauten ehrliche runde Augen wie die eines treuen Pudels den Junker an, in dessen Wangen bei seinem Anblick ein dunkles Rot schoß.
„Ich habe den Junker einfahren sehen und gebeten, hier warten zu dürfen.“
„Du bringst Geld, Hannjörg?“ sagte Konrad, seine Befangenheit unter barschem Ton verbergend.
Hannjörg seufzte. „Ja, ich briuge noch ein paar Thaler, wie der Junker es verlangte. Aber,“ raunte er ihm zu, „es sind die letzten.“
„Das kann nicht sein,“ war die betroffene Antwort.
„Es ist nichts mehr da als das Saatkorn und Futter für das Vieh,“ beteuerte der Hofmeier. „In den fünf Monaten seit der Junker bei Hofe lebt, ist mehr draufgegangen als sonst in fünf Jahren.“
Eichfeld sah finster vor sich hin, die Lippen zusammengepreßt.
Der Hofmeier trat ihm zutraulich uäher. „Wenn der liebe Herr Junker doch wieder zu uns auf das väterliche Gut kommen, das tägliche Brot bauen und in Frieden auf der eigenen Scholle essen wollte! Es hat nie einen leeren Geldbeutel bei uns gegeben, bis der stockbeinige Hofmarschall den Herrn aufspürte.“
Dem Junker riß die Rede Hannjörgs am Herzen. Seine Augen wandten sich von dem gefurchten Gesicht des treuen Knechtes. Sie trafen Kiliane, die in der Hausthür stand und lässig mit ihrem winzigen Muff den dicken Mops des Kanzlers neckte. Hatte sie gehört? Es lag wie Spannung in ihren Zügen, es zuckte um die roten Lippen – wieder Spott?
Sein Weh schlug in Ungeduld um. Er lachte rauh. „In dem grauen Eulennest hausen, dem das Dach wie eine spitze Zipfelmütze auf die Fensterchen drückt?“ sagte er leise aber heftig. „Nur die vier Eichen vor der Nase, die zerzaust darum stehen? Die Schafherden blöken hören, die langweiligen Aehren nicken sehen den langen Tag? Fällt mir nicht ein!“
Auch der alte Knecht wurde jetzt zornig. „In dem Haus haben die Väter des Herrn Junker mit Ehren, ohne Schulden gewohnt. Die Eichen sind zerzaust von den Blitzen, die sie getreulich von dem hohen Dach auf sich ablenkten. Die liebe Feldfrucht ist die beste Gabe unseres Herrgotts, und die Herden des Eichfeldes sind ein schöner Besitz. Aber ich sehe schon: es ist itzt vergeblich, dem Junker vernünftig zuzureden. Ich habe dem Herrn den Schlüssel zu seinem Eichfeldhof mitgebracht, damit Er Tag und Nacht Zuflucht unter Seinem Dach suchen kann. Denn einmal knaxt es doch mit der Hoffart.“
Er hatte einen großen Schlüssel in Konrads Hand gedrückt, ging, und gleich darauf hörte man den Trab eines schweren Kleppers sich entfernen.
Konrad warf einen mißtrauisch forschenden Blick auf Kiliane. Kein Zweifel! sie sah ihn jetzt mit Geringschätzung an. Machte sie sich lustig über seinen Schlüssel, der so groß war wie ein Pistol? Sollte er ihn wegwerfen? Da schien ihm das rostige Werk plötzlich [571] ans Herz gewachsen! Er steckte es in seine Rocktasche, wo es mit den paar Thalern herumklapperte. Dann eilte er ihr nach.
An der Hausthür klingelten Amor- und Bärenschlitten vor, präsentierte die Wirtschafterin die frisch gefüllte Wärmflasche.
„Ich fahre das Fräulein,“ herrschte Eichfeld der Bedienung zu. „Der Reitknecht, der Mohr und der Läufer können zu meinem Kutscher in den Bärenschlitten kommen, ihre erfrorenen Beine in dem Pelz wärmen. Blast Eure Fackeln aus! Es ist schneehell. Die lange Fahrleine an das Gebiß der Hirsche! Ich will schon fertig werden mit ihnen. Will doch einmal probieren, ob man auch durch die Luft fliegen kann, ohne ein Husar zu sein.“
Märten, der unterdeß mit wuchtigen Axtschlägen die Thorangeln wieder eingeschmiedet und den starken Handhirsch, vor dem sich selbst der Sattelknecht fürchtete, an seiner Eisenfaust hermngeführt hatte, nickte billigend mit dem von dicken rötlichen Haarwellen umkräuselten Kopf: der Junker dachte an die erfrorenen Beine seiner Leute.
Kiliane sprang in den Schlitten. „Durch die Luft fliegen, alles in den Wind schlagen – so ist’s recht für arme Windbeutel, wie wir sind.“ Es klang ein schriller Ton durch ihren Uebermut.
Der Junker warf Märten eine kleine Münze zu und schwang sich hinter Kilianes Sitz auf die Kufen. Er faßte die Zügel. „Los!“
Der lange Peitschenriemen an dem kurzen Stiel sauste wie eine Schlange durch die Luft.
Märten riß lachend das Thor auf. „Das ist einmal ein Spaß! Die fragen doch nicht, ob etwas in Stücke geht!“
Gleich der losgelassenen wilden Jagd flogen die Hirsche mit ihrem leichten Gefährt davon. Vorüber an dem im Renaissancestil erbauten Residenzschloß des Fürsten, das stolz, grau wie ein Schatten, auf den leichtfertigen Amorschlitten herabschaute.
Von dem hohen Turm, der sich auf dem Fuß eines uralten Wartturms mit Galerien und grüner Kuppel erhob, dröhnte Glockenschlag.
„Schon sieben Uhr? Hussa!“
Zum Thor hinaus! Ueber die Brücke! Ein Wunder, daß die Hirsche nicht wie auf der Hetzjagd den Fluß wählten.
Hui! in das weite schneestäubende Land hinein.
Konrads heißer Atem streifte Kilianes zierliches mit einem Perlengehäng geschmücktes Ohr, von dem die Kapuze herabgesunken war. „Sind die Husaren wirklich angenehme Tollköpfe?“ flüsterte er. Und so weit reichte noch der matte Schein, der rosig am Gewölk im Westen verglomm, um all die Schelmengrübchen in Wangen und Kinn erkennen zu lassen, als sie rief: „Wenn sie hübsch sind! Schwarze Bärtchen und schwarze Augen haben!“
Ueber den grauen Augen des Junkers zogen sich die schönen dunklen Brauen zusammen. Wütend knallte die Peitsche, die Silberglöckchen kreischten auf.
Durch einen Hohlweg flog das flüchtige Hochwild, daß die Schneewehen über dem kleinen Amor zusammenschlugen, über einen Hügel, von dem der Schlitten nur nicht herab gleiten konnte, weil die Hirsche zu schnell dahin rasten.
„Wird das Fräulein widerrufen?“ Er blitzte sie drohend an.
„Nein,“ lachte sie. Aber sie blieb ihm zugewendet, daß ihr Gesicht immer vor seinen roten Lippen schwebte.
Die heißen Worte wirbelten als kleine Wölkchen in die kalte Luft.
„Kiliane, hüten Sie sich!“
„Der Junker von Eichfeld droht?“ Sie lachte hellauf.
Er wurde wild. „Der Iunker von Eichfeld nimmt es an Tollköpfigkeit mit den Husaren auf.“
Er beugte sich vor, sie drehte sich ab. Er drückte die Lippen in die beiden langen gepuderten duftenden Locken die auf den warmen Nacken fielen.
Da tauchte die Fassade eines Schlößchens auf, erleuchtet von den Laternen am Portal bis hinauf zu dem runden Fenster im verschnörkelten Giebel.
Wie ein Lichtgebilde hob es sich von der altersgrauen Ruine des Stammhauses der Kevernburg ab, die dahinter in den Nachthimmel stieg.
Die Leibgardisten liefen aus ihrer Wachtstube heraus, Lakaien eilten herbei.
Durch das aufgerissene schmiedeeiserne Hofthor, dessen vergoldete Spitzen in dem Lichtgeflacker glänzten, sauste der Schlitten nur noch auf einer Kufe.
Da ließ Konrad die Zügel fallen – im Augenblick da der Schlitten kippte, sprang er von den Kufen, und Kiliane mit seinen jugendkräftigen Armen umschlingend, hob er sie heraus.
Sattelknechte fielen den Hirschen in die Zügel; Lakaien lasen den zerbrochenen kleinen Amor aus dem Schnee auf.
Ein paar Herzschläge lang hielt Konrad sie fest an seine Brust gedrückt, das Gesicht zu ihrem Antlitz hinabgebeugt, den sprühenden Blick tief in ihre Augen tauchend.
Und ihr, die sonst immer mit Spott und Hohn sich wehrte – ihr schwindelte plötzlich. Wie von der hinreißenden Gewalt einer entfesselten Naturkraft besiegt, lehnte sie willenlos in seinen Armen.
„Je toller die Fahrt, um so jäher das Ende!“ tönte es seltsam gedämpft und doch deutlich an ihr Ohr.
Sie fuhr empor. Dort in der dunklen Seitenpforte stand eine schmale schlanke Mönchsgestalt; ein bleiches scharfkantiges Gesicht sah zu ihr herüber. Es war Severin, einer der Wachsbossierer.
Sein Gefährte Timotheus, eine behagliche Figur, schob sich dazwischen. „Das Fräulein hat sich doch nicht weh gethan?“ fragte er harmlos.
Dann verschwand er mit dem andern.
Aber ein Schwarm von Hofherren, durch das tosende Schellengeläute herbeigerufen, ergoß sich in den Vorhof und suchte lachend die zerstreuten Toilettenstücke Kilianes zusammen.
Der hochmütige Hofmarschall ließ sich herab, den Schnee von ihrem Pelz zu klopfen, der frivol lächelnde erste Kammerherr barg ihr Händchen in dem gefundenem Muff, der forsche Stallmeister bestand darauf, ihr den verlornen Stöckelschuh selbst anzuziehen.
„Eile sich der Herr Kammerjunker, aus den Pelzstiefeln zu kommen,“ riefen sie dem abwehrend dazwischen sich drängenden Eichfeld zu. „Ihro hat noch eine Arbeitsstunde befohlen.“
Kiliane wandte sich nach ihm um, noch etwas atemlos, aber wieder in der Haltung des Hoffräuleins das zarte Kinn hoch gehoben. „Solchen Erfolg hat man,“ spottete sie leise, „wenn man es den angenehmen Tollköpfen gleich thun will und kein Husar ist: Amor geht in die Brüche.“
Sie lief ins Schlößchen hinein, Konrad ihr nach, der ganze Schwarm der Hofkavaliere hinterher.
(Fortsetzung folgt.)
Als Deutsche in Paris.
Auf dem Wege nach dem Militärhospital St. Martin begegneten wir einem Vierspänner, in dem eine ältere Dame neben einem jungen Mann in Uniform saß, verfolgt von einer schreienden Menge: „Das ist auch so einer von den Millionärmobilen! So fahren unsere Millionärmobilen in den Krieg!“ Sogar die Mutter wurde verhöhnt, weil sie ihre „Thränen in ein seidenes Taschentuch weine“.
Der Pförtner war wohl abwesend, jedenfalls kamen wir ohne Erlaubnisschein in den Garten des Hospitals. Es erschien uns nach der Gesellschaft, die sich im Freien sonnte, wie eine Bewahranstalt für alte Männer in blauen Schlafröcken und weißbaumwollenen Schlafmützen, die an der Neugier litten. Denn kaum hatten die Nächsten uns erspäht, als sie uns umringten und die neuesten Nachrichten vom Kriege wissen wollten. Sie bekämen keine Zeitungen!
„Das Neueste ist,“ sagte ich, „daß man die deutschen Gefangenen, die verwundet sind, in ein Pariser Hospital geschickt hat – sind vielleicht welche hier?“
Nein. Nicht ein einziger gefangener Deutscher war unter ihren Kranken! Schade – was würde man von ihm erfahren! Aber wo standen die Deutschen? War es noch nicht heraus, [572] warum Mac Mahon sie ins Land gelassen? Eine Kriegslist natürlich, um sie desto sicherer zu vernichten!
Der Gedanke, die Deutschen wären als Sieger in Frankreich, war ihnen offenbar noch nicht aufgegangen. Mac Mahon, unter dem einige gedient, erschien immer noch als der Unüberwindliche.
Den nächsten Morgen ging ich im Interesse meines Verwandten in die Intendantur des Kriegsministeriums. Name und Geburtsort wurden mir am Eingang abverlangt. Als „Preußin“ durfte ich dann nur unter militärischer Bedeckung das Innere betreten. Nach langem Wandern durch endlose Korridore gelangte ich mit meinem Begleiter in das Bureau, wo man Nachricht über Vermißte und Kranke erhielt und wo auch die langen Verlustlisten hingen, neben denen ich angewiesen wurde zu warten. Nie habe ich, in einem Raum zusammengedrängt, mehr Herzeleid gefunden – hier traf man mit den verzweifelnden Müttern zusammen, die ihre Söhne im Kriege hatten. Eine ist mir unvergeßlich geblieben. Scheu, die Züge durchfurcht von Gram, fürchtete sie sich offenbar vor der Totenliste und wagte die Augen nicht aufzuheben, als sie davor stand. Vielleicht auch hatten Thränen sie halb blind gemacht, denn sie fragte mich plötzlich, ob ich nach einem Namen suchen wollte – den ich leider auch auf der Liste fand. Wie mag einem Beamten zu Mute sein, der den ganzen langen Tag solchen Jammer mit ansieht und in sein Buch trägt!
So wahrheitsgetreu die ersten Berichte über unsere gewonnenen Schlachten gewesen waren, von dem weiteren, andauernd siegreichen Feldzug unserer Armee hatten wir Deutsche in Paris keine Vorstellung. Dagegen wurden oft die schrecklichsten Gerüchte in Umlauf gesetzt und wir durch gefälschte oder erfundene Nachrichten gequält. Das Schlimmste war, daß die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen, immer mehr in die Ferne rückte. Wer ohne Paß war, wurde an der Grenze zurückgeschickt, gleichviel ob Mann ob Frau. Mit einem Paß reisen aber glückte nur wenigen, die besondere Protektionen hatten. Es war erklärlich. Hunderttausend Deutsche und ebensoviel andere Fremde wollten fort. Wer revidierte auf einmal so viele Pässe, die unter den obwaltenden Umständen auch noch einer besonderen Bestätigung von der Polizeipräfektur bedurften? Den Nichtdeutschen wurde es insofern leichter, als ihre Konsulate Paris nicht verlassen hatten. Wir waren aber seit der Kriegserklärung eine hirtenlose Herde. Das amerikanische Konsulat, das uns übernommen hatte, konnte trotz zuvorkommender Beamten nicht neben den eigenen Landeskindern, auch noch alle Deutschen in der kurzen Zeit befriedigen. Und so sah man jetzt diese armen Vaterlandsdurstigen in straßenlangen Reihen, dicht gedrängt, je zwei nebeneinander, bald vor dem amerikanischen Konsulat, bald vor der Polizeipräfektur, bald vor dem Ministerium des Innern Queue bilden. Wie oft habe ich mit Agnes so gestanden! Einmal, am 13. August, volle drei Stunden vor der Präfektur. Die erste Stunde außerhalb des Gebäudes auf dem Quai im hellsten Sonnenbrand. Die beiden andern Schritt vor Schritt in dichtgedrängter Reihe uns vorarbeitend durch enge Korridore nach schwülen Zimmern. Als wir endlich, halberstickt von Staub und schlechter Luft vor die Obrigkeit traten, die dort Gewalt über uns hatte, hieß es: „Des Prussiennes?!! Ja, da müssen Sie zuerst ein Attest vom Ministerium des Innern vorzeigen.“
Also umgekehrt – vorwärts, marsch! – nach dem Ministerium des Innern, wo wir ziemlich ebensolange antichambrierten, ehe wir an die Reihe kamen und erfuhren, das Bureau würde sogleich geschlossen, auch wären so viele vor uns eingeschrieben, daß man uns frühestens in drei Tagen berücksichtigen könnte.
Der Napoleonstag (15. August) verging sorgenvoll wie alle anderen. Die Pariser glaubten so sicher, Napoleon werde für die vielen Feuerwerke, die sie ihm früher an seinem Namenstage abgebrannt hatten, diesmal einen Sieg bescheren, daß sie von Morgen bis Abend auf die Depesche lauerten. – Umsonst. Zu unserer aufrichtigsten Freude!
Doktor M ... hatte als Präsident des deutschen Hilfsvereins die Organisation einer Ambulanz übernommen, welche unsere Kolonie ausrüstete. Die Mittel waren durch Zeichnungen sofort gedeckt – dreißig Betten mit allem Zubehör standen bereit – aber es fehlte lange an der Erlaubnis, diese Betten mit französischen Verwundeten zu füllen. Nachdem sie endlich eintraf und man mit der Wirksamkeit beginnen wollte – wurde die Erlaubnis wieder zurückgenommen. Die Amerikaner traten das Erbe an, die Betten wurden ihrer Ambulanz einverleibt.
Eine entsetzliche Epidemie war damals um Mitte August immer noch im Zunehmen: das Spionenfieber. Kein Franzose sagte: „Wir sind besiegt,“ sondern stets: „Wir sind von den Deutschen verraten worden!“
Wiederholt hatte mich seitdem jene provençalische Malerin, Madame B., besucht. Unsere Siege waren ihr zu Kopf gestiegen, vielleicht fühlte sie das Bedürfnis, ihren patriotischen Groll an einer Deutschen auszulassen. So kam sie eines Morgens, verstört und fiebrig, ja sogar vernachlässigt in ihrer sonst stets sehr sorgsam gewählten Kleidung.
Um ihre Empfindlichkeit zu schonen, vermied ich jede Anspielung auf die Tagesereignisse. Ich brachte sie auf Madrid, das sie kannte, zeigte ihr Fächer, die ich von der Reise mitgebracht hatte, und bat sie, sich einmal meine spanische Spitzenmantille anzustecken. Sie stand ihrem pikanten Gesichtchen reizend und für einen Augenblick war das besiegte Vaterland vergessen. Nun hatte eine verrückte Engländerin, die wir beide kannten, damals ihrem Spitz. Stiefelchen anmessen lassen, was ich ihr erzählte. Ich lachte dabei – vielleicht etwas zu laut. Denn plötzlich schlug die Stimmung um – sie fuhr auf.
„Wie können Sie mit einer Französin jetzt von solchen Narrenspossen reden!“ rief sie. „Freilich – Sie gehören zu denen, die unser Unglück verschuldet haben – Sie freuen sich ja nur darüber!“
Ich versuchte, sie zu beruhigen – sie ließ mich nicht zu Wort kommen. Erst gestern hätte sie von einem Verwandten, einem Offizier aus der Umgebung Bazaines, gehört, wie’s die Deutschen trieben. Es war ein hübsches Sündenregister, was sie ihnen ausstellte! Unter anderem – was doch nur natürlich! – hatten sie der Bazaineschen Armee die Zufuhr abgeschnitten – man hungerte im Lager.
„Das thut mir leid,“ rief ich, um nur etwas zu reden, „denn selbst der tapferste Soldat hat einen Magen, an den er im Kriege denken muß.“
„Im Kriege leidet auch der Franzose vom Hunger, aber er denkt nicht daran!“ entgegnete sie stolz.
„Ich weiß, daß der französische Soldat vom Ruhm leben kann“ – versuchte ich zu begütigen, aber da kam ich schön an.
„Sie sprechen von Ruhm, wo wir nur Niederlagen haben – wollen Sie mich auch noch verhöhnen?“ rief sie außer sich mit glühenden, haßerfüllten Augen.
„Warum sind Sie überhaupt noch hier?“ fuhr sie heftig fort. „Kein Mensch fragt, jetzt nach Bildern!“
„Ich bin hier, weil man mich nicht fortläßt …“
„Nein – um zu spionieren! Sie sind ein Spion in preußischen Diensten!“
Drauf lief sie nach der Thür, drehte sich dort noch einmal um. „Auf Wiedersehen, Spionin!“ und fort war sie.
Ganz elend blieb ich zurück, nicht sowohl wegen ihrer Drohung, die ich nicht für Ernst nahm, als weil ich mir vorwarf, sie absichtslos verletzt zu haben. Nun, sobald sie wiederkäme, wollte ich das ins Reine bringen!
Aber sie kam nicht wieder. Dagegen am nächsten Morgen ein Fräulein Z., deutsche Lehrerin, die, wie ich, auf ihren Paß wartete. Sie wollte mich warnen. Man hätte vom nächsten Polizeibureau sie ihrer Aufenthaltskarte wegen rufen lassen, sie aber-eigentlich nur über mich ausgefragt. Ob ich Feinde hätte? Jemand müsse mich angezeigt haben. – Nein. – Ich traute es niemand zu; von Frau B. schwieg ich. Sobald Fräulein Z. mich verlassen, ging ich aber zu meinen Freunden. Die Doktorin schlug die Hände zusammen und sah mich schon im Gefängnis. Selbst dem ruhigen Doktor war die Sache nicht geheuer – ich sollte nur gleich zu ihnen ziehen, meinte er.
„Da gäbe ich ja erst Grund zum Verdacht! Sie können ja untersuchen, da wird meine Unschuld klar werden.“
„Aber man untersucht nicht erst – man freut sich, der öffentlichen Meinung zu schmeicheln, wenn man einen ,Spion’ einsteckt, gleichviel ob’s wirklich einer ist oder nicht!“ behauptete er.
Etwas unruhiger, als ich gegangen, kam ich nach Hause zurück. Richtig. Die Polizei war dagewesen! Frau Cartier hatte den Beamten empfangen und erklärt, sie sei eine gute Patriotin, das wisse er – mich aber gebe sie drum doch nicht heraus! Denn daß ich ein Spion sein sollte, das wäre Dummheit, und sie kenne die, die mir’s eingebrockt hätte! Darauf holte die Gute, Brave,
[573][574] den alten Maler Gleyre, dessen Schüleratelier dem meinen gegenüber lag, sowie den Vergolder vom Vorderhause herbei, die meinen Ruf von Verräterei zu reinigen hatten. Der Beamte erklärte übrigens, die Anklage gleich für „eine kleine Weiberrache“ gehalten zu haben.
Ich aber war froh, mit heiler Haut davon zu kommen, wie auch unter den Erbfeinden noch so gute Freunde zu haben.
Am 21. August erschien nach vielen ausweichenden und sich widersprechenden Gerüchten über die Kämpfe von Vionville, Gravelotte und Mars-la-Tour eine halboffizielle Proklamation: „Dreißigtausend Preußen von der Armee des Prinzen Friedrich Karl sind in die Kalkgruben von Jaumont getrieben worden und dort elend umgekommen. Man hat frischen Kalk auf Verwundete und Tote geworfen, aber aus dem großen Grabe sind noch lange Klagen und Hilferufe vernommen worden. Prinz Friedrich Karl hat einen Anfall von Wahnsinn gehabt, als er seine Elitetruppen auf diese Weise untergehen sah.“
Das kummervolle Gesicht, das ich nach dieser Nachricht zu Doktor M.s brachte, wurde wieder einmal verhöhnt. Er zeigte mir auf der Karte, wie weit die Deutschen bereits auf dem Wege nach Paris seien, und daß sie an den todbringenden Kalkgruben von Jaunmont gar nicht vorbei gekommen wären. Wie gewöhnlich deckten einige Tage später die englischen Zeitungen auch diese Unwahrheit auf und ließen die deutsche Armee aus der Grube auferstehen, welche die Feinde ihnen sicher gern gegraben hätten. Aber selbst der Kriegsminister hatte der Kalkgruben in der Kammer erwähnt und die Abgeordneten: très bien – très bien! dabei gemurmelt.
Die Verehrung für Mac Mahon war trotz seiner Nieberlagen nicht vermindert worden und die Subskription für den Ehrendegen, den das Land ihm spendete, lieferte eine enorme Summe, obwohl keiner mehr als 50 Centimes geben durfte. Schmuck und Edelsteine zur Zierde des Knopfes kamen von allen Seiten. Selbst unsere brave Cartier opferte das einzige Steinchen, das sie besaß – einen Amethyst, der auf Wunsch ihres Mannes aus einem Patenring gebrochen wurde.
Vom 19. August ab antichambrierte ich viel im Ministerium des Innern, um nur endlich das für meinen Paß beanspruchte Attest zu erlangen – ganz umsonst. Allerdings verlor ich in dem heißen Zimmer oft die Geduld und wartete nicht ab, bis an mich die Reihe kam, weil ich von vornherein überzeugt war, daß man mich als Preußin schließlich doch abweisen werde. Vielleicht irrte ich mich, wie ich jetzt, wo ich ruhigeren Blutes bin, wohl glaube. Denn selbst während des Krieges konnte ich mich eines Beweises von französischer Gerechtigkeitsliebe rühmen. Auf Rat eines Pariser Advokaten hatte ich nämlich Klage geführt gegen ein Pariser Speditionsgeschäft, das die Beförderung eines Bildes nach einer englischen Ausstellung übernommen, dieses aber zu spät und beschädigt abgeliefert hatte. Als die Sache gerade währenb des Krieges zum Austrag kam, bildete ich mir fest ein, ich werde meinen Prozeß verlieren. Aber kurz vor Sedan wurde er zu meinen Gunsten entschieden und mir 600 Franken als Schadenersatz zugesprochen. Eine Jury Pariser Maler hatte mir für das unbedeutende Bild diese Summe zuerkannt, die etwas höher war als die, welche ich selbst für den Verkauf angesetzt hatte.
Am 25. August wurde in einem befreundeten englischen Kreis erzählt, daß die Vereinigung der Armeen Bazaines und Mac Mahons aller Wahrscheinlichkeit nach stattgefunden habe. Denn Frau Bazaine, die Versailles aus Besorgnis vor den nahenden Deutschen habe verlassen wollen, hätte ein Telegramm von ihrem Gatten erhalten: „Bleibe, alles steht güt.“
Freilich stand alles gut – aber für uns! Die preußischen Ulanen hatten wieder eine Stadt eingenommen, und „unser Fritz“ war schon in St. Didier. Der Doktor M., der die „Times“ gelesen, brachte das nach Hause, denn ich war von meinen englischen Freunden zu den deutschen geeilt. Hier ließen wir die Ulanen in Doktors bestem Wein leben, nicht laut, aber voll Begeisterung. Denn die Thaten unserer Reiter hatten es nun einmal an sich, noch blendender zu wirken als die um nichts weniger wertvolle Tapferkeit der in den Tod schreitenden Fußbataillone. Wenn man so liest, wie keck jene zu Zweien oder Vieren im feindlichen Lande vorandrangen, durchs Thor, gerade aufs Rathaus zu: die Stadt ist unser, Herr Maire, im Namen des Königs! Dann noch befahlen, den Hundert oder Tausend, die folgen, ein Mahl zu bereiten, und ehe die verdutzten Bürger sich die Augen gerieben, die Pferde gewendet, und wieder hinaus! – Man kann gut begreifen, wie diese persönliche Bravour, das Ideal französischer Tapferkeit, den Neid erregte! An dem armen Civil ließen die Franzosen dann ihren Aerger aus. Sobald man den einen Tag gelesen, daß die Ulanen wieder eine Stadt annektiert, konnte man wetten, daß den nächsten Tag der Maire dieser Stadt von den Pariser Zeitungen moralisch vernichtet wurde.
Die letzten Tage, ehe die Ausweisung aller Deutschen uns die Freiheit gab, waren grauenvoll, eine schreckliche Scene jagte die andere, und die Aufregung im Volke stieg zusehends. Ueberall wurden Schauergeschichten erzählt von der Wildheit und unmenschlichen Härte der Preußen, die Frauen und Kinder der erschossenen Franctireurs behaupteten schreckliche Dinge und fanden erbitterte Zuhörer. Eines Morgens wurde Herth als Spion erschossen; ich hatte Gutes von ihm gehört, er sollte unschuldig sein und eine verzweifelte Mutter hinterlassen. Ich wachte in der Frühe über Flintengeknatter auf, das möglicherweise ihm galt, und ging, von Unruhe getrieben, aus. Beim planlosen Schlendern geriet ich endlich an die Centralmarkthallen. Ein halbwüchsiges, dürftiges Ding mit einem Pack Morgenblätter, die sie ausrief, kam mir dort entgegen, verfolgt von einem Rudel roher Burschen.
„Das ist auch so eine verfluchte deutsche Kanaille, die aus unserem Elend Geld schlägt!“ hörte ich schreien. Sie drehte sich um: „Ich bin aber nicht deutsch – so laßt mich doch! Ich thu’ Euch ja nichts!“ Ihre Aussprache – vielleicht war sie Elsässerin? – reizte ihre Verfolger nur immer mehr.
„Du nicht deutsch? – Halt die Gusche! – Eine Spionin bist Du! – Verraten hast Du uns so gut wie die anderen! – Versetzt Ihr doch eins!“ – schrie es durcheinander.
Ein Kerl stieß sie mit dem Fuß, daß sie hinfiel, sie aber raffte sich schnell auf und drückte den Rücken gegen das Gitter der Fleischhalle. Sie zitterte vor Angst, die Thränen stürzten ihr aus den Augen. Ein Junge hob einen Stein auf und warf nach ihr. Alles geschah viel schneller, als ich’s aufschreiben kann.
„Wollt Ihr wohl das unglückliche Ding in Ruhe lassen, sie kann sich doch nicht wehren gegen so viele!“ hatte ich unwillkürlich gerufen.
„He, das ist eine Preußin! Eine preußische Spionin!“ schrieen ein paar. Und wie bei einem Stichwort liefen die Leute zusammen, Steine flogen – glücklicherweise ohne zu treffen – ich hätte es auch kaum gefühlt – ein Augenblick nur – da faßte mich eine Hand fest am Gelenk.
„Verdammtes Pack Ihr!“ brüllte einer neben mir, dem die Hand gehörte. – „So seht Euch doch die Leute an, eh’ Ihr zuschlagt! Das ist ja eine Französin. Eine anständige Frau!“
Jetzt begriff ich; der sprach, wollte mir helfen. Er sah resolut aus, vierschrötig, bürgerlich. Offenbar war er auf dem Markte bekannt und respektiert. Sie wichen zurück. Laut weiter schimpfend, mich aber dabei fest am Arm haltend, zog er mich fort. Er schlug die Richtung nach Pont-Neuf ein, die zugleich die nach der Polizeipräfektur war. Vielleicht – dachte ich – hat er mich befreit, um mich auf der Polizei als Spion einstecken zu lassen! – Ich fürchtete mich fast ebenso vor ihm wie vor den anderen. Er sah sich ein paarmal um, ob sie uns nicht folgten – nein. Dabei hielt er mich aber immer noch fest - er hatte meinen Arm jetzt durch seinen geschoben - als ob er einen Fluchtversuch fürchte. Ich dankte Gott, als er am Quai nicht nach der Präfektur einbog, sondern über die Brücke weiterschritt. Da, wo das Reiterstandbild von Heinrich IV. steht, fing er an: „Wer heißt Sie auch, sich in Dinge mischen, die Sie nichts angehen? Wissen Sie nicht, daß Sie sich aussetzen, in die Seine geworfen zu werden? Ja – ja! Starren Sie mich nur an! Erst gestern ist so etwas passiert – das Volk fackelt jetzt nicht lang’ – weiß nicht mehr, was es thut!“
„Aber ich konnte doch nicht ruhig ansehen, wie sie das arme Ding quälten!“
„Ging Sie gar nichts an!“ – Er sprach rauh und unfreundlich, durchaus nicht wie ein Rettungsengel. – „Der thun sie schließlich nicht viel – wer Lumpen trägt wie sie selbst, kommt davon . . . Aber Sie – denn Sie sind doch wohl – une prussienne?“
Ich nickte, wollte ihm danken. Er stieß meine Hand zurück.
„Schon gut – schon gut!“ rief er, „fangen Sie nur nicht wieder von vorn an!“
Dabei kehrte er um und ließ mich stehen. Hoffentlich wird ihm gelohnt, was er an mir gethan hat und was ich im Augenblick kaum recht begriff. Alles war so rasch gegangen, daß ich keine Zeit hatte, nachzudenken. Und als dann mit der Besinnung [575] ein Gefühl grenzenloser Dankbarkeit in mir aufwallte, da war es zu spät und mein Retter schon weit weg!
Scenen wie die dort erlebte sind häßlich genug, aber doch begreiflich, denn das Volk mußte ja halbtoll werden während eines Krieges, der seiner Söhne Blut kostete, seinen Wohlstand verwüstete und ihm nichts als Schmach und Niederlagen brachte. Dazu die abscheuliche Kost, welche Zeitungen und Proklamationen ihm täglich an gefälschten Kriegsberichten und anderen Lügen vorsetzten, die das Spionenfieber immer noch steigerte! – Ein Arzt verlangte damals im „Paris.Journal“ die schleunige Ausweisung aller deutschen Aerzte aus Paris und begründete das unter anderem wie folgt: „Unterrichtet, intelligent, klavierspielend, sind sie vorzügliche Spione. Sie haben dafür ihr eigenes Wörterbuch. Meine Cousine hat einen Deutschen geheiratet – man wird ganz stutzig, wenn man sich in ihrer Familie befindet und die Mienen beobachtet, mit denen sie sich gegenseitig ansehen, die Worte beachtet, die sie gebrauchen. Es scheint, daß sie an den Erfolgen ihrer Nation auch nicht mehr den geringsten Zweifel haben!“
Natürlich gab es auch besonnene und vernünftige Blätter, die aber, weil sie teuerer waren, das Volk nicht las. So z. B. brachte der „Temps“ (27. August) einen Brief Louis Blancs von London datirt, der mit der größten Unparteilichkeit seine Landsleute beurteilte: „Nichts“ – schrieb er – „was bei uns (in Frankreich) für offiziell gilt, hat hier den geringsten Kredit. Dagegen sieht man jede Depesche, die der König von Preußen unterzeichnet hat, für einen Glaubensartikel an. Jedes Telegramm, das uns einen Vorteil zuspricht, wird betrachtet, als ob es nicht existierte. Als die widersprechenden Berichte über die mörderische Schlacht am sechzehnten eintrafen, las man auf allen Maueranschlägen. Großer Sieg der Preußen – die Franzosen rechnen sich den Sieg zu. Mit anderen Worten: Die Preußen haben gesiegt, da sie es behaupten, während bei den Franzosen die Wahrscheinlichkeit vorliegt, daß sie lügen. – Ist das für einen Franzosen, der in England lebt, nicht herzzerreißend?“
Total verändert fand ich in jenen Augusttagen die Champs Elysées und das Bois de Boulogne. Verschwunden alle heitere Eleganz, statt der Spaziergänger Karawanen von hinwegflüchtenden Städtern und hereinströmenden Landleuten, die herrlichen Bäume gefällt am Boden, Schaf- und Rinderherden auf den Grasflächen weidend. Bei einem solche Spaziergang sehe ich plötzlich in der Mitte von sechs Soldaten, wovon zwei ihn unter den Armen gefaßt halten, einen todbleichen jungen Mann und höre den Ruf: „Ein Spion! Wieder ein Spion!“ Umsonst wehrte sich der Unglückliche, mit heiserer Stimme redend. Sie führen ihn in ein nahes Haus, wo, wie es heißt, ein höherer Offizier wohnt. Ein Wagen fährt vor, in den drei der Soldaten mit dem Gefangenen steigen. Ein vierter springt auf den Bock, ein fünfter noch hintenauf. Alles um mich flucht, lärmt und nimmt Partei gegen den „Spion“. – „Bis wir diesen deutschen Hunden nicht allen den Garaus gemacht haben, wird’s nicht besser!“ brüllt ein Kerl mit einer Physiognomie zum Fürchten. Ich rettete mich in einen Omnibus und ließ mich hinwegführen nach dem Louvreeingang, wo die assyrischen Altertümer in ihren stillen Sälen stehen. Hier traf ich einen alten Herrn, der so andächtig in die Inschrift auf einem verwitterten Stein vertieft war, als gäb’s draußen keinen Krieg und kein Spionenfieber. Noch dazu ein Besiegter – ein Franzose, wie ich am Band der Ehrenlegion in seinem Knopfloch erkannte. Er war der einzige Besucher in den unteren Sälen. Als ich zurückkam, stand er noch an derselben Stelle. Ich mußte an jenen Astronomen denken, der während der ersten Revolution die Pariser Sternwarte nicht verließ, um eine Entdeckung auf dem Mond zu konstatieren! . . .
Am 28. August konnte man an allen Straßenecken die Ausweisung der Deutschen lesen – binnen drei Tagen mußten sie Paris verlafssen haben. Als Begründung der Maßregel wurde zum erstenmal offiziell bekannt gemacht, was jeder längst wußte: daß die deutsche Armee ihren Marsch auf Paris fortsetzte und die Belagerung zu erwarten sei. Nun hatte alle Paßnot ein Ende – wir waren endlich frei! Das Fortkommen schien trotzdem nicht leicht. Ueber Belgien war der Andrang so groß, daß Agnes und ich nicht sicher waren, expediert zu werden. So wählten wir den Weg über England, und zwar: Boulogne mit der Einfahrt nach London.
Noch einmal bewog mich meine Freundin, mit ihr nach dem amerikanischen Konsulat zu gehen. Ihre Bekannten hatten behauptet, daß wir von irgend einer Behörde irgend eine Bescheinigung für irgend eine Grenze haben müßten, was sich dann sofort als unnötig erwies. Ein Laufpaß ist jedenfalls auch ein Paß, und den hatten wir ja erhalten. Diesmal gelangten wir durch einen einflußreichen Bekannten ohne zu warten ins Paßbureau und sahen von dort die straßenlangen Reihen armer Landsleute, die nicht mehr auf Pässe, wohl aber auf Reisegeld harrten, das ihnen von den deutschen Regierungen durch Vermittlung hier ausgezahlt wurde.
Abschiedsbesuche gab’s nicht viele zu machen – die Franzosen verschonte man mit seinem Anblick. Als ich meinen deutschen Freunden der Place Royale, welche die Belagerung in Paris aushielten, Lebewohl sagte, hörte ich von einem schmeichelhaften Vergleich: es verließen so viele Deutsche Paris, als man Stück Rindvieh eingetrieben habe, nämlich 150000 Stück!
An den Bahnhöfen ging’s nun arg her. Der plötzliche Aufbruch der Fremden an zwei bestimmten Tagen hatte – so viele auch bereits die Stadt verlassen – doch etwas Ueberwältigendes. Die Abfahrtsstationen waren überfüllt; Gepäckexpeditionen hatten förmliche Belagerungen auszuhalten. Am schlimmsten ging es jedenfalls am Nordbahnhof zu, wo man in allen Reisenden Deutsche vermutete. Mit Gepäck beladene Wagen, die in der Richtung dahin fuhren, verfolgte der Pöbel, warf sie mit Steinen und sandte ihnen als letzten Gruß noch den Ruf: „Feige Deutsche – fliehende Spione!“ nach.
Auf dem Bahnhof St. Lazare befanden sich fast ebensoviele Engländer und andere Fremde wie Deutsche. Wir waren eine Stunde vor der bestimmten Zeit an Ort und Stelle und hatten Mühe, an den Billetschalter zu gelangen. Zum erstenmal, seit ich in Paris wohnte, sah ich, daß man nicht in Reih und Glied wartete, sondern das Ellbogenregiment vorzog. Ein lärmendes Durcheinander wirkte betäubend. Abschiedsschluchzen – Kindergeschrei – Verwünschungen – Ausrufen vermißter Personen – Hundegebell und noch anderer greller Spektakel. Gepäckstücke sah man, die jeder Beschreibung spotteten. Tisch- oder Betttücher, vollgepackt und an den vier Enden zusammengeknotet, waren ganz gewöhnlich. Ich empfing hier weniger den Eindruck einer Gesellschaft Reisender als den einer Bevölkerung, die durch eine plötzliche Katastrophe wie Feuer, Wasser oder Erdbeben in die Flucht gejagt ist. Ich sah z. B. eine Frau, die eine Schüssel trug mit gekochten Kartoffeln auf denen Bratenstücke lagen; vier Kinder klammerten sich schreiend an ihren Rock und so drängte sie der Billetausgabe zu.
Endlich saßen wir, dicht gedrängt wie die Heringe, im Waggon. Statt um fünf, verließ der Zug erst um sieben Uhr Paris. So war’s Nacht, ehe wir in Boulogne ankamen – glücklicherweise eine kühle Sternennacht. Stundenlang dauerte es dann noch, ehe Mensch, Tier und Gepäck aufs Schiff gebracht war. Als unerhörte Rücksichtslosigkeit erschien uns, daß man den größten Teil des Verdecks für Luxuspferde vornehmer Franzosen reserviert hatte, die man durch die Reise ins Ausland der Requisition militärischer Behörden entzog. Sie waren alle bereits untergebracht, ehe die Menschen eingeschifft wurden. Die Kajüten waren überfüllt; die Kinder soll man buchstäblich übereinandergeschichtet haben. Was Platz fand, blieb auf dem Verdeck, wo wir dicht aneinandergedrängt, teils am Boden, teils auf Klappstühlen die Nacht zubrachten. Vielleicht hätte Müdigkeit trotz unbequemer Lage manchen schlafen lassen, wenn das Wiehern der fahnenflüchtigen Rosse, das Stampfen der Hufe auf der bretternen Diele uns nicht wach gehalten hätte. Die Knechte, die sicher Mühe hatten, die unruhigen Tiere zu zügeln, trugen durch ihr Schimpfen zu dem allgemeinen Spektakel auch noch bei. Auf einmal hieß es, ein Schimmel habe sich losgerissen. Eine krabbelnde, von Stöhnen und Geschrei begleitete Bewegung unter den Passagieren war die Folge, bis ein Ruf des Kapitäns, der laut über das Deck schallte, Ruhe gebot; es sei keine Gefahr, niemand solle sich von seinem Platze rühren!
Wer keine Lust hatte, über Bord zu springen, für den wäre es bei den gegebenen Raumverhältnissen auch ein Kunststück gewesen, dem Befehl entgegen zu handeln.
Langsam glitt unser Fahrzeug auf der glatten Wasserfläche weiter. Kein mitleidiger Wind half mit seinem Blasen den keuchenden Rädern nach. Wie ein Mitfahrer uns versicherte, war das Schiff dreimal so schwer geladen als gewöhnlich; das geringste Mehr konnte es zum Sinken bringen. Es war gut, daß die letzten Tage in Paris uns gegen Schreckenseindrücke etwas abgestumpft hatten.
Um neun Uhr früh war uns die Ankunft verheißen, aber erst nachmittags um Drei liefen wir in die St. Catharin-Wharfs ein. [576] Natürlich dauerte das Ausschiffen ebenfalls noch eine gute Weile. Um vom Dampfer nach der schmutzigen Straße zu gelangen, mußten wir einen noch schmutzigeren Durchgang passieren. Von da sahen wir einen Zeitungsjungen laufen, der ein letztes Blatt hoch in der Haud hielt. „Gute Nachricht für Deutsche!“ schrie er dabei.
Wir winkten ihm, aber ein Herr, der aus einer Hausthür trat, riß ihm das Blatt aus der Hand und rannte damit fort.
„Wenn das einen Sieg für uns bedeutete?“ sagte ich zu Agnes, welche die Gepäckstücke in eine Droschke zählte, die sie nach Charing-Croß, mich nach Euston-Station fahren sollte. Vorbei ging’s nun an Tower und Copperstreet. Da wurde unser Wagen an dem mächtigen Bogen, auf dem die Eisenbahnbrücke ruht, von einer Menschenmenge aufgehalten, die sich um ein eben angeschlagenes Plakat mit riesenhaften Buchstaben drängte: „Großer Sieg der Deutschen – Kapitulation von Sedan – der Kaiser und das ganze französische Heer gefangen.“
Ich weiß noch, daß wir beide jauchzten und schluchzten zugleich – wir waren überzeugt, der Krieg sei nun am Ende, – und feierten tief ergriffen unsern ersten Sedanstag im Geiste, mit den jubelnden Millionen im deutschen Vaterland.
Freiheit.
Da die Ankunft des Gastes erst gegen Abend des nächsten Tages erwartet wurde, so ließ Hella sich nicht abhalten, am andern Morgen um die gewohnte Zeit zu Pferde zu steigen, und auf der Wiese an der nächsten Waldecke stieß Wildenberg, der hier die Mäher beaufsichtigte, zu ihr.
„Voraussichtlich für längere Zeit zum letztenmal!“ konnte er sich nicht enthalten, mit einem unsicheren Seitenblick zu sagen.
„Warum?“ entgegnete sie ruhig. „Ich bin nicht gesonnen, mich durch die Ankunft meiner Cousine in meinen Gewohnheiten stören zu lassen.“
Ihm stieg das Blut ins Gesicht, obgleich weder in ihrem Ton noch in ihrem Blick etwas lag, das er sich hätte zu seinen Gunsten auslegen können. Sie ritten langsam nebeneinander auf dem Wege hin, der zur Landstraße führte, und waren im Begriff, diese zu kreuzen, als ein Wagen, der rasch daherkam, ihre Aufmerksamkeit fesselte. Ein roter Sonnenschirm, eine Hand im gelben dänischen Handschuh, die ein Taschentuch schwenkte, alles das winkte ihnen aus dem Gefährt energisch und lebhaft entgegen. Gleich darauf hielt dasselbe und die darin sitzende Dame rief lachend: „Da bin ich! Du hast mich vermutlich nicht so früh erwartet, aber ich wollte Dich überraschen, ehe Du äußerlich und innerlich bei Dir aufgeräumt haben würdest. Solche Ueberraschungen verhelfen meist zu den amüsantesten Entdeckungen. Nun, Du scheinst, Deinem Gesicht nach zu urteilen, keinen Geschmack daran zu finden?“
„In der That, nein!“ bekannte Hella trocken. „Du beraubst mich des Vergnügens, Dich an der Schwelle meines Hauses begrüßen zu können. Wo kommst Du denn her, Lotti? Ich meinte, Du würdest mit dem Nachmittagszuge eintreffen.“
„War auch meine Absicht, aber inkonsequent wie immer, ließ ich mich von Herrwings, die ja Eure nächsten Nachbarn sind, überreden, in ihrer Gesellschaft mit einem früheren Zug zu fahren, wogegen Herr von Herrwing versprach, mich in seinem Wagen zu Euch zu schicken.“
„So fahre nur zu! Tante Lina wird Dich mit offenen Armen empfangen, und da ich nicht auf der Landstraße hinter Dir herklappern kann, so will ich versuchen, auf anderem Wege doch noch vor Dir zu Hause zu sein.“ Sie wandte ihr Pferd und jagte querfeldein, gefolgt von Wildenberg, während Gräfin Lenzen die langstielige Lorgnette an die Augen hob und ihnen mit Interesse nachblickte.
Als der Wagen auf der Rampe des Schlosses hielt, wurde Hellas dampfendes Pferd bereits in den Stall geführt; sie selbst stand mit geröteten Wangen und lächelnden Lippen unter der Thür und sah jugendlicher und mädchenhafter denn sonst aus. Sie liebte diese Verwandte, die, um mehrere Jahre älter als sie, ihr trotz der Verschiedenheit der Charaktere stets die herzlichste Freundschaft bewiesen hatte, und umarmte sie jetzt mit einer Wärme, die bei ihr ganz ungewöhnlich war.
„Und wo hast Du Mann und Kinder gelassen?“ fragte sie, als sie mit der Gräfin allein am Theetisch unter der Säulenhalle saß. „Ich hätte mich gefreut, wenn sie Dich begleitet hätten.“
„Welche Idee, mein liebes Kind! Nein, man muß den Gedanken gar nicht in ihnen aufkommen lassen, daß der Mensch ein Herdentier ist und nicht allein sein kann. Ich gewöhnte sie von vornherein an Selbständigkeit und rate Dir, wenn Du Dich verheiratest, ein Gleiches zu thun. Du glaubst nicht, wie viel Unbequemlichkeiten man sich damit erspart. Apropos ‚heiraten‘! Wie ist es denn, mein Schatz? Wann werde ich zu Deiner Hochzeit eingeladen?“
„Du weißt, daß ich nicht heiraten will.“
„Ah bah! Worte, Worte! Das sagen die meisten Mädel! Du hast Dich freilich lange genug besonnen, und in Deiner bevorzugten Lage finde ich das begreiflich; die Freier aus hiesiger Gegend mögen auch wohl nicht allzu verführerisch sein. Aber endlich mußt Du Deine Wahl treffen, denn Du kannst doch nicht im Ernst daran denken wollen, eine alte Jungfer zu werden.“
„Ich habe Dir meine Ansichten hierüber mehr als einmal auseinandergesetzt. Nach den Erfahrungen, die ich von der Ehe meiner Eltern empfangen habe, bin ich zu der Ansicht gekommen, daß es besser ist, sich die Selbständigkeit zu wahren. Ich bin nicht blind durch die Welt gelaufen und habe auch andere Ehen gesehen, habe gesehen, wie die Frauen sich durch ihr Jawort rechtlos und blindlings in die Hand eines ihnen unbekannten Mannes gaben – denn wer hat wohl je seinen Mann vor der Ehe kennengelernt?“
„Na, das ist denn doch ein bißchen stark aufgetragen! Aber sei dem, wie ihm wolle – das Ungewisse hat auch seinen Reiz, und wie ich Dir schon sagte, ich liebe die Ueberraschungen, selbst solche, die man sich gegenseitig in der Ehe bereitet. Das läßt keine Langeweile aufkommen. Uebrigens stellst Du Dir die Sache schlimmer vor, als sie in Wahrheit ist. Eine kluge Frau hat hundert Mittel, ihrem Mann einen leichten Zügel anzulegen und, wenn er dann noch nicht lenksam ist, eine Kandare, bis man ihn weich in der Hand hat.“
„Deine Mühe ist vergeblich, gute Lotti, ich handle nach einem wohlbedachten Grundsatz.“
Lotti warf sich in ihren Stuhl zurück und lachte, bis ihr die Thränen in die Augen traten. „Geh mir doch! Eine Frau, die Grundsätze hat und nach ihnen handelt! Es giebt überhaupt keine konsequente Frau, und so gebe ich doch die Hoffnung nicht auf, Dich schließlich mit Pauken und Trompeten die Segel streichen zu sehen, sobald der Rechte kommt. Sei doch nicht närrisch, Hella! Wir Verheirateten haben ja zehnmal mehr Freiheiten in der Welt als die Mädchen. Wir müssen es nur verstehen, uns dieselben zu wahren.“
„So? Sieh Dir das Leben einmal an, das ich führe! Was fehlt mir denn, um glücklich zu sein?“
„Die Liebe.“
„Das ist kein Faktor, mit dem ich rechne.“
„Der sich aber doch früher oder später in Deine Berechnungen eindrängen wird, und je später dies geschieht, um so schlimmer für Dich. Als ich Dich vorhin an der Landstraße draußen zuerst sah, glaubte ich schon, dieser Zeitpunkt sei gekommen. Du hast Dich sehr zu Deinem Vorteil verändert, siehst beinahe um fünf Jahre jünger aus als vor einigen Monaten. Deine Augen haben einen Glanz und Deine Wangen eine Farbe, die sie sonst nicht gehabt haben. Gestehe, Schatz, – wer ist es, der diese Veränderung bei Dir bewirkt hat?“
Hella lachte. „Wie Ihr klugen Frauen der großen Welt Euch doch zuweilen in Eure Ideen verrennen könnt! In Eurem Leben spielt das, was Ihr unter Liebe versteht, eine solche Rolle, daß Ihr Euch gar nicht denken könnt, daß auch frische Luft und gesunde Bewegung Veränderungen hervorbringen, die Ihr nur dem Gefühlsleben zuschreibt. Außerdem – schau Dich doch in unserm nachbarlichen Kreise nach einem Gegenstand um, der imstande wäre, irgend ein beglückendes Gefühl zu erwecken!“
Die Gräfin zog, ohne hierauf zu antworten, ihre Cigarettendose hervor und steckte eine Cigarette in Brand, den Rauch in großen Wolken durch die Lippen paffend. Sie war keine hübsche Frau; stark in die Breite gegangen, gab sie sich nicht mehr die Mühe, durch irgend einen Toilettenaufwand ihre schwindenden
[577][578] Reize zu heben, sondern trug der Bequemlichkeit größere Rechnung als der Schönheit. Das leicht ergrauende Haar umrahmte ein lebhaft gefärbtes rundes Gesicht mit einer Stumpfnase und hellen lebensfreudigen klugen Augen. Man faßte rasch ein Herz zu ihr, denn es lag trotz einer gewissen Verschlagenheit viel Freundlichkeit und Güte in ihren Zügen, und ihr Lachen war volltönend und herzlich.
„Wer war der junge Mann, in dessen Gesellschaft ich Dir vorhin begegnete?“ fragte sie plötzlich unvermittelt, ihrer Verwandten voll ins Gesicht blickend.
Hella fühlte, daß sie unter diesem Blick errötete – sie hätte selbst nicht zu sagen vermocht, weshalb – und ärgerte sich darüber. „Ein Herr, der für einige Zeit zu meinem Oberinspektor gekommen ist, um die Wirtschaft hier kennenzulernen,“ versetzte sie kurz.
„So so! Weißt Du, daß er mir gut gefällt? Ich denke doch, Du wirst ihn mir während meines hiesigen Aufenthalts vorführen.“
„Er wird Dich nicht interessieren. Er ist kein Mann der großen Welt.“
„Um so mehr wünsche ich, seine Bekanntschaft zu machen. Es ist erfrischend, sich auch einmal Menschen aus einer andern Luft anzuschauen. Nichts liegt mir ferner als der einfältige Kastengeist, der sich hochmütig gegen jede frische Strömung abschließt. Es hat nicht viel gefehlt, so hätte ich in meinem achtzehnten Jahre statt des guten Lenzen einen höchst anziehenden Doktor der Philosophie geheiratet, in den ich mich sterblich verliebt hatte. – Du findest das wahrscheinlich unbegreiflich,“ fügte sie mit einem schlauen Seitenblick hinzu.
„In Deinem Fall allerdiugs, da Deine natürlichen Neigungen in einer ganz anderen Richtung lagen.“
„Ich fragte aber, um Deine eigene innerste Herzensmeinung über diesen Punkt zu hören.“
„Was das Verlieben anbetrifft, so apreche ich davon wie der Blinde von der Farbe. Im übrigen sehe ich nicht ein, weshalb ein Mädchen ihre Neigung nicht eher einem gescheiten Mann schenken sollte, der nicht auf derselben gesellschaftlichen Rangstufe steht, als einem Hohlkopf aus ihrer eigenen Kaste. Gleiche geistige Sphäre – das ist doch schließlich das einzig Maßgebende.“
„Ich bin sehr erfreut, Dich so sprechen zu hören, denn bei unserm letzten Beisammensein schien es mir, als seiest Du sehr exklusiv in Deinem Verkehr.“
„Meine Stellung als Besitzerin von Strehlen legt mir Verpflichtungen auf, die ich nicht umgehen kann.“ Damit erhob sich Hella, um das Gespräch über diesen Gegenstand abzubrechen. –
Die Gräfin stimmte mit ihrer Cousine in der Ansicht überein, daß bei längerem Zusammenleben auf dem Lande jedes den Tag über seine eigenen Wege gehen müsse und daß erst der Abend der Geselligkeit gehöre. So streifte sie denn schon am folgenden Tage, während Hella ihren Geschäften nachkam, auf eigene Hand umher, die Hände in den Taschen ihrer Lodenjoppe, die Cigarette zwischen den Lippen, Haus, Wirtschaft und Garten besichtigend und ihre Beobachtungen machend. Auf der Wiese hinter dem Park traf sie mit Wildenberg zusammen und schloß in ihrer kurz angebundenen Art sofort Bekanntschaft mit ihm. Wenn sie indes geglaubt hatte, ihn ganz ohne Umstände mit der etwas herablassenden Freundlichkeit der großen Dame behandeln zu können, so sah sie ihren Irrtum sehr bald ein. Wildenberg hatte sich offenbar viel und mit offenen Augen in der Welt umgesehen und sich dabei die volle Sicherheit des Auftretens erworben. Er gefiel ihr außerordentlich; und sie gab diesem Gefallen an der Mittagstafel lebhaften Ausdruck; zu ihrer Cousine gewandt, fügte sie nachlässig hinzu: „Ich habe ihn aufgefordert, uns heute abend zu besuchen. Es ist Euch doch hoffentlich nicht unangenehm?“
Hella zog die Brauen leicht zusammen, aber Tante Lina meinte unbefangen: „Warum sollte es uns unangenehm sein? Wildenberg ist ohnehin in letzter Zeit fast jeden Abend hier gewesen.“
Die Gräfin lachte still vor sich hin. – Als Wildenberg am Abend erschien, kam sie ihm aufs liebenswürdigste entgegen, schüttelte ihm die Hand und verwickelte ihn, scheinbar ohne zu bemerken, daß Hella immer einsilbiger wurde, in ein eifriges Gespräch, das ihm Gelegenheit gab, seine ganze Unterhaltungsgabe zu entfalten. Dann kam Lili. Sie schwärmte für die Gräfin, die sie schon bei deren letzten Besuch in Strehlen kennengelernt hatte, und flog ihr mit freudig geröteten Wangen um den Hals. Als Lotti dabei über Lili hinweg nach Wildenberg hinsah, bemerkte sie, daß seine Blicke mit unverhohlener Bewunderung an dem reizenden belebten Gesichtchen hingen. Oho! dachte sie betroffen, was ist denn das? und sie nahm sich vor, scharf zu beobachten. Aber so sehr sie sich auch bemühte, es wollte ihr nicht gelingen, sich Klarheit zu verschaffen. Wenn Wildenberg auf irgend eine Bemerkung Lilis mit beinahe zärtlichem Lächeln antwortete und das Mädchen dabei schelmisch zu ihm aufsah, glaubte sie, der geheimen Neigung des Gastes völlig auf der Spur zu sein. Aber dann warf Hella ein Wort in die Unterhaltung und augenblicklich wandte sich Wildenbergs Aufmerksamkeit ausschließlich ihr zu, und er schien nur für sie Auge und Ohr zu haben.
Die Gräfin wußte nicht, was sie davon zu halten habe, und gedachte mit ihrer gewohnten Rücksichtslosigkeit der Sache auf den Grund zu gehen. Nachdem die andern sich zurückgezogen hatten, blieb sie noch plaudernd mit Hella im Salon zurück und fragte so beiläufig: „Was hast Du eigentlich für Pläne mit der Kleinen?“
„Immer noch die, welche Du kennst!“
„So, so! Ich dachte, Du hättest Dir vorgenommen, eine Ehe zu stiften.“
Hella, die im Zimmer auf und nieder ging, um noch einiges zu ordnen, blieb stehen und wechselte die Farbe. „Wie meinst Du das?“
„Aber, lieber Schatz, Du mußt blind für das sein, was in Deiner Umgebung vor sich geht, wenn Du eine solche Frage stellen kannst. Du bringst ein Mädchen von Lilis Erscheinung und Temperament fast täglich mit einem jungen Mann wie Wildenberg zusammen, der mit dem einnehmendsten Wesen zugleich den unschätzbaren Vorteil verbindet, eine gute Partie zu sein – da liegt doch der Gedanke nahe, daß sie sich ineinander verlieben und mit einer Heirat enden werden. Ich würde das übrigens für ein großes Glück halten.“
Hella blieb einen Augenblick stumm, dann stieß sie halb atemlos hervor: „Du irrst Dich! Lili ist ja noch ein vollständiges Kind.“
„Gewesen, liebes Herz! Sie ist achtzehn Jahre, und die Art, wie sie diesen Herrn Wildenberg anblickte, gab mir zu denken.“
„Nein, nein! Ich sage Dir noch einmal, daß Du im Irrtum bist! Nichts liegt Wildenberg ferner als das!“
„Bist Du etwa so genau über seine Gedanken und Gefühle unterrichtet? Glaube meiner Erfahrung! Läßt Du die zwei noch lange beisammen, so werden sie eines Tages vor Dich hintreten und um Deinen pflegemütterlichen Segen bitten, den zu verweigern Du nicht das Recht haben wirst.“
„Niemals!“
„Wie?“ rief die Gräfin, scheinbar befremdet. „Welchen stichhaltigen Grund hättest Du für eine solche Weigerung, die obendrein, da Lilis Eltern noch leben, gar nicht ernstlich in Betracht kommen könnte? Es sei denn“ – sie stand rasch auf und trat vor ihre Cousine hin, ihr gerade in die Augen blickend – „es sei denn, daß Du selbst ihn liebtest. In dem Fall wäre es allerdings begreiflich –“
Hella fuhr auf wie von einer Natter gestochen, ihre Augen verdunkelten sich vor Zorn. „Du beleidigst mich!“
Die Gräfin zuckte gelassen die Schultern. „Ich sehe keine Beleidigung darin; im Gegenteil, ich würde Dich für höchst vernünftig halten, wenn Du’s thätest. Und Dein Zorn bestärkt mich in meiner Annahme, ich bin meiner Sache jetzt sicher.“
„Kein Wort weiter, wenn wir Freunde bleiben sollen! Mein Gott! Habe ich mich denn so läppisch, so kindisch albern benommen, daß Du ein Recht haben durftest, mich durch einen solchen Verdacht zu beschimpfen?“
„Aber Hella!“
„Ja, zu beschimpfen! Du weißt, wie gering ich von dieser Schwäche denke, die Ihr Liebe nennt. Außerdem – gerade dieser Mann und ich!“ Sie brach in krampfhaftes Lachen aus. Ihre Brust hob und senkte sich stürmisch; augenscheinlich hatte die unerwartete Wendung, welche das Gespräch genommen hatte, ihr Inneres aus allen Fugen gebracht.
„Verzeih’!“ sagte die andere lächelnd und legte ihre Hand beschwichtigend auf die Schulter der Erregten. „Hätte ich geahnt, daß Dich meine Bemerkung in dem Maße aufregen würde, so hätte ich sie für mich behalten. Komm, fasse die Sache von der vernünftigen Seite auf! Habe ich mich getäuscht, so lache mich aus, habe ich aber recht, so laß uns einmal ganz ruhig darüber sprechen! Warum solltest Du ihn auch nicht lieben? Er ist klug, gesellschaftlich gebildet und dabei eine höchst sympathische [579] Persönlichkeit. Also fort mit diesen abgestandenen Grundsätzen, die ja für solche, denen die Trauben zu hoch hängen, ganz gut sein mögen, die aber aus Deinem Munde immer etwas komisch geklungen haben.“
Weiter gelangte die Sprecherin nicht, denn in diesem Augenblicke kam ein Diener in den Gartensaal gestürzt und rief mit allen Zeichen des Schreckens: „Gnädiges Fräulein! Es brennt!“
Hella war sofort wieder Herrin ihrer selbst. „Wo?“
„In der Schneidemühle!“
Zugleich hörte man vom Gutshof herüber den Lärm, mit dem die Feuerspritzen angeschirrt wurden, und das Durcheinander erregter Stimmen. Hella lief ins Freie, wo ihr schon ein roter Schein am dunkeln Nachthimmel entgegenschlug. Ab und zu sah man über die Bäume des Parks hinweg jenseit des Wäldchens Flammen emporzüngeln.
„Der Fuchs soll für mich gesattelt werden!“ rief sie und eilte in ihr Schlafzimmer, um ihr seidenes Gewand mit dem Reitkleide zu vertauschen. Eine Viertelstunde später folgte die Gutsherrin in gestrecktem Galopp, den Reitknecht hinter sich, der Spritzenabteilung nach, die schon an Ort und Stelle war. Auf der Lichtung am Fluß angekommen, sprang sie aus dem Sattel und schickte den Reitknecht mit den scheuenden, wild gewordenen Pferden nach dem Gut zurück. Ein schauerlich schönes Bild bot sich ihren Blicken dar. Das Feuer fand reichliche Nahrung an den trockenen Holzvorräten der Mühle und loderte in hohen Flammengarben empor, das Wasser weithin rot beleuchtend. Zum Glück stand der Wind so, daß wenigstens der Wald und die rings aufgestapelten Bretter gesichert waren, auch erleichterte die unmittelbare Nähe des Wassers die Bemühungen der Löschmannschaft, deren schwarze Gestalten in dem Lichtmeer gleich unheimlichen Schatten umherhuschten. Zischend fuhren die nassen Strahlen in die Glut, und schwere weiße Dämpfe stiegen daraus empor, bis das verheerende Element an anderer Stelle sich aufs neue Bahn brach und schadenfroh mit frischer Kraft emporlohte.
Der Oberinspektor war selbst zur Stelle und leitete umsichtig die schwierige Arbeit. Plötzlich übertönte der gellende Schrei einer Frau das wüste Stimmengewirr. Es war die Müllerin, die wie außer sich nach ihrem ältesten Töchterlein rief. Kurze Fragen ergaben, daß das Kind schon mit der Mutter im Freien gewesen, aber wieder in das brennende Gebäude zurückgelaufen sei, um seine Lieblingskatze zu retten. In der allgemeinen Verwirrung hatte man nicht auf die Kleine geachtet, bis eines der jüngeren Geschwister erzählte, daß sie nach ihrer Katze gerufen habe und dann plötzlich ins Haus gelaufen sei, um sie zu suchen.
Eine Sekunde lang beherrschte lähmendes Entsetzen die Anwesenden, denn das nur aus Fachwerk aufgeführte Wohngebäude drohte jeden Augenblick zusammenzubrechen. Aus dem Innern drang kein Laut außer dem Krachen des brennenden Gebälks und dem Knistern der Flammen. Da kam Bewegung in die erstarrt Dastehenden. Ein Mann löste sich aus der Kette der Löschmannschaft und sprang auf das Wohnhaus zu, in dessen rauchender Thür er verschwand. Die einzige Vorsichtsmaßregel, die er in der Eile ergriffen hatte, bestand in einem nassen Sack, den er sich um Kopf und Schultern warf.
Hella, die einige Schritte seitwärts stand, fühlte, wie ihr Herzschlag sekundenlang aussetzte und dann mit stürmischem Klopfen wiederkehrte. Sie war dem Vorgang mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt und hatte an den Bewegungen Wildenberg erkannt. Eine tödliche Angst um ihn ergriff sie und drohte, ihr die Sinne zu rauben. Sie rang die Hände ineinander, und halb bewußtlos murmelten ihre Lippen ein kurzes Stoßgebet. Sie wollte unter die Leute springen, sie anspornen, dem Verwegenen nachzueilen, aber Füße und Lippen versagten ihr den Dienst. Doch die Leute wußten ohnehin, daß es sich hier um Tod und Leben handle, und richteten die Schläuche einzig und allein auf das Wohnhaus, das man schon dem Verderben preisgegeben hatte, um dafür das Mühlenwerk wenigstens zu halten. Bange Minuten verstrichen, die jeden eine Ewigkeit dünkten; kaum ein Laut drang über die Lippen der Draußenstehenden.
„Er kommt nicht wieder!“ murmelte irgend jemand halb verloren vor sich hin. „Der Rauch hat ihn erstickt.“ Andere wiederholten mechanisch die Worte, sie pflanzten sich von Mund zu Mund fort bis zu Hella hin.
„Tausend Mark demjenigen, der die beiden da drinnen aus dem Hause holt!“ rief sie heiser vor Erregung, mitten in den Kreis ihrer Untergebenen tretend.
Die Leute sahen sich um. Tausend Mark – das war für sie ein Vermögen! Aber dagegen stand fast sicherer Tod! Niemand regte sich. Hella biß die Zähne zusammen, und ihre Augen irrten verstört und angstvoll suchend umher. Zum erstenmal empfand sie die Ohnmacht des Weibes einem Kampfe gegenüber, der nur mit der überlegenen Kraft eines Mannes ausgefochten werden konnte. Da – die wankende Gestalt dort an der Thür, mit dem kleinen regungslosen Körper im Arm – das war Wildenberg! Ein dumpfer Schrei entrang sich ihren Lippen.
Geblendet und betäubt, mit versengten Kleidern, tastete sich Wildenberg vorwärts, stolperte über die Schwelle und fiel samt seiner Last vornüber zu Boden. Aber unzählige Hände streckten sich hilfsbereit nach ihm aus, und brausend stieg der begeisterte Zuruf der Menge zum Himmel empor. Wildenberg kam bald wieder zu sich, wehrte lebhaft weitere Hilfeleistungen ab und bemühte sich um das Kind, das noch Lebenszeichen gab. Hella hatte sich wieder zurückgezogen und saß still im Hintergrund auf einem Bretterhaufen; die Flammen beleuchteten grell ihr weißes Gesicht mit den starren düsteren Augen.
Gegen Morgen wurde man des verheerenden Elementes endlich Herr. Wohnhaus und Holzschuppen waren ein rauchender Trümmerhaufen, aber das Mühlenwerk wenigstens hatte gerettet werden können. Die Spritzen mit ihrer Mannschaft zogen heim, den Abgebrannten wurde im Schlosse Unterkunft bereitet; nur ein paar Leute blieben noch da, um Wache zu halten.
An die Stelle der blendenden Helligkeit war graue Dämmerung getreten, das vielstimmige Lärmen und Schreien hatte tiefer Stille Platz gemacht. Hella saß noch immer an derselben Stelle. Sie hatte dem Reitknecht befohlen, ihr nach dem Erlöschen des Feuers, das man von Strehlen aus beobachten konnte, den Wagen zu schicken, in der Verwirrung des Augenblicks aber mußte er den Befehl überhört oder mißverstanden haben, der Wagen kam nicht. Nachdem sie einige Zeit gewartet und schließlich fast allein zurückgeblieben war, entschloß sie sich, den Heimweg zu Fuß anzutreten. Es fröstelte sie, und sie schreckte gegen ihre Gewohnheit zusammen, als jemand sie anredete und ihr seine Begleitung anbot. Es war Wildenberg. Er war schon im Begriff gewesen, sich auf eine der heimkehrenden Spritzen zu schwingen, da hatte er die Gutsherrin einsam dasitzen sehen und war geblieben, um ihr seine Dienste anzubieten.
Hella wollte im ersten Augenblick seine Begleitung steif ablehnen, aber er machte ihr klar, daß das nächtliche Feuer eine Masse Leute aus der ganzen Umgegend angelockt haben werde, so daß der Weg durch den Wald, wenn auch nur kurz, doch nicht ohne Gefahr für eine Dame sei. Sie überlegte eine Sekunde lang, dann nahm sie sein Anerbieten an und erhob sich, um mit ihm zu gehen. Jetzt erst bemerkte sie, daß er die linke Hand mit einem Tuch umwickelt hatte, sein Bart war angesengt und die Kleider trugen große Brandflecken, aber sein Gesicht war heiter und er atmete die frische Morgenluft mit augenscheinlichem Behagen ein.
Hella betrachtete ihn verstohlen von der Seite, aber ihre Lippen blieben fest zusammengepreßt. Sie war nicht imstande, eine Silbe hervorzubringen über seine heldenmütige That und die Todesgefahr, der er entronnen war. Noch klangen die Worte der Gräfin in ihrem Ohr nach und stachelten ihren Stolz immer aufs neue an. Wie? Sie sollte sich in den ersten besten Mann verliebt haben, mit dem sie näher verkehrte? Sie, die den Beweis liefern wollte, daß eine selbständige Frau auch ohne diese eingebildete Thorheit und Gefühlsduselei durchs Leben gehen könne? Lächerlich! Und vielleicht war er selbst auch schon auf den Gedanken geraten, wer konnte das wissen! Die Männer besaßen alle ein gut Teil Eitelkeit, und unmöglich war es nicht, daß er ihr freundliches Wohlwollen falsch ausgelegt hatte. Nun, dieser Irrtum sollte ihm gründlich genommen werden!
Während das alles ihr durch den Kopf ging und eine unsichtbare Scheidewand zwischen ihnen errichtete, schritten sie schweigend nebeneinander durch den fast noch nächtlich dunkeln Wald. Es setzte ihn in Erstaunen, daß sie kein freundliches Wort für ihn hatte. Nach dem eben Erlebten und nachdem er dicht an der Grenze von Leben und Tod vorübergegangen, war ihm das Herz voll zum Ueberfließen, sehnte er sich nach herzlicher Aussprache.
(Schluß folgt.)
[580]
Blätter und Blüten.
Heinrich v. Sybel †. Wenn wir noch jüngst, in Nr. 3 dieses Jahrganges, von der seltenen Rüstigkeit und Schaffensfreudigkeit des 78jährigen großen Geschichtschreibers Heinrich v. Sybel berichten und Kunde von dem Abschluß des siebenten Bandes seines epochemachenden, bedeutenden Geschichtswerkes über die Gründung des neuen Deutschen Reiches geben konnten, so müssen wir heute schmerzerfüllt den Tod des greisen Gelehrten melden. Am 1. August starb er an einer Lungenlähmung im Hause seines Sohnes, des Professors der Archäologie an der Universität in Marburg, wo er zu Besuch weilte.
In dem Lebensabriß des unvergeßlichen Forschers, dem wir das Bildnis des nunmehr Verewigten beifügten, haben wir seiner Hauptwerke gedacht und seinen Entwickelungsgang in kurzen Zügen geschildert. Ihm verdankt das deutsche Volk vor allem die erwähnte mustergültige Geschichte der Begründung des neuen Reiches, und wenn auch dieses Lebenswerk des Verblichenen nicht abgeschlossen vorliegt, so hofft man doch, daß die Ausgabe des achten, des Schlußbandes, nach den hinterlassenen Aufzeichnungen möglich sein wird. In Heinrich v. Sybel betrauert das Vaterland einen seiner besten Söhne, verliert die deutsche Geschichtschreibung den größten ihrer lebenden Vertreter.
Sedan. (Zu dem Bilde S. 568 und 569.) „Schwer zu verstehen ist,“ sagt Moltke in seiner Geschichte des deutsch-französischen Krieges, „weshalb wir Deutsche den zweiten September feiern, an welchem nichts Denkwürdiges geschah, als was unausbleibliche Folge war des wirklichen Ruhmestages der Armee, des ersten September.“
So unser unvergeßlicher Schlachtendenker, der nach ernstem Wägen zu dem kühnen Wagen schritt: dem Befehl zum Rechtsabmarsch der III. Armee, zur Unterbrechung des Vormarsches auf Paris, als die kaum glaubliche Kunde von Mac Mahons abenteuerlichem Zuge zur Vereinigung mit Bazaines in Metz eingeschlossener „Rhein-Armee“ sich mehr und mehr bestätigte. Nun ging von Süden her die III. Armee, von Osten die Maas-Armee auf Mac Mahon los, die Schlacht von Beaumont am 30. August schaffte völlige Klarheit und durch die meisterhaft geleiteten, rastlosen Märsche der beiden deutschen Heere wurde Mac Mahon gegen die belgische Grenze gedrängt, so daß ihm nichts übrig blieb, als sich bei der kleinen Grenzfestung Sedan zum letzten Kampfe zu stellen, ein verzweifelter Fechter, dessen Streiter sich nur noch schlagen konnten, wo sie standen, unfähig zu marschieren und zu manövrieren. Von allen Seiten wurde das Franzosenheer eingekreist: die Schlacht war gewonnen, schon ehe sie begann, das Schicksal des unglücklichen Heeres und des ratlosen Kaisers in seiner Mitte besiegelt, noch bevor die ersten deutschen Kanonenschüsse den Franzosen das unabwendbar hereinbrechende Verhängnis verkündeten.
Wenn wir dankbar freudigen Herzens den Nationalfesttag, den 2. September feiern, der die Kapitulation der feindlichen Armee zum Abschluß brachte, dann wollen wir auch der genialen Heeresleitung gedenken, die zu jenem Erfolge führte, nicht minder des Heldenmutes der deutschen Streiter, die in den heißen Kämpfen des 1. September mustergültig durchführten, was die Heeresleitung ihnen zugewiesen.
Unser Bild versetzt uns in die späten Nachmittagsstunden des 2. September. Die Donner der Schlacht sind verhallt, Napoleon hat unserm König seinen Degen überreicht, König Wilhelm hat das prophetische Wort gesprochen: „Ich fürchte, dieser welthistorische Sieg bringt uns den Frieden noch nicht!“ und nun ist er von der Höhe von Frénois, wo er dem Kampfe beigewohnt, mit seinen Paladinen aufgebrochen, um beim Ritt über das Schlachtfeld seine wackeren Soldaten zu begrüßen, die freudig Blut und Leben eingesetzt haben und die dem glorreichen Kriegsherrn entgegenjubeln in stürmischer Begeisterung. Bei Donchéry hat er den tapferen Württembergern seinen Gruß entboten, hatte selbst für die in der Schlacht gefangenen Franzosen – auf der Maasinsel Iges – ein freundliches Wort und jetzt erscheint er auf der Höhe bei Floing, wo die Kavalleriedivision Marguerite unter Gallifets Führung sich in tollkühner Attacke auf die siegreich vordringenden Streiter des 11. und 5. Corps gestürzt hatte, aber von dem Feuer der unerschrockenen Infanterie niedergemäht, hinweggefegt wurde. So dicht bedeckt war das Gefilde von toten Reitern und Rossen, daß erst Raum geschafft werden mußte für den König und seine Begleiter, den Kronprinzen, Moltke, Roon und Bismarck. Siegesfroh flattern die Banner dem Kriegsherrn entgegen, hoch schwingt der Offizier den Säbel in der Linken, den wunden rechten Arm in der Binde, und auch die schwer getroffen danieder liegenden Krieger wenden das leuchtende Antlitz dem Heldenkönig zu. Wie umdrängen die Tapferen „Unsern Fritz“, dessen III. Armee heute ihr Meisterstück gemacht hat, das ihrem Führer den Marschallstab einbringen wird, wenn Metz gefallen ist, die von Friedrich Karls Scharen umklammerte Feste.
Und nun vorwärts nach Paris, wo der morsche Kaiserthron zusammenbricht, wo aber mit gewaltigem Krähen der gallische Hahn sich erhebt, nachdem der napoleonische Kaiseradler sich verblutet hat – vorwärts nach Paris!
Deutschlands merkwürdige Bäume: Die Eichen zu Ivenack. Unser heutiger Gang führt uns in das Heimatland Fritz Reuters. Und zwar ganz in der Nähe von des Dichters Geburtsort Stavenhagen liegt der Park von Schloß Ivenack, dessen prächtigsten Schmuck die Gruppe uralter Eichbäume bildet, zu der wir diesmal wallfahrten. Das Alter dieser Bäume wird von kundiger Seite auf über tausend Jahre geschätzt. Es sind ihrer zehn – die „letzten Zehn vom Regiment“, denn gewiß bilden sie den Restbestand eines ganzen Waldes von gleichem Alter. Die größte der Eichen hat bei einer Höhe von 33½ m einen Umfang, der einen halben Meter vom Erdboden 11,50 m, einen Meter höher noch immer 9,80 m beträgt. Die anderen sind nur wenig kleiner.
Eine von ihnen, die kaum sechs Männer zu umspannen vermögen, ist im unteren Stamme hohl, eine größere Anzahl Personen findet Platz in dem Raume. Die Sagen, die sich an die Bäume knüpfen, stehen im Zusammenhang mit der Zeit, da Ivenack noch Nonnenkloster war. Von der stärksten Eiche berichtet eine derselben, sie sei von einer Nonne gepflanzt worden, welche, obwohl sie Braut war, von ihren Angehörigen ins Kloster gebracht worden war. Sie habe ihren Verlobungsring um den zarten Stamm des aufsprossenden Baumes gelegt, seitdem habe derselbe an dem Wachstum desselben teilgenommen und halte den Stamm, wenn auch dem Auge nicht sichtbar, noch heute umschlossen.
Die hinteren Bielenstöcke an der Furkastraße. (Zu dem Bilde S. 577.) So reich und wechselreich auch die Hochalpenscenerie ist, welche sich vor dem Reisenden beim Durchpilgern der Furkastraße entfaltet, so erschließt sich die eigenartige Schönheit des von dem Paß durchzogenen Gotthardmassivs doch erst demjenigen ganz, der auch in die Seitenthäler der Straße ein wenig eindringt. Hier öffnen sich dem erstaunten Blicke neue gewaltige Bergketten, Gletscher und Hochthäler, die man auf der Straße in solcher Nähe nicht ahnt. In einem solchen Seitenthale hat der Maler unseres Bildes die wundersam geformten Felsennadeln aufgenommen, welche die „Hinteren Bielenstöcke“ zubenannt sind. Sie erheben sich in ihrer phantastischen Gestaltung auf einem 2910 m hohen Felsenkamm, welcher das Thal des Siedelngletschers von dem des Tiefengletschers scheidet. Der Abstecher von der Furka, welcher dem Reisenden diesen großartigen Anblick ermöglicht, nimmt hin und zurück kaum zwei Stunden in Anspruch. Daß diese trotzigen Felszacken noch unbestiegen sind, läßt sich leicht vorstellen; die Mühe des Emporkletterns muß auch nur wenig lohnend erscheinen bei der nahen Nachbarschaft eines so aussichtsreichen Hochgipfels wie der Gallenstock, dessen Höhe 3597 m beträgt und der jeden Sommer vielfach bestiegen wird.
Inhalt: [wird hier z. Zt. (noch) nicht transkribiert]