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Die Gartenlaube (1892)/Heft 1

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]

Halbheft 1.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Weltflüchtig.

Roman von Rudolf Elcho.


1.

An einem warmen Aprilabend vereinigten sich noch einmal die Freunde des Konsuls Wesdonk zu einem Feste in dessen Villa. Mathilde, die älteste Tochter des geachteten Handelsherrn, hatte sich wenige Tage zuvor mit Herrn von Voßleben vermählt, einem jungen Diplomaten, der im Begriffe stand, nach Mexiko abzureisen. Das heutige Fest sollte den Abschluß einer Reihe von Veranstaltungen bilden, deren Mittelpunkt die Neuvermählten gewesen waren. Die gesellschaftliche Wintercampagne hatte die oberen Zehntausend Berlins übersättigt und erschöpft zurückgelassen, und in den Gesichtern der wohlbeleibten Bankiers, welche sich die hellerleuchtete, mit Palmen und Statuen besetzte Treppe der Villa hinaufbewegten, konnte man jenen weltschmerzlichen Zug finden, den ein seelenkundiger Arzt als „Sehnsucht nach Karlsbad“ gedeutet hätte. Die Gäste aus parlamentarischen Kreisen hatten eine sehr bewegte Tagung hinter sich; sie schritten mit der Miene von Männern, die nichts mehr überraschen und nichts mehr erschüttern kann, dem Festsaale zu.

Nur eine Schar junger Künstler zeigte die ungebrochene Genußfreudigkeit und Spannkraft der Jugend; sie waren im Verein mit mehreren jungen Damen von der Gattin des Konsuls dazu ausersehen, dem Abschiedsfest den rechten Inhalt zu geben. Als Festspiel waren „Scenen aus Sevilla“ geplant, und die

[2] Gäste durften erwarten, daß ein Stückchen echten Volkslebens an ihnen vorüberrauschen werde, denn Frau Rosita, die zweite Gemahlin des Konsuls, war eine spanische Kreolin und zählte zu ihren Freunden eine Anzahl junger Spanier und Italiener, welche Deutschland besucht hatten, um ihre Kunststudien zu vollenden. Diese Südländer zeigten sich stets bereit, ihr Können in den Dienst ihrer gütigen Beschützerin zu stellen. Frau Rosita aber folgte dem Geselligkeitstrieb wie der Schmetterlingsjäger dem Falter. In der Veranstaltung glänzender Feste, im geselligen Verkehr mit einem weiten Bekanntenkreis, im Besuch von Künstler-Ateliers, Konzerten und Theatern bestand ihre Lebensaufgabe. Und sie nahm diese Aufgabe sehr ernst. Wenn es irgend eine Aufführung in ihrer Villa galt, bewältigte sie die Arbeit von mindestens drei Personen. Sie opferte ihre Tage, um Kostüme zu beschaffen und anzupassen, ihre Abende, um Proben abzuhalten, und ihre Nächte, um Einladungen zu schreiben.

Während der Verlobung und Vermählung ihrer Stieftochter Mathilde hatte sie mit ihren Leistungen sich selbst übertroffen. Die Villa Wesdonk glich in dieser Zeit einem Taubenschlag; ein Fest folgte dem andern, und Frau Rosita, welche während des Tages alle Repräsentationspflichten in liebenswürdigster Form erfüllte, hatte noch die Zeit gefunden, immer neue Veranstaltungen zu planen und ihnen stets ein eigenartiges Gepräge zu geben.

Unermüdlich im Dienste des Vergnügens, begrüßte sie auch heute ihre Gäste mit so hellaufflackernder Freude, als habe sie jahrelang vergebens nach dem Anblick dieser weltmüden Börsengrößen, dieser leichtlebigen Künstler und steifnackigen Kommerzienräthinnen geschmachtet, die in der Thür des Salons erschienen. Sie hatte ein dunkles mit rothen Blumen geschmücktes Gewand angelegt, welches die Ueberfülle ihrer Formen geschickt verhüllte. Während ihre Bewegungen sonst, wenn sie sich nicht beobachtet wußte, müde und träge erschienen, zeigten sie jetzt eine Anmuth und Geschmeidigkeit, die man bei ihrer Körperfülle nicht erwartet hätte. Ihre dunklen, mandelförmigen Augen, die gewöhnlich schläfrig unter den Wimpern hervorlugten, umfaßten jetzt scharf die durcheinander wirbelnde Menschenfluth, und mit leichtem Schritt eilte sie zu den Gästen, vereinte gleichartige Paare zu Gruppen, vermittelte Bekanntschaften von Fremden, ordnete daneben das Nöthige zum Festspiel an und war gleich darauf wieder bei der Thür, um verspätete Ankömmlinge mit bezaubernder Liebenswürdigkeit willkommen zu heißen. Frau Rosita übertraf alle ihre Bekannten in der Kunst, im Kreise der Gäste eine heitere Stimmung hervorzurufen. Die strahlenden Kronleuchter, das bunte Gewühl und Wogen der Menge, das Knistern und Rauschen der Roben, das Schillern und Blitzen der Brillanten – das entflammte ihr Blut und verlieh ihrer Schmetterlingsnatur Flügel. Aber ihre Seele glich der leichtbewegten, sonnüberblitzten See: dicht neben der Glanzseite ihres Wesens lagen Schatten. Eben noch hatten ihre Augen einem jungen Künstler entgegengeleuchtet, eben hatte ihre Hand sanft den Druck der seinigen erwidert und ein Lächeln die vollen Lippen geöffnet, da traf ihr Blick auf eine müßig in der Vorhallte stehende Dienerin. Mit einer hastigen Bewegung huschte sie durch die Thür, die Hand, die so sanft streicheln konnte, umspannte hart den Arm des Mädchens, und unter zornspühenden Blicken herrschte sie die Ueberraschte an: „Haben Sie nicht Besseres zu thun, als Ihre Dummheit zur Schau zu stellen? Reichen Sie Thee herum – vorwärts!“ – In der nächsten Sekunde schon traf ein schmachtender Blick den raphaelischen Kopf eines Florentiners, der als Maler die Scenerie zum Festspiel geliefert hatte, und mit weicher seelenvoller Stimme begrüßte sie ihn.

Im Salon vollzog sich eine auffällige Bewegung. Das junge Paar, dem zu Ehren dies Fest veranstaltet wurde, ging langsam durch die Menge, um seine Plätze vor der Bühne einzunehmen. Der Schwiegersohn des Konsuls war ein heiterblickender Blondkopf, dessen stramme Haltung und üppiger Schnurrbart eher auf den Soldaten als auf den Diplomaten hätte schließen lassen. Mit verbindlichem Lächeln nahm er die Begrüßungen der Freunde entgegen. Mathilde, seine junge Frau, war schlank und hochgewachsen, sie trug den Kopf stolz und bewegte sich in etwas steifer und kühler Haltung durch die Schar der sie umdrängenden Gäste. Sie war sich ihrer bevorzugten Stellung in der Gesellschaft bewußt und nahm die dargebrachten Huldigungen mit herablassender Freundlichkeit entgegen. Einen starken Gegensatz zu dieser dunkelhaarigen ernstblickenden Tochter des Konsuls bot in Erscheinung und Wesen Bettina, die jüngere der beiden Schwestern. Sie war etwas kleiner wie Mathilde, hatte rothblondes Haar und träumerische blaue Augen, die mit dem Ausdruck kindlichen Erstaunens in die Welt schauten. Ihr zartgebildetes Gesicht wies einige Sommersprossen auf, und neben der klassischen Schönheit ihrer Schwester verblaßte die ihrige. Obgleich sie schon zwanzig Jahre zählte, lag etwas Schüchternes, Weltfremdes in ihrem Wesen, während sie in bescheidener Haltung hinter der Schwester herschritt.

An ihrer Seite befand sich Graf Trachberg, ein Vetter ihres Schwagers; er trug die Uniform eines Garde-Kavallerie-Regiments, allein seine schlanke Gestalt, seine geschmeidigen Bewegungen, sein süßliches Lächeln ließen ihn eher für den Dienst der Höfe als den des Kriegsgottes geeignet erscheinen. Er war sichtlich bemüht, Bettinas Aufmerksamkeit zu fesseln, diese aber schaute mit verträumten Augen in das Gewühl, und ein Seufzer der Erleichterung kam von ihren Lippen, als sie den ihr für die Schaustellung angewiesenen Platz erreichte. Frau Rosita umarmte und küßte ihre Stieftöchter mit echt mütterlicher Zärtlichkeit, bat dann die plaudernden Gäste, ihr Plätze einzunehmen, und gab das Zeichen zum Beginn des Festspiels.

An den Salon der Villa stieß unmittelbar der Wintergarten, der zum Bühnenraum umgeschaffen war. Als sich der breite Vorhang hob, zeigte sich in wunderbarer Mondbeleuchtung der San Fernandoplatz von Sevilla. Studenten und Toreros in malerischen Trachten begegneten einer Schar phantastisch gekleideter Zigeunerinnen und forderten die dunklen Schönen mit lautem Zuruf zum Tanze auf. Als die Zigeunerinnen zögerten, griffen die Burschen zu ihren Guitarren und einer der Toreros stimmte eine Tanzweise an. Der Chor sang in dumpfen Kehllauten mit, bis die schönste der „Gitanas“ der Herausforderung eines Torero folgte und den Fandango zu tanzen begann. Während diese beiden nun den Oberkörper wiegten, sich bald in träumerischer, bald in leidenschaftlicher Bewegung entgegenkamen, dann wieder jauchzend die Arme emporwarfen und sich im Kreise drehten, schwirrten die Saiten der Instrumente, stampften die Füße der Zuschauer den Takt, und von Zeit zu Zeit spornte ein feuriges Wort die Tanzenden zu immer rascheren Bewegungen an, bis nach einer Weile die Musik sanfter, das Tempo langsamer wurde und das Jauchzen und Stampfen nachließ. Ein neckisches Verfolgen und Entschlüpfen, ein anmuthiges Wiegen der Hüften und Neigen des Kopfes begann, bis die Bewegungen immer träumerischer, fast geisterhaft wurden, und beide Tänzer im Dunkel des Hintergrundes entschwebten.

Als sich der Vorhang gesenkt hatte, brachen die Zuschauer, selbst mitgerissen von den Rhythmen der Musik und des Tanzes, in lauten Beifall aus. Man rief jubelnd die Namen des Tänzerpaares, welches von einem jungen spanischen Cellisten und Lisa Horst, einer Freundin der Wesdonks, dargestellt worden war. Diese war Berlinerin, allein mit ihrem schwarzen Haar, ihren dunklen Augen und ihrem heißblütigen Wesen machte sie den Eindruck einer Südländerin. Ihr Partner hatte ihr den Tanz einstudiert, und bei der Ausführung ließ sie sich von der Musik entflammen und berauschen. Als sie jetzt nochmals dankend auf der Bühne erschien, glühten ihre Wangen, ihre Augen strahlten vor Jubel über den glücklichen Erfolg. Wie das Sinnbild überquellender Jugendlust und Lebensfreude erschien sie an der Seite des anmuthigen, zierlichen Spaniers. Als sie dem in der ersten Reihe sitzenden Vater, dem Sanitätsrath Horst, zunickte, röthete sich das blasse Gesicht des ernsten, vielbeschäftigten Arztes vor heimlichem Stolze.

Der Tanz hatte auch Bettina Wesdonk aufgerüttelt; sie klatschte lebhaft Beifall und rief den Nachbarn zu: „Lisa tanzt hinreißend –“

Eine Hand legte sich auf die Schulter des erregten Mädchens, und als sie zur Seite blickte, flüsterte ihr die Stiefmama zu: „Beeile Dich, mein Herz, die Pause währt nur zehn Minuten.“

Im zweiten Theile des Festspiels sollte Bettina mitwirken. Als sie den Salon verließ, um sich im Schlafzimmer eilig in einen Pagen zu verwandeln, mußte sie den halbdunklen Hausflur überschreiten. Ein Feuerschein erschreckte sie. Von den zahlreichen Gewinden aus Tannenzweigen, die sich um die Flügelthüre des Festsaals schlangen, hatte eines Feuer gefangen, und die Flammen loderten zur Decke auf. Bettina sprang beherzt hinzu, allein bevor sie die brennenden Gehänge erfassen konnte, hatte bereits ein [3] Mann in einer Mönchskutte den Thürschmuck herabgerissen und suchte jetzt die Flammen auszutreten. Bettina wollte ihn in diesem Bestreben unterstützen, er aber schob sie zurück und rief: „Achtung! Ihr Kleid kann Feuer fangen!“ Die Rauhheit des Tones verstimmte das Mädchen, während ihr zugleich das sichere Wesen des Fremden Achtung einflößte. Als eben ein Diener Wein und Selterwasser aus der Küche vorbeitrug, riß der Fremde zwei Flaschen vom Präsentierteller, schlug sie gegen einander, daß sie zerbrachen und der Inhalt wie ein Platzregen auf die verlöschenden Flammen niederfiel.

Franz Rott, der Mann in der Mönchskutte, war Geiger und hatte sich durch seine spanischen Freunde überreden lassen, in dem Festspiel mitzuwirken. Bettina begegnete ihm zum ersten Male, und als die prasselnde Falmme in sein bärtiges Gesicht hineingeleuchtet, hatte das Mädchen zwei blitzende blaue Augen und ein kühnes Profil gesehen, aber nur auf einen Augenblick. Das Feuer war im Nu gelöscht, und nun schritt sie ohne ein Wort des Dankes ihrem Schlafzimmer zu, um sich für ihre Rolle umzukleiden.

Das Festspiel schloß mit einer Schaustellung ab, die den Tanz der Chorknaben in der Kathedrale von Sevilla an Ostern und am Himmelfahrtsfeste zum Gegenstand hatte. Im Wintergarten war, so gut es ging, der Chor der Kirche nachgeahmt worden, aus dessen Stühlen man einige Mönchsgestalten hervorragen sah. Im Hintergrunde öffnete sich eine breite Thür, und heraus traten unter Führung eines Mönchs acht schöne als Pagen gekleidete Mädchen, in trachten aus der Zeit Philipps II. Das Haar ließen sie offen und gelockt auf die Schultern niederfallen. Als diese schmucken Pagen sich zu einem Menuett aufgestellt hatten, ergriff der Mönch eine bereit liegende Geige und stimmte eine einfache, feierliche Melodie an. Sechs Streichinstrumente fielen ein, und Klänge, so rein und süß, als ob sie dem Himmel entschwebten, zogen durch den Saal und verbreiteten eine andachtsvolle Stimmung. Und nach einer Weile verband sich mit diesem Konzert der Geigen der Gesang der Mädchen. Mit wohlklingenden Stimmen sangen sie ein altspanisches Kirchenlied und führten dazu jenen seltsam feierlichen Tanz auf, welcher in Sevilla am Osterfest und Himmelfahrtstage die nach Tausenden zählende Gemeinde der Andächtigen entzückt. Bettina und Lisa standen sich als erstes Paar gegenüber und wirkten durch den Gegensatz anziehend. Lisa mit ihren schwer niederwallenden Haaren, die sich in der Bewegung dunkel glänzend hoben und senkten, mit ihren funkelnden Augen und den scharfgezeichneten Brauen sah aus wie ein echtes Kind des heißen Andalusiens. Bettina aber glich mit ihrem röthlichen Haar einer jener schlanken kraftvollen Baskinnen. Es war gut, daß die feurigere Freundin ihr gegenüberstand, denn diese lockte sie bald aus ihrer schüchternen Haltung heraus. Nun schien es Bettina, als werde sie von der Musik auf Schwingen getragen, ihre Haltung wurde freier und edler, ihr Gang beflügelte sich und allmählich war jede ihrer Bewegungen von Zauber umflossen. Die Scene wurde durch Wachskerzen beleuchtet. Neben Bettina erhob sich ein Kandelaber, dessen Kerzen goldene Lichter auf ihr Gesicht warfen. Neben dem Kandelaber stand Franz Rott, der als erster Geiger die Führung des Streichorchesters hatte. Mit glänzenden Augen folgte er ihrer Gestalt und meinte, nie im Leben ein lieblicheres Frauenbild gesehen zu haben. Sie sang das Kirchenlied mit heiligem Eifer, und der rührende Ausdruck kindlicher Unschuld lag dabei in ihren Zügen, ein inniger verklärender Schein flog über ihr Antlitz. –

Der Tanz ging zu Ende und die Musik verstummte. Die begeisterten Zuschauer riefen die Pagen, die Musiker und Frau Rosita, die erfindungsreiche Veranstalterin dieses Festspiels, hervor. So oft sich der Vorhang öffnete, traten Bettina und Lisa, eng aneinander geschmiegt wie ein Schwesternpaar, vor die Rampe; das Gefühl, daß sie gemeinsam einen Sieg errungen hatten, verband sie.

Endlich verstummte der Lärm im Saale, und Bettina wandte sich der Coulisse zu. Hier stieß sie mit dem Geiger Rott zusammen. Dieser sah sie verwirrt an, wie ein Mensch, den man aus einem schönen Traume aufgeschreckt hat, und sagte in gepreßtem rauhklingenden Tone etwas, das wie „wundervoll“ klang, dann wurde er roth und trat mit einer linkischen Bewegung zur Seite.

Gleich darauf kam ihr in großer Erregung Graf Trachberg entgegen. „Fräulein Bettina!“ rief er fast athemlos, und seine Stimme war lauter als gewöhnlich, „Sie sehen mich hingerissen, berauscht! Ihnen geböhrt der Kranz am heutigen Aband!“

Er küßte wiederholt ihre Hand, und seine grauen kalten Augen zeigten einen Schimmer von Zärtlichkeit. Das Mädchen freute sich über diese unerwartete herzliche Anerkennung, und zum ersten Male kam es ihr zum Bewußtsein, daß der Graf nicht nur ein schöner, sondern auch ein interessanter Mann sei.

Trachberg mochte etwa sechsunddreißig Jahre zählen, hinter ihm lag eine bewegte Jugend, die ihn ein nach Hunderttausenden zählendes Vermögen gekostet hatte. Als Rittmeister in einem Garderegiment fühlte es sich jetzt durch allerlei Schuldverbindlichkeiten bedrückt und war zu dem Entschluß gekommen, seine Freiheit lieber einer Frau als seinen Gläubigern zu opfern. Sobald diese weise Einsicht in seiner Seele durchgedrungen war, hatte er sich unter den Erbinnen des Landes umgeschaut, und durch die Verlobung seines Vetters Voßleben waren seine Blicke auf Bettina Wesdonk gelenkt worden. Er war nicht der Mann grauer Vorurtheile, und eine Million aus der Hand des Konsuls Wesdonk erschien ihm genau so vollwerthig und annehmbar als eine aus der Hand adliger Schwiegerväter. Wesdonk galt für einen Millionär, obgleich niemand einen klaren Einblick in seine Verhältnisse hatte; zum mindesten lebte er wie ein solcher. An diesem Abend aber hatte Graf Trachberg so glänzende Eindrücke in dem Hause des Konsuls empfangen, daß er beschloß, sich heute noch zu erklären. Und wie er nun dem erglühenden Mädchen gegenüberstand, empfand sein leichtbewegliches Herz sogar etwas wie Liebe, seine harte schnarrende Stimme wurde weicher, einschmeichelnder, und es kamen Liebesversicherungen von seinen Lippen, aus denen das junge Mädchen den innigen Ton echten tiefen Gefühls herauszuhören meinte. Und dieser Ton fand in ihrer Seele einen leisen Widerhall. Als nun der Graf, durch ihre halb fragenden, halb bewundernden Blicke kühn gemacht, seinen Arm um ihre Schulter legte und sie in jener verhaltenen bebenden Sprache, welche unerfahrenen Mädchen stets als die der Liebe gilt, fragte: „Darf ich Dich als die Meine betrachten, süßes, angebetetes Herz?“, da ließ sie es geschehen, daß er sie an sich zog und einen Kuß auf ihre Stirn preßte.

In diesem Augenblick näherte sich Frau Rosita den beiden. Sie schien erst erschreckt und verstimmt zu sein, im nächsten Augenblick aber breitete sie die Arme weit aus und rief: „Welche Ueberraschung! Bettina, mein Herzenskind, lieber Graf – – eine größere Freude, ein stolzeres Glück hätte diesem Hause kaum zu theil werden können! Wo ist Mathilde, wo unser lieber Voßleben? Ach, was werden sie zu diesem Ereigniß sagen; schöner konnte ihr Aufenthalt in Deutschland nicht abschließen, als mit dieser Verlobung!“

Sie eilte fort, um das junge Paar herbeizurufen, allein kaum hatte sie den Saal wieder betreten, so legte sich mit festem Griff eine Hand auf ihren Arm und eine zitternde Stimme fl+sterte ihr zu: „Folge mir auf mein Zimmer, ich habe dringend mit Dir zu sprechen, Rosita!“

Die Kreolin wandte sich mit dem Ruf „Ah, Du thust mir weh!“ dem Sprecher zu. Sie wollte entgegnen, daß sie jetzt keine Zeit habe – als sie jedoch in das bleiche Gesicht des Mannes sah, der in der Linken eine Depesche hielt, verstummte der Einwand auf ihren Lippen und sie erwiderte leise: „Ich komme, geh’ nur voran!“

Der Mann wandte sich hastig durch die Menge, und Frau Rosita, die wieder ihr verbindliches Lächeln gefunden hatte, folgte ihm nach einer Weile in schmiegsamer Bewegung.




2.

Konsul Wesdonk hatte sein Arbeitszimmer im ersten Stock erreicht. Nach Luft ringend, blieb er an der Thür stehen; der kurze Aufstieg über die Treppe hatte ihn außer Athem gebracht. Daran war mehr die furchtbare Erregung, die sich seiner bemächtigt hatte, als die Anstrengung schuld. Ihm war zu Muthe, als müsse er ersticken, und mit zitternden Knieen schritt er nach einer Weile zu dem vor dem Schreibtisch stehenden Sessel und ließ sich ächzend in denselben niederfallen.

[4]

Thorismund wird nach der Schlacht auf den katalaunischen Feldern von den Westgothen zum König erhoben.
Nach einer Zeichnung von A. Zick.

[5] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [6] Das Arbeitszimmer des Konsuls war das einfachste und schmuckloseste Gemach in der ganzen Villa. Das Bild einer stattlichen Frau mit unschönen, aber milden Zügen und gütig blickenden Augen, ferner eine Gruppe seltener Waffen und Muschelgeräthe und endlich ein geschnitzter Schrank mit reichem Bücherinhalt – darin bestand nebst dem Schreibtisch und einigen Stühlen die ganze Ausstattung des kleinen Raumes.

Wesdonk stierte eine Weile fassungslos vor sich hin, dann murmelte er: „Hier hab’ ich wenigstens Ruhe vor dem Getöse da unten – dem Himmel sei Dank! Hier kann ich endlich meine Gedanken sammeln!“

Er glättete die zerknitterte Depesche, welche er noch immer in der Hand hielt, auf dem Knie und brachte die Zeilen in den Lichtkreis der auf dem Schreibtisch stehenden Lampe. Halblaut las er noch einmal den Inhalt: „Infolge des unglücklichen Verlaufs der letzten Reichstagsverhandlung hat das Handelsministerium auf den Ankauf unserer Besitzungen in der Südsee verzichtet, und wir bedürfen jetzt der Unterstützung unserer Freunde. Können wir 300 000 Mark auf Sie ziehen?

Ludolf Fabbri und Söhne.“ 

Der Konsul ließ das Blatt auf den Schreibtisch sinken und sagte mit trübem Lächeln: „Dreimalhunderttausend Mark! Vor sechs Jahren wäre mir diese Summe als eine Bagatelle erschienen, heute kann ihre Beschaffung meinen Untergang herbeiführen. – Wo zum Henker bleibt denn Rosita?“

Ungestüm sprang der Konsul auf und lief in dem kleinen Zimmer auf und nieder. Sein Gesicht war heiß und geröthet, sein graues Auge blickte zornig; tiefe Falten zeigten sich zwischen den starken Brauen. Plötzlich fielen seine Blicke auf das Frauenbildniß über dem Schreibtisch. Er hielt vor demselben an. Während der Betrachtung des Bildes glättete sich das Gesicht des erregten Mannes, seine Augen wurden groß und feucht, und in Tönen, die von Wehmuth und Trauer umflort waren, sprach er: „O stündest Du in diesem Augenblick an ihrer Stelle, theure Tote, um wieviel leichter wäre dann die Entscheidung!“

Das Knarren der Thür scheuchte ihn von dem Bilde weg. Er trat in die Mitte des Raumes und stand Frau Rosita gegenüber, von deren Antlitz das sonnige Lächeln verschwunden war.

„Verzeihung!“ sagte sie in zerstreutem ungeduldigen Tone, „aber ich hatte noch Anordnungen zu treffen. Ich habe alle Hände voll zu thun. Könnte diese Unterredung nicht auf morgen verschoben werden? Die Gesellschaft – – Du begreifst – die ganze Last liegt auf mir.“

Frau Rosita handhabte das Deutsche vollkommen fließend, aber mit einer fremdartigen Betonung, die ihrer Sprache etwas Drolliges verlieh. Jetzt, da eine Wolke des Unmuths über den dunklen Augen lag, da ihre von lockigem Haar umgebene niedrige Stirne Falten zog und das Roth auf den Wangen verblaßte, ließ sich leicht erkennen, daß die Zeit der Jugend bereits hinter ihr lag; doch ließ sich schwer bestimmen, ob sie dem Anfang der Dreißig oder der Vierzig näher stehe. Der Konsul war ein hoher Fünfziger, von ansehnlicher Leibesfülle, mit starkgelichtetem Haupthaar und grauem Vollbart. Ernst blickte er auf seine zweite Gattin nieder. Nach einem tiefen Athemzug antwortete er auf deren Frage mit einem rauhen: „Nein, keinen Aufschub, ich bedarf Deiner Entschließung in einer ernsten Lebensfrage, Rosita! Mögen die da drunten sich zehn Minuten ohne Dich behelfen!“

„Dieser Ton – was ist geschehen?“

„Rosita,“ fuhr der Konsul weicher fort, „die Fabbris sind ins Wanken gekommen. Du weißt, daß sie auf die Unterstützung der Regierung gerechnet haben, allein ihre Pläne sind durchkreuzt worden. Versagt nun auch die Hilfe ihrer Freunde, so gehen ihre Plantagen, ihre Schiffe, kurz all ihre Besitzthümer verloren, und ein altes Handelshaus bricht zusammen, dem ich viel, fast alles zu verdanken habe. Es ist meine Pflicht – hörst Du? – meine heilige Pflicht, jedes Opfer zu bringen, welches diese Firma von mir verlangt. Vorhin ist eine Depesche eingelaufen mit der Anfrage, ob die Fabbris auf 300 000 Mark von mir rechnen können. – Rosita, während der letzten Jahre bin ich vom Mißgeschick verfolgt worden, mehrere wohlgeplante Unternehmungen schlugen fehl und meine ansehnlichen Mittel sind derart zusammengeschmolzen, daß ich einen Wechsel auf 300 000 Mark heute nicht einzulöseu vermag. Noch ist mein Kredit unerschüttert, allein da man in der Handelswelt weiß, wie eng mein Geschick mit dem der Fabbris verknüpft ist, so würde es Besorgniß erregen, wenn ich, um für den Wechsel Deckung zu schaffen, Darlehen bei den Banken suchen wollte.“

„Gut – aber was kann ich dabei thun?“ unterbrach ihn Frau Rosita und warf einen unruhigen Blick nach der Thür.

„Nun denn! Ich bedarf in dieser Bedrängniß Deiner Hilfe, vertraue mir 300000 Mark von Deinem Vermögen an!“

„Das ist stark – das wäre der Anfang vom Ende! Niemals!“

„Du sprichst stets in rücksichtslosester Weise zu mir, wenn Du ein schlechtes Gewissen hast,“ unterbrach sie der Konsul mit gereizter Miene.

„Und Du,“ entgegnete seine Frau mit einer hochmüthigen Bewegung des Kopfes, „Du wirst stets unhöflich, wenn Du von anderen eine Gefälligkeit oder ein Opfer verlangst. Der Bittende kommt in der Regel rascher zum Ziel als der Scheltende.“

„Verzeih’ mein Ungestüm, aber Du wirst Dich erinnern, daß ich zum ersten Male ein Opfer von Dir fordere. Ich bitte Dich, auf meine Erregung Rücksicht zu nehmen und – auf meine peinliche Empfindung. Also sprich: willst Du mir helfen?“

Rosita hatte das Gefühl eines Menschen, dem plötzlich eine Schlinge um den Hals geworfen wird. Sie liebte das Geld und war entschlossen, es festzuhalten, gleichwohl besaß sie nicht den Muth, glattweg nein zu sagen. Ihr Kopf suchte einen Ausweg, während sie vor den forschenden Blicken des Gatten die Augen niederschlug. Endlich zuckte ein rettender Gedanke durch ihr Hirn, mit einem leisen Lächeln um den Mund wiederholte sie die Frage ihres Mannes: „Dir helfen? Ei, mein Lieber, mit tausend Freuden! Aber es handelt sich ja nicht um Dich, sondern um die Fabbris, und wir müssen uns die Frage stellen: ist es verständig oder närrisch gehandelt, wenn wir all unser Vermögen in einen Abgrund werfen? Du hast heiligere Verpflichtungen gegen Deine Frau und Deine Kinder als gegen jene Firma, der Du während Deiner besten Lebensjahre treu und hingebend gedient hast und die Dich nach Verdienst belohnte. Wo liegt Deine Verpflichtung, Dich für die Fabbris zu ruinieren? Ihr habt beide Euren Vertrag erfüllt – – das ist alles!“

„Du irrst, Rosita! Wohl ist es wahr, daß ich dieser Firma in meiner Jugend treu gedient und daß ich ihr Vertrauen gerechtfertigt habe; allein die Art, wie man mich belohnte, ging weit über die Erfüllung des Vertrags hinaus. Du weißt, daß die Fabbris mir die Mittel gewährten, um in Montevideo ein Geschäft zu gründen, Du weißt, daß sie mir, als ich nach Berlin übersiederlte und hier in ganz neue Unternehmungen eintrat, durch ihren guten Rath und durch Gewährung eines fast unbeschränkten Kredits allen erdenklichen Vorschub leisteten. Damals versprach ich mündlich und schriftlich, diese Wohlthaten nach Kräften vergelten zu wollen – –“

„Verzeih! Dein Wohlthäter war der alte Fabbri, der seit sechs Jahren im Grabe ruht. Den Söhnen bist Du keinen Dank schuldig, ihre Hilfe hast Du niemals in Anspruch genommen.“

„Da ich ein ehrlicher Mann sein will, habe ich eine andere Auffassung von der Sachlage als Du. Meine Versprechungen galten dem Hause, und selbst wenn ich mein Wort nicht verpfändet hätte – ich würde mich doch für verpflichtet halten, Hilfe zu bringen. Es sind ideale Interessen, die mich binden. Die Plantagen, deren Existenz jetzt auf dem Spiele steht, habe ich ins Leben gerufen, ich habe sie mit den Waffen in der Hand gegen die Ueberfälle der Wilden vertheidigt; ich habe die Ausfuhr der gewonnenen Erzeugnisse geleitet, das Netz der Handelsverbindungen für die Fabbris erweitert. So fühlte ich mich von Anfang an als ein Glied des mächtigen Hauses, und als ich mit seiner Hilfe selbständig wurde, blieb ich ihm ein treuer Bundesgenosse und verdanke dem ein großes Vermögen. Darf ich dies alles vergessen? Ich müßte mich selbst verachten, wenn ich ihre Bitte unerfüllt ließe. Ich stehe und falle mit den Fabbris.“

„So wirst Du fallen, denn wie mir vor einer Stunde der Kommerzienrath Leo versicherte, ist die Lage der Firma eine verzeifelte geworden.“

„Wenn niemand sie rettet – ja!“

„Du allein aber bist zu schwach, um die Wankenden zu stützen. Sei kein Thor! Du wirst sehen, daß sich die übrigen [7] Freunde der Firma weise auf ihre Geldsäcke zurückziehen. Hast Du Lust, allein in den Sturz des Hauses mit hineingerissen zu werden?“

„Ich befürchte das nicht, ich hege vielmehr die Ueberzeugung, daß eine rasche Hilfeleistung von meiner Seite genügen wird, um die drohende Gefahr abzuwenden. Rosita, habe Vertrauen zu meiner Einsicht und gieb mir die Summe!“

Trotzdem der Konsul in flehendem Tone sprach, schwieg die Frau, und nach einer Weile entgegnete sie mit einem scheuen Seitenblick: „Deine Einsicht hat sich in den letzten Jahren schlecht bewährt, – ich mache Dir keinen Vorwurf daraus, auch der Erfahrenste kann irren. Ein furchtbarer Mißgriff jedoch wäre es, wenn Du jetzt für die Fabbris in die Bresche springen wolltest. Das Glück hat Dich verlassen, glaube mir, und in solcher Zeit darf man nicht ohne Noth Va banque spielen.“

Das Gesicht ihres Mannes röthete sich, und die zornige Erregung raubte ihm fast die Fähigkeit, zu sprechen. „Du scheinst es nicht zu ahnen, wie sauer es mir wurde, Dich um den Dienst zu bitten,“ sagte er endlich. „Nun, da Du mir guten Rath statt Hilfe bietest, mag denn auch meine Rücksicht schwinden. Es gab eine Zeit, Rosita, wo Du mehr Vertrauen in meine Einsicht und Erfahrung setztest. Das war vor zehn Jahren, als Du mir das Erbe Deiner Tante im Betrage von 50 000 Mark übergabst. Ich habe diese Summe unterdessen um das Neunfache vermehrt, und selbst wenn ich die verlangten 300 000 Mark verlieren sollte, bliebe Dir noch das Doppelte Deines ursprünglichen Vermögens.“

„Dieser Rest aber käme der Verarmung gleich – bei unsern Lebensgewohnheiten.“

„Ja, bei unsern Lebensgewohnheiten!“ wiederholte der Konsul und lachte bitter auf. „Diese Lebensgewohnheiten wünsche ich in die Hölle. Welch glückliches Familienleben führte ich einst in bescheidener Stellung, da ich weit, weit davon entfernt war, jene hunderttausend Mark zu besitzen, die Dir heute wie ein Nichts erscheinen! Da sproßten mir aus dem innigen Verkehr mit Weib und Kind tausend Freuden, da war mein Haus ein sonniger Ort, über dem der goldige Schein des Glückes lag. Damals machten mich kleine Erfolge stolzer und befriedigter als später der Gewinn von Hunderttausenden, denn wir lebten bescheiden, und ich durfte den kleinen Gewinn als dauernde Errungenschaft betrachten. Heute kann ich mich der großen Summen nicht mehr freuen, sie zerschmelzen wie Schneeflocken in Deinen Händen. Weißt Du, was unser Haushalt im Laufe des letzten Jahrzehnts verschlungen hat? Achtmalhunderttausend Mark! Ahnst Du, wieviel Arbeit, Aufregung und Kampf dazu gehört, um diese Summe aufzubringen? Mich hat das rastlose Bemühen, Deinen Ansprüchen gerecht zu werden und darüber hinaus ein Vermögen zu begründen, meine Gesundheit gekostet. Aber je mehr ich verdiente, desto größer wurden Deine Ansprüche, Deine Bedürfnisse. Und welcher Lohn ist mir zu teil geworden? Du hast mein stilles Haus zu einer Karawanserei gemacht, in der Schmarotzer und vornehme Taugenichtse verkehren. Leute machen sich an meinem Tische breit, die ich nicht kenne und nicht kennenlernen will. Du bist nur von der Sucht erfüllt, zu glänzen, von dem Verlangen, eine Rolle in einer Welt zu spielen, die niemals die meinige sein wird. Für immer ging der stille Frieden und das Behagen meines Hauses dahin. Du hast Dich mir und hast mir meine Kinder entfremdet. – So, nun ist’s heraus, was mir jahrelang auf der Seele lag und was ich Dir aus falscher Schonung bisher verschwiegen habe. Und damit Du gleich alles weißt – ich bin fest entschlossen, dieser heillosen Wirthschaft ein Ende zu machen. Sobald Mathilde das Haus verlassen hat, verkaufe ich die Villa, und wir richten unsern Haushalt unsern Einnahmen gemäß ein. Dieses Scheindaseins bin ich müde – ich trag’s nicht länger!“

„Nun, ich gestehe, Du bist galant!“ – Frau Rositas Augen funkelten und ihre Stimme erhielt einen herben Klang. „Das ist der Dank für meine Bemühungen, Deinen Töchtern ihren Weg zu den Spitzen der Gesellschaft zu bahnen und ihnen zu einer glänzenden Partie zu verhelfen! Also um meiner Eitelkeit zu genügen, hab’ ich seit Jahren die ungeheure Last auf mich genommen, Fest auf Fest zu veranstalten, Menschen zu besuchen, einzuladen und durch Schmeichelei zu gewinnen, die mir gleichgültig oder gar verhaßt waren? Alles, was ich für Dich und Deine Kinder erreicht habe, bedeutet Dir nichts? Wem anders als mir ist es zu danken, daß Deine Tochter Mathilde heute einen adeligen Namen trägt, daß sie Mitglied einer der stolzesten Familien des Landes geworden ist und daß sie einer beneidenswerthen Zukunft entgegengeht?“

„Das lohne Dir –“ dem gereizten Gatten drängte sich eine Verwünschung auf die Lippen, allein er besann sich noch rechtzeitig und mäßigte seine Worte. „Deine Großthaten sind mir zum Fluch geworden, Rosita, begreifst Du das nicht? Es fehlt uns der feste Boden unter den Füßen, und je höher wir steigen, desto größer wird die Gefahr des Absturzes. Voßlebens adelige Sippschaft hat der Tochter des vermeintlichen Millionärs widerstrebend die Arme geöffnet; kommt es aber zu Tage, wie wenig ich im Grunde noch mein nenne, so wird für meine Tochter jene stolze Familie zur Hölle.“

„Nun, bei diesen Befürchtungen wirst Du um so besser einsehen, daß wir unserer Existenz den festen Grund nicht rauben dürfen.“

„Welchen?“

„Mein Vermögen! Schlagen Deine Spekulationen fehl, so bleiben uns 450000 Mark! Damit können wir zur Noth anständig leben – sie dürfen nicht angetastet werden.“

„Ei, sieh doch! Und der Verlust meiner kaufmännischen Ehre gilt Dir nichts?“

„Ach geh’ – wer fragt heute in der Geschäftswelt nach Ehre? Der Besitz giebt Ansehen, und das ist so gut wie Ehre. Erinnerst Du Dich noch des Gesprächs, das wir vor acht Tagen beim Bankier Lossen führten? Da wurden die betrügerischen Kniffe aufgezählt, durch welche ein Bankier die Aktien seiner faulen Gründungen kleinen Leuten aufgehängt und diesen ihre Ersparnisse abgeschwindelt hatte. Als einige Gäste diese Erzählungen mit Entrüstung aufnahmen, wie urtheilten da Deine Kollegen über den Betrüger – weißt Du es nicht mehr? Nun, so will ich es Dir sagen: „Zugegeben, der Mann hat mit dem Aermel das Zuchthaus gestreift – er ist doch durchgedrungen, mithin ein tüchtiger Mensch. Heute besitzt er Millionen, und die Börse muß mit ihm rechnen.“ – Da hast Du die Werthschätzung der kaufmännischen Ehre!“

Frau Rosita machte eine so verächtliche Bewegung, als werfe sie dem Gatten sein Idol vor die Füße, und wandte sich dann zur Thür. Der Konsul aber vertrat ihr den Weg und sagte hastig: „Der lange Verkehr mit leichtfertigen Menschen scheint auch Deine sittlichen Begriffe verwirrt zu haben. Ich bin anders geartet als jene Anbeter des goldenen Kalbes. Darum werde ich nun und nimmer feig zurücktreten, und wenn Du mir Deine Hilfe versagst, so muß ich meinen Kredit aufs äußerste anspannen, selbst auf die Gefahr hin – alles zu verlieren. Und Rosita – es kann Dir im Falle des Verlusts doch unmöglich schwer werden, zu jenen bescheidenen Verhältnissen zurückzukehren, in denen wir einst glücklich waren. Als Du vor zwölf Jahren in Montevideo als arme Gouvernante in mein Haus tratest –“

„Erinnere mich nicht an diese Zeit!“ unterbrach sie ihn und stampfte mit dem Fuße. „Damals lag eine Reihe von Demüthigungen und Entbehrungen hinter mir, an die ich nicht mehr denken will. Ich habe den Fluch und die Bitterkeit der Armuth gründlich ausgekostet, und weil ich ihr nicht wieder zum Opfer fallen will, verweigere ich Dir das Darlehen und halte fest, was ich besitze. Es wird die Stunde kommen, in der Du meine Vorsicht segnest.“

Mit diesen Worten schlüpfte sie durch die Thür. Der Konsul sah ihr wie betäubt nach und murmelte: „So muß ich ohne Dich fertig werden, Herzlose! Und mögen die Würfel fallen, wie sie wollen, unsere Wege werden in Zukunft getrennt sein. Zum Glück bleibt mir Bettina!“

Kaum hatte der Konsul den Namen Bettinas ausgesprochen, so vernahm er ihre Stimme; in der nächsten Sekunde flog die Thür weit auf und das Mädchen warf sich in seine Arme. „Papa, lieber Papa!“ rief sie und küßte den Erregten auf die Wange, „Graf Trachberg hat Dir etwas zu sagen.“

Der Konsul sah von der Tochter, welche das erglühende Gesicht mit einer schämigen Bewegung an seine Schulter lehnte, zur Thür hin, über deren Schwelle eben der Graf, dessen Vetter Voßleben, Mathilde und Frau Rosita traten.

[8] „Wir bringen eine Neuigkeit, welche alle finsteren Gedanken aus Deinem Kopfe verscheuchen wird, mein Freund!“ – Rosita sagte es mit strahlendem Lächeln und trat an die Seite des Grafen. Dieser verbeugte sich leicht und erklärte in ehrerbietigem Tone: „Herr Konsul, ich liebe Ihre Tochter Bettina und bitte Sie um deren Hand. Es würde uns alle glücklich machen, wenn Sie den Gästen Ihres Hauses noch während dieses herrlichen Festes unsere Verlobung anzeigen wollten.“

Der Hausherr antwortete nicht sogleich; seine Blicke glitten prüfend von der Tochter zu dem hochgewachsenen Aristokraten hinüber, dann nach einer Weile fragte er: „Liebst Du den Grafen Trachberg, Bettina?“

Das Mädchen nickte stumm.

„Ihr Antrag, Herr Graf, überrascht mich derart, daß ich eine Entscheidung in dieser Stunde unmöglich treffen kann. Gewiß, Sie zu meiner Familie zählen zu dürfen, erscheint mir ehrenvoll – – indessen –“

Bevor der Konsul seine Bedenken geltend machen konnte, wurde er von seiner Frau und dem jungen Ehepaar mit Bitten bestürmt. Mathilde theilte den Ehrgeiz ihrer Stiefmutter, in der großen Gesellschaft eine hervorragende Rolle spielen zu wollen. Was aber konnte der Persönlichkeit mehr Glanz und Würde geben als ein stolzer Titel, ein hoher Rang? Von ihrer Schwester als einer Gräfin Trachberg reden zu können, schmeichelte ihrer Eitelkeit eben so sehr wie Frau Rosita der Gedanke, in der gräflichen Equipage die Rennen besuchen zu können. Beide Damen fanden es unbegreiflich, daß der Vater Bettinas den Grafen nicht jubelnd in die Arme schloß. Auch Herr von Voßleben wünschte, daß das verwandtschaftliche Band, welches bisher zwischen ihm und den Trachbergs nur ein loses gewesen war, durch die Verschwägerung befestigt werde. Diese drei Bundesgenossen der Liebenden wußten die Einwendungen des Vaters, daß Bettina wie der Graf sich erst näher kennen und prüfen müßten, durch eine Reihe von Scheingründen zu widerlegen. Als jedoch der Konsul von der Vermögenslage sprach, die um der gesellschaftlichen Verpflichtungen willen bei dem jungen Paare eine besonders günstige sein müsse, wurde Trachberg bedenklich, und als Wesdonk weiterhin auf die schwankenden Glücksumstände des Kaufmanns hinwies und gar eine Andeutung fallen ließ, daß sein Haus vor einer wichtigen Entscheidung stehe und daß es schwer, ja geradezu unmöglich sei, Bettinas Zukunft sicher zu stellen, da war der edle Freier innerlich entschlossen, von der Veröffentlichung der Verlobung an diesem Abend abzustehen.

Bevor er jedoch seinen Verzicht aussprechen konnte, trat Rosita in den Mittelpunkt des Kreises: Sie fühlte, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, den Gatten durch ihre Großmuth zu beschämen. Ein erhabener Entschluß stieg in ihrer Seele auf, und mit königlicher Miene sprach sie feierlich: „Bettina, theuerstes Kind, wenn Dein allzu gewissenhafter Vater seine Vermögensumstände als schwankend bezeichnet, so muß ich es wohl gestehen, daß ich ein persönliches Vermögen von 450 000 Mark besitze, das keinen Zufällen unterworfen ist. Sollte Dein Vater jemals nicht in der Lage sein, Dir die Mittel für eine standesgemäße Lebensführung zu gewähren, so trete ich für ihn ein. Durch Geldverlegenheiten soll das Glück Eurer Ehe niemals getrübt werden, das verspreche ich Dir, das verspreche ich Ihnen, mein lieber Graf.“

Trachberg athmete erleichtert auf und küßte dankend die Hand, welche Frau Rosita ihm reichte.

Nun war die letzte Verschanzung gestürmt, welche der sorgenvolle Handelsherr aufgebaut hatte, und so beantwortete er den bittenden Blick seiner Tochter mit einem innigen Kuß. „Der Wunsch, Dich glücklich zu sehen, läßt mich übereilt handeln,“ sagte er leise; dann wandte er sich an den Grafen: „Trotz schwerer Bedenken will ich Ihrem Wunsche willfahren und der Gesellschaft die Verlobung noch heute anzeigen, wenn Sie mir versichern können, Herr Graf, daß Sie meine Tochter um ihrer selbst willen lieben und daß Sie als ihr Gatte redlich bestrebt sein werden, Bettina glücklich zu machen.“

Trachberg, welcher nach der Erklärung der Hausfrau in der Bedenklichkeit des Konsuls nur noch die spießbürgerliche Peinlichkeit des ehrenfesten Kaufmanns sah, lächelte überlegen und antwortete mit einem zärtlichen Blick auf das Mädchen: „Meine Gefühle für Ihr Kind, Herr Konsul, können nicht durch äußere Umstände beeinflußt werden. Ich hoffe, Sie während unserer Verlobungszeit überzeugen zu können, daß nicht nur mein Name, mein Rang und meine Stellung in der Gesellschaft Sicherheit für das Glück Bettinas bieten, sondern auch meine persönlichen Eigenschaften.“

„Nun, so heiße ich Sie als Schwiegersohn frohen Herzens willkommen.“ Wesdonk reichte dem Grafen die Rechte, und der Bund war geschlossen. „So laßt uns denn zur Gesellschaft gehen!“

„Aber Papa!“ rief Bettina mit glücklichem Lachen, „so willst Du eine der feierlichsten Handlungen Deines Lebens vornehmen, ohne Frack und weiße Binde?“

„Entschuldigt meine Zerstreutheit und geht voran!“ Der Konsul wandte sich rasch seinem Ankleidezimmer zu.

In seiner Seele war ein Aufruhr, der den Frühlingsstürmen glich; über die lichten Glücksempfindungen, welche der Gedanke an Bettinas Verlobung hervorrief, huschten finsteren, drohenden Wolken gleich die Fragen: „Was antwortest Du den Fabbris? Was hast du Ihnen zu bieten? Was wird aus Dir, wenn Deine Hilfe den Sturz dieses Hauses nicht aufhält?“ Jetzt, da er wieder allein war, kam die gespenstige Sorge zurück, und er hatte die Empfindung, als sauge sie ihm Blut und Lebensodem aus. –

Hastig schlüpfte er in den Frack und eilte aus dem engen Raum, dessen Luft ihm dumpf und schwer erschien. Im Arbeitszimmer riß er die zum Balkon führende Thür auf und trat mit einen Ausruf der Erleichterung hinaus. Hier wehte ihm der kühle Nachtwind entgegen und trug vom Thiergarten her den Duft des sprossenden Waldes, der grünenden Rasenflächen. Als seine Blicke über den Garten und den dunklen Park hinschweiften, drang aus den regungslosen Baumgruppen eine süße, lockende Vogelstimme herüber. Eine Drossel sang ihr Liebeslied und rief in seiner bewegten Seele traumhafte Bilder aus der Vergangenheit wach. Die funkelnde Sternensaat, welche jetzt aus den dunklen Himmelstiefen so goldig und verheißungsvoll auf ihn niederblickte, führte seine Gedanken in die Ferne, zu jenen Inselgruppen, auf denen er seine Jugendjahre verlebt hatte. Ihm erschienen in diesem Augenblick jene weltverlorenen Inseln wie Eilande des Friedens inmitten der unruhvollen Gegenwart, wie das Land der Seligen, von dem die Kampfesmüden träumen …

„Papa, lieber Papa, wo bleibst Du denn? Wir sind schon zu Tisch gegangen, und nur Dein Platz ist noch leer!“ Es war Bettinas Stimme, welche den Konsul jäh aus seinem Sinnen aufstörte. Und jetzt trat sie mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen zu ihm hinaus auf den breiten Balkon. „Aber bester Papa, was suchst Du denn hier draußen in der Dunkelheit? Drunten ist’s weit schöner! Der Saal erstrahlt im Licht der Kerzen, und hundert frohe Menschen ergötzen sich drin. Komm doch hinunter!“

Wesdonk legte mit liebevoller Bewegung den Arm um sein blühendes Kind und sagte: „Was ich suche, Bettina? Die Natur, der ich seit lange, lange entfremdet bin. Hörst Du den Schlag der Drossel, athmest Du den herben Duft der erwachenden Erde, siehst Du die Gestirne funkeln? Mein Kind, als mich eben der erste Frühlingshauch berührte, gingen mir seltsame Erinnerungen durch den Sinn. Es giebt Augenblicke, wo die Ereignisse auf uns eindringen wie die hochgehenden Wogen der sturmbewegten See. Alles drängt vorwärts, einer großen Entscheidung zu, aber mitten im Gewirre berührt uns ein Naturlaut und lenkt unsere Blicke rückwärts. Das ist seltsam – nicht wahr?“

„Gewiß, Papa, aber die Gesellschaft –“

„Sie wird mich noch fünf Minuten entbehren können. Bettina, mir ist beklommen ums Herz … Du stehst gleich mir vor einem großen Wendepunkt Deines Lebens, und wir wissen nicht, wie die Lose fallen. Ich hoffe, daß Dir die glücklichste Zukunft bevorsteht, aber je höher unser Weg aufwärts führt, desto mehr droht der Absturz. Ich habe soeben in Gedanken mein Leben überflogen, und weißt Du, Bettina, wo ich am glücklichsten war? Auf den weltentlegenen Inseln des Stillen Oceans. Dort, wo ich mitten unter einfachen Naturmenschen Pflanzungen anlegte und in den Erholungsstunden schwamm, ruderte, plauderte und mich an kindlichen Spielen erfreute, dort war ich frei und glücklich. Sobald ich in die Kulturwelt zurückkehrte, ging die Sorge

[9]

DIE NEUE ZEIT.

Hell von des Glühlichts Strahlenfülle
Beglänzt – welch’ neue Bahnen weist,
Aufleuchtend aus der Nebelhülle,
Du neue Zeit, dein Feuergeist?
Der Rede leihst du Blitzesschwingen
Und Sonnenhelligkeit der Nacht,
Lehrst uns den Strömen Kraft entringen,
Die unsre Kraft vertausendfacht.

Was alte Märchen uns berichten
Als Wunderwerk von Riesen, Feen
Und von des Erdgeists flinken Wichten –
Du läßt’s in Wirklichkeit ersteh’n.
Doch wie dein Licht mit Blitzgefunkel
Bis in des Bergwerks Tiefen dringt,
Trifft es auch grellen Scheins das Dunkel,
Wo Armuth mit dem Elend ringt.

Ist’s da ein Wunder, wunderreiche,
Wenn nun an eine Zukunftswelt,
Die aller Träume kühnstem gleiche,
Der Glaube die Gemüther schwellt?
Wenn dir entgegen das Verlangen
Nach einem Erden-Eden glüht,
Darinnen Sorg’ und Noth vergangen
Und allen gleiche Freude blüht!

Siehst du die tausendköpf’ge Menge?
Wie sie von Hoffnungswahn berauscht,
Vergessend ihres Daseins Enge,
Erhitzten Schwärmerworten lauscht,
Die prophezei’n: es naht das Ende
Dem Unterschied von arm und reich,
Die neue Zeit tritt in die Wende!
Es tagt der Gleichheit gold’nes Reich!

Da blickst du rückwärts in die Ferne …
Was soll das Bild: im Dämmergrau
Aufstrebend hoch bis in die Sterne,
Doch ungekrönt, ein Riesenbau –?
Was stellst du vor mein Aug’ die Fabel
Aus Morgenland und Morgenzeit
Von jenem Riesenthurm zu Babel
Und seiner kurzen Herrlichkeit?

Er sollte allen Wohnung geben,
Für gleiches Glück ein Haus, ein Dach,
Zum Himmel trotzig sich erheben,
Ein Bollwerk jedem Ungemach.
Er wuchs … bis ihnen Gott verwirrte
Die Sprache und der Bund zerfiel,
Der Schwarm zerstob und jeder irrte
Entgegen andrem Lebensziel.

Entzweit, versprengt, zog’s hin in Scharen
Gen Süd und Nord, gen Ost und West;
Die Stirne bietend den Gefahren,
Warb jeder um ein eigen Nest.
Doch in der Freiheit eig’nen Strebens
Wie wuchs die Kraft, wie schwoll der Muth!
Welch’ Quellenreichthum neuen Lebens
Und welcher Pläne frische Fluth!

Versteh’ ich, Zeit, dein ernstes Mahnen? …
„Noch ist die Sprache euch verwirrt!
Im Fühlen, Denken, Glauben, Ahnen
Ein jeder andre Pfade irrt!
Und könnt’ ich alle Uebel heilen,
Die eure Einigkeit bedroh’n,
Das Glück – es läßt sich nicht vertheilen
Wie Arbeitskraft und Arbeitslohn.

„Doch haftet auch sein holder Segen
Nicht an des Reichthums kalter Pracht,
Nicht an des Ruhms umdornten Wegen,
An Fürstenthron und Herrschermacht.
Erblüh’n kann auch im kleinsten Heime
Des Erdendaseins höchste Lust –
Es trägt zu seinem Glück die Keime
Der Mensch allein in seiner Brust.

„Die innre Kraft, mit der ihr meistert
Die Elemente der Natur,
Die euch zur Liebesthat begeistert
Empor euch weist auf meine Spur,
Lernt sie im Schutz des Rechts entfalten
Zu jeder Eigenart Gedeih’n –
Dann wird in euch das Glück auch walten
Und euer Glück das aller sein!“

 Johannes Proelß.

[10] neben mir her. Wo die Menschen sich unter engen Lebensformen zusammendrängen, wird der Daseinskampf mit Erbitterung geführt, und erbarmungslos schreiten die Sieger über die Gefallenen hinweg. Rousseau hat recht: mit der Civilisation ist auch das Elend in die Welt gekommen. Nicht in der Häufung und Verfeinerung der Genüsse, sondern in der Einfachheit beruht das Glück der Menschheit. Wohl dem, der zur Natur zurückkehren kann! Die fernen Inseln des Weltmeeres waren mein Paradies. … Doch das ist vorbei – wir müssen vorwärts, Bettina!“ – Der Konsul drückte die Tochter mit Innigkeit an seine Brust, sah ihr tief in die Augen und sagte mit bebender Stimme: „Was immer die Zukunft bringen möge, mein Kind, sei stets meiner Liebe eingedenk! Möglich, daß die Wogen über mir zusammenschlagen … Ich habe mein Bestes gethan, um Dein und Deiner Schwester Glück zu sichern.“

„Wie wunderlich Du sprichst, Papa!“ Bettina erwiderte zärtlich den Kuß des Vaters und fuhr heiter fort: „Meinst Du, ich wisse das Glück, einen guten lieben Papa zu besitzen, nicht zu schätzen? Dies Glück soll noch erhöht werden durch meine Verlobung mit einem so ritterlichen Manne wie Graf Guido ist. Was will ich mehr? Mir schwindelt fast bei dem Gedanken an all das Neue, Schöne, Unerwartete, das mir bevorsteht! Und auch der Abend Deines Lebens soll golden und friedlich werden, Papa. Was könnte ihn wohl verfinstern? Geh, Du bist überarbeitet – erhole Dich! Komm in den Saal, unter lustige Menschen, dort müssen Deine traurigen Gedanken wie Nachtschatten vor dem Licht zerrinnen.“



3.

Sobald der Hausherr mit Bettina an seiner Seite im Speisesaal erschien, grüßten ihn die engeren Bekannten der Familie durch freundlichen Zuruf. Aber ihm selbst wollte keine frohere Stimmung kommen. Die überhitzte Luft des menschengefüllten Saales legte sich bedrückend auf seine Brust, die Schwüle erschien ihm unerträglich. Und sein Unbehagen steigerte sich noch, als er seine Frau in ausgelassener Laune an einem besonderen Tisch präsidieren sah, an dem sich die Darsteller des Festspiels noch in ihren Kostümen niedergelassen hatten.

Sie kann lachen – in dieser Stunde, sagte er sich bitter, während ich aufschreien möchte vor Angst und Sorge. Und wieder trat mit voller Deutlichkeit die Gefahr seiner Lage vor sein Bewußtsein. Ihm war zu Muthe, als stehe er schwindelnd und haltlos an einem furchtbaren Abgrund, und während seine Gäste sich den Genüssen der Tafel hingaben, starrte er wie geistesabwesend auf den leeren Teller und schlürfte nur von Zeit zu Zeit ein Glas feurigen Rheinweins.

Als Frau Rosita den tiefen grüblerischen Ernst in den Mienen ihres Gatten bemerkte, nahm sie an, er lege sich den Toast auf die Verlobten zurecht. Der Konsul war ein gewandter Redner, machte jedoch nur in seltenen Fällen von seiner Begabung Gebrauch, und seine Scheu vor jedem öffentlichen Auftreten mußte immer erst durchbrochen werden, bevor seine Gedankenquelle in Fluß kam. Frau Rosita beschloß, ihm zu Hilfe zu kommen. Sie ließ ihr Glas hell erklingen, und als es still geworden war im weiten Saale, erhob sie sich lächelnd und sagte: „Mein Gatte hat seinen lieben Gästen eine Mittheilung zu machen, von der ich hoffe, daß sie die frohe Theilnahme unserer Freunde finden wird.“

Mit einer neckischen Handbewegung lenkte sie die Blicke aller Anwesenden auf den Hausherrn. Dieser fuhr erschreckt aus seinen Träumereien auf, und als er alle die forschenden Blicke gewahrte, färbte sich sein Gesicht dunkelroth vor Verlegenheit. Wie ein aufsprühender Funkenschauer wirbelten die Gedanken durch sein Gehirn. Mühsam erhob er sich vom Stuhle. Doch über die wirren Stimmen, die sein Inneres durchtönten, wurde eine übermächtig, die rief: es gilt das Glück Deines Kindes!

Und er ergriff eine volle Sektschale, die ihm sein Nachbar Horst in die Hand drückte, erhob sie mit einer unsicheren Bewegung und wollte sprechen. Aber die Gedanken verwirrten sich, es wurde mit einem Male dunkel vor seinen Augen, und er hatte das Gefühl, als senke sich die Decke des Saals auf ihn nieder und begrabe ihn unter ihrem Gebälke. Die Gesellschaft sah plötzlich die mächtige Gestalt des Konsuls wanken, das Sektglas zerbrach in seiner Hand und die Scherben fielen klirrend auf den Teller. Im nächsten Augenblick wurden die Augen des Mannes gespenstig groß und starr, dann kam der dumpfe Schrei „Luft!“ von seinen Lippen und er brach zusammen.

(Fortsetzung folgt.)




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Prosit Neujahr!

Gesundheit und ein langes Leben!
Eine hygieinische Betrachtung von Dr. J. H. Baas.

Prosit Neujahr! Gesundheit und ein langes Leben!“ In dieser Form brachte man sich in Volkskreisen am Rheine bis vor nicht langer Zeit allgemein den Neujahrsglückwunsch dar, während heute die Kultur, die alle Welt beleckt, schon bis in das einfache Dorf hinein die nüchterne oberflächliche Glückwunschkarte verbreitet hat. Sinnvoller als diese letztere war der alte Brauch gewiß, denn jener Spruch enthält in seinem zweiten Theile doch einen Wunsch, zu dessen Erfüllung jedermann durch eigenes Zuthun, durch eigene Thatkraft beizutragen vermag. Wie dies geschehen kann und soll, das wollen wir unseren Lesern als wohlgemeinte Neujahrsgabe im Folgenden kurz darlegen.

Gesund zu bleiben und alt zu werden – wann soll man anfangen, diese hohen Güter in Sicherheit zu bringen? Darauf antwortet die Gesundheitslehre, daß dies schon viel früher geschehen muß, als die meisten denken. Ist es doch eine altbekannte Thatsache, daß es Familien giebt, deren Glieder sich sämmtlich einer fröhlichen Kraft- und Lebensfülle erfreuen, und wieder andere, die von jeher mit erblichen Krankheiten belastet sind! Mit anderen Worten: Gesundheit und Altwerden sind in hohem Maße übertragbare Güter, wahrhafte Erbstücke. Schon bei jener Prüfung also, ob sich das Herz zum Herzen findet, sollten diejenigen, die es angeht, ebenso ernstlich prüfen, ob auch Gesundheit sich zu Gesundheit findet. Jedermann erhält ja gleichsam eine Anweisung auf eine gewisse Summe von Lebenskraft in die Wiege gelegt, deren Höhe und einlösbaren Betrag die ewig sich Bindenden bestimmen. Deshalb ist es auch von Wichtigkeit, in welchem Lebensalter die Ehen geschlossen werden; geschieht dies in zu frühem oder zu spätem Alter, oder sind die Gatten an Jahren zu sehr verschieden, so erleidet jenes Erbgut schon eine Verringerung. Wem aber diese Forderungen etwa zu unpoetisch und nüchtern erscheinen sollten, dem mag zur Beruhigung gesagt sein, daß darum die Lyrik nicht aufhören wird, zu blühen.

Das ins Leben mitgebrachte Gesundheitskapital muß aber auch erhalten und soviel wie möglich vermehrt werden.

Zunächst geschieht dies durch richtige Ernährung und Pflege des Kindes, beide liefern die besten Steine für die Grundmauern eines sicheren und starken Lebensbaues. Wird dieser in der Kindheit mangelhaft oder schlecht gegründet, so bricht er entweder langsam vor der Zeit auseinander oder er stürzt bei Krankheitsstürmen, die ja in keinem Leben ganz ausbleiben, jäh in sich zusammen. Trotz aller gemeinverständlichen Belehrungen über zweckmäßige Kinderhaltung wird aber fort und fort dagegen gesündigt, ganz besonders in den Kreisen, die auf ihrer Hände Arbeit angewiesen sind und für die darum körperliche Gesundheit alles bedeutet. Und was in dieser Beziehung in der ersten Kindheit versäumt worden ist, kann in der Folge nur schwer oder gar nicht mehr gut gemacht werden. Auch die meist zu kurz bemessenen Aufenthalte in Ferienkolonien, so wohlthätig sie wirken, dürfen doch nicht, wie heutzutage gerne geschieht, als eine Art Allheilmittel betrachtet werden. Darum ist und bleibt ein Hauptgebot: pflege [11] und ernähre aufs beste und sorgfältigste das Kind in seinen ersten Lebensjahren, dadurch sicherst du ihm am meisten Gesundheit und ein langes Leben!

Auf die einzelnen Vorschriften über dieses Gebiet können und wollen wir hier, wo es sich nur um Hervorhebung der hauptsächlichsten Grundsätze handelt, nicht eingehen, vor zweien der häufigsten und verhängnißvollsten Fehler aber müssen wir doch aufs nachdrücklichste warnen. Der eine besteht darin, daß man dem fast allgemein vorherrschenden Hange entwöhnter Kinder zu pflanzlicher Kost nachgiebt und darüber die Zuführung der für den Aufbau des Körpers so wichtigen thierischen Nahrung, besonders des Fleisches, gegen welches häufig ein Widerwille besteht, meist aus verkehrter Elternliebe, seltener aus nothgedrungener und noch seltener aus übel berechneter Sparsamkeit versäumt. Dieses Versäumniß bildet aber eine der Hauptursachen der so weitverbreiteten Skrophulose mit all ihren zahlreichen nicht bloß die Kinderjahre verbitternden, sondern auch für alle Zeit die Lebenskraft schwächenden Folgen. Der zweite Fehler hängt mit dem ersten eng zusammen, insofern dann, wenn die Wirkungen jenes ersten sich geltend machen, die Kinder „zur Kräftigung“ Spirituosen bekommen. Damit wird den Aermsten nur statt eines Stärkungsmittels ein gerade bei Kindern außergewöhnlich schlimm - und zwar nachhaltig schlimm – wirkendes Gift gereicht, das anfangs vielleicht vorübergehend anregt, auf die Dauer aber erfahrungsgemäß Verdauung und Nervensystem beeinträchtigt und schwere Gesundheitsschädigungen nach sich zieht. Grundsätzlich sollte man daher Kindern überhaupt keine geistigen Getränke zukommen lassen. Uebrigens gilt das Vorstehende auch noch für das Knaben- und Mädchenalter in seinem vollen Umfange.

Während des letzteren Lebensabschnittes nun, der zugleich die übliche Schulzeit umfaßt, erwächst die Aufgabe, die verschiedenen Körperfunktionen vor nachhaltiger Störung durch einseitige Ausnutzung einzelner zu bewahren. Ganz besonders muß verhütet werden, daß Gehirn und Nervensystem auf Kosten der Blutbildung und der Muskelthätigkeit überangestrengt werden. Die Erkrankungen des Nervensystems entstammen ganz gewiß zum großen Theil dem gerade in das Alter raschesten Körperwachsthums fallenden „Drill“ des Gehirns und damit des Nervensystems, welcher der Schule als Aufgabe zugetheilt ist. Die häusliche Erziehung und Ueberwachung muß daher mit der Schule zusammenwirken, um die bei den Ansprüchen des modernen Lebens nicht zu umgehende verhältnißmäßige Ueberbürdung des Nervensystems während der Lernzeit möglichst unschädlich zu machen. Die kurzen zwischen die einzelnen Schulstunden eingeschobenen Unterrichtsunterbrechungen mit Aufenthalt und Spiel in freier Luft und die wenigen Turnstunden in der Woche reichen dazu bei weitem nicht aus. Die Eltern müssen dafür Sorge tragen, daß die Ernährung der Kinder eine möglichst gute sei und daß durch reichliche Bewegung in frischer Luft während der schulfreien Zeit, durch Spielen und Spazierengehen, Baden und Schwimmen, Schlitten- und Schlittschuhfahren u. s. w., dann aber auch durch körperliche Arbeit, z. B. im Garten, und durch ausreichenden Schlaf der lebhaften Inanspruchnahme des Nervensystems das Gleichgewicht gehalten werde. Dann erst werden die Klagen über die sogenannte „Ueberbürdung“ und ihre Folgen für das gesammte Körperleben der Kinder verstummen. Gar viele Eltern sind aber der Meinung, daß sie aller Sorge für die gesundheitsgemäße Entwicklung der Kinder enthoben seien, sobald sie diese der Schule übergeben haben. Gerade das Gegentheil ist der Fall; gerade die Eltern müssen das thun, was die Schule nicht kann, sie müssen darüber wachen, daß außerhalb der Schulzeit die anderen Körperfunktionen, das Athmungs- und Verdauungssystem, die Muskulatur u. s. w., zu ihrem Rechte kommen.

Es ist nun einmal nicht zu ändern, daß wir die Jugend während eines Lebensabschnittes, der durch großen Bewegungstrieb sich auszeichnet und dadurch auf die Forderung der Natur nach hauptsächlicher Entwicklung des Muskelsystems hinweist, in die Schule schicken und damit zu einer vorzugsweise sitzenden Lebensweise verdammen müssen Aber diese Versündigung gegen die Natur sollte, wenigstens soweit es ohne Schädigung des Zwecks irgend angeht, durch ausgedehnte Befreiung vom Zwange des Sitzens unschädlich gemacht werden. Von diesem Standpunkte aus ist der ausschließliche Vormittagsunterricht der allein empfehlenswerthe; in diesem Sinne sollte auch die Gesetzgebung eingreifen, wie man in der Gewerbeordnung die hier in Betracht kommende Altersstufe ja auch vor naturwidriger Ausbeutung ihrer körperlichen Arbeitskraft geschützt hat.

Die folgende Lebensstufe, welche bei den sogenannten „höheren“ Berufsarten auch noch für die Schule beansprucht wird, ist die Zeit tiefgreifender Aenderungen im körperlichen und geistigen Leben des einzelnen, die der Entwicklung; sie hat für Jüngling und Jungfrau neue Gesundheitsgefahren im Gefolge, und dazu fällt in sie gewöhnlich auch die für das fernere körperliche Befinden so wichtige Berufswahl mit ihren - oft verhängnißvollen – Mißgriffen. Es ist ja die Berufswahl erfahrungsgemäß einer der schwierigsten Schritte im menschlichen Leben, und es wirken meist eine ganze Menge von Umständen bestimmend auf sie ein. Immer aber sollte dem hygieinischen Gesichtspunkt mehr Gewicht eingeräumt, der körperlichen Anlage des Individuums mehr Rechnung getragen werden; die ererbten oder gegebenen leiblichen Fähigkeiten und geistigen Kräfte sollten viel mehr Berücksichtigung finden als z. B. Familienüberlieferung, spätere äußere Stellung, wirtschaftliche Bedürfnisse u. dgl., welche so oft allein den Ausschlag geben. Oder wäre es nicht verkehrt, einen Muskelschwachen zu einer schweren oder auch nur sitzenden Lebensweise, einen Lungenschwachen zu einer Beschäftigung in Staub und Stube, einen Nervenschwachen zu vorzugsweise geistiger Arbeit zu bestimmen? Wie oft wird bei der Berufswahl ein Arzt zu Rathe gezogen? Fast nie! Statt dessen erfahrene Tanten und unwichtige Vettern umsomehr, ohne Frage meist ganz brave Leute, die aber nicht begreifen können, daß z. B. ein Brustschwacher besser zum Landwirth oder Gärtner taugt als zum Uhrmacher oder Schreiber. Auf diese Weise werden bedauerlicher Weise ganze Berufszweige mit körperlich dazu nicht geeigneten Leuten belastet, wie derjenige der Schneider mit skrophulösen und lungenverdächtigen Jungen, jener der Nähterinnen mit ebenso veranlagten oder blutarmen und nervenschwachen Mädchen.

Mit der Lebensstufe des Mannes und der Frau treten wir ein in das Alter der produktiven Arbeit.

Arbeit als solche ist anerkanntermaßen eines der besten Mittel, die Gesundheit zu erhalten und ein langes Leben sich zu sichern, wenn nur das richtige Maß nicht überschritten wird. Welches aber ist das richtige Maß? Die Antwort darauf ist sehr schwer zu geben, sie läßt sich nicht in Zahlen fassen, weil die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen eine zu verschiedene und wechselnde ist. So viel jedoch kann man sagen, daß das richtige Maß dann eingehalten ist, wenn die Arbeit nicht das Gefühl der Uebermüdung, das heißt nachwirkender Ermattung, zurückläßt, wenn der Mensch, sei seine Beschäftigung nun eine vorwiegend geistige oder vorwiegend körperliche, „frisch zur Arbeit“ bleibt, so daß er die Aufgabe der folgenden Stunde, des kommenden Tages ebenso leicht erfüllen kann wie vorher.

Ruhepausen sind bei jeder Arbeit nothwendig, da die dem Willen unterworfenen muskulösen Arbeitsorgane, die Arme, Hände etc., ihrer Natur nach nicht in einem fort wie eine Dampfmaschine, sondern nur mit zeitweisen, wenn auch nur über Bruchtheile einer Minute sich erstreckenden Unterbrechungen, also ruckweise thätig sein können. Diese dem Arbeitenden selbst stets unbewußten Ruhepausen lehrt uns eine genauere Beobachtung kennen. Sehen wir z. B. einem hobelnden Schreiner zu, so folgt auf jeden Vorstoß des Hobels ein ganz kurzer Stillstand, bevor das Geräthe zum nächsten Stoß zurückgezogen wird. Diese unbewußte, nur sekundenlange, aber regelmäßig sich wiederholende Pause dient einestheils zur Bildung des für die Einleitung des nächsten Hobelstoßes nöthigen neuen Willensakts und ermöglicht anderntheils ein wenn auch noch so kurzes Ausruhen der vorher thätig gewesenen Muskeln, während dessen sie sich zu erholen vermögen. Man glaubt gar nicht, welche Wichtigkeit diese kleinen Unterbrechungen haben. Sind sie z. B. zu kurz, wenn auch nur um Theile einer Sekunde zu kurz, folgen sich also die Hobelstöße zu rasch, wie dies bei hastiger Arbeit der Fall ist, so werden die Muskeln über Gebühr angestrengt, und die Folge ist dann durch Häufung dieser kleinsten Ausfälle an Ruhe das Gefühl der Uebermüdung. Jede eilige, überhastete Arbeit – nicht gleichbedeutend mit fleißiger, stetiger Arbeit – ist also hygieinisch falsch. Um möglichst ausdauernd arbeiten zu können, muß man die naturgemäßen Pausen zur Erholung der Muskeln richtig einhalten; das gilt für jede [12] körperliche, ja in sinngemäßer Anwendung auch für die geistige Thätigkeit. Davon verschieden, aber ebenfalls nothwendig, sind die längeren Pausen zwischen den Arbeitsstunden. Sie sind dazu da, um die schließlich doch eintretende Ermüdung nicht bis zur Erschöpfung sich steigern zu lassen.

So viel von der Arbeit; und nun noch ein kurzes Wort über die Familiengründung! In letzterer Beziehung ist statistisch nachgewiesen, daß das Leben im Familienverbande die Gesundheit besser wahrt als das Junggesellen- oder Altjungfernthum, daß also das Eingehen einer Ehe eine lebenverlängernde That ist. –

Stand das Mannesalter hauptsächlich unter dem Zeichen der Arbeit, so steht das Greisenalter infolge des naturgemäßen Nachlasses der Kräfte mehr unter dem Zeichen der Ruhe. Doch ist zu betonen, daß selbst für dieses Alter noch, wenn auch mit Einschränkung, das Wort gilt: „Rast ich, so rost ich!“ Nur muß die Arbeit natürlich der verringerten Leistungsfähigkeit entsprechend von leichterer Art und kürzerer Dauer, die Erholungsfrist reichlicher bemessen sein. Die Ernährung muß dem schwächeren Zustande der Verdauungsorgane angepaßt werden, indem sie sich vorwiegend auf solche Speisen gründet, welche leichte Verdaulichkeit mit möglichst hohem Nährwerthe verbinden. Der alte Kaiser Wilhelm führte nach diesen beiden Richtungen hin ein wahres hygieinisches Musterleben: er arbeitete bekanntlich regelmäßig bis ins höchste Alter und nährte sich äußerst einfach, in der Hauptsache mit konzentrierter flüssiger Speise. Kann nun freilich auch nicht jedermann sich eine „Kaisersuppe“ gestatten, so kann doch jeder seinen Mitteln entsprechend nach den gleichen Grundsätzen verfahren. Ganz besonders gewarnt werden muß vor den im höheren Alter irrthümlich für zuträglich geltenden alkoholhaltigen Stärkungsmitteln; ihr Genuß bewirkt zwar im günstigen Falle eine künstliche Anregung der Körperkräfte, schlägt in seinen Folgen aber leicht in das Gegentheil um und führt oft zur Zerreißung der im Alter höchst brüchigen Gehirngefäße, also zu Schlaganfällen. Endlich muß noch der geringeren Widerstandsfähigkeit des Körpers gegenüber schädlichen atmosphärischen Einflüssen Rechnung getragen werden; die Kleidung sowohl wie die nächtliche Bedeckung sollte der geringeren Wärmeerzeugung wegen eine dichtere und sorgfältigere sein, besonders im Winter, während dessen für alte Leute auch eine etwas höhere Zimmertemperatur am Platze ist. – Die letzterwähnte Erfahrung leitet uns noch zur Betrachtung einiger höchst wichtiger äußerer Lebensbedingungen hinüber.

Von hoher Bedeutung ist vor allem die Beschaffenheit unserer Wohnung. Daß dieselbe auf trockenem Grunde erbaut sein muß, daß auch die Mauern nicht feucht sein dürfen, daß Licht und Luft möglichst freien Zugang haben sollen u. s. w., das sind ziemlich allgemein bekannte, wenn auch nicht allgemein befolgte Lehren der Gesundheitspflege. Ebenso bekannt ist, daß nicht bloß grober Staub, schädliche Ausdünstungen von Gruben und Oefen, sondern auch oft jene kleinsten Lebewesen, „Bakterien“ genannt, die Gesundheit der Bewohner gefährden. Daß die Bakterien aber jedesmal, wenn sie, wie das meist der Fall ist, infolge von Krankheiten in die Wohnränme eingedrungen sind, ernste und sorgfältige Vernichtungsmaßregeln erheischen, damit sie sich nicht einnisten und zu fortdauernden Gefahren für die Gesunden werden, ist noch zu wenig in das allgemeine Bewußtsein eingedrungen, und der Kampf gegen diese unsichtbaren Feinde wird deshalb noch viel zu lässig geführt.

Doch nicht allein die Wohnung selbst, sondern auch deren nähere und weitere Umgebung spielt im Haushalt der Gesundheit eine wesentliche Rolle. Um nur einzelnes zu erwähnen, so haben oft genug schon in den Straßen liegende undichte Gasröhren die Bewohner benachbarter Gebäude gefährdet, desgleichen gesprungene Kanalisationsröhren oder von fern her in das Grundwasser eingedrungene Verunreinigungen. Endlich erfordert das Klima unseres Wohnortes oft besondere Veranstaltungen, um schädliche Einflüsse auf unsere Gesundheit zu beseitigen, doch würde es zu weit führen, wollten wir die daraus erwachsenden Aufgaben alle einzeln der Besprechung unterziehen. Haben doch unsere Betrachtungen hier nur den Zweck, die Aufmerksamkeit der Leser von einigen Hauptgesichtspunkten aus darauf zu lenken, daß Gesundheit und langes Leben zwar einestheils ein Geschenk der Götter sind, anderntheils aber auch in sehr hohem Maße ein Ergebniß unseres Thuns und Lassens. Die Thatkraft denkender Menschen in diesem Sinne anzuregen, war die Absicht dieser hygieinischen Skizze: unser Neujahrswunsch soll zugleich eine Mahnung sein, mit selbstthätiger Sorge einzutreten für Gesundheit und ein langes Leben!


Der Tod der Kaiserin Agrippina.

Von Ernst Eckstein.

Die blutige Nachtgestalt, die uns von den Geschichtschreibern Roms unter dem Namen des Nero gezeichnet wird, empfängt ihren grausenhaftesten Schatten durch das Verbrechen des Muttermords. Diese Unthat allein – vorausgesetzt, daß sie wirklich mit jener vollkommenen Klarheit des Wollens verübt worden wäre, die den alten Geschichtschreibern für unzweifelhaft gilt, – würde ausreichen, um den Sohn der Ermordeten unter sämmtlichen Vertretern cäsarischer Herzlosigkeit und Verworfenheit auf die niedrigste Stufe zu stellen – tiefer noch als den abscheulichen Wüstling Tiberius, tiefer als den größenwahn-strotzenden Buben Caligula, tiefer sogar als den erbärmlichen, grausamen, jeder Würde entrathenden Domitian. „Die andern Verbrechen,“ sagt ein griechischer Philosoph, „gehen lediglich wider das Recht und die Gebote der Gottheit: der Muttermord aber geht noch außerdem wider alle Natur.“

Hätten die alten Geschichtschreiber mit ihrer schwarz in schwarz gehaltenen Schilderung also die Wahrheit getroffen, so wäre es völlig undenkbar, für die Persönlichkeit Neros auch nur die leiseste Regung einer halb widerstrebenden Sympathie zu erwecken, wie man sie doch beispielsweise einem Napoleon, trotz der empörenden Rechtsverletzungen, die sein Konto belasten, trotz Palms und des Herzogs von Enghien, nicht vorenthält.

Bei genauerer Prüfung jedoch stellt sich heraus, daß die Ermordung der Agrippina, soweit der Wille des Kaisers dabei in Betracht kommt, halb schon ein Akt der Verzweiflung war.

Natürlich spricht das den Muttermörder nicht frei: aber es wirkt doch immerhin wesentlich auf die Abschätzung seiner Schuld, auf die Beurtheilung des größeren oder geringeren Grades sittlicher Niedertracht und Verkommenheit, der ihm eigen war.

Wenn uns die drei Geschichtschreiber, die vornehmlich als Quellen für Neros Regierungszeit gelten – Sueton, Dio Cassius und Tacitus – beinahe gar nicht auf diese „mildernden Umstände“ hinweisen, so erklärt sich das aus der einfachen Thatsache, daß ein möglichst düster gefärbtes Bild Neros ihnen aus Gründen der Politik und der republikanischen Propaganda äußerst willkommen war. Ohne bewußt zu fälschen, waren sie doch geneigt, den Gerüchten ihr Ohr zu leihen, welche den „schlechten“ Imperatoren ungünstig waren. Fast durch die ganze Litteratur der ersten zwei Jahrhunderte geht ein republikanischer oder besser gesagt: senatorischer Zug. Der Hochadel, der bis zur Begründung der Monarchie mit schier unumschränkter Machtvollkommenheit das Schicksal des Reiches gelenkt hatte, konnte und wollte es nicht verschmerzen, daß da nun im Palatium ein Fürst saß, der unter scheinbarer Aufrechterhaltung der republikanischen Einrichtungen die schroffste Alleinherrschaft ausübte. Nero vollends, der mit dem „dritten Stand“ unverstellt liebäugelte; der die Verachtung der römischen Großen soweit trieb, daß er einst bei dem üblichen Frühempfang in einer geblümten Tunika, d. h. im Schlafrock, erschien, anstatt sich die feierliche Toga über die Schulter zu werfen; Nero, der einem Mitglied der hohen Körperschaft das Wort ins Gesicht warf: „Ich hasse Dich, weil Du Senator bist!“ –: Nero war für den Hochadel ganz natürlich der Inbegriff alles Verabscheuenswerthen. In diesem Geiste aber urtheilen, schreiben und schildern fast sämmtliche Schriftsteller der früheren Kaiserzeit. Nur solche Imperatoren werden als „gute“ bezeichnet, die nachgiebig und rücksichtsvoll gegen den Adel sind – ganz jenem altpreußischen Junkerverslein entsprechend, das mit den Worten schließt:

„Und der König absolut,
Wenn er unsern Willen thut.“


[13]

Photographie-Verlag von Jos. Albert in München.
Neckereien.
Nach einem Gemälde von E. Spitzer.

[14] Die meisten Frevelthaten, die den „schlechten“ römischen Kaisern zur Last fallen, sind denn auch gegen Mitglieder des ersten Standes gerichtet. Gütereinziehungen, willkürliche Hinrichtungen, Verbannungen und Beschimpfungen treffen fast nur Senatoren. Da nun der Hochadel seinen Sitz ausschließlich in Rom hatte, so tritt das jedenfalls merkwürdige und seltsame Ergebniß zu Tage, daß die meisten der „schlechten“ Kaiser – vor allem Nero – in der Provinz für ausgezeichnete Herrscher galten.

Die rückhaltlose, jedem Versuch einer Milderung abholde Verurtheilung Neros in Sachen der Agrippina wurzelt überdies in dem echt menschlichen Gefühle des Mitleids. Agrippina war die verkörperte Ruchlosigkeit; mit kaltem Blute hat sie alles, was ihrem Ehrgeiz im Wege stand, meuchlings niedergemacht. Aber die Frevel, die sie beging, standen sozusagen im Dienst ihrer Mutterliebe. Ihr Sohn war ihr Abgott; ihm auf den Thron zu verhelfen, ihm die Herrschaft gegen alle wirklichen und vermeintlichen Nebenbuhler zu sichern, das betrachtete sie von Anbeginn als die einzige Aufgabe ihres Lebens. Eigene Herrschgelüste mögen dabei noch so ausgiebig mitgespielt haben: man ist dennoch geneigt, ihre Mißgriffe, ihre Ausschreitungen, ja, ihre Verbrechen minder schroff zu verdammen; wie denn die Mutter in Tennysons „Lady Clare“ keinen besseren Weg zur Verzeihung der Tochter kennt als die Worte:

„Mein Kind, ich sündigte ja für Dich!“

Daß nun die Kaiserin Agrippina durch die Veranstaltungen dieses nämlichen Sohnes, für den sie mit solcher Hartnäckigkeit gekämpft und gewüthet hat, hinterrücks aus der Welt geschafft wird; ja, daß sie den Meuchelmord lange Stunden hindurch gleichsam fühlt und erlebt, weil der erste Anprall mißlingt; daß sie die maßlose Bitterniß auskosten muß, für die lange Kette von Tücken und Missethaten, mit denen sie, ihrem Sohn zu Gefallen, ihr Gewissen belastet hat, nicht einmal so viel Liebe zu ernten wie die Hündin, die den verwaisten Löwen auffängt: das bedeutet ein Schicksal von wirklich erschütternder Tragik – und erzeugt in uns eine Stimmung, die nicht dazu angethan ist, nach abschwächenden Umständen zu suchen.

Etwas anders liegen die Dinge, wenn wir an der Hand nicht zu bezweifelnder geschichtlicher Daten den seelischen Zustand prüfen, in welchem sich Nero befand, als er den Einflüsterungen seiner Umgebung, die ihn seit lange zu dem fürchterlichen Entschluß drängte, schließlich Gehör gab.

Die Sachlage war die folgende.

Die kaiserlichen Rathgeber – der Prätorianergeneral Burrus und der Staatsminister Lucius Annäus Seneca – lagen schon seit geraumer Zeit mit der Kaiserin-Mutter im Kampfe um die Regentschaft – das heißt um Sein oder Nichtsein, um Leben und Tod. Vielleicht in Vertheidigung persönlicher Interessen, jedenfalls aber auch zum Wohle des Reiches, das sie vortrefflich verwalteten, hatten sie den leicht erregbaren Fürsten planmäßig gegen die Mutter verhetzt, deren frühere Einmischung in die Regierungsgeschäfte dem altrömischen Mannesbewußtsein schroff widersprach, deren späteres Verhalten mancherlei höchst bedenkliche Züge aufwies. Die schöne Poppäa Sabina, deren Einfluß auf Nero damals schon ungeheuer war, diese Todfeindin Agrippinas, schloß sich – natürlich nur aus schnödester Selbstsucht – diesen Bestrebungen an und lieh der mehr theoretischen Thätigkeit der Minister das Praktische, Unmittelbare. Halbvergessene Gerüchte bauschte sie auf; Aeußerungen, die Agrippina im Zorne gethan, deutete sie als unwillkürliche Offenbarungen einer verderblichen Willensmeinung; sie hetzte, sie log – und hatte so bei dem rasend verliebten Cäsar ein leichtes Spiel, zumal ihr die Brusttöne der Ueberzeugung ebenso reich zu Gebote standen wie die Thränen einer erheuchelten Angst und Entrüstung. Nero war thatsächlich des festen Glaubens, Agrippina trachte ihm nach dem Leben – und den Ministern, deren Köpfe nicht sonderlich fest saßen, wenn Agrippina den verloren gegangenen Einfluß wieder gewann, kam dieser Glaube äußerst gelegen. Vielleicht auch dünkte ihnen die Möglichkeit eines feindseligen Vorgehens der Agrippina gegen den Kaiser gar nicht so unwahrscheinlich. Ein Mordanschlag auf den widerspenstigen Sohn war – so konnte es scheinen – nur die Krönung der bisherigen agrippinischen Politik, die logische Blüthe ihrer von Anfang an bethätigten Staatsweisheit.

Früher schon waren Versuche gemacht worden, den Kaiser zum Einschreiten gegen die Revolutionsbestrebungen Agrippinas aufzustacheln. Junia Silana, gleichfalls eine persönliche Gegnerin Agrippinas, hatte die zwischen Mutter und Sohn bestehende Spannung benutzt, um die erstere des Hochverraths zu bezichtigen: Agrippina sollte den Plan hegen, einen Verwandten des Augusteischen Hauses, Rubellius Plautus mit Namen, auf den Thron zu erheben. Mit klügster Berechnung hatten die Feinde der Kaiserin-Mutter die Stille der Nacht, als Nero im Kreise seiner Vertrauten ahnungslos die Freuden des Bechers genoß, dazu ausersehen, ihm die große Gefahr, in der sein Haupt und sein Thron schwebe, zur Kenntniß zu bringen. Man hoffte, durch diese unvermittelte Plötzlichkeit sofort einen Haftbefehl zu erwirken. Damals war die Sache für Agrippina noch vortheilhaft ausgegangen. Sie hatte sich mit sieghafter Schlagfertigkeit gegen die Verleumdungen Junias vertheidigt.

Jetzt aber, unter dem Einfluß der ränkevollen Poppäa, bekam Altes und Neues ein verändertes Ansehen. Poppäa war unermüdlich im Beibringen neuer „Symptome“; sie bot alle Künste ihres weiblichen Komödiantenthums auf und erzeugte so in der Seele des Kaisers, was ihm fast den Verstand raubte: die Gewißheit eines bevorstehenden Staatsstreiches und hiermit zugleich die eines Mordanschlags auf ihn selbst.

Wenn sich Nero bei diesem Anlaß die Frage vorlegte, ob Agrippina eines so fürchterlichen Verbrechens fähig sei, so durfte er sich diese Frage bejahen. Bis jetzt hatte die Kaiserin-Mutter in der Verfolgung ihrer politischen Pläne keine, aber auch gar keine Schranken gekannt. Weshalb sollte sich ihre Vernichtungswuth gegebenen Falls nicht auch wider den eigenen Sohn kehren? Daß Agrippinas Erbitterung über die Selbständigkeit, die Nero bekundete, stündlich im Wachsen war, daß ihr verwundeter Ehrgeiz sich in den allergehässigsten Ausfällen erging, das war für niemand Geheimniß. Die Kluft zwischen Mutter und Sohn schien fürderhin unüberbrückbar; Agrippina trug zweifelsohne die Schuld daran und gerade dies Schuldgefühl, dies Bewußtsein, unklug und ihrem eigenen Vortheil zuwider gehandelt zu haben, mochte sie rasend machen. Nicht zufrieden mit der Ausübung der ihr zustehenden Pflichten und Rechte, hatte die Kaiserin durch ihre maßlosen Uebergriffe die Opposition der Minister und der Volksmeinung geradezu muthwillig herausgefordert. Nicht viel hätte gefehlt, daß sie gemeinschaftlich mit ihrem damals noch „gehorsamen“ Sohne sich in die Versammlungen des Senates begeben und dort „im Augesichte des Erdkreises“ die eigentliche Herrscherin des Reiches gespielt hätte. Auf die Dauer war diese Weiberherrschaft nicht haltbar. Auch Nero hatte die Ueberzeugung gewinnen müssen, daß die „beste der Mütter“, wie er sie an dem Tag seiner Thronbesteigung genannt hatte, das Ansehen des Staats gefährde.

Der erste Schritt, den er dann – wirklich nothgedrungen – that, um Agrippina in die ihr gebührende Stellung zurückzuweisen, hatte sofort ihren Zorn entfesselt, trotz des Zartgefühls, mit welchem der kleine Wink, fast nur der Kaiserin-Mutter selber verständlich, zur Ausführung gebracht worden war. Es handelte sich um den Empfang einer fremdländischen Gesandtschaft. Nero saß bereits auf dem erhöhten Prunksessel, als Agrippina erschien, um wie eine Gleichberechtigte neben ihm Platz zu nehmen. Da befolgte der Fürst den Rath seines Ministers Seneca. Eiligst erhob er sich, ging ihr entgegen, küßte sie und „vereitelte so – denn die weitere Verhandlnng wurde zur ebenen Erde geführt – durch scheinbare Pietät ihre Absicht, die so sehr gegen alles Herkommen war.“

Hiermit waren die guten Beziehungen zwischen Mutter und Sohn ein für allemal aus den Fugen gebrochen – und Feindseligkeit folgte auf Feindseligkeit.

Als Nero endlich – nach mancherlei mehr oder minder bedeutsamen Zwischenfällen die vornehmste und einflußreichste Kreatur der Kaiserin-Mutter, den Verwalter des Staatsschatzes Pallas, auf Senecas Rathschlag entließ, tobte die beleidigte Agrippina wie eine Wahnwitzige. Unglaublicherweise verstieg sie sich zu der Drohung, sie werde die Prätorianer – die Gardesoldaten – veranlassen, den längst zur Seite gedrängten Britannicus, den rechtmäßigen Erben der Kaiserwürde, durch eine Revolution auf den Thron zu erheben. „Fort mit dem elenden Thronräuber, der nur eines gelernt hat: seine Mutter vor aller Welt zu beschimpfen!“

[15] Diese Sprache war deutlich. Was Wunder, daß sie, von den Lippen Poppäas hundertfach wiederholt und durch neue „Beweise“ wirkungsvoll unterstützt, dem Kaiser endlich die Ueberzeugung beibrachte, er sei in der That, so lange sich Agrippina am Leben befinde, des eigenen Lebens nicht sicher – dieses wonnigen, freudetrunkenen Lebens, das er mit einer so unersättlichen Gier umarmte, von dem zu scheiden ihm später sogar in den Tagen des Unheils über die Maßen schwer ward! Neros Umgebung, die sich von der zürnenden Kaiserin-Mutter allerdings jeder Gewaltthat zu versehen hatte, während die Anschläge auf das Leben des Kaisers schon um deswillen wenig wahrscheinlich sind, weil Agrippina durch den Tod des Imperators ihre eigene Stellung schwerlich verbessert hätte – die Umgebung also hat es gewiß an hochtrabenden Redensarten zur Beschönigung dessen, was sie erstrebte, nicht fehlen lassen. Die Phrasen von dem Wohle des Reiches, von der Pflicht und dem Rechte der Notwehr etc. lagen ja auf der Hand. Kurz, Nero faßte – es war im Jahre 59 n. Chr. Geb. – nach langem, zaghaftem Widerstreben den fürchterlichen Entschluß, „zu töten, um nicht getötet zu werden“.

Die Erinnerung an die gefühlsrohe Kaltblütigkeit, mit der einst die Kaiserin ihrerseits Opfer um Opfer geschlachtet, mag wohl diesem Entschlusse fördernd zu Hilfe gekommen sein. Wie tückisch hatte sie ihren eigenen Gemahl, den Kaiser Claudius, Neros Stiefvater, aus dem Wege geräumt! Mit der Miene zärtlicher Fürsorge schob sie ihm aus einer Schüssel mit Pilzen den schönsten zu – und dieser schönste war durch die Giftmischerin Locusta mit tödlichem Safte getränkt! Fast noch scheußlicher hatte sich Agrippina bei der Ermordung der Lollia Paullina geberdet, die eine Mitbewerberin um die Hand des vergifteten Imperators gewesen war. Sie ließ sich den Kopf der Getöteten in den Palast bringen, um sich persönlich von der richtig vollstreckten That zu überzeugen. Wenn sich der Kaiser diese und andere Züge einer menschenunwürdigen Niedertracht vorstellte – und mit der Ausmalung solcher Geschichten wird die schlaue Poppäa ebenso wenig gekargt haben wie der Mephisto des damaligen Palatinus, der feile, charakterlose Sportsmann und Vergnügungskommissar Tigellinus, – dann mochte er auch das Schlimmste für möglich halten: die Verwirklichung jener angedrohten blutigen Revolution.

Der geistige Urheber des Ueberlistungsplanes war der Freigelassene Anicetus, der Oberbefehlshaber der am Cap Misenum ankernden Flotte.

Dieser erbärmliche, käufliche, zu jeder Unthat erzbereite Halunke, der auch später in dem Skandalprozeß gegen die unglückliche Octavia eine so traurige Rolle spielte, sann sich – jedenfalls in Gemeinschaft mit Poppäa Sabina – ein geradezu teuflisches Bubenstück aus. Man bediente sich nämlich der einzigen menschlich-rührenden Seite im Charakter der Agrippina, ihrer trotz aller Verbitterung fortglimmenden Mutterliebe, als einer Waffe, um sie gerade in dem Augenblick zu zermalmen, wo ihr Herz, von dem Groll über die „Anmaßung des pietätlosen Knaben“ befreit, an die völlige Wiederherstellung des früheren zärtlichen Verhältnisses glaubte. In dem ganzen Verfahren liegt sonach etwas von jener hassenswerthen Gemeinheit, die wir mit dem Begriffe des Judaskusses verbinden.

Nero befand sich damals in dem altrömischen Welt- und Modebad am tyrrhenischen Meere, zu Bajä, wo er ein üppiges Landhaus besaß, während die Kaiserin Agrippina jenseit des Golfes in Bauli verweilte. Der junge Kaiser, dem die ränkevolle Poppäa den Plan des Flottenbefehlshabers Anicetus nach und nach beigebracht hatte, schrieb nun von Bajä aus einen heuchlerisch versöhnenden Brief an die Fürstin, sprach darin sein Bedauern über die stets wachsende Kluft zwischen Mutter und Sohn aus, erklärte die Handlungsweise der Agrippina und seine eigene für den Ausfluß übererregbarer Temperamente und bot ihr die Hand zum vollkommenen Ausgleich. Damit auch die Welt erfahre, daß keinerlei Groll mehr zwischen den beiden obwalte, lud er die Mutter ein, ihm zu Bajä einen freundschaftlichen Besuch abzustatten.

Agrippina – und das spricht gar deutlich für die Aufrichtigkeit ihrer Liebe zu Nero – ging sofort in die Falle. Sie, die mißtrauische Verbrecherin, die allenthalben Verrath witterte, die keine Speise genoß, ohne sie durch den „Vorprüfer“ kosten zu lassen; die stets Gegengift bei sich trug: sie hielt es für ausgeschlossen, daß ein Sohn, der sich mit solchen herzentquellenden Tönen an seine Mutter wendete, Arges im Schild führen könne. In ihrer Freude erwog sie nicht, wie meisterhaft ein falsches, ehrgeiziges Weib jedes Gefühl zu erheucheln versteht, wenn sie dadurch ihre Zwecke fördert; sie ahnte nicht, daß Nero diesen „kindlichen“ Brief unter dem Einfluß ihrer Todfeindin Poppäa Sabina geschrieben hatte.

Alsbald gab sie die Antwort: „Ich komme“ – und dem Versprechen folgte die That. Mit einem nach damaligen Begriffen sehr kleinen Gefolge erschien Agrippina in dem bajanischen Landhaus.

Sie wurde von Nero mit großer Herzlichkeit, ja mit Rührung empfangen, köstlich bewirthet und dann – die Sonne war längst in das Meer gesunken – nach einem verschwenderisch ausgestatteten Prunkschiff geleitet, das die Ueberglückliche durch die sternhelle Frühlingsnacht wieder heimbringen sollte.

Dieses Prunkschiff war eine von Anicetus erbaute Höllenmaschine. Der Mann hatte, wie Dio Cassius erzählt, einmal im Theater mit angesehen, wie ein Schiff von selbst auseinander ging, einige wilde Thiere entlud und dann wieder in seine Fugen zurückkehrte. Sofort war ihm der Plan gereift, „im Dienste der Staatsklugheit“ ein ähnliches Schiff zimmern zu lassen und es den Herren Gewalthabern zur Verfügung zu stellen.

Ehe Agrippina das Schiff bestieg, umarmte Nero die Mutter noch mehrmals mit stürmischer Heftigkeit. „Er drückte sich fester und enger an ihre Brust,“ wie der Geschichtschreiber Tacitus sagt. Man hat in diesem Gebahren des Kaisers das Uebermaß herzloser Heuchelei, den Gipfelpunkt einer widerlichen Schauspielerei erblicken wollen. Ich glaube, mit Unrecht. Selbst Tacitus giebt die Möglichkeit zu, daß „der letzte Anblick der dem Tode geweihten Mutter“ in dem Gemüth des entarteten Sohnes wirkliche Kämpfe hervorrief, ein letztes banges Gefühl: „Laß sie nicht fort!“ Psychologisch ist das ebenso denkbar wie die Küsse Othellos, eh’ er die schlafende Desdemona erwürgt.

Und die Fahrt ging in den schweigsamen Golf hinaus. Die Nacht war entzückend. Kein Hauch in der Luft, kein Kräuseln im Meeresspiegel. Das ferne entschwindende Cap Misenum, die villenbesäeten Hügel – alles schien wie in bläulichen Duft getaucht.

Agrippina saß mit ihrer Vertrauten Acerronia unter dem Baldachin und besprach die Ereignisse dieses glücklichen Tages. Alles wandte sich ja zum guten! Ihr Sohn hatte aufs neue die Grenzen gefunden, wo ihr mütterliches Recht begann. Er hatte gelobt, diese Grenzen zu achten, ihr fest zu vertrauen, ihrem Rath zu gehorchen, solange sie athmete.

„Wie bist Du beneidenswerth!“ flüsterte Acerronia.

Da plötzlich erscholl ein furchtbares Krachen, ein Prasseln, ein wildes mark- und beindurchdringendes Angstgeschrei. Das Fahrzeug des Anicetus hatte sich wie von selbst in drei Theile zerlegt, von denen der mittlere, auf welchem der Baldachin der Kaiserin-Mutter stand, bleischwer hinabsank. Ehe Agrippina recht zur Besinnung kam, hörte sie rechts und links das dunkle Gewässer gurgeln. Die salzige Fluth schloß sich schäumend über ihrem Haupte.

Mit ein paar kräftigen Armbewegungen rang sie sich wieder empor. Sie hörte die Hilferufe der jungen Sklavinnen, das Jammergeschrei der verzweifelnden Acerronia. „Rettet mich!“ schrie diese, „ich bin die Mutter des Kaisers.“

Ein Hagel von Ruderschlägen war die Antwort auf diese Nothlüge. Acerronia versank unter dem Hohngelächter der Schiffsknechte, die sämmtlich verkappte Seesoldaten des Anicetus waren.

Agrippina begriff natürlich sofort den ganzen Zusammenhang, und die grausenhafte Enttäuschung, der wüthende Schmerz über die Unthat des Sohnes, dem sie so blindlings vertraut hatte, raubten ihr fast den Verstand. Aber der Lebensdrang, der glühende Wunsch, die Gegner nicht triumphieren zu lassen, verlieh ihr übermenschliche Kräfte. Sie hielt sich lautlos. Vielleicht gedeckt und getragen durch irgend ein Bruchstück des zerbrochenen Baldachins, trieb sie dem offenen Meere zu, voll eiserner Willenskraft gegen die Müdigkeit ankämpfend, ausspähend, hoffend und harrend, bis endlich ein Fischerboot die halb Erstarrte aufnahm und nach Bauli brachte.

Mit keiner Silbe verrieht sie, was in ihr vorging. Sie gab sich den Anschein, als halte sie die Katastrophe nur für ein Mißgeschick.

Bei der nun folgenden kurzen Darstellung des weiteren Verlaufs nimmt der Verfasser des vorliegenden Aufsatzes im wesentlichen die Schilderungen seines Romans „Nero“ zum Leitfaden. Er kann dies getrost, da der Roman sich gerade in diesen [16] Kapiteln Schritt für Schritt an den Gang der Geschichte anschließt; innere Gründe für eine Abweichung von dem kritisch geprüften Kerne der Ueberlieferung lagen nicht vor.

In ihrem Landhause eingetroffen, schickte Agrippina unverzüglich den Freigelassenen Agrinus nach Bajä und theilte dem Kaiser mit, die Huld der Götter habe sie aus schwerer Gefahr errettet. Sie bitte ihren geliebten Claudius Nero, seinen Schreck zu bezwingen und sie vorläufig nicht zu besuchen; sie bedürfe der Ruhe.

Nero wußte bereits durch seine Spione, daß Agrippina unversehrt in ihre Villa heimgekehrt war. Ohnehin durch die jüngsten Erlebnisse bis zum Wahnwitz erregt, wurde er jetzt von der fiebrischen Angst ergriffen, Agrippina werde nun keine Grenze für ihre Rachsucht mehr kennen. Seneca, dessen Mitschuld an dem Verbrechen nicht klar ist, mag gleichfalls gefühlt haben, daß es hier kein Zurück gab. Er spielte um seinen Kopf und mußte also das Spiel um jeden Preis zu gewinnen suchen.

Vom Kaiser um Rath befragt, legte der Staatsminister dem Gardegeneral Burrus die Frage vor, ob von den Kriegern der Leibwache wohl jemand geneigt sein würde, Agrippina niederzustoßen.

Burrus verneinte. Das Andenken des Vaters der Agrippina, des edlen Germanicus, sei bei sämmtlichen Gardesoldaten noch viel zu lebendig, als daß man ihnen die meuchlerische Beseitigung der Tochter zumuthen dürfe. „Aber“ – so fuhr er fort – „weshalb vollendet denn nicht Anicetus das Werk, das er angefangen?“

Diese Berathungen fielen noch in die Zeit vor dem Eintreffen jenes Boten der Agrippina. Wie der Bote nun kam, ward durch einige schlaue Kunstgriffe der Schein erweckt, als habe der Mensch bei Ueberreichung des Briefes den Kaiser töten wollen. Durch dieses Manöver sollte der Mord, den Anicetus nun selbst in die Hand nahm, beim Volke das Gepräge eines Selbstmords gewinnen, begangen aus Scham und Verzweiflung über den rechtzeitig noch entdeckten Mordanschlag auf das Leben des Sohnes.

Anicetus, der sich sofort gegen Barzahlung einiger weiteren Millionen bereit erklärt hatte, den Henker zu spielen, raffte die verwegensten aus der Schar seiner Leute zusammen und eilte nach Bauli. Erließ das Landhaus umzingeln. Die wenigen Mannschaften, die am Thore Wache hielten, waren bald niedergemetzelt.

Nun drang der Mordbube in das Schlafgemach, wo Agrippina mit einer einzigen Sklavin halb in der Dämmerung saß und sich den trübsten Ahnungen hingab, weil noch keine Nachricht von ihrem Sohne gekommen, und nicht einmal der Freigelassene Agrinus, den sie als Boten gesandt, heimgekehrt war.

„Auch Du verlässest mich,“ sagte sie seufzend, als sich das Mädchen beim Nahen der Schritte erhob, um zu sehen, ob nicht endlich die längst erwünschte Kunde von Bajä eintreffe.

In diesem Augenblick gewahrt die Fürstin das Halunkengesicht des Anicetus im Thürrahmen. Sofort wußte sie, daß alles verloren war.

Und nun zeigte sich, daß dieses fürstliche Weib, trotz aller Verbrechen, die ihr zur Last fielen, mehr von jenem halbvergessenen Heroismus der alten Republikaner besaß als die meisten ihrer männlichen Zeitgenossen.

Sie erhob sich voll ruhiger Würde und verlor selbst dann nicht die Fassung, als ihr einer von den Begleitern des Anicetus, der Schiffskapitän Herculejus, mit dem Stock über den Kopf schlug – ein bezeichnender Zug für dies rohe Gesindel!

Mit königlicher Gebärde sagte sie stolz und verächtlich:

„Triff dies Herz, Anicetus – unter dem Herzen hier trug ich den Muttermörder.“

Von drei Schwertern durchbohrt, sank sie neben die Bettstatt.

Daß Nero bei diesem schauderhaften Verbrechen weniger schob als geschoben wurde, dafür spricht vor allem auch sein Verhalten bei Empfange der Todesnachricht. Wäre der junge Fürst wirklich mit jeder Faser das blutgierige, gefühllose Scheusal gewesen, dessen Ausmalung die Geschichtschreiber anstreben, so hätte er – wie einst Agrippina bei dem Tode des Claudius – frohlocken müssen. Statt dessen ergreift ihn die helle Verzweiflung. Laut giebt er seiner verzehrenden Reue Ausdruck. Er flucht sich selber. Er regt sich so fürchterlich auf, daß er Nächte hindurch keinen Schlaf findet und von Wahnvorstellungen der bedenklichsten Art heimgesucht wird. Diese Wahnvorstellungen, in Ton- und Geräuschempfindungen bestehend, werden so stark, daß er die Ufer des Golfes, wo seine Mutter verblutete, schleunigst verlassen muß.

Das alles erzählt uns der dem Kaiser höchst feindlich gesinnte Dio Cassius, ohne zu ahnen, daß er uns hier einen Menschen gezeichnet, dessen öde Erbärmlichkeit zwar unseren Abscheu erregt, dem aber trotzdem noch etwa inne wohnt, was wie ein Rest von Gefühl und Gewissen aussieht.

Senecas erste Sorge war denn auch die, den Verzeifelten zu beruhigen. Das Staatswohl, die Nothwendigkeit einer Wahl zwischen Handeln und Leiden – das war der Kern der unablässigen Zusprüche, die der kalt rechnende Philosoph unter vier Augen ihm spendete, während man dem Senat und dem Publikum gegenüber den Mythus von dem Selbstmord der Agrippina aufrecht erhielt. Abordnungen der Offiziere mußten auf Senecas Veranstaltung hin den Kaiser beglückwünschen, daß er den furchtbaren Nachstellungen Agrippinas entronnen sei Die Priester des ganzen Reichs erhielten die Weisung, den Göttern für die Errettung des Imperators Dankopfer zu entzünden. Der Senat – der heimliche Gegner des Kaisers – überbot sich in Ausdrücken sklavischer Huldigung und in lächerlichen Beschlüssen zur Verherrlichung des Gewaltigen, über dessen gesegnetem Haupte Jupiter sichtbarlich seine beschirmende Hand gehalten. In der ganzen Versammlung fand sich nur ein einziger Mann, der Stoiker Thrasea, der den Muth hatte, den Sitzungssaal zu verlassen, und so still schweigend gegen diese Unwürdigkeit Verwahrung zu erheben.

Wen überrascht es, wenn so der Kaiser nach und nach an sich selbst irre ward, seine Reue unlogisch fand und sich schließlich jenem Unfehlbarkeitswahn überließ, der da spricht: „Was ich thue, ist gut – wei ich es thue!“ In den Armen Poppäas, in dem Strudel der unerhörtesten Lustbarkeiten, der nun toller als je im Palatium brandete, vergaß er nur allzubald die dampfende Blutlache an der Bettstatt der baulischen Villa und war von Tag zu Tag reifer für das größte Verbrechen, das ihm zur Last fällt: für die physische und moralische Tötung seiner Gattin Octavia.




Nachdruck verboten.     
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Der Zeitgeist im Hausstande.

Bilder aus dem Familienleben.
Von R. Artaria.
1.

Alte Freunde nach längeren Jahren wiederzusehen, ist selten ein ungemischtes Vergnügen. Allzu lebhaft wird man an das Dichterwort erinnert:

„Der Mensch wird schließlich mangelhaft,
Die Locke wird hinweggerafft …“

und trauernd betrachtet man die Stätten früherer Herrlichkeit. Freilich, jünger und schöner sind auch wir inzwischen nicht geworden, obwohl wir uns unvergleichlich besser konserviert haben als der gute X oder die arme Y. Wir haben also Grund, die Veränderungen des Aeußeren bei unseren Freunden mit mildem Auge zu betrachten.

Aber im Innern – o Himmel! Dort hat der Zahn der Zeit manchmal Hohlräume genagt, welche die frühere Freundschaft unerbittlich mit Einsturz bedrohen. Ist jene dicke berechnende Ballmutter wirklich die poetisch zarte Schwärmerin von ehemals? Jener wohlerhaltene Fünfziger, dessen Seele stundenlang am Skattische angenagelt ist, während seine Lippen kaum ein anderes Wort entflieht als: „Ich reize!“ oder „Ich passe!“ – müssen wir in ihm den liebenswürdigen, dem „ewig Weiblichen“ zugewandten Gesellschafter von ehedem wiedererkennen, ohne dessen Gegenwart zu Wasser und zu Lande, zu zwei und zu vier Händen überhaupt nichts „los“ sein konnte? Und nun gar der feurige Freiheitsschwärmer aus schönen Studententagen, der jetzt als griesgrämiger Melancholikus herumschleicht, weil er letztes Neujahr wieder einmal mit dem grünen Bärenorden fünfter Klasse übergangen wurd?! – – Ja, die Zeiten ändern sich und wir mit

[17]

Seine Excellenz.
Nach einer Zeichnung von Rob. Warthmüller.

[18] ihnen, das lehrt uns ein Wiedersehen mit alten Freunden oft genug.

Aber nicht immer. Es giebt doch auch dauerhafte Naturen, welche getrost einmal anderthalb Jahrzehnte überschlagen und trotzdem darauf rechnen können, nach dieser Frist wieder als die Alten erkannt zu werden.

So dürften manche Leser der „Gartenlaube" ohne Schwierigkeit ein früher im „ersten Jahr des neuen Haushalts“ beobachtetes Paar wiederfinden, wenn ich sie heute in eine große süddeutsche Residenzstadt und zur Wohnung des Landgerichtsraths Walter führe. Früher, als junger Assessor, lebte er mit seiner Emmy in dem kleinen Städtchen Bergheim, nun gehört er dem Landgericht der Hauptstadt an und wohnt seit Jahren dort. Allerdings nicht in einer der vornehmen Straßen – ein Krösus ist er trotz der Gehaltsaufbesserung nicht geworden – sondern in einem vielstöckigen hellgetünchten Hause jener großen Straßenzüge, die soviel menschliches Glück und Elend mit ihren gleichförmigen Fassaden decken.

Wir betreten an einem naßkalten Novemberabend den von flackernder Gasflamme erleuchteten Hausflur, steigen drei schmucklose Treppen hinauf, welche offenbar den Unterschied zwischen Herrschafts- und Dienstbotenfüßen nicht kennen, öffnen mittels des bekannten Autorenhauptschlüssels die braunlackierte Vorthür mit dem kleinen blankgeputzten Messingschild, sehen noch mit einem Blick, wie gut auf dem Vorplatze der sparsame Raum ausgenutzt ist, wie große und kleine Ueberzieher, Hüte und Schirme in strenger Ordnung dahängen, und dazwischen ein hübsches Spiegelgestell dem Ganzen eine gewisse bescheidene Eleganz verleiht. Dann machen wir leise die Thüre auf und treten in das behaglich erwärmte Wohnzimmer.

Von der Decke hängt eine große Schirmlampe nieder und ergießt einen hellen Lichtkreis auf den runden Tisch und die darum gereihten blonden und braunen Köpfe. Es ist merkwürdig stille im Zimmer, die Kinder beugen sich lesend und lernend über ihre Bücher, die Mutter schreibt einen Brief, „ausnahmsweise," wie sie zu sagen pflegt, wenn ein später Besucher sich zu dieser Stunde noch einfindet.

Aber das ist nicht ganz wörtlich zu nehmen. Frau Emmy gehört nicht zu denjenigen, welche über Kochlöffel und Nähmaschine die Schreibfeder vergessen; ihrer lebhaften Natur war allezeit Mittheilung Bedürfniß, und so wie sie selbst an dem Schicksal ihrer fernen Freunde aufs eingehendste theilnimmt, so erzählt auch sie brieflich leicht und gern von allem, was Haus und Herz bewegt. Wie sie so dasitzt, den gesenkten Kopf mit dem kleidsam aufgesteckten Blondhaar über das Papier gebeugt, sehen ihre Züge noch jugendlich und hübsch aus. Die Figur ist fraulich gerundet, wie es der Mutter heranwachsender Kinder zukommt, aber nicht soviel, daß man die ursprüngliche Schlankheit verkennen könnte.

Jetzt schlägt sie zwei schöne braune Augen von dem Blatt in die Höhe. Der Brief an eine Berliner Freundin, der erste nach längerer Zeit, ist bis zu der Stelle gediehen, wo eine Charakteristik der Kinder und ihrer Entwicklung dringend geboten erscheint.

Emmy wirft einen prüfenden Blick auf ihre Aelteste, die dreizehnjährige Elisabeth, deren rundes Gesichtchen sich allsogleich wie unter einem magnetischen Einfluß vom Buche emporhebt ... Nein – „apart“ kann man sie wirklich nicht nennen, das muß sich Emmy wieder einmal gestehen, obwohl gerade so ungern wie alle vorhergehenden Male. Sie wäre so glücklich über eine „eigenartige“ Tochter, über eines von jenen Wesen mit unergründlich dunkeln Augen und Wimpern unter einem Wald von köstlich hellblonden Haaren, deren Fülle, nur mühsam gebändigt, in schweren Zöpfen den Kopf umgiebt oder auch in großen Wellen von den Schultern zum Gürtel herabfließt, nicht zu vergessen die „goldenen eigensinnigen Löckchen, welche sich jeder Bürste zum Trotz um Stirn und Nacken krausen“ – eines jener Elfenkinder, die in Romanen so häufig wachsen, dagegen in den mittleren Schulklassen so merkwürdig selten anzutreffen sind. Bei Elisabeth kraust sich nichts um die blanke runde Kinderstirn und von Elfenart ist an ihrem wohlgenährten Persönchen nicht das Geringste zu spüren.

Zwischen festen rothen Backen schaut ein kleines Stumpfnäschen heraus, die blaugrauen Augen sind weder groß noch unergründlich, und um den im Rücken hängenden strohblonden Zopf zu „bändigen“, hat es sicher keiner großen Gewalt bedurft.

So steht das „Aparte“ der äußeren Erscheinung auf schwachen Füßen, aber auch das Innere will sich nicht so eigenartig entwickeln, wie Emmy es ums Leben gern hätte. Keine plötzlichen Einfälle, welche die Besucher in Erstaunen setzen, keine Neigung, auf Dächer und Bäume zu klettern, um sich dann von einem sechzehnjährigen Nachbarssohn herunterbeschwören zu lassen und erst recht nicht zu kommen – nein, von alledem ist in Elsbeth keine Spur. Schlicht und recht, ein braves Schulkind, geht sie dahin und den Buben aus dem Wege, denn von dieser Sorte hat sie an den zwei Brüdern übergenug. Sie erröthet stark und macht ein linkisches Knixchen, wenn sie im Salon der Mama Fremden die Hand geben muß – weiter weiß niemand etwas von ihr zu melden.

„Sie ist ein braves, liebes Kind, welches uns viele Freude macht –“ Emmy, auf die wieder ins Buch vertiefte Elsbeth blickend, findet mit einem leisen Seufzer, daß hiermit der Wahrheit Genüge geschehen sei, setzt also einen Punkt, wo sich doch gar zu gern ein schmückender Nachsatz ihrer Feder entrungen hätte.

Und Fritz, der Zwölfjährige – „bedeutend“? ... Nein – bedeutend kann man auch ihn nicht nennen, den braunen kurzgeschorenen Kopf mit der schmalen Stirn und den nüchtern blickenden Augen. Diese gleichen in der Form denen ihres Gatten, aber sie haben nicht soviel Glanz und Lebhaftigkeit – natürlich, die armen Kinder werden ja so mit Schularbeit überbürdet, daß ihnen die Frische zeitig vergeht!

„Geistige Interessen“? Ja wohl, die hat er, nicht gerade für die lateinische Grammatik, aber für Naturwissenschaft. Den Anfangsgründen von Physik und Chemie in Gestalt von Knallerbsen und bengalischen Lichtern hat er schon manches Zehnpfennigstück geopfert, auch eine wirklich genial ausgedachte telephonische Leitung aus Bindfäden und Schachteldeckeln hat er konstruiert. Elsbeth und die Köchin können bezeugen, daß man „es“ im Anfang ganz deutlich hörte; als der Papa dazu kam, versagte freilich die Leitung und Fritz verlor die Lust, ein zweiter Edison zu werden. Er warf sich auf die Geographie und ist bereits beim sechsten Band Jules Verne angelangt. Seine ganze Seele befindet sich in diesem Augenblick „zwanzigtausend Meilen unterm Meer“ bei dem geheimnißvollen Kapitän Nemo, und während der seltenen Besinnungspausen, die ihm das athemlose Durchrasen des Buches gestattet, fragt sich Fritz in höchster Spannung, wie nur der unglückliche Reisende schließlich wieder ans Tageslicht gelangen werde? Denn daß er dies thut, hat ihm ein beruhigender Blick auf die letzte Seite gezeigt.

„Ein gescheiter Junge“ – ja, das kann das mütterliche Gewissen verantworten, und nun geht die Feder rasch an Moritz, dem Achtjährigen, vorbei, an dem wirklich außer einem eifrigen Schling- und einem vorzüglichen Verdauungsapparat nichts Besonderes hervorzuheben wäre, und verweilt bei dem „süßen kleinen Ding, unserem Goldmäuschen Maja.“

Ein zärtlicher Blick fliegt über den Tisch, taucht in die runden großen Kinderaugen wie in zwei Brunnen der Begeisterung, und die Feder der glücklichen Mutter ergeht sich in begeisterter Schilderung ihres Lieblings: „Dein Pathchen, meine Herzensmarie, hat braune Kraushaare und köstliche dunkle Augen, dazu ein süßes Gesichtchen mit dem unschuldig staunenden Ausdruck, der die kleinen Kinder so entzückend macht. Maja ist für ihre drei Jahre merkwürdig überlegt, plaudert herzig und geht als allgemeiner Liebling unter uns umher. Besonders Hugo ist geradezu verliebt in dieses Nesthäkchen, dessen Ankunft ihm damals so gar überflüssig erschien! Das ist nun ein großes Glück, denn im übrigen hat er manchmal Stunden der Entmuthigung, wenn er an die Zukunft denkt – viere sind ja auch ein bißchen viel für unsere Verhältnisse! und es kommt noch so mancherlei dazu! Dir will ich es ganz im Vertrauen sagen, meine Marie, er hat manchmal das Gefühl, an höherer Stelle nicht nach seinem vollen Werth geschätzt zu werden. Und hierin kann ich ihm nicht unrecht geben.

Als wir vor acht Jahren hierher kamen, war der Minister ungeheuer freundlich gegen ihn; es wurde uns gesagt, die Excellenz beabsichtige, Hugo als Referenten ins Ministerium hereinzuziehen, [19] für eine spätere höhere Laufbahn, und ich muß wirklich sagen, daß es ihnen bei dem Mangel an fähigen Köpfen nur gut thun könnte, einen Mann von Hugos geistiger Bedeutung zu haben.

Hugo sollte unbedingt an einen einflußreicheren Posten, er ist ganz dazu gemacht und sitzt nun in dem ewigen Einerlei der Bureauarbeit, welche einen Geist wie den seinigen ermüden muß. Da ist es denn kein Wunder, wenn er manchmal verstimmt ist.

Alles dies ganz unter uns, liebe Marie! Es ist der einzige Schatten, der manchmal in unser Glück fällt –“

Ein kräftiges bestimmtes Klopfen an der Zimmerthür unterbrach den angefangenen Satz.

„Das ist Tante Linchen,“ rief Moritz zugleich mit dem „Herein!“ seiner Mama.

In der geöffneten Thür stand eine große breite Frauengestalt, deren braunrothe Wangen unter einem sturmgeprüften Filzhut hervorschienen. Der Schatten eines Bärtchens lag auf der keineswegs zierlichen Oberlippe, und eine stattliche Habichtsnase wölbte sich darüber her.

„Richtig, da sitzt ja das ganze Lesekabinett wieder beisammen,“ sagte sie bedächtig mit einer männlich tiefen Stimme. „Ihr seht aus wie das Titelbild eines neuen Familienblatts, das ich neulich sah, wo alles liest, das Ehepaar, die Schuljugend, die Kindsmagd und das Wickelkind, während ringsherum die Bäume umsonst blühen. Ist das eine Zeit!“

Sie hatte während dieser Rede ihren Mantel und den alten Rembrandthut mit der verregneten Feder auf die Diwanecke geworfen und zeigte nun ihre starke Figur in einem Kleide von grobem Wollstoff, welches offenbar der Zweckmäßigkeit größere Rechnung trug als der Schönheit. Auf Schönheit ging Fräulein Linchen in richtiger Selbsterkenntniß überhaupt nicht aus.

„Wem der Herrgott so ein Gesicht gegeben hat wie mir, der braucht nicht viel Zeit, um in den Spiegel zu gucken,“ sagte sie gemüthsruhig.

Aergerlicher war ihr die aus Versehen im Laufe der Jahre stehen gebliebene Verkleinerungsform ihres Namens, welche so wenig zu dem Großfolioformat ihrer Persönlichkeit passen wollte. Aber Namen haften bekanntlich fest, und wer einmal von zwei Geschlechtern „Linchen“ genannt worden ist, der bringt’s bei dem dritten zu keiner „Lina“ mehr, geschweige zu einer „Karoline“!

Doch auch dies focht sie nicht allzu sehr an, die treffliche Künstlerin, wenn sie vor ihrer Staffelei saß und unermüdlich das menschliche Angesicht nach seinen verschiedenen Gestalten und Farben auf die Leinwand brachte. Ihre Porträts schmeichelten nicht – „das hat man der Natur gegenüber nicht nöthig“, pflegte sie zu sagen – aber sie waren frisch und tüchtig gemalt und fanden stets guten Absatz.

So genoß Fräulein Karoline Wiesner eine angenehme Unabhängigkeit, die sie dazu verwendete, ihr eigenes Leben zu gestalten, wie sie Lust hatte, ihren Freunden die Wahrheit zu sagen und durch samaritanische Nächstenliebe die Wunden wieder zu heilen, welche ihre furchtlose Zunge gelegentlich der Eitelkeit ihrer Nebenmenschen schlug. An Emmys heiterem Wesen hatte sie gleich von Anfang an Gefallen gefunden, sich dann ernsthaft mit der jungen Frau befreundet und auch von Herzen gern die Tantenwürde bei ihren Kindern übernommen. Da sie mit Walters im gleichen Hause wohnte, kam sie oft abends beim Heimweg vom Atelier für eine Stunde herein und war ein von groß und klein gerngesehener Gast.

„Nun sagt mir einmal, ihr armen Kinder,“ fuhr sie in ihrer Rede fort, „was ihr an den vertrakten Büchern habt, daß ihr euch kurzsichtig und stumpfsinnig daran lest? Wißt ihr denn mit euren Freistunden nichts Besseres anzufangen? Da heißt es immer: ‚die Kinder müssen ihre Augen mit den Schulaufgaben so sehr anstrengen!‘ Jawohl, wenn sie mit denen fertig sind, so setzen sie sich hin und lesen freiwillig weiter, bis sie Lustigkeit und gute Einfälle darüber verlieren und hinterher doch nichts von dem behalten, was sie gerade verschlungen haben.“

Die drei Großen sahen verwundert in die Höhe. Klein Maja, die nur begriffen hatte, daß vom Lesen die Rede war, und sich gerne zeigen wollte, legte sich mit dem halben Leib über ihr Oskar Pletsch-Buch auf den Tisch, fuhr mit den Fingerchen über die Zeilen und sprach feierlich:

„Nein, für Ypsilon und Itts
Weiß ich, Tinder, wahrlich nitts.“

„Na, da haben wir’s ja,“ rief Tante Linchen mit lautem Lachen „Komm, Du kleiner Spitzbub’, gieb mir einen Kuß! Du thust ja doch nur so, bist noch rein von dem Leselaster!“

„Aber was sollen wir denn sonst anfangen?“ wendete nun Fritz ein, indem er behutsam und voll geheimer Hoffnung den Finger auf die Stelle schob, die unvergleichlich spannende Stelle, aus welcher ihn Tante Linchen herausgerissen hatte. Vielleicht ging es doch mit einer kurzen Predigt ab und sie verzog sich bald wieder!

„Was Ihr thun sollt? Springen, Herumlaufen. Spektakel machen!“

„Hier?“ fragte Moritz, indem er mit seinen kurzen und schwärzlichen Fingern einen Kreis über das porzellangeschmückte Buffet, den Blumenständer und das japanische Theetischchen beschrieb.

„Hast recht, Junge, hier in dem schönen Eßzimmer ist’s freilich unmöglich, aber warum habt Ihr denn nicht ein ganz einfaches Kinderzimmer, Emmy?“

„Rechne doch nach, Linchen! Sechs Zimmer haben wir, zwei davon sind Schlafzimmer der Kinder, eines brauchen wir. Bleibt noch Hugos Studierstube, Salon und Eßzimmer, in welchem sie abends sein müssen, damit die Luft in ihren Schlafräumen frisch und rein ist.“

„Die Hygieine!“ seufzte Fräulein Karoline, „die unglückliche Hygieine, die zu meiner Zeit noch nicht erfunden war! Wie viel besser hatten wir es in dem kleinen Wolframszell! Da wies unsere Kinderstube – Schnurrenhöhle nannten wir sie – vier gelbgetünchte Wände auf, an welchen die Betten standen, in der Mitte einen gescheuerten Tannentisch, sechs Hocker ohne Lehne darum her und einen Schrank für Lern- und Spielsachen. Das war die Ausstattung. Mit den Hockern machte man Eisenbahn und Extrapost, auf dem Tisch wurden erst die Aufgaben geschrieben und dann gekocht, gepappt, geschnitzt und gemalt; an die Wände schrieb und zeichnete man alles, was einem über die Geschwister einfiel –“

„Das muß lustig gewesen sein,“ sagte mit glänzenden Augen der dicke Moritz, der sich zusehends für dieses Erinnerungsbild erwärmte.

„Und alle paar Jahre einmal erschien der Tüncher und putzte die ganze Chronik herunter. Dann fing man wieder von vorne an; über die erste Inschrift wurde gezankt, dann kamen immer mehr, und zuletzt mußte die Mama selbst lachen über all den Unsinn,“ schloß Tante Linchen ihren Bericht.

„Ihr habt überhaupt viel mehr ‚thun dürfen‘ als wir,“ seufzte Moritz mit verhaltener Entrüstung.

„Aber auch viel mehr Prügel dafür bekommen, mein Sohn, wenn’s übel ausging.“

„O Tante!“ rief er begeistert, „lieber mehr Prügel und nur nicht so ‚fein‘ sein müssen!“

„Nun ist’s genug,“ warf die Mutter dazwischen, „Du machst mir ja die Bande ganz aufrührerisch! Komm lieber da hinein“ – sie öffnete die Thür in den Salon – „daß man ein ungestörtes Wort zusammen reden kann.“

„Ja, Du hast recht,“ erwiderte Fräulein Linchen, während sie mit zwei großen Schritten über die Schwelle war. „Kinder müssen nicht alles hören. Allein deswegen ist doch wahr, was ich sagte!“

Emmy ergriff ihre beiden Hände. „Wenn Du wüßtest, wie schwer es ist, Kinder zu erziehen in einer großen Stadt, eingeengt durch die Verhältnisse, mit schmalen Mitteln, über die man nicht hinaus kann, mit der steten Rücksicht auf andere –“

„Weiß ich, Kind, weiß ich!“ nickte das Fräulein gutmüthig. „Kann Dir sagen, daß ich deswegen Euch verheirathete Leute nicht beneide. Aber ich habe so meine eigenen Gedanken, wenn Du auch vielleicht meinst, die alte Jungfer versteht das nicht. Ihr vergrößert Euch die Schwierigkeiten selbst mit dem ewigen Streben nach Schick und könnt auf der andern Seite den Kindern zu wenig von dem erlauben, was ein Kinderherz freut. Glaubst

[20]

Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.

Heimgekehrt!
Nach einem Gemälde von T. E. Rosenthal.

[21] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [22] Du nicht, ein gut Theil Humor und Bescheidenheit des künftigen Menschen wächst unter dem von den Geschwistern überkommenen abgelegten Kleidchen? Was gewinnen denn die Kinder an dem vergleichenden Blick auf die andern ,Schultoiletten‘ und an dem Bewußtsein, eine den Begriffen der Klasse völlig angemessene Kleidung zu tragen? Nur jene frühzeitige ,Haltung‘ des Dutzendmenschen, dessen höchste Genugthuung darin besteht, genau so zu sein wie die andern! Und Du selbst, arme Emmy, wie mußt Du Dich an der Nähmaschine plagen, um all diesen Schick zur Saison fertig zu stellen! Es ist ja recht brav von Dir, daß Du’s thust, aber nimm mir’s nicht übel, ich fände es gescheiter, Du führtest die kleine Bande in unscheinbaren Kleidern an die Luft und kämest dann ausgeruht und vergnügt heim, statt daß jetzt am Abend Deine abgespannten Nerven nur nach Stille verlangen und deshalb die Lesebücher vorgenommen werden müssen.“

„Die Kinder gewinnen doch manche Anregung daraus!“

„Anregung! Siehst Du, das ist so ein Wort, welches ich auf den Tod hasse, das heißt auf deutsch: den Brei einem in den Mund schmieren, der noch keinen Hunger hat. Dem geistigen Magen bekommt das ebenso schlecht wie dem körperlichen, er wird überladen und unlustig vom vorzeitigen Essen. Ein tüchtiger Bub und ein gewecktes Mädel, die fühlen sich ganz von selbst ,angeregt‘, ihre Augen in der Welt aufzumachen. Und die dämlichen – die werden durch die schönsten Anregungen doch nicht gescheit, das ganze Gelese ist umsonst, sie könnten in der Zeit ’was Gesünderes thun!“

„Aber Linchen, Du wirst doch nicht im Ernst verlangen, daß man in unserer Zeit seine Kinder nicht lesen lassen soll?“

„Fällt mir gar nicht ein, nur Verdauung, richtige Verdauung ist nothwendig. Ein Buch, wohlgemerkt am Sonntag, nicht in jeder freien Werktagsstunde, und wenn das ausgelesen ist, nochmals lesen, weil man ihnen so geschwind kein anderes giebt, und dann sich hinterher einmal erzählen lassen, was drinnen steht, statt aus der Kinderbibliothek alle paar Tage einen neuen Band heimzuschleppen und durchrasen zu lassen! Auf diese Weise zieht man ja ordentlich die öden und gedankenarmen Menschen!“

„Nun,“ erwiderte Emmy mit einem verdächtigen Zucken der Mundwinkel, „es thut mir leid, wenn Dir meine Kinder so öde und gedankenarm vorkommen, ich habe davon freilich bis jetzt nichts bemerkt.“

„Ja, wenn Du anfängst, übelzunehmen, dann wollen wir das Gespräch aufstecken! Die empfindlichsten Künstler sind doch die Eltern, sie vertragen eine Kritik ihrer Erziehungswerke durchaus nicht, selbst wenn sie ganz allgemein gehalten ist. Na, gute Nacht denn!“

„Nein, nein, Linchen!“ bat Emmy und hielt die Freundin fest, „es war nur so eine Anwandlung. Ich kann die Wahrheit ertragen. Sage mir nur alles, was Dir an meinen Kindern unangenehm auffällt!“

„Ich sprach gar nicht von den Deinen im besonderen. Sie sind ja ganz ordentlich und hören, wenn auch mit Ueberwindung, zu lesen auf, wenn man ins Zimmer hereinkommt. Das ist anderswo nicht der Fall, bei Hoffmanns z. B. lesen die nach freiheitlichen Grundsätzen erzogenen Söhnlein ruhig weiter, ohne den Besuch zu beachten. Die Mama fühlt wohl die Unschicklichkeit, wagt aber nicht, ihnen das zu wehren bei der großen Selbständigkeit, welche die jungen Herren zur Freude ihres Vaters gewonnen haben. Nein, da sind die Deinigen von ganz anderem Holze!“

„Und doch möchtest Du sie anders haben!“

„Nicht sie möchte ich anders haben, sondern theilweise die Umstände, unter welchen sie aufwachsen. Ich möchte sie trotz der Großstadt und ihren Uebeln zu frischen Menschen werden sehen, bei denen die Phantasie auch ihr Theil abkriegt, nicht immer nur das verstandesmäßige Denken. Weißt Du, was ich thun würde, wenn ich an Deiner Stelle wäre, Emmy?“

„Nun?“

„Dann würde ich zuerst den Bücherschrank und den japanischen Tisch und die Goldfische aus dem Eßzimmer hinüberstellen in des Herrn Landgerichtsraths Stube. Er ist doch nicht jeden Abend drin?“

„O nein,“ erwiderte Emmy ein wenig gepreßt, „er geht jetzt fast regelmäßig abends aus. Nach der ermüdenden Bureauarbeit, die dem Geist ja gar nichts bietet, bedarf er dringend der Erholung und Anregung. Ich muntere ihn selbst dazu auf.“

Auch Anregung!“ dachte Fräulein Karoline und sah Emmy einen Augenblick prüfend an. „Nun,“ fuhr sie dann in leichtem Ton fort, „also hinüber mit den Sachen, oder auf den Speicher, wenn’s nicht anders geht! Und dann würde ich aus dem Eßzimmer eine helle, gemüthliche Kinderstube machen und mich abends mit den Vieren um den runden Tisch setzen, aber nicht zu einem Lesekabinett. Sie müßten mir bei allerhand leichter Handfertigkeit ihre Augen ausruhen lassen, und dann würde ich ihnen erzählen, Geschichten und Theaterstücke und Jugenderinnerungen, wobei man sich zur Aneiferung immer fünfzig Prozent braver machen kann, als man wirklich war; dann müßten sie mir Räthsel rathen und aufgeben, dadurch wird der Verstand viel aufgeweckter als vom Geschichtenlesen, oder man fängt mit einer Knittelverszeile an und der nächste muß mit einem Reim weiterspinnen und so fort, je lustiger je besser. Es giebt ja tausend solche Spiele, die zugleich Beschäftigung sind und die man nicht immer erst hervorzuholen braucht, wenn ,Gesellschaft‘ da ist. Das Beste dünkt mich hier für den Hausgebrauch gerade gut genug. Soll aber doch einmal gelesen werden, so gieb einem der Großen ein Buch und laß vorlesen. Auch das ist eine Kunst, die heutzutage in Vergessenheit geräth, gerade wie das Erzählen. Und wie ganz anders wirkt doch das lebendige Wort auf die Kinder als das gelesene! Sie sind ja glücklich darüber und verlangen stets nach mehr! – Siehst Du, Emmy, so ging es in unserer Kinderstube zu, es sind tüchtige Menschen darin aufgewachsen, die heute noch mit inniger Rührung an ihre goldene Jugend denken und an die kluge gütige Mutter, aus deren Hand sie jene empfingen.“

„Auf diese Art käme man eigentlich gar nicht mehr zu sich selbst,“ sagte Emmy nach einer kurzen Pause. „Ich bin immer froh, wenn sie beschäftigt sind, damit ich auch einmal etwas lesen oder schreiben kann.“

„Du kannst sie ja früh zu Bett schicken, aber im übrigen, liebe Emmy, nimm es mir nicht übel: wer vier Kinder hat, der darf, glaube ich, zehn Jahre lang nicht in solcher Weise an sich denken. Vier Menschen fürs Leben erziehen, das ist ein so gewaltiges Geschäft, daß es mir ordentlich davor graust!“

„Wenn alle Leute das so schwer nehmen wollten –“

„Dann gäbe es viel weniger unvernünftige, schlecht erzogene und unnütze Menschen auf dieser Welt, davon bin ich überzeugt. Aber das trifft Dich ja nicht, Du bist eine gute und sorgsame Mutter, nur in dem einen Punkt würde ich es anders machen.“

Emmy saß nachdenklich da, sie fühlte etwas Wahres aus den Worten ihrer aufrichtigen Freundin heraus, zugleich aber fragte sie sich, was für Gesichter wohl ihre Bekannten machen würden, wenn sie plötzlich ihr reizendes Eßzimmer so vereinfachen wollte! Gerade daraus hatte sie sich bisher einen besonderen Stolz gemacht, daß man ihm die Kinderstube nicht ansah, die es eigentlich war. Aber allerdings – wie viel Wehren und Ermahnen hatte es auch gekostet, um das durchzusetzen! – Sie erinnerte sich, sogar von Hugo ein paar anzügliche Bemerkungen darüber gehört zu haben ...

„Es ist doch recht schwer, ein moderner Mensch zu sein!“ in diese Worte faßte sie schließlich das Ergebniß ihrer Betrachtungen zusammen.

„Gerade im Gegentheil!“ meinte lachend die Künstlerin, „es ist sehr bequem, man macht sich alle modernen Erfindungen und Künste zu nutze, wenn man sie brauchen kann, und schließt im übrigen vor dem nervösen Zeitgeist hübsch die Thür zu. Mache ich’s nicht immer so? Und kommt Ihr nicht mit vielem Vergnügen in meine ,paradiesische Einfachheit‘ da oben? Uebrigens ...“ rief sie plötzlich wie elektrisiert, „ich vergesse ja über unserm Gerede ganz, warum ich heute abend da bin, ich wollte Dir erzählen, daß sie zu mir kommt, daß ich sie malen darf!“

„Wer ist ,sie‘?“

„Vilma von Düring, das reizende Geschöpf!“

„Die allerliebste Katze!“

„Siehst Du, Emmy, hier bist Du ganz abscheulich ungerecht. Du hast geradezu ein Vorurtheil gegen Vilma!“

[23] „Ich habe sie als Kind gekannt und glaube nicht, daß ihr damaliger Charakter sich unter der Erziehung dieser Mutter sehr verändert hat.“

„Die Alte gebe ich Dir preis, die ist, unter uns gesagt, auch mir äußerst zuwider mit den steten Lobpreisungen ihrer Töchter und der offenkundigen Männerjagd. Die Mädchen leiden auch sehr darunter …“

„Paula – ja, das glaube ich, weil ihrer wahrhaftigen Natur die vielen Lügen ein Greuel sind. Gott weiß, wie das Mädchen in die Familie kommt! Vilma aber und Hedy, der vielversprechende Backfisch, finden es nur unklug von der Mama und haben deshalb manchmal Bescheidenheitsanfälle. Nun, ich will Dir Deine Begeisterung nicht stören, hübsch ist sie ja, die blonde Vilma, das muß ihr der Neid lassen, und für Euch Künstler genügt das.“

Linchen wollte eben lebhaft erwidern, als draußen die Glocke gezogen wurde und der Schritt des Hausherrn im Vorplatz erklang. Sie erhob sich zum Gehen.

„Bleibst Du nicht noch ein wenig?“ fragte Emmy. „Es erheitert Hugo immer so sehr, mit Dir zu plaudern.“

Doch Linchen entschuldigte sich mit dringender Arbeit. Frauen erheitern, die armen Opfer männlicher Tyrannei, o ja, das that sie gern, aber Männer, denen es ohnehin schon viel zu gut in dieser Welt ging – nein, die sollten sich nur selbst aufheitern, dafür opferte sie keine Viertelstunde ihrer kostbaren Zeit. Und so enteilte sie nach ein paar rasch gewechselten Begrüßungsworten gegen den Herrn Rath und war schon oben in ihrer bescheidenen Wohnung angelangt, als dieser im Hausrock zu seiner Frau ins Zimmer trat.


2.

Der Landgerichtsrath machte für seine zweiundvierzig Jahre immernoch einen jugendlichen Eindruck. Zwar schimmerte hier und da durch seine dichten dunkeln Kraushaare ein silbernes Fädchen, aber die braunen Augen blickten lebhaft, manchmal sogar mit einer durchdringenden Schärfe, und seine Bewegungen waren rasch und leicht. Das freundliche Lächeln freilich, welches in jugendlichen Jahren so charakteristisch für sein hübsches Gesicht war, schien jetzt seltener geworden zu sein, dagegen vertiefte sich um den Mund ein gewisser Verdrießlichkeitszug, wie er sorgenvollen Hausvätern zukommt und würdig ansteht. Emmy pflegte jetzt nach diesem Zuge zuerst zu spähen, wenn Walter das Zimmer betrat.

Und heute war er unleugbar vorhanden. Ihr Gatte wandelte nach kurzer Begrüßung schweigend im Zimmer auf und ab wie ein Mann, der einen Theil des Weltlaufs als persönliche Beleidigung empfindet. Emmy häkelte fleißig an einer bunten Decke, sie erwartete in solchem Fall gerne sein erstes Wort.

„Schmidt ist vortragender Rath geworden,“ brach Hugo endlich das Schweigen.

„Ach!“ fuhr Emmy auf, „wie ist das möglich? Schmidt ist ja jünger als Du!“

„Und was thut das? Deswegen kann ihn der Herr Minister doch begünstigen.“

„Wie ungerecht! Schmidt ist doch gar kein besonderer Kopf!“

„Aber ein ausgezeichneter Streber, mein Kind, einer von denen, die es weit bringen, weil sie es verstehen, sich bemerklich zu machen. So muß man sein, das ist die richtige Sorte für die große Carriere!“

„Nun, laß gut sein, Hugo!“ tröstete Emmy, die rasch aufgesprungen war, seinen Arm ergriff und jetzt mit ihm den Spaziergang durchs Zimmer fortsetzte. „Du kannst noch nicht von Zurücksetzung sprechen, bist ja noch jung für Deinen Posten.“

„Ja, wenn mein Ehrgeiz nicht weiter geht, als im Kollegium grau zu werden wie so viele andere, dann habe ich mich allerdings nicht zu beklagen. Ich hatte Besseres gehofft, freilich vergebens, wie ich jetzt sehe …“

„Es wäre eine Auszeichnung gewesen,“ stimmte kleinlaut Emmy bei, „und ich hätte sie Dir sehr gegönnt, lieber Mann. Doch, was thut’s,“ fuhr sie wieder muthig werdend fort, „wir sind auch so glücklich und vergnügt. Etwas mehr Geld freilich könnte nichts schaden –“

„Gewiß,“ bestätigte Hugo sarkastisch, „drüben auf meinem Schreibtisch liegt ein Pack Rechnungen, der diesen Satz glänzend belegt.“

„Es waren lauter nothwendige Anschaffungen für die Kinder, Hugo!“ sagte sie mit leisem Vorwurf.

„Weiß ich, liebes Weib“ – er zog sie an sich und drückte ihren Kopf gegen seine Brust. „Ich weiß auch, daß Du alles so gut eintheilst als möglich. Aber steigende Bedürfnisse und gleichbleibende Einnahmen, das reimt sich schlecht. Wir werden einmal nach einheitlichem Grundsatz ans Sparen denken müssen, mit den einzelnen Anläufen ist es nicht gethan.“

„Gerne, Hugo,“ erwiderte Emmy, „wir wollen uns gleich daran machen, ich hole meine Bücher, wir haben gerade noch eine Stunde Zeit bis zum Abendessen.“

„Nun, das eilt ja nicht so,“ meinte er etwas unlustig, doch Emmy, froh, die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen zu können, enteilte und kam bald mit Haushaltungsbuch und Tintenfaß wieder. Dann saßen sie rechnend und vergleichend eine Zeitlang über das Buch gebeugt, das, nach Rubriken geordnet, eine leichte Uebersicht gestattete.

„Und das wäre also wirklich alles, woran wir sparen könnten?“ nahm endlich Hugo kopfschüttelnd das Wort. „Eine billigere Wohnung in schlechtem Stadtviertel, eine geringer bezahlte Magd, die nicht kochen kann und Abbrechen am täglichen Tisch? Das letztere besonders scheint mir ganz falsch, denn die Kinder sind im Wachsen und brauchen eher mehr als weniger. Was wollen auch schließlich die paar hundert Mark sagen, die dabei herauskommen!“

„Nun, zu verachten sind sie nicht, aber allerdings – die Ersparniß ist nicht groß.“

Eine Pause entstand. Hugo ging wieder mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Endlich sagte er, stehen bleibend:

„Ist es nicht sonderbar? Wir haben mehr als so viele, die auch durchs Leben kommen müssen, wir haben dazu den guten Willen, uns einzuschränken, und bringen es trotzdem zu keinem nennenswerthen Erfolg.“

„Ich habe auch schon die Tage her viel darüber nachgedacht,“ entgegnete Emmy, „und weißt Du, worauf ich gekommen bin?“

„Nun?“

„Wirksam sparen könnten wir nur, wenn wir uns entschließen würden, unser ganzes Verhältniß um einen Grad herunter zu setzen, alle unsere Gewohnheiten und Ansprüche. Wenn jedes einzelne billiger beschafft und auf manches völlig verzichtet wird, dann muß zuletzt im ganzen etwas herauskommen. Aber wir müßten dann freilich auch den Muth finden, dies unsern Bekannten einzugestehen.“

„Warum nicht gar,“ brauste Hugo auf, „uns selbst um die gesellschaftliche Stellung bringen, die heutzutage alles ist!“

„Ist sie denn wirklich etwas so Großes, daß man solche Opfer für sie drangeben muß?“ fragte Emmy nachdenklich. „Oder meinen wir am Ende nur, es müßte so sein? Sieh, Hugo, wir leben eigentlich immer im Hinblick auf andere. Ich thu’ es ja auch, ich weiß es, und die Aenderung wird mir schwer genug fallen, aber ich muß sagen, die viele Heuchelei, die in unserm Leben ist, fängt an, mich zu drücken. Wir sind im Grunde ganz kleine Leute, und doch wollten wir lieber hungern als einen uneleganten Anstrich haben – das ist eine fürchterliche Schwachheit. Wir schrauben uns immer höher und höher, der ‚Welt‘ zuliebe, und diese Welt besteht genau genommen aus einer handvoll Menschen, die ebenfalls recht froh wären, wenn sie eingestehen dürften, daß es ihnen gerade so geht wie uns. Und alle wissen das voneinander, aber niemand findet den Muth, zu sagen: von heute an giebt es, wenn meine Freunde zu mir kommen, einen Braten ohne Vor- und Nachspeisen oder einen einfachen kalten Aufschnitt zum Salat, wie ihn jeder an seinem eigenen Tisch vergnügt und zufrieden ißt, bei seinen Freunden jedoch durchaus nicht essen darf! Wir, Du und ich, stehen jetzt geradezu vor der Wahl, entweder auf Geselligkeit, wie sie in dieser Stadt üblich ist, zu verzichten, weil sie zu kostspielig wird, oder unsere Bewirthung so einzurichten, daß sie unsern Verhältnissen entspricht.“

„Ich möchte Dein Gesicht sehen, Emmy, wenn Du den Geheimrath Hoffmann zu Schinken und Butterbrot eingeladen hättest!“

[24] „Vielleicht ginge es über meine Kraft, sein Gesicht dabei zu sehen. Aber wo steht es geschrieben, daß wir gerade den Geheimrath wieder einladen müssen?“

„Nun, da hast Du es ja – dann sinken wir eben aus der gesellschaftlichen Höhe um eine Stufe herunter. Nein, das geht nicht, man kann sich nicht ausschließen. Wir leben eben einmal in dem, was unsere Welt ausmacht, und müssen einigermaßen an der Oberfläche bleiben – schon um der Kinder willen! Man sollte sich eigentlich, so lange sie klein sind, vorsätzlich mit lauter reichen Leuten befreunden, damit diese und ihre Kinder dann später den Erwachsenen wirksame Hilfe zum Fortkommen bieten können …“

„Hugo!“ Sie blitzte ihn voll Entrüstung an, worauf er ihr lachend die Hand hinstreckte. „Das ist Dein Glück, daß Du lachst, ich ließe mich wahrhaftig gleich von Dir scheiden, wenn das Dein Ernst wäre! Pfui, auch nur in Gedanken die Freundschaft so zu entheiligen!“

„Sie kann ja dennoch aufrichtig sein; mit reichen Leuten ist sie eben so gut möglich wie mit armen!“

„Aber oft nur unter schwierigen Umständen, denn Reiche brauchen zu häufig Schmeichler statt Freunde. Nein, davon sei mir nur ganz still, Du Spekulant, dessen sämmtliche Freundschaften keine Viertelmillion werth sind! Wir wollen unsere Kinder zu tüchtigen Menschen erziehen, die sich selbst ihr Fortkommen schaffen, statt nach reichen Freunden auszulugen, die ihnen doch nicht helfen können, wenn sie untüchtig sind.“

„Das hat man eben auch nicht so in der Hand, wie Du meinst. Die Erziehung allein macht keine guten Köpfe, da kommen zuerst die Anlagen in Frage. Sieh unseren Fritz an! Dachten wir nicht, das müsse ein genialer Junge werden? Und was ist er jetzt? Ein mittelmäßiger Kopf, der viel schlechter lernt als ich im gleichen Alter.“

„Dein Lernen wurde von einem sorgsamen Vater überwacht, der ganz seiner Familie lebte,“ sagte Emmy mit dem Gefühl eines Menschen, welcher, ein brennendes Streichholz in der Hand, sich dem Pulverfaß nähert.

Kühne Schlittenfahrt.
Zeichnung von P. F. Messerschmitt.


„Was soll das heißen?“ fuhr Hugo auf, und sein Gesicht röthete sich. „Willst Du mir etwa damit sagen, daß ich ein pflichtvergessener Vater sei? Werden mir auch die paar Abendstunden Erholung nicht mehr gegönnt, die ich dringend brauche, wenn ich den ganzen Tag für meine Familie schaffe und arbeite?“

„Ach, Hugo, sei nicht gleich böse,“ flehte sie, „Du weißt, daß ich Dir alles gönne, was zu Deiner Erholung dient. Aber andererseits habe ich das sichere Gefühl, daß Du Dich um Fritz mehr annehmen müßtest, ich kann ja doch seine lateinischen Aufgaben nicht mehr nachsehen wie früher die deutschen Hefte. Er wird jetzt so zerstreut und nachlässig; wenn er ein paar Abende in der Woche drüben in Deinem Zimmer unter Deinen Augen arbeiten müßte, so würde er sich wohl anders zusammennehmen. Und dann –“ fügte sie zögernd hinzu. „fällt das abendliche Ausgehen ins Gasthaus doch auch unter die Reihe der entbehrlichen Ausgaben, von der wir vorhin sprachen.“

„Weiberlogik und kein Ende,“ brach nun Hugo erbittert los. „Weil der faule Schlingel nicht arbeitet, soll der Papa hübsch zu Hause bleiben und es ihm eintrichtern. Das wäre der richtige Weg, ihn vollends denkunfähig zu machen. Nichts da, den wollen wir auf andere Weise kurieren – Fritz!“ rief er hastig und öffnete die Thür nach dem Speisezimmer.

Fritz kannte offenbar diesen Ton. „Ja, Papa!“ erwiderte er, eilfertig hereinschießend.

„Sind Deine sämmtlichen Aufgaben für morgen gemacht? Ich sage säm-m-t-lich-e!“ Fritz schwieg betreten. „Nun?“ erklang es nochmals drohend, und Fritz stammelte. „Nur noch – die Mathematik –“

„So, und da sitzt Du und liest, als wenn alles in schönster Ordnung wäre – Du bist doch ein ganz pflichtvergessener Kamerad! Aber ich sage Dir: wenn bis Ostern nicht Deine sämmtlichen Noten gut sind – Du weißt, wie schlecht sie im Herbst waren – dann sollst Du mich kennenlernen! Denke daran, jeden Augenblick von jetzt an, und richte Dich danach! Und jetzt geh’ augenblicklich und hole die Aufgabe, Du bekommst nichts zum Nachtessen, bis sie fertig ist.“

Fritz, der nicht einsah, wieso dieses Unwetter ihm aus tiefem Frieden heraus plötzlich um die Ohren sausen konnte, zog sich einigermaßen verdonnert zurück. „Heut ist der Papa bös“, war seine Nutzanwendung gegen die erstaunt horchenden Geschwister, dann holte er seinen Schulranzen und begann zu arbeiten.

Drinnen im Salon sagte mittlerweile der Rath zu seiner Frau:

„Was ferner Deinen andern Vorwurf der Geldverschwendung betrifft –“

„Ach laß doch, Hugo,“ besänftigte sie, „das war ja nicht so gemeint.“

„Ich will es hoffen,“ sprach er majestätisch, „denn er wäre geradezu thöricht. So weit sind wir denn doch noch nicht, um mit den paar Groschen rechnen zu müssen, die ich allenfalls für mich gebrauche. Man kann das Sparen auch zu weit treiben, liebes Kind, und geräth dadurch in eine kleinliche Knickerei, zu welcher ihr Frauen hauptsächlich Anlage habt. Ich stimme jeder vernünftigen Ersparniß im großen zu, aber erlasse mir soviel als möglich von den Kleinigkeiten! Wenn ich in mein Haus heimkomme, will ich ein friedliches Behagen finden, nicht neue Verdrießlichkeiten nach den bereits ausgestandenen. Du verstehst das ja fertig zu kriegen, Emmy, bist ja klüger und praktischer als andere.“

Sie schwieg eine Zeit lang. „Ich will Dir einen Vorschlag machen,“ sagte sie dann, „der uns aller kleinlichen Ersparnisse überhebt; ich hielt nur bis jetzt damit zurück, weil er natürlich auch seine Schattenseite hat. Hier –“ sie holte einen Brief aus der Tasche und entfaltete ihn – „fragt meine Freundin Marie an, ob wir nicht geneigt seien, einen jungen Amerikaner, der hier studieren soll, bei uns aufzunehmen. Die Pension würde sehr reichlich bemessen sein, die Ansprüche des jungen Mannes dagegen nicht das übersteigen, was unser Haus bieten kann. Die Eltern legen den Hauptwerth darauf, daß er deutsches Familienleben kennenlernt.“

Hugo sprang auf und ging im Zimmer umher.

„Einen Fremden hier in unserer Häuslichkeit! Einen Amerikaner mit einer von der unseren völlig verschiedenen Bildung!“

„Hierin irrst Du. Er ist der Sohn einer Freundin von Marie, einer Deutschen, die in Boston an einen der ersten Professoren verheirathet ist. Dieser steht auch mit Deutschland in vielfacher Verbindung und stimmt dem sehnlichen Wunsche seiner [25] Frau bei, dem Sohne eine gute deutsche Bildung zu verschaffen. Ein Semester in Berlin, wo er viel in Mariens Hause verkehrte, hat der junge Francis bereits hinter sich, er spricht auch ziemlich gut deutsch, – Du siehst also, das Wagniß ist nicht so arg.“

„Hm – wir haben ja aber gar keinen Platz, wo wolltest Du ihn denn unterbringen?“

„Dafür ließe sich schon Rath schaffen. Im oberen Stock ist ein großes Mansardenzimmer zu haben. Dorthin kämen die Jungen, ihr jetziges Zimmer gäbe Deine Studierstube und die bisherige, die hübsch und elegant ist, stünde dann für den jungen Weston zur Verfügung.“

„Und immerfort diesen Menschen in unserem vertrauten Kreise, an unserem Tisch haben, kein ungestörtes Wort mehr mit den Kindern!“

„Den Kindern könnte es vielleicht recht gesund sein, sich bei Tisch und sonst aus Rücksicht auf den Fremden manierlich zu benehmen.“ versetzte Emmy, die sich infolge von Hugos Widerspruch zusehends für den Plan erwärmte. „Uebrigens soll der junge Mann ein guter umgänglicher Mensch sein. Marie hat ihn sehr gern und hält viel von seinem Charakter.“

„Einen Pensionär nehmen?“ wiederholte Hugo, hartnäckig seinen ersten Gedanken festhaltend. „Das heißt öffentlich eingestehen, daß man nicht mehr genug zu leben hat.“

Emmy fühlte mit dem Ahnungsvermögen der Frauen, daß hier endlich der Hauptgrund aus der Tiefe heraufstieg, sie erwiderte deshalb mit großer Lebhaftigkeit: „Aber Hugo, gerade in diesem Falle kann doch niemand an dergleichen denken. Wir betonen bei allen, daß es eigentlich ein Freundschaftsdienst ist, den wir Marien und den Eltern erweisen, daß wir gern die Gelegenheit benutzen, unsere Kinder Englisch lernen zu lassen …“

„Gut, gut –“ unterbrach sie ihr Gemahl, „daß es Dir an Gründen nicht fehlen wird, glaube ich. Wir wollen jetzt die Sache ruhen lassen und zu Tisch gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

Am andern Abend schrieb Emmy an Marie: „Ich habe es bei Hugo durchgesetzt! Der junge Weston kann kommen, sobald er will, und schreibe seiner Mutter, daß ich über ihn wachen will, als ob er zu den Meinigen gehörte.“

(Fortsetzung folgt.)

Venetianisches Ständchen.

Neige Dich, Du Holde, Schöne!
Neige huldvoll Dich hernieder
Dort von des Balkones Rande –
Meiner Mandoline Töne
Bring’ ich Dir und Liebeslieder,
Die zum Gruß der Frühling sandte.

Sieh! am dunklen Himmelsraume
Schimmern golden rings die Sterne,
Und der Mond glänzt silberhelle,
Alles liegt im tiefen Traume,
Alles schläft – Verrath ist ferne,
Und verschwiegen ist die Welle! – –

 Martinus Meyer.


[26]

Aus den Werkstätten des Lichts.

Ein Blick auf die Berliner Lampenindustrie.
Von Erich Salzmann. Mit Abbildungen von C. Stöving.

Läßt sich der Fremde, der Berlin besucht, lediglich von seinem Reisehandbuch leiten, so sieht er in der Regel nur die glänzenden Bilder der Hauptstraßen; er bewundert die Residenz mit ihren Schlössern und Museen, mit ihren Verkaufsläden und Cafés, ihren Theatern und Schaustellungen. Er wandert unter den Linden und in der Friedrichstraße umher, durch die Leipzigerstraße, durch den Thiergarten und durch die endlosen Villenzüge des vornehmen Westens. Führt ihn aber Zufall oder Absicht in der Frühe des Morgens in andere Theile von Berlin, nach Norden oder Süden etwa, so wird er ein ganz anderes, aber in seiner Art gewiß nicht weniger großartiges Bild heimwärts tragen. Er wird unabsehbaren Menschenfluthen begegnen, die von der sechsten Stunde ab in die Fabriken und Werkstätten münden, und wird sich durch den Augenschein überzeugen, daß die ehedem als Witzwort aufgestellte Behauptung, Berlin sei der größte Fabrikort Deutschlands, jetzt eine ganz einfache, nüchterne, durch Zahlen zu belegende Wahrheit geworden ist.

Haust nun vor dem Oranienburger Thor die Großindustrie, der Maschinenbau, werden dort Lokomotiven und Torpedos geschmiedet, so ist am entgegengesetzten Pole, im Süden, in der Luisenstadt, die Kleinindustrie, die aus dem Handwerk herausgewachsene Fabrikthätigkeit – und zwar von altersher – angesiedelt. Aus kleinen Anfängen entsprungen, ist gerade sie zu hoher Blüthe gediehen und hat ihren Erzeugnissen Rang und Namen in der ganzen Welt verschafft.

Es ist eigenthümlich, daß Erwerbszweige, die durch Förderung von oben her an die Spree verpflanzt worden sind, nur ein Treibhausleben geführt haben und trotz aller Fürstengunst wieder eingegangen sind oder doch zu keinem wesentlichen Mittel für die Ernährung der zunehmenden Menschenmenge sich zu entwickeln vermochten. Die Seidenwirkerei, dies Lieblingskind zweier Könige, ist nach großen Opfern spurlos verschwunden, nur die vielen Maulbeerbaumpflanzungen zeugen noch von der Seidenwürmerzucht, mit welcher man der Lombardei und der Provence das Feld streitig zu machen trachtete; und die königliche Porzellan-Manufaktur leistet zwar selbst künstlerisch Vollendetes, hat aber ihren Hauptzweck, zur Nachfolge anzueifern, nicht erreicht. Ganz aus eigener Hand haben sich dagegen Industrien nach Berlin gezogen, die den Wettbewerb der Welt aushalten, die für viele Tausende Arbeit und Brot gebracht haben.

Der moderne Mensch braucht Licht, viel Licht: eine gewaltige Summe von Thätigkeit und Intelligenz wird zur Befriedigung dieses stets wachsenden Bedürfnisses aufgewandt, und an diesem Kapital von Schaffenslust und Schaffenskraft ist Berlin in allererster Reihe betheiligt. In der Beleuchtungsindustrie marschiert diese Stadt an der Spitze nicht nur Deutschlands, sondern Europas, ja man darf sagen, der Welt.

Wir sprechen heute nicht vom Kampfe des Gases mit der Elektrizität, in welchem der einstige Reformator von dem Ansturm einer ganz frischen Revolution schwer bedrängt wird, wir haben nicht den Krieg gegen die Finsterniß auf Straßen und Märkten, sondern den gegen die Dunkelheit in den Häusern im Auge, welchen die Petroleumlampe ausdauernd und kräftig führt.

Die Petroleumlampenindustrie ist ein sehr wesentliches Glied im Erwerbsleben der deutschen Reichshauptstadt geworden: die Arbeiter, welche sie jahraus, jahrein beschäftigt, halten der Einwohnerzahl einer kleineren deutschen Stadt die Wage. Und wie winzig sind die Anfänge, aus denen dieses stattliche Heer erwachsen ist!

Der Monteur.

Es war unter der Herrschaft des Rüböls: der Klempner schnitt nach altem Modell aus Weißblech die Küchenlampe, etwa in der Form einer Bockwindmühle, zurecht, und der aus dicken Fäden gedrehte Docht speiste eine Flamme, die weniger weit leuchtete als sie dunstete und qualmte. Bei der grünen Schirmlampe arbeitete der Gelehrte, noch ehe sie durch den Erfinder zu einem minderen Grad von Flatterhaftigkeit genöthigt worden war.

Andererseits war in Berlin durch die französischen Refugiés die Anfertigung von Lackierwaren in Aufnahme gekommen. Der Samen, den diese unfreiwilligen Pioniere des Geschmacks auf den Wegen ihrer Verbannung ausgestreut, hatte auch an anderen Orten Deutschlands, z. B. in Braunschweig, Wurzel geschlagen. Der Kleinbetrieb hob sich dort in dem Maße, daß ein strebsamer Mann Namens Stobwasser schon im Jahre 1763 eine Art Lackierwarenfabrik ins Leben rufen konnte. Um dem Unternehmen eine größere Ausdehnung zu geben – die Grenzen des eigenen Landes waren gar zu eng und der Zollverein lebte damals nur in patriotischen Träumen – verlegte es einer seiner Nachkommen im Anfang der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts nach Berlin und zwar in die Wilhelmstraße, in Räume, welche die wachsende Fabrik bis vor fünf Jahren benutzt und ausgefüllt hat. Der Betrieb war ein [27] handwerksmäßiger, mit Gewerkmeistern und Gesellen - eine Form, welche, trotzdem inzwischen Maschinen zum großen Theil die Handarbeit ersetzt haben, im Stobwasserschen Geschäft aus alter Anhänglichkeit bis heute äußerlich erhalten geblieben ist, während die seitdem entstandenen ähnlichen Unternehmungen von Anfang an die neuerdings übliche unmittelbare Abrechnung zwischen dem Arbeiter und dem Fabrikanten gewählt haben. – Die Stobwassersche Fabrik zog nun die Anfertigung von Lampen in den Bereich ihrer Thätigkeit und erwarb sich und Berlin einen geachteten Namen in diesem Geschäftszweige. Die messingene Schiebelampe mit ihrem gleichmäßig ruhigen Licht wurde der Hausfreund in den weitesten Kreisen, und wenn sie auch die ihr gespendete Gunst nicht ebenso gleichmäßig vertheilte, wenn auch der Oelkasten zugleich ein Schattenspender war, so daß dies Licht nicht parteilos über die ganze Familie sich ergoß, so war doch der Fortschritt ein derartig „einleuchtender“, daß die „gemüthliche Schiebelampe“ später schwer zu vertreiben war und sogar, trotzdem ihre Anlage gar nicht darauf berechnet war, für Petroleum umgemodelt wurde.

Der Bronzeguß.

In Frankreich hatte man inzwischen neue praktischere Formen für Rüböllampen erdacht. Nacheinander kamen von Paris aus die „Astrallampe“ mit ihrem kreisrunden Oelbehälter und der „Moderateur“, bei dem das Oel aus dem Reservoir herausgepumpt wurde, nach Deutschland und regten zu Nachbildungen für den deutschen Markt an. Die Firma Stobwasser schenkte allen diesen neuen Erscheinungen ein aufmerksames Auge, und es ist bezeichnend, daß ihre Rübölschiebelampen und Moderateure noch jetzt für gewisse Liebhaber in Deutschland und für die Ausfuhr weiter angefertigt werden. Bald aber regte sich in Berlin selbst ein tüchtiger Wetteifer, und namentlich zwei junge Leute, die von der Pike auf gedient, im Stobwasserschen Geschäft und in Paris ihre Erfahrungen gesammelt hatten, die noch lebenden Inhaber der Firma Wild und Wessel, halfen, aber für eigene Rechnung, in der Mitte der fünfziger Jahre die französischen besseren Lampen durch zuverlässiges inländisches Fabrikat gänzlich vom deutschen Markt verdrängen. Inzwischen waren auch verschiedene Mineralöle auf den Kampfplatz getreten. Photogen und Solaröl trachteten danach, das Kind des Rapses abzulösen, und wenn diese Lichtspeisen auch nicht viel Boden zu gewinnen vermochten, so regten sie doch den Erfindungsgeist mächtig an und gaben Anlaß zu Fortschritten in der Lampenfabrikation, welche bei der großen Umwälzung in der Beleuchtungsfrage, die sich jetzt näherte, von ganz wesentlichem Vorteil waren.

Am Löthofen.

Das Jahr 1859 trat unter denkwürdigen Erscheinungen ins Leben; sein erster Tag brachte den Neujahrsgruß Napoleons III. an den österreichischen Gesandten, welcher die Nationalitätsfrage in Italien aufrollte und in der Folge der Karte Europas eine gänzlich veränderte Gestalt gab; und während so große Ereignisse ihre Schatten voraus warfen, kam eine neue flüssige Lichtquelle von jenseits des Meeres in den sich verjüngenden Welttheil, kam das erste amerikanische Petroleum nach Europa. Schon die erste Sendung erregte eine völlige Revolution. Es fanden sich kühne Leute, welche die vorsorglich mitgesandten Lampen sammt dem neuen Brennstoffe zu probieren sich erdreisteten, und als man gesehen, daß alles gut war, stürzte sich die deutsche und im besonderen die Berliner Fabrikation mit Eifer auf das neue Gebiet und arbeitete so nachhaltig, daß sehr bald zwar das amerikanische Rohprodukt recht gesucht war, die amerikanischen Lampen aber überflüssig waren. Die Lampenfabriken schossen in Berlin aus der Erde hervor [28] und ihre Erzeugnisse gingen bald weit über die Grenzen des Landes hinaus. Längere Zeit wußte man freilich die Petroleumlampe lediglich mit Flachbrennern auszurüsten – dann entstanden Rundbrenner noch ziemlich unpraktischer Bauart und mit schwer zu behandelnden Dochten, bis etwa im Jahre 1865 die im wesentlichen jetzt noch gültige Grundform der Rundbrenner mit flachem Docht zur Annahme gelangte. Auf dieser Grundlage sind sämmtliche neueren Systeme der Petroleumbeleuchtung aufgebaut, und der Firma Wild und Wessel gebührt unzweifelhaft der Ruhm, in ihrem damals eingeführten Kosmosbrenner die erste Konstruktion solcher Art geschaffen zu haben. Die einfachen Flachbrenner sind im Laufe der Jahre völlig aus der Berliner Fabrikation ausgeschieden; auf ganz billige Lampen für die Ausfuhr beschränkt, machen sie nicht mehr die größeren Anfertigungskosten dieses Platzes bezahlt und werden nur noch an einigen anderen Orten Deutschlands hergestellt.

Mit seinen Rundbrennern aber beherrscht Berlin den Weltmarkt, ganz Europa ist ihm tributpflichtig. Trotz Paris und Wien hat es selbst in Frankreich und Oesterreich seine Eroberungen gemacht; in Rußland aber, in Skandinavien, England, im ganzen Süden und im Orient herrscht es unumschränkt, und die Berliner Lampe leuchtet in Hammerfest wie in den Gemächern des türkischen Paschas. Südamerika, Afrika, China und Australien sind besonders günstige Absatzgebiete, und man versichert, daß von der Wiege der Petroleumlampe, von den Vereinigten Staaten, nur der Schutzzoll den deutschen Wettbewerb einigermaßen fernhält.

Wie entsteht nun eine solche Lampe?

Eine Petroleumlampe? Eigentlich gar nicht; sie kommt stets mit einer großen Anzahl Schwestern zugleich zur Welt, und auf welche Weise eine so zahlreiche Gesellschaft ins Leben gerufen und für ihren Beruf tüchtig gemacht wird, wollen wir in großen Zügen dem Leser zu zeigen versuchen.

Sehen wir uns zunächst die Fabrik von außen an: wer da geglaubt hat, eine stolze Ritterburg der Industrie zu finden, wie sie an des Rheines kühlem Strome oder sonst im Lande sich aufbauen, der wird enttäuscht sein. Kein von Mauern umschlossenes Viereck in Ziegelbau, hoch überragt von emporstrebenden Wartthürmen, den mächtigen Schloten, die schwarzes Gewölk ausathmen! Die Berliner Lampenfabrik, wie sie sich gerade in ihren bedeutendsten Anwesen darstellt, steht ganz bürgerlich in Reihe und Glied der Straßenhäuser, und ihr Vorderhaus deutet auf Wohnräume. Im Erdgeschoß befindet sich wohl das Musterlager, da ist die Buchhalterei, das Komptoir, und die gewölbten Kellereien sind von dem viel Platz in Anspruch nehmenden Glaslager gefüllt; der Schornstein aber, das auch hier nothwendige Uebel, ist soweit als möglich nach hinten verbannt. Er verbirgt sich schämig und hat ganz und gar nicht die Aufgabe, Reklame zu rauchen. Drei Höfe mit Quergebäuden: das ist der Typus der Berliner Lampenfabriken, und in diesen Baulichkeiten dehnen sich die Arbeitssäle und thürmen sich bis zum vierten Stock.

Die Lampe besteht in ihren wesentlichsten Theilen aus Zink und Kupfer, und der Urstoff kommt in Barren oder in der Gestalt von Messingblech aus den Hütten. Wir betreten zuerst die Gießerei, wo die „Füße“, die Vasenbehälter und sonstige Untertheile hergestellt werden. Die Zinkgießer haben leichtes Werk; ihr Material läßt sich bequem schmelzen und mit dem Löffel direkt in die Form bringen. Geschwind füllen sich die Körbe mit dem Ergebniß, welches zu den Metalldrehern wandert, um sich an der Drehbank die Ecken und Kanten abschleifen zu lassen.

Der Saal für die Brennerfabrikation.

Mühseligere Arbeit erheischt der „Bronzeguß“. Das hier zur Verarbeitung kommende Metall besteht im allgemeinen aus Kupfer und Zink im Verhältniß von 3 zu 2. Die Erfahrung läßt kleine Zusätze von Zinn oder sonstigem Metall räthlich, für bestimmte Farbenabstufungen auch eine andere Zusammensetzung des Schmelzgutes angebracht erscheinen. Die Modelle hat ein Künstler entworfen und in Thon geformt, der Modelleur in Gips oder Holz nachgebildet; sie sind alsdann in der Fabrik selbst gegossen und sorgfältig ciseliert worden. Sie häufen sich im Laufe der Jahre und zieren, sauber registriert, die Wände als überaus theurer Zimmerschmuck, vor dem nur ein sehr kleiner Theil durch fortlaufenden Gebrauch die Lagerkosten verdient. Die Bronzegießer sind größtentheils auch Former. In schweren eisernen Kästen wird dem schwarzen Formsand das Modell eingedrückt, die so gebildete Form im Trockenofen gehärtet und im Gießofen die Metallmasse in Graphitgefäßen bis zu leichter Flüssigkeit erhitzt. Drei starke Männer nehmen aus der weißen Gluth den gewichtigen Behälter, und rauschend ergießt sich das siedende Metall durch die offen gelassenen Wege bis an die gesteckten Ziele. Die [29] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



Form kann für den Bronzeguß nur je einmal benützt, für jedes Stück muß sie besonders hergestellt werden. Das spiegelt sich natürlich im Preise ab, und für die billigeren Lampen wendet man deshalb Zinkguß an, dem man entweder in der Lackiererwerkstatt die gewünschte Farbe oder den beabsichtigten Metallglanz giebt, oder den man auf galvanischem Wege vergoldet, versilbert, vernickelt, verstählt, verkupfert, bronziert, vielfach auch durch wiederholte Behandlung zur Annahme zweier oder dreier Metallschattierungen zwingt. Lampenkörper aus Glas, Majolika, Porzellan, die vielfach verwendet, aber in Berlin nicht erzeugt werden, kommen in großen Massen aus Böhmen und Schlesien, Ungarn und Mähren, vom Rhein und selbst aus dem weit entfernten Japan.

Bei den Monteuren vorbei, deren Obliegenheit in dem Zusammensetzen der Lampentheile besteht, kommen wir zu den Arbeitergruppen, welche sich mit der Verarbeitung der Messingbleche beschäftigen. Mit Riesenscheren oder durch „Balanciers“ (Prägewerke, durch Schleuderhebel in Bewegung zu setzen) werden die Bleche zerschnitten, Röhren der verschiedensten Durchmesser werden hergestellt, gezerrt und geglättet, um zur Anfertigung der Brenner vorbereitet zu werden, Glockenringe und Verbindungsstücke werden vorerst roh zubereitet. Sämmtliche Messingtheile gehen alsdann durch die verschiedenen Stationen der Beize, eine Reihe von Säureverbindungen, und verlassen sie, vom Schmutze gereinigt, mit schönem hellen metallischen Glanz.

Mächtige Säle enthalten die Zunft der Metalldrücker, aus deren geschickten Händen der Brenner schon in seiner wesentlichen Form hervorgeht.

Eine ebenso endlose Reihe bilden die Klempner, von denen ein jeder vor seiner Flamme, emsig löthend, sitzt; einen anderen Saal nehmen die Gürtler ein, Handwerksleute, welche mit aufmerksamem Auge jeden Messing– und Bronzetheil zu prüfen und mit der Feile nachzubearbeiten haben. Viel mechanischer ist die Thätigkeit der Schnittarbeiter, deren Balanciers das Unglaublichste an automatischer Wirksamkeit leisten: der eine stößt in eine Brennerhülle zweihundert Löcher und zwar in wechselnder Form und zweierlei Art – genau nach dem 200. Stoß bleibt er stehen, die neue Arbeit erwartend; ein anderer zackt zwei Brenner-Aufsatz-Ringe gleichzeitig und mit einem Schlage in die bekannte zierliche Form aus, ein dritter stanzt eine runde Platte aus, prägt sie von beiden Seiten, zackt zugleich den Rand und setzt endlich noch einen Stift ein.

Scharen von jungen Mädchen sind damit beschäftigt, die fertigen Lampentheile zusammenzusetzen, sie einzupacken und, mit den ihnen gebührenden Zeichen versehen, an die gehörigen Stellen zu legen: denn eine sehr sorgfältige Ordnung ist vonnöthen, will man sich bei der Ausführung der Aufträge in diesem Meer von Formen und Zusammenstellungen, von Farben und Größen zurechtfinden.

Ein Bild dieser unendlichen Vielheit giebt das Musterlager, obgleich dort nur die nothwendigsten Anhaltspunkte für den vorher schon durch Zeichnungen vorbereiteten Käufer gesammelt sind. Da erblickt man Gehänge aus Bronze, aus Zink- und Eisenguß, Tischlampen der werthvollsten und der billigsten Art, für jeden Geschmack und für jedes Land. Hier eine Gattung, die nur in China gekauft wird, dort eine, die dem Sinn der Spanier entspricht, gräcisierende hohe Säulen im Stil des Empire, für England bestimmt, welches für diese Großmuttererinnerungen besondere Vorliebe hat, daneben ein reizendes Modell nach echt hellenischem Vorbild, hohe Ständerlampen für den Salon, mit breitem oft phantastisch geschmücktem Dach, das alles ist in den Räumen zusammengedrängt. Schmucke Arbeiten nach guten Renaissancevorbildern zeigen sich neben dem Barock, das jetzt von der Mode – die auch auf diesem Gebiet herrscht – so lebhaft bevorzugt wird. Dazu kommen noch Besonderheiten aller Art, Lampen für das schwerere Solaröl, Sicherheitslampen, Studier- und hygieinische Lampen mit konzentrierter Flamme und zwiefachem Schutzcylinder – mit einem Wort, das Musterlager ist die Arche Noäh für Beleuchtungsgegenstände.

Der Kampf ums Dasein zeitigt fortwährend neue Formen, neue Erfindungen und – neue Namen. Der Weg zu den letzteren ist ungefähr folgender: Ein Fabrikant ersinnt eine neue Lampe und bringt sie unter dem Namen „Reformlampe“ in den Verkehr. Ein Konkurrent nach dem anderen sieht sich genöthigt, den Grundgedanken des neuen Brenners mit einigen Aenderungen für seine „letzte Neuheit“ zu verwerthen und jenen Vorgänger zum mindesten durch einen schöneren, stolzeren Namen zu schlagen, und auf der Leiter der Phantasie gelangt man von der "Reform" nach und nach zur "Viktoria"-, zur "Gloria", zur "Triumph-Lampe".

[30]

Das Galvanisieren.

In einer Lampenfabrik, wie die hier beschriebene, sind etwa 250 Arbeiter ständig beschäftigt, welche im Jahr ungefähr 1 000 000 Brenner fertigstellen, die allerdings zum Theil als solche in den Engrosverkehr kommen. Man rechnet, daß etwa 10000 Menschen in Berlin in der Petroleumlampen-Fabrikation ihr Brot verdienen, doch ist die Zahl keine genaue, da die Grenzen dieses Beschäftigungszweiges nicht scharf abzustecken sind. Berlin besitzt etwa zwanzig solcher Fabriken, unter denen die Firma Schuster und Baer und die bereits früher genannten beiden ältesten Anwesen die nahmhaftesten sein dürften. Dann folgt eine Reihe solcher, die nur Lampentheile, entweder Brenner und Messingtheile oder nur Lampenfüße und -körper, anfertigen, endlich solche, die alle Bestandtheile kaufen und nur eine eigene Lackiererei haben oder endlich bei den zahlreichen selbständigen sogenannten „Blech-Lackierermeistern“ lackieren lassen.

Mehrere hundert Firmen bezeichnen sich selbst als Inhaber von Lampenfabriken. Nach ganz mäßiger Schätzung verlassen jährlich zehn bis zwölf Millionen Rundbrenner Berlin. Zu jedem dieser Brenner gehört doch, wenn er seinen Daseinszweck erfüllen soll, endlich einmal eine Lampe und ein Käufer. Man denke, welch eine Fluth von Helle sich damit entfesseln läßt, wieviele Stätten emsiger Arbeit und traulicher Behaglichkeit aus dieser Quelle ihr Licht schöpfen!


Neunzig Jahre Männermode.

Von Cornelius Gurlitt. Mit Zeichnungen von O. Seyffert.
I.

Wenn nach Jahrhunderten die Besucher eines Ahnensaales an den Bilderreihen dahinwandeln, so wird ihr Auge gewiß nachdenklich auf den Werken des 19. Jahrhunderts ruhen. Sie werden zwar, die Reihe der Frauen überschauend, finden, daß diese nicht wesentlich von früheren Zeiten sich unterscheiden: sie tragen veränderten Schnitt der Kleider, aber die alten Stoffe, farbenreiche Seiden und Sammte, Atlas und bunte Wollenstoffe, Brokate und bestickte Bahnen, zierliche Bänder und Spitzen, reiches Geschmeide am Hals, im Ohr, an den Armen. Es lebt in ihnen der alte Schmucksinn, vom Federnhut herab bis zu der mit Schnallen oder Rüschen verzierten Schuhspitze, ein Sinn der Festlichkeit, der Lebenslust, des Drangs nach dem Schönen, und zugleich ein liebenswürdiges Mitgefühl für die Welt: denn „wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten.“

1817.

1802.

Daneben stehen aber die Männer des 19. Jahrhunderts: in schwarzem Frack, schwarzer Weste, schwarzen Beinkleidern, schwarzem hohen Hut, schwarzen Schuhen; dazu weiße Wäsche, weiße Handschuhe – also ohne die geringste Farbe, in wahrem Leichenbittergewande. Und doch: dieser hat ein schmales buntes Band im Knopfloch, jener ein breites und einen Stern mit Brillanten auf der Brust. Endlich Farbe, endlich wenigstens etwas Gold: denn die Brustnadel, die Uhrkette, der Siegelring, das sind alles Kleinigkeiten, welche auf die Gesammterscheinung fast ohne Einfluß sind. Wo sind die Zeiten hin, da der Landsknecht in modefroher Laune alle möglichen Farben auf sich häufte, da der Hofmann in zierlichem Reichthum mit den Frauen wetteiferte, da der seidene, gestickte Frack, die Beinkleider aus gepreßtem Sammet, die reichen Degengehänge, die Berlocke und glänzenden Metallknöpfe noch zur Erscheinung des Mannes von Welt gehörten?

1840.

Freilich, da steht ja im Ahnensaal auch ein Mann unserer Zeit in buntem Kleid! Der blaue Rock hat einen wie mit dem Lineal abgerissenen steifen rothen Kragen und ähnliche Aermelaufschläge, eine schnurgerade Linie blanker Metallknöpfe, eine Anzahl schmaler und breiter Streifen hier und dort, die aber alle streng senkrecht oder wagerecht verlaufen, nicht erfunden sind, um einen Mann zu schmücken, sondern einer langen Reihe von Männern den Eindruck einer unerschütterlichen Einheit zu geben. Es ist ein Soldat. Bunt ist der freilich genug; aber die Farbentöne sind nicht von ihm und für ihn gewählt.

Sie haben dieselbe Eigenschaft wie der bunte Schmuck der Civilisten: der König, der Staat, eine öffentliche Autorität gab dem Manne, was ihn schmückt.

Diese allein sind Herren über alles Farbige, sie können durch ein Machtwort uns die erschrecklichsten Farbenzusammenstellungen begehrenswerth machen, sie allein brechen den farbenstumpfen Sinn der Männerwelt und reißen sie aus der ertötenden Eintönigkeit heraus.

[31] Wir sind ja eigentlich nicht so ganz des Sinnes für Farbe beraubt: der liebt einen bunten Hausrock, jener schöne, mit Blumen bestickte Pantoffeln oder Mützen; auf der Jagd trägt mancher ein etwas lustigeres Gewand – aber wenn wir uns „schön machen“ wollen, dann hüten wir uns ängstlich, die Regel der Farblosigkeit zu überschreiten! Schon ein allzu rother oder blauer Schlips, das Hervorschauenlassen eines bunten Taschentuches, ja die Blume im Knopfloch erscheint des „ernsten“ Mannes unwürdig. Selbst der flotte Student wartet, bis ihm sein Corps das Band und die Mütze giebt. Für sich wagt keiner von uns die graubraune oder schwarze Grundstimmung unserer Kleidung zu durchbrechen.

Die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg, die Zeit der beginnenden stehenden Heere hat die Soldaten in ein einheitliches Gewand gepreßt, an Stelle der launenhaften Landsknechttracht eine völlige Unfreiheit gesetzt, so daß ein Rock allen Kriegern desselben Regiments gemeinsam wurde. Die napoleonischen Kriege haben die Regimentsunterschiede bis auf kleine Merkmale verwischt, kommende Zeiten werden vielleicht die Unterschiede der Truppentheile ganz aufheben und beim Soldaten die Einheitstracht vollständig durchführen. Neben dieser Gleichmacherei ging freilich auch die Entwicklung des Unterscheidungswesens her: den Grenadier oder Musketier vom Gefreiten, diesen vom Unteroffizier bis hinauf zum Feldmarschall unterscheidet immer ein Knopf mehr, ein hinzugefügtes Streifchen Goldlitze und dergleichen. Aber man hält fest an dem Grundsatz, daß ein Kleid alle Krieger ziere: des Königs Rock!

Es wäre hier eine sehr schöne Gelegenheit, über den Militarismus loszuziehen, doch weiß ich nicht recht, welche seiner beiden widersprechenden Seiten dem geehrten Leser gerade die unangenehmere ist! Seine gleichmachende oder seine sondernde Gewalt. Mir scheint das deutsche Heer und, als diesem nachgebildet, scheinen mir fast alle Heere eine demokratische Aristokratie darzustellen. Das ist ja eigentlich ein Unsinn, aber es hat Methode! Die Gleichheit ist demokratisch, die Unterscheidung aristokratisch.

Der Rock des Bürgers und der des Soldaten hat denselben Ursprung. Seine faltenlosen Schöße fallen von dem eingezogenen Gürtel nieder; er gleicht einem umgestülpten, vorn aufgeschnittenen Sacke, durch dessen Boden der Kopf gesteckt ist; er war zuerst das Kleid der Soldaten und ist durch die Uniform Gemeingut der Welt geworden, ein Erbstück aus der Zeit Ludwigs XIV. Unter diesem Könige waren schon alle seine Merkmale ausgebildet. Zunächst die schneidermäßige Haltung: denn nicht mehr wird der Körper mit dem Stoffe, meist schwerem Tuch, in zwanglosen Falten umhüllt, sondern der Schneider ordnet jede Einzelheit mit Schere, Nadel und Bügeleisen ein für allemal. Es entstanden die steifen Kragen, mögen sie nun emporstehen oder umgeklappt sein, die feste Form des aus Keilstücken zusammengeschnittenen Leibes, die engen Aermel, die langen Schöße. Und da der Sack, wie gesagt, vorn aufgeschnitten war, umhüllte man den Leib mit einem zweiten solchen, der Weste, um ihn vor Erkältung zu schützen. An diesen Haupttheilen der Kleidung, die so ganz anders gestaltet sind als die freier, flotter behandelten Gewänder des Mittelalters, hat sich nichts geändert. Ob nun die Schöße abstehen oder eng anschließen, vorn zusammenstoßen oder zum Frack zurückgeschnitten sind, ob die Knöpfe eine oder zwei Reihen bilden, benutzt werden können oder bloß zum Schein angebracht sind, ob die Taschen vorn, hinten oder an der Seite sitzen – das alles ist nebensächlich gegenüber der Thatsache, daß nun seit über 200 Jahren dies Kleidungsstück die Männerwelt beherrscht und alle Bestrebungen, die Erscheinung des Mannes eigenartiger, selbständiger, freier zu gestalten, tückisch verhindert. Wer je ein Kostümfest veranstaltet hat, weiß, daß mit diesem Rock die größten Schwierigkeiten für die Echtheit der Nachbildung beginnen. Ein geschickter Künstler, eine gewandte Frau kann ein antikes, ein mittelalterliches Kleid, auch das der Renaissance, ohne weiteres zuschneiden, sodaß der Faltenwurf den Eindruck vollkommener Echtheit hervorruft. Mit dem neuzeitlichen Rock beginnt die eigentliche Kunst des Schneiders, das Zusammenflicken vieler Theile zu einem festen Gebäude, das Falten nicht wirft, sondern womöglich vermeidet, außer jenen, die ihm mit den Bügeleisen eingezwungen werden; mit ihm beginnt das Männerkleid, nicht mehr Ausdruck des individuellen Geschmackes seines Trägers, sondern des Schneiderstandes zu werden.

Der Besteller hat immer weniger in der Frage mitzureden, wie sein Kleid beschaffen sein soll. Wenn ich Soldat bin, weiß ich wenigstens, wer den Zuschnitt meines Rockes bestimmt; wenn es mich interessiert, kann ich die Namen der Mitglieder der Bekleidungskommission erfahren und streben, auf sie Einfluß zu gewinnen; ich kann vielleicht vom Herrscher ein menschliches Rühren erhoffen, daß er mir unschön Erscheinendes ändern werde. Was kann ich aber gegen die Mode thun, gegen den fest geschlossenen Schneiderring? Nichts als gehorsam, treu und gewärtig sein der Befehle aus unbekanntem Munde. Trage ich einen unreglementmäßigen Rock als Soldat, so komme ich im schlimmsten Falle auf eine gewisse Zeit in Arrest, trage ich einen solchen als Civilist, so verfalle ich für alle Zeit dem Gelächter. Und das ist wahrlich die grausamere Strafe!

Wenn man die Sorge für sein Aeußeres nach Art theologischer Eiferer für sträfliche Eitelkeit, für eine kindische, des reiferen Geistes unwürdige Weltlust hält – dann freilich hat der Menschengeist seit hundert Jahren große Fortschritte gemacht! Oder wenn man nach Gelehrtenart seine Aufmerksamkeit, die eben vielleicht gerade der Kostümkunde der Griechen mit wissenschaftlichem Eifer zugewendet ist, für viel zu wichtig hält, um sie auf sich selbst, also von innerlichen auf angeblich äußerliche Dinge zu lenken – dann sind wir im Hinblick auf den Ernst sehr viel weiter gekommen, früheren Zeiten gegenüber. Mir will aber dieses Lob unserer Zeit nicht recht gefallen, mir scheint der Sinn für unser Aeußeres verkümmert. Das sieht man am Stillstehen der Herrenmoden gegenüber der Beweglichkeit der Frauenmoden. Die Nationen haben aufgehört, wie früher in der Bekleidungsfrage selbst mit zu arbeiten. Sie haben diese den „Fachleuten“, den Schneidern überlassen. Und diese sind nicht für einen Fortschritt, der plötzlich den Werth ihrer Künste in Zweifel setzen könnte. In unserem ganzen Jahrhundert schwankten durch alle „gebildeten“ Nationen sogar die Formen der Kleider so wenig, daß ein in Modesachen nicht tief Eingeweihter in späteren [32] Jahrhunderten den Elegant von 1840 schwerlich von jenem von 1890, den von Paris sicher nicht von dem Wiener wird unterscheiden können.

Der Beginn des neunzehnten Jahrhunderts stand unter dem Zeichen des Freiheitskampfes, welchen der Bürgerstand gegen das Königthum und die Aristokratie führte. Freiheit im Namen der naturgemäßen Entwicklung war das Stichwort der Zeit. Auch in der Kleidung wurde ihm nachgestrebt. Die Unnatur zu bekämpfen wurde auch hier ein beliebter Vorwand zur Aenderung des Geschmackes. Die Befreiung von der Fessel einer verschrobenen alten Mode vollzog sich anfangs mit raschem Erfolg am Kopf des Mannes selbst. Vor der Revolution schwanden die Perücke und der Zopf dahin. Aber wie dergleichen Dinge nicht auf einen Schlag fallen, so blieben auch diese beiden Abzeichen der alten feudalen Herrlichkeit bis in die dreißiger, vierziger Jahre hinein. Der gepuderte Kopf wurde in den ersten Jahrzehnten an den Höfen noch vielfach getragen.

Das Zöpfchen wurde zwar kleiner und kleiner und verschwand zuletzt verschämt und schüchtern ganz in der Halsbinde. Aber viele nahmen es mit ins Grab – konnten sich von ihm nicht trennen. Die junge Welt jedoch, namentlich die künstlerisch begeisterte, sah in diesem Reste des Rokoko das Bild alles dessen, was sie bekämpfte, alles Unfreien und Akademischen, alles Veralteten und Gezwungenen. Die ganze ältere Kunst schien ihr „Zopf“. W. Kaulbach malte seine künstlerischen Lehrer und Genossen an der Münchener Pinakothek im Kampf mit den Zopfträgern; die Freiheit, die Schönheit, die edle Einfalt, alles hatte nur einen Feind: den Zopf. Zopf war alles Nüchterne und alles Verschnörkelte, alles, was nicht der Antike, dem Vorbilde der Griechen, oder der Gothik, dem Vorbilde der Romantik, entsprach; Zopf war fast die ganze Renaissance, der ganze Barockstil, das Rokoko; zwei, drei Jahrhunderten wurde das Schwänzchen ans Haupt angebunden, weil sie nicht so waren, wie die junge Welt sie sich wünschte. Man war damals sehr streng in seinem Urtheil, sehr fest in seinen Grundsätzen, sehr einseitig in seinem Geschmack. Das kam daher, weil jene Zeit den bekämpften Zopf unsichtbar selbst noch im Rücken trug. Man wurde ihn durch einfaches Abschneiden nicht los. Heute sehen wir nur zu deutlich, daß das Zöpfchen der Alten zu den Titusköpfen der Jungen sehr gut stand, daß beide im Grunde genommen vielfach zusammengehörten.

Die Revolution hat der Welt den sogenannten Tituskopf geschenkt, das heißt eine Anordnung des Haares in kurzen, leicht geringelten Locken von gleicher Länge, welche also die Rundung des Kopfes klar zur Schau brachte. Man hatte das Vorbild an den Büsten der alten römischen Kaiser gefunden, Frauen wie Männer begeisterten sich für die neue „natürliche“ Haartracht. Diese Mode stammt also ebenso sehr aus der Begeisterung für die antike Kunst als aus dem Freiheitsdrang. Denn es mag den Menschen jener Zeit unsagbar wohl gewesen sein, als sie die Perücke und den Zopf, die fest geschniegelte Haarbehandlung los wurden. Der Tituskopf bot aber keineswegs ein Bild unbändiger Freiheit, er war nicht als Struwwelkopf gedacht, sondern er wurde jederzeit in Paris von Friseuren geordnet, deren Namen in aller Mund waren und in deren Läden die Büsten berühmter Griechen und Römer in Gipsabdrücken als klassische Vorbilder aufgestellt waren. Einzelne Stürmer, die in „eigenen Haaren“ gingen, haben zwar die Künsteleien verworfen und mit dem fünfzinkigen Kamm, der gespreizten Hand allein für Ordnung unter ihren Locken gesorgt. Es waren jene, die das Merkmal der Wildheit tragen wollten, die sich selber „Sauvages“, „Wilde“, nannten und einen schweren Knüttel statt des Stockes mit dem Silberknopf trugen. Die Mode war aber keineswegs so gelaunt, ihr Recht auf die Gestaltung des Kopfes der Willkür zu überlassen. Es waren auch keineswegs alle mit dem Aufgeben der Perücke einverstanden. Ruft doch selbst Jean Paul seinen Zeitgenossen zu: „Ihr Deutschen, thut den Franzosen nur diese häßliche Nacktheit, die den Pickelhäringen und Baugefangenen zukommt, nicht nach, ich bitt’ Euch! Die große Nation hat sich tonsuriert! Es kann die Zeit kommen, wo uns jede Woche zwei Mann zugleich, vorn der Bartscheerer, hinten der Haarkräusler barbieren!“ Freilich war’s bequemer gewesen, seine Perücke zu letzterem zu senden!

Der Haarkräusler legte also die Locken des Tituskopfes nach den Regeln seiner Kunst, ja sehr bald ersetzte er das mangelnde Haar wieder mit Vorliebe durch eine Perücke.

Noch war man zu viel und zu gut gepflegtes, wenn auch künstliches Haar am Manne gewöhnt, als daß man eine Glatze, ja schon eine schwach behaarte Stelle nicht als geradezu unanständig, als eine Entblößung empfunden hätte. Der Sieg der Mode in der Haartracht vollzog sich sehr langsam. Viele widerstrebten: so brachten die Freiheitskriege und die Romantik zahlreiche Köpfe mit langen Locken hervor. Aber in den Modezeitungen wird man von diesen nichts finden. Es zeigte sich hier wie in der Kleidung eine Zeit lang eine Befreiung vom Geschmack der sonst leitenden Kreise, eine fröhliche Unbotmäßigkeit, eine kecke Lust, seine Erscheinung selbst bestimmen zu wollen. Das Aufblühen des Bürgerthums im Kampf mit den Höfen und Regierungen kam in einer ganz neuen Mode der jungen Stürmer zum Ausdruck, in der Mode, nicht modisch gehen zu wollen. Sieht man aber die Modeblätter durch, so bleibt der Tituskopf bis in die vierziger Jahre fast allein herrschend. Er verlor die Strähne auf der Stirn, welche für Napoleon eigenartig ist, nach dem Untergang des Kaisers; er wurde lebhafter bewegt in den Tagen der Befreiungskriege; er bestand aus sorgfältig gerollten, pomadisierten und gebrannten Locken während der Restaurationszeit. Erst mit den vierziger Jahren kam die moderne Haartracht auf mit dem schnurgeraden Scheitel an der linken Seite, den mit Stangenpomade fest angeklebten Haaren, die ursprünglich in einer Locke bis über die Ohren herablagen, dann in den sechziger und siebziger Jahren gern über der Stirne aufgedollt wurden. Die ersten „Sechser“, jene wie eine 6 gebildeten, schön mit Pomade an die Schläfen angeklebten Locken über dem Ohr sah ich in den Modeblättern von 1824. Der Scheitel am Hinterkopf ist, soviel ich weiß, eine Erfindung preußischer Offiziere, diejenige der in den achtziger Jahren auftretenden sogenannten Simpelfranzen, der in das Gesicht gebürsteten beschnittenen Haare, französischen Ursprungs. Beide Formen wetteifern mit einander an Unschönheit. Unsere jungen Ballhelden, die sich vom Zopf so fern glauben, tragen das Haar, dessen schönste Zierden der freie Fall und der natürliche Glanz sind, kaum minder eingezwängt, als unsere Großväter es thaten, kaum minder gekünstelt, sicher nicht schöner!

Inzwischen haben diejenigen gesiegt, welche der Mode nicht folgten. Wir sind heute soweit gekommen, daß jede Haartracht gestattet ist. Locken tragen indessen nur noch wenige. Sie [33] sind uns das Zeichen künstlerisch poetischer Lebensbeschäftigung. Die Maler freilich, die Bildhauer und Architekten haben sie abgelegt – vielleicht infolge des bösen Naturalismus – die ernsten Musiker und Dichter nehmen Abschied von ihnen; es sind meist nur weiße Locken, die man in den Orchestern unserer Hofopern sieht. Den Locken der Schauspieler sind die Theaterintendanten gefährlich. Getragen werden sie noch von Dekorationsmalern,. Holzbildschnitzern und Klavier- und Geigenvirtuosen. Wie ein von der Gesellschaft zu oft gebrauchtes Wort nach und nach herunterkommt, wie z. B. Madame noch vor dreißig Jahren eine vornehme Frau bezeichnete, jetzt fast das Gegentheil, so sind auch die Locken Rückerts und Chamissos, Overbecks und Liszts, wenigstens an jungen Leuten, fast zur Karikatur geworden.

Theater Costüm 1811

Der Bart war um die Wende des Jahrhunderts vollkommen verpönt. Lange, lange Zeit hindurch hatte damals kein Mann, der auf gute Formen hielt, einen Bart an Kinn und Lippe getragen. Daß um 1710 der Bildhauer Permoser in Dresden einen Vollbart trug, hat ihn fast berühmter gemacht als seine ausgezeichneten Werke. Man zeigte ihn sich damals auf der Straße als Sehenswürdigkeit. Der erste Schnurrbart, den ich in einem Modejournal abgebildet fand, ist vom Jahre 1825. Das war ein großes Ereigniß für die „Kleinmeister“, wie man damals die deutschen Schwerenöther in Uebersetzung des französischen „petits maitres“ nannte. Zwar hatten sich viele schon vorher erlaubt, sich Haare unter der Nase wachsen zu lassen, – die Soldaten, auch der deutschen Armee, die Freigeister. Nicht umsonst trug Blücher einen mächtigen Schnauzer, Jahn einen wallenden Vollbart. Schon vorher, 1805, waren eine Zeit lang „Puzelbärte“ getragen worden, das heißt jene kurzen stoppeligen Ansätze zu einem Schnurrbart, wie sie schon Ludwig XIV. und seine Zeit liebten. Aber sie erschienen der Mitwelt und selbst den Modejournalen als lächerlich. Der Schnurrbart war den meisten unappetitlich, gerade gut genug für Leute ohne Form, die große Pfeifen rauchten und sich altdeutsch gebärdeten, für „Knasterbärte“. Aber schon machten die Frauen die Bemerkung, „der Kuß schmecke von stoppeligen Lippen süßer als von kahlem Munde“. Die Männerwelt in ihrer Mehrzahl war trotzdem unhöflich genug, hierauf keine Rücksicht zu nehmen.

Russe

Den „Puzelbärten“ waren die „Spreißbärte“ vorausgegangen, deren Zweck war, den Hals zu schützen und die feinen Halstücher vor Beschädigung zu behüten. Es waren jene Krausen, welche das Gesicht umrahmten, von denen aber die vornehme Welt fast nur den Backenbart beibehielt. Dieser ist dann auch in leichter Form, meist nur bis zur halben Backe reichend, fast durch das ganze Jahrhundert üblich geblieben. Sein Name, Favori, bekundet seine französische Herkunft. Die Engländer trugen ihn in den fünfziger und sechziger Jahren mit Vorliebe in längeren, nach unten gezogenen Spitzen. Heute wird man diese Bartform, die „Cotelettes“, in England nicht öfter als in Deutschland sehen. Sie ist die Mode der Oberkellner und Börsenleute – und der Engländer auf der Bühne. Man kann daraus sehen, daß seit etwa fünfzig Jahren die Schauspieler nicht die Natur, sondern nur ihre Vorgänger kopieren. Während man auf der Straße den Engländer alsbald erkennt, also der feine Beobachter ihn auch sehr gut so darzustellen vermag, wie er jetzt wirklich erscheint, hat die Bühne immer noch den Typus beibehalten, welchen Döring, Dawison und ihre Zeitgenossen schufen, trägt der Lord dort heute noch die „Cotelettes“, den karrierten Anzug, den Shawl und den grauen Cylinder.

Pole

Andererseits ist die Form der Bartkrausen die Lieblingsform der protestantischen Geistlichen geblieben und wurde von Konsistorien und Oberkonsistorien lange gegen die Neuerungssucht junger Theologen vertheidigt, die dem Schnauzbart oder Vollbart einen Platz auf der Kanzel erobern wollten und nun vielfach auch erobert haben. Welche von beiden Seiten hierbei das größere Recht vertrat, will ich nicht entscheiden. Die, welche am Alten hängen, sind sicher nicht zu verlachen. Aber wann wird das Alte würdig? Warum sollte gerade die Mode von 1820 bis 1840 zum Vorbilde gemacht werden? Lag es nicht näher, auf die Reformationszeit zurückzugreifen, in welcher jeder, auch jeder Geistliche, den Bart trug, von dem er glaubte, daß er zu ihm und seinem Amte am besten stimme?

Nur langsam vollzog sich die Einführung des Bartes in die Mode. Zwar sprach man schon im Jahre 1805 von „Moustaches à la Henri quatre“. Aber die Kriege ließen diese Bartform nicht aufkommen, der Kaiser Napoleon rasierte sich, und seine Generale thaten es der Mehrzahl nach auch. Es gilt zwar bei uns als kriegerisch, Bärte zu tragen, obgleich weder Alexander noch Julius Cäsar, weder Friedrich II. noch Napoleon I. noch Moltke dafür das Vorbild gaben. Nicht kriegerisch wollten die Herren der Mode aussehen, welche in den dreißiger Jahren endlich den Knebelbart einführten, sondern romantisch. Man war in Deutschland der merkwürdig irrigen Ansicht, die alten Deutschen, die Ritter hätten sich so getragen. Man ahmte wieder die Franzosen und deren keineswegs so alten König Heinrich IV. nach, dem erst um 1570 sein Bart gewachsen ist, also zu einer Zeit, in der es mit dem Ritterthum längst zu Ende war. Die Wiederaufnahme dieses Bartes war also ein Gegenstück zu der des Korsetts bei den Frauen, welches auch zu jener Zeit wieder in Gebrauch kam und zwar in der Absicht, die Glanzperiode des königlichen Frankreichs aufleben zu machen. Es bedeutet für unsere westlichen Nachbarn die Rückkehr zu den Erinnerungen ihres großen Aufschwunges, zum Royalismus, nicht zur Urzeit des gallischen Volkes oder zum Heldenthum des Ritters Bayard. Der bourbonische und orleanistische Hof rief diese alten Moden wieder ins Leben.

1825

Wer Theaterkostüme aus jener Zeit gesehen hat, wird mit einigem Staunen finden, wie man sich damals einen alten Ritter vorstellte. Er hatte ein Barett mit hoher Feder, enges Wamms mit engen Aermeln, Trikots und offene spitze Schuhe an. An den Schultern und Hüften unterbrachen die festanschließende Tracht kurze mächtige Puffen. Zu dieser Kleidung, an der außer gewissen Anlehnungen an die Zeit Heinrichs IV. fast nichts echt war, wurde regelmäßig der Knebelbart getragen: zwei kleine schwarze Schwänzchen auf der Oberlippe, eins an der Unterlippe! Später hat Napoleon III. diesen Bart in kräftigerer Ausbildung getragen und für die französische Armee zum eigentlich soldatischen gemacht.

Der Vollbart war dagegen einst ein Russenbart, denn an den Kosacken von 1813 und 1814 sah ihn Deutschland zuerst. Er machte der Welt, die sich vor den „Sauvages“ wie vor den Titusköpfen nicht mehr fürchtete, den Eindruck des Wilden, Erschreckenden. Diejenigen, welche diese Stimmung erwecken wollten, nahmen ihn daher auch an: er wurde zum Demokratenbart. Trotzdem ließ sich jeder brav bürgerliche Mensch bis in die vierziger Jahre rasieren, nur der Grobian oder Weltverbesserer lief als „Wilder“ herum. Die Armeen verboten geradezu den Vollbart. Kaiser Wilhelm I. und Franz Josef I. behielten die Favoris und den Schnurrbart bei – das ausrasierte Kinn war Vorschrift im preußischen und österreichischen Heere, an ihm unterschied man seiner Zeit den Konservativen vom Demokraten, mochte dieser nun auf der Straße demonstrieren oder schon wie Napoleon III. [34] auf den Thron gelangt sein. Erst Kronprinz Friedrich Wilhelm führte den Vollbart in das Heer ein.

Vorurtheile sind schwer zu überwinden. In der preußischen Armee ist der Widerwille gegen den Bart an der Unterlippe geblieben, während die Bauern ihn als „Reservatrecht“ noch tragen. Bei ihnen hat der romantische König Ludwig II. die Veranlassung gegeben. Mein liebenswürdiger Hauptmann fragte mich dagegen noch vor zehn Jahren, als ich bei einem Manöver in Sachsen neben ihm herging, ob mich meine „Fliege“ nicht beim Marschieren geniere. Ich that sehr unbefangen und antwortete. „Nicht im geringsten, Herr Hauptmann!“ Nach einiger Zeit erfuhr ich, daß er zu einem Kameraden gesagt habe. „Der Gurlitt ist ziemlich schwer von Begriffen. Ich habe ihm schon Andeutungen über seinen unsoldatischen Bart gemacht. Es wäre mir lieb, wenn Sie ihm gelegentlich sagen wollten, daß eine Fliege in unsere ganze Armeeverfassung einfach nicht hineinpaßt!“ und ich opferte für die Manöverzeit diesen Rest von Romantik und bürgerlicher Demokratie. Denn ich hatte schon vorher Bartkämpfe auszufechten gehabt! Um mich für meinen Beruf als Architekt vorzubereiten, hatte ich das Zimmerhandwerk erlernt. Damals machte mir nicht der Bart am Kinn, sondern der noch sehr bescheidene Anfang auf der Oberlippe viel Sorge. Der Zimmermannsbart war nämlich ausschließlich der breite Knebelbart, wie ihn jetzt die Amerikaner mit Vorliebe tragen. Meinen sonst streng verpönten Schnurrbart vertheidigte ich jedoch erfolgreich gegen den Hohn der zünftigen Gesellen mit Schnäpsen und Weißbier. Sein Dasein schien mir damals noch zu wichtig, um ihn einer absterbenden Geschmacksrichtung zu opfern.

Viel Einfluß auf die Barttracht hatten die „ritterlichen“ Nationen des Ostens; so in den dreißiger Jahren die nach Freiheit ringenden Griechen und Polen mit ihren mächtigen Schnauzern, in den vierziger Jahren die Ungarn mit ihren gewichsten Bärten. Da man in den letzteren ganz besonders ein „Reitervolk“ sah, so haben auch die Reiter sich des gewichsten Bartes angenommen; jetzt aber lassen unsere Husaren ihre Bärte wieder ungesteift im Sturmwind des Galopps flattern.

Das Ergebniß des neuen Kampfes um den Bart ist demnach wieder der Sieg der Freiheit. Keine Bartform ist verpönt, jede im Gebrauch. Die Bartlosigkeit ist auf die Schauspieler beschränkt. Die Kellner und Diener beginnen sich mehr und mehr von der alten Sitte zu befreien. Zwar machen sich für alle Gesellschaftskreise Schwankungen der Mode vielfach geltend, wie z. B. in letzter Zeit der in wagerechter Linie in der Höhe des Ohrzipfels abgeschnittene Backenbart mit dem kurzen, nach unten in eine Spitze verlaufenden Vollbart wechselte: doch fügen sich nicht alle dem Gesetz, sondern viele wehren sich noch gegen den gleichmachenden Zwang auch in der Erscheinung des Gesichtes. Wer im formsicheren Gesellschaftsmanne sein Ideal sieht, trägt den abgezirkelten Backenbart, während der Spitzbart, wie mir scheint, den diabolischen Herzensbrecher bezeichnen soll. Der Schnurrbart bedeutet, daß sein Träger ein thatkräftiger frischer Mensch, der Vollbart, daß er ein Mann kurzweg sei. Es wäre der Mühe werth, dem Gedankengang einzelner Bartträger nachzugehen und zu ergründen, welchen Eindruck sie durch ihre Haartracht auf die Welt machen wollen, durch das einzige Ding in ihrem Gesicht, das ihrem Umbildungstrieb überlassen ist.



Blätter und Blüthen.

Unschuldig verurtheilt! Ein gutes Beispiel ist gegeben, der österreichische Staat hat auf eine an das österreichische Abgeordnetenhaus gerichtete Eingabe hin dem wegen Diebstahl und Brandstiftung zu zwölf Jahren schweren Kerkers verurtheilten, nachher aber als unschuldig erkannten Pabst eine Entschädigung von 3000 Gulden gewährt. Unsere Leser kennen aus dem letzten unserer Artikel über unschuldig Verurtheilte in Halbheft 17 des vorigen Jahrganges die Geschichte dieses Mannes, wie ihn das Zeugniß eines Geistesgestörten vor Gericht und ins Zuchthaus brachte, aus dem ihn erst nach eindreiviertel Jahren eine glückliche Verkettung von Umständen wieder befreite.

Noch bedeutet die in diesem einen Falle zugestandene Entschädigung keine grundsätzliche Anerkennung der staatlichen Entschädigungspflicht, noch ist die ganze Frage nicht ein für allemal gesetzlich geordnet – aber ein Schritt vorwärts liegt doch in der Entscheidung der österreichischen Behörden, die wir darum mit Genugthuung hier verzeichnen.

Auch im deutschen Reichstag wird demnächst die Sache der unschuldig Verurtheilten wieder einmal auf der Tagesordnung stehen. Hoffen wir, daß dann die Wünsche des Volkes endlich in Erfüllung gehen oder ihr doch näher gebracht werden, daß die mächtige Bewegung zu Gunsten einer gerechten Forderung, welcher die „Gartenlaube“ seit Jahren mit allen Kräften dient und weiter dienen wird bis zur Erreichung des Zieles, die berufenen Vertreter der gesetzgebenden Gewalten mit fortreiße und sie zu einer günstigen Entscheidung führe, daß die ergreifende Sprache, welche die in den letzten Jahrgängen erzählten Schicksale reden, nicht ungehört verhalle.

Dom Pedro II. von Brasilien.

Dom Pedro. Während in dem brasilischen Staate die Wirren nicht zur Ruhe kommen wollen, welche durch die Revolution vom 15. November 1890 entfesselt worden sind, ist in Paris am 5. Dezember des vorigen Jahres der Herrscher aus dem Leben geschieden, welchen jene Revolution seines Thrones entsetzt hatte und welcher eben in letzter Zeit berufen schien, aufs neue in die Geschicke des von Parteikämpfen zerwühlten Landes verflochten zu werden - Dom Pedro II. von Alcantara. Ein vielbewegtes Leben ist damit zum Abschluß gekommen. Mehr als einmal hat der Verewigte während seiner langen Regierung gegen widerstrebende Elemente kämpfen müssen, und es mag ihm diese Nothwendigkeit schwer genug angekommen sein, da seine ganze Natur ihn nicht auf kriegerische Lorbeeren hinwies, sondern ihn vielmehr in der stillen Beschaulichkeit des Gelehrten sein Ideal erblicken ließ. Nicht einmal die edle That der Sklavenbefreiung hat ihm Dank gebracht.

Seine Liebe galt vor allem den Wissenschaften; mit ihnen füllte er die Muße seiner Verbannung – und sie haben ihn auch, ein sonderbares Zusammentreffen, das Leben gekostet, denn auf der Rückkehr von einer Sitzung der Akademie der Wissenschaften zu Paris hat er sich die Erkältung zugezogen, die dem lange kränkelnden Manne wenige Tage nach seinem 66. Geburtstage den Tod brachte. Mit einer großen Anzahl von geistig hervorragenden Zeitgenossen stand er in regem Verkehr, sie besuchte er gern auf seinen großen Reisen durch Europa, und manche hübsche Anekdote von der Bescheidenheit des Kaisers der Majestät des Geistes gegenüber wird erzählt, wobei die letztere sich nicht immer derselben Tugend befleißigte. Am bezeichnendsten in diesem Sinne ist die Widmung, welche der einst so hoch gefeierte französische Dichter Viktor Hugo in ein für den Kaiser bestimmtes Exemplar seiner „Kunst, Großvater zu sein“ schrieb. Sie lautete kurz. „An Dom Pedro von Alcantara. Viktor Hugo.“

Die Schlacht auf den katalaunischen Feldern. (Zu dem Bilde S. 4 und 5.) Seit dem Jahre 434 saß hinten im heutigen Ungarn, zwischen Donau und Theiß, in einem großen befestigten Lager Attila, der Sohn Mundzuks, als der Oberherrscher des gewaltigen Hunnenreiches und der ihm unterworfenen germanischen und slavischen Völker. Lange mochte der eroberungssüchtige Fürst nach einem Vorwand gespäht haben, die Reiche des Westens zu überfallen – als sich ihm endlich, etwa um das Jahr 450 eine Gelegenheit dazu bot.

Im Herbste sammelte er sein Heer. Donauaufwärts ging der Zug, dann von Regensburg an den Rhein, der im Frühling 451 überschritten ward. Am 6. April wurde Metz verbrannt, im Juni Orleans belagert.

Indessen hatte der römische Feldherr Aëtius, der Befehlshaber über den letzten Rest römischen Staatsgebiets in Gallien, ein nicht unbeträchtliches Heer aus Römern, Franken, Burgundern und Alanen zusammengebracht. Aber er konnte gegen Attila doch das Feld nicht halten, wenn er nicht von den mächtigen Westgoten Unterstützung erhielt, und diese zögerten merkwürdig lange. Erst als die Gefahr ganz nahe war, schlossen sie mit Aëtius ein Bündniß, ihr Heer trat aber nicht unter seinen Befehl, es blieb unter dem seines eigenen Königs Theoderich.

In der weiten Ebene der „katalaunischen Gefilde“ sammelte dann Attila seine gesammte Macht zur entscheidenden Schlacht. Lange wogte der Kampf unentschieden hin und her. Da fiel König Theoderich, und nun kannte die Wut der Westgothen keine Grenzen mehr. In vernichtendem Sturme warfen sie alles vor sich nieder, fast wäre es ihnen gelungen, Attila selbst niederzumachen, bis in die Nacht hinein tobte der Streit. Manche Abtheilung gerieth [35]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Ein Danziger Patrizieridyll vor vierhundert Jahren.
Nach einem Gemälde von W. Stryowsky.


in der Hitze des Gefechts mitten unter die Feinde, und auch Thorismund, Theoderichs Sohn, verirrte sich bis dicht vor Attilas Lager, das er für das gothische hielt. Alsbald war er von einer Ueberzahl umringt, aber er wehrte sich tapfer und schlug sich, obwohl verwundet, sammt seiner Begleitung durch.

Attila hatte sich in sein Lager zurückgezogen, er war besiegt, aber nicht überwunden, es hätte noch viel Arbeit gegeben, hätte man ihn vernichten wollen. Aber das sollte nicht sein; und daß es ihm gelang, mit den noch immer ansehnlichen Resten seines Heeres fast ungestört zu entkommen, daran trug das Ereigniß mit die Schuld, welches der Künstler auf unserem Bilde wiedergegeben hat.

Noch auf dem Schlachtfelde hatten die Gothen an der Stelle des gefallenen Theoderich dessen Sohn Thorismund zum König ausgerufen, indem sie, von dem Rechte des bewaffneten Volkes Gebrauch machend, ihn nach alter Sitte auf einen Schild erhoben und ihn so auf lebendigem Throne allem Heeresvolke zeigten, während dieses zum Zeichen des Beifalls in laute Zurufe ausbrach und mit den Speeren und Schwertern gegen die Schilde schlug. Thorismund, dessen Tapferkeit sich eben noch so glänzend bewiesen hatte, mag dieser Ehre vollauf würdig gewesen sein. Indessen er war wohl der älteste, aber nicht der einzige Sohn seines Vaters, ein Bruder hatte in der Schlacht mitgekämpft und vier saßen zu Hause in Toulouse. Das Recht der Erstgeburt war damals in den germanischen Reichen keineswegs maßgebend für die Thronfolge. So mochte Thorismund nicht sicher sein, ob auch alle die ihm in einer zwar althergebrachten, aber doch tumultuarischen Weise übertragene Königswürde anerkennen würden. Darum zog er mit seinen Mannen ab, und Attila konnte sich soweit erholen, daß er im darauffolgenden Jahre Italien selbst seinen unheimlichen Besuch abzustatten vermochte.

Wie gut aber Thorismund seine Brüder kannte, das zeigte sich bald. Nur zwei Jahre nach der großen Schlacht wurde er von zweien derselben erschlagen!

Seine Excellenz. (Zu dem Bilde S. 17.) Genau so sah der Freiherr Kilian von Dünkelwitz-Blasenheim aus, als sein allergnädigster Fürst ihm am Morgen des allerhöchsten Geburtstages in Anerkennung und zur Belohnung vierzigjähriger treuer und angestrengter Kammerherrndienste das Prädikat „Excellenz“ verlieh. – Excellenz! Wie wundervoll das klingt! Wie das emporhebt über den gemeinen Höflingsschwarm, zu welchem einst gehört zu haben der Freiherr Kilian sich nur noch dunkel erinnern kann! Wer will es ihm verdenken, daß er an jenem großen Tag eine ganz ungewöhnliche und für sein Podagra höchst gefährliche Promenade im Schloßgarten machte, den Kopf hochmüthig zurückgeworfen, die kurze Figur um einen Zoll höher gereckt, den Krückstock in der Rechten, die Linke majestätisch auf den Rücken gelegt, jeder Zoll eine Excellenz, welche die unterthänigen Grüße der Begegnenden als schuldigen Tribut gnädig hinnimmt. Die Haltung ist ganz königlich, es fehlt wahrhaftig nicht viel zum „alten Fritz“ – und dieses wenige bezieht sich ausschließlich auf den kleinen Zwischenraum vom oberen Kravatten- bis zum unteren Hutrande! Bn.     
[36] Heimgekehrt. (Zu dem Bilde S. 20 u. 21.) So ist es also doch noch wahr geworden, er ist da, der lang Ersehnte, und nach langer schmerzlicher Trennung schaut die Mutter zum ersten Mal wieder so recht mit inniger Behaglichkeit in die hellen klaren munteren Augen ihres Jungen. Was hat sie aber auch für Aengste ausgestanden um ihren Buben, seit er vor mehr als zwei Jahren das Elternhaus verließ, um einem unwiderstehlichen inneren Drang zu folgen und Seemann zu werden! Wie hat sie gezählt und gerechnet, erst mit Jahren, dann mit Monaten, Tagen, Stunden - bis der große Augenblick da war, in dem sie den Heißgeliebten wieder in die Arme schließen durfte! Aber jetzt - jetzt ist alles vergessen, Sorge und Kümmerniß, Angst und Zagen, jetzt ist alles eitel Freude und Jubel und Seligkeit in der schlichten niederen Stube, auf deren Diele noch die Trophäen der weiten Seereise umherliegen. Mit kindlicher Neugier mustert der jüngste Bruder den Heimgekehrten - mit andächtiger Bewunderung staunt der ältere ihn an; das kleine Schwesterchen horcht mit Wonne dem tosenden Geräusch, das aus der „selbstgefundenen“ Riesenmuschel an ihr Ohr schlägt, während sie eine rothleuchtende Korallenkette um ihr Handgelenk gewunden hat; und fast läßt die älteste Schwester in ihrer Freude das Lieblingsgericht auf dem Herde verbrennen! Die Mutter aber hat ihren Sohn bei der Hand gefaßt, als wollte sie ihn nie wieder hergeben; sie weiß nicht, über was sie sich zuerst und am meisten freuen soll, über seine glückliche Errettung aus Noth und Gefahr, über seine frische unverdorbene Art, oder – über seinen unveränderten gesegneten Appetit.

Die Noth der Weber. Eine Kunde dringt an unser Ohr, welche uns zeigt, daß nicht in Schlesien, nicht im Glatzer Gebirg allein die mit Weberei sich beschäftigende Bevölkerung unter dem Druck einer schweren Nothlage leidet, sondern daß diese betrübenden Verhältnisse, wenn auch in bescheidenerem Umfang, noch an anderen Punkten unseres deutschen Vaterlandes zu finden sind. So leben im Herzogthum Gotha, in den Ortschaften Schwarzhausen, Schmerbach, Cabarz, Fischbach, Winterstein, Kälberfeld, Menteroda und Kleinkeula, mehr als 125 Familien, welche die Weberei (meist Gurtweberei) als Hausindustrie betreiben und unter den beständigen Nahrungssorgen körperlich und geistig verkümmern. Bei einer vierzehn- bis fünfzehnstündigen täglichen Arbeitszeit können sie nur fünf bis sieben Mark in der Woche verdienen, wobei die Frau oder die Kinder noch das Spulen besorgen müssen!

Es hat sich nun in Gotha ein Komitee gebildet, welches es sich zur Aufgabe gemacht hat, diesen Armen in ihrer Noth beizuspringen. Hier wie in Schlesien soll dies hauptsächlich dadurch geschehen, daß man den Webern zu einer lohnenderen Thätigkeit verhilft, indem man sie zur Kunstweberei überführt oder sie zur Seilerei anleitet. Für beide Zwecke aber bedarf das Komitee der Unterstützung theilnehmender Menschenfreunde, und so möchten auch wir seiner Bitte um milde Gaben Verbreitung geben. Herr Kaufmann Carl Grübel in Gotha ist bereit, Beiträge in Empfang zu nehmen.

Ein altes Lied. (Zu unserer Kunstbeilage) Wer hat nicht schon den Zauber jener alten Lieder verspürt mit ihrer dunklen Sehnsucht, ihrer geheimnißvollen Tiefe, mit ihren einfachen Worten, in denen sich doch die ganze Unendlichkeit der Seele zu spiegeln scheint! Dieser Zauber – er hat auch die anmuthige Frauengestalt umfangen, welche der Künstler uns vorfuhrt. Indeß sie, leicht in den geschnitzten Lehnstuhl geschmiegt, mit verhaltener Stimme die Töne erklingen läßt und lässig auf der Mandoline die Begleitung dazu greift, geht der Blick wie weltverloren in die Ferne, als wollte er im Unbekannten draußen den Ort suchen, wo Liebe und Glück zu finden sind, von denen das alte Lied so sehnsüchtig zu sagen weiß.


Allerlei Kurzweil.

Schachaufgabe Nr. 1.
Von H. v. Düben in Landskrona.
(Erster Preis im Aufgabenturnier des Britischen
Schachmagazins 1890.)


SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem zweiten Zuge matt.


Bilderräthsel. Von Al. Weixelbaum.



 Scherzräthsel.

Ein Ar, ringsum von Stein umgeben,
Giebt einer kleinen Flamme Leben.


 Räthsel.

O glücklich, wer, wie meine beiden Ersten,
Das Dritte ist! er kennt die Sorge nicht
Und heiter lächelt ihm das Leben zu.
Doch wehe dem, deß Dasein preisgegeben
Der rohen Willkür und der Habsucht ist
Durch jenes unglücksel’ge ganze Wort,
Das heimathlos ihn treibt – von Ort zu Ort.


 Buchstabenräthsel.

Sie war so lieblich, sang so süß
Wie dieses Räthsels Wort,
Und willst du wissen, wie sie hieß,
So nimm das Haupt noch fort!
 Oskar Leede.


 Logogriph.

Der Mensch empfängt mich immer froh
In seiner Kinderzeit mit O.

Doch deckt sein Haupt des Alters Schnee,
Begrüßt er glücklich mich mit E.


 Kapselräthsel.

Was ich meine, gestaltet ist’s rund;
Ohne Kopf ist’s als Speise gesund;
Wird noch einmal geköpft, ist es kalt;
Ohne Fuß dann oval von Gestalt.
 Eduard Schulte.


manicula 0 Hierzu Kunstbeilage I: „Ein altes Lied“ von Conrad Kiesel.


[ Die Werbung für den Gartenlaube-Kalender 1892 wurde nicht transscribiert]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.