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Die Gartenlaube (1891)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[357]

Nr. 22.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Lea und Rahel.

Roman von Ida Boy-Ed.

(5. Fortsetzung.)

6.

Herr von Römpker theilte seiner Frau die Verlobung mit, Lea gönnte Rahel so nebenher ein Wort davon. Als die beiden Schwestern in ihrem gemeinsamen Zimmer noch beschäftigt waren, dachte Rahel traurig: „Ob sie mir wohl noch sagen wird, weshalb Papa sie rufen ließ?“

„Donnert es nicht?“ fragte Lea und trat an das Fenster.

„Ich habe nichts gehört.“

„Es wäre sehr unangenehm, wenn das Wetter morgen schlecht wäre.“

„Weshalb gerade morgen?“

Lea guckte mit Wichtigkeit in die schwarze Nacht hinaus, sah aber nichts als auf der blanken Fensterscheibe die Spiegelung ihres eigenen blassen Gesichts und die Gestalt der Schwester hinter sich im Zimmer.

„Vielleicht wird Papa auf morgen Gäste laden. Ich habe mich vorhin mit Lüdinghausen verlobt,“ sagte Lea.

Sie wagte doch nicht, sich unbefangen wieder umzudrehen. Aber da fühlte sie sich schon von zwei festen Händen an den Schultern erfaßt.

„So sind die Würfel gefallen? Schon jetzt? Bist Du glücklich? Liebst Du ihn? Begreifst Du die Größe Deines Glücks und Deiner Pflichten?“ fragte Rahel.

Lea sah sie ein wenig hochmüthig an.

„Du weißt recht gut, liebes Kind,“ sagte sie in einem weltweisen Ton, „daß dies zunächst eine Vernunftheirath ist. Aber ich leugne nicht, daß Lüdinghausens Persönlichkeit mir den Entschluß leicht gemacht hat und daß er mir sehr sympathisch ist.“

Rahel fiel ihr um den Hals. Ihre Thränen brachen hervor, sie konnte sich gar nicht fassen.

„So liebst Du Clairon nicht mehr? So war jene Leidenschaft nur eine täuschende Aufwallung? Und Du beginnst, den andern zu lieben? O, er verdient auch, daß neben ihm sein Weib keinen andern Gedanken hat. Vergieb mir, Lea, ich habe in letzter Zeit oft Zweifel an Dir gehegt, ich sah Deine einsamen Wege und dachte, Du treffest Clairon. Und ich sah, daß Du ihm entgegenkamst, und begriff meine Schwester nicht mehr. Vergieb mir! Sage mir, daß zwischen Dir und Clairon alles aus ist und daß Du eine glückliche Braut sein wirst.“

Lea war leichenblaß geworden. Ein böser Zug kam in ihr Gesicht.

„Sei doch nicht so dramatisch und so überspannt,“ sagte sie wie angewidert.

Allen Menschen, die selbst zum Ueberschwang in Ton und Gebärden neigen, ist solcher Ueberschwang bei andern lästig, vielleicht weil sie ihr Spiegelbild sehen, vielleicht weil sie selbst jenen Aufwand oft um nichtiger Ursache willen machen und daher aus eigener Erkenntniß jede Erregung für übertrieben oder gar für unecht halten.


Der Orgelmann.
Nach einer Zeichnung von A. Brunner.

[358] Und nun obendrein derartige Reden aus dem Munde der nüchternen Rahel!

Aber diese schroffe Abweisung hatte eine sehr unerwartete Wirkung. Anstatt, wie es ihr sonst wohl eigen war, in gekränktem Stolz oder mit einem letzten ruhig entschiedenen Tadelswort sich still zurückzuziehen, richtete Rahel sich auf, trat von der Schwester zurück und sagte:

„Wenn Du meine schwesterliche Liebe und Theilnahme in dieser Stunde als überspannt empfindest, will ich sie Dir nicht aufdrängen. Aber ich frage Dich noch einmal, ob zwischen Dir und Clairon längst alles aus ist und ob Du mit einem ehrlichen Gewissen Deine Hand dem andern geben kannst?“

Lea zitterte. Sie dachte daran, daß Clairon morgen kommen und daß man sie in seiner Gegenwart als Braut des andern feiern würde. Litt sie nicht schon genug? Mußte die Schwester mit ihrer unzarten Hand auch noch an diese Wunden fassen? Schmerz und Trotz verführten sie, zu erwidern:

„Mische Dich doch nicht in Dinge, die Dich nichts angehen!“

„Es geht mich wohl sehr viel an,“ rief Rahel schmerzlich, „wenn ich die Meinigen unehrlich handeln sehe. Ja es ist die Pflicht des Klarblickenden, die Verblendeten zu retten. Du und Papa, Ihr werdet mir dafür danken, wenn Ihr zur Besinnung gekommen seid. Ich werde es nicht zugeben, daß Du Lüdinghausen heirathest, wenn Du Clairon noch liebst. Das ist Deiner unwürdig. Du befleckst Deine Frauen- und Deine Familienehre. Und wenn Du das nicht begreifst und Papa das nicht fühlt, so bin ich da, für Euch zu wachen.“

Lea war sprachlos vor Schreck. So viel „hellen Wahnsinn“ hatte sie ihrer Schwester gar nicht zugetraut. Rahel nahm ja einen geradezu drohenden Ton an. Welche Wandlungen konnten denn in ihr vorgegangen sein, daß sie es wagte, so gegen ihre Schwester aufzutreten?

Endlich fand sie ihren halb nachsichtigen, halb überlegenen Ton gegen die Schwester wieder:

„Du erregst Dich völlig unnütz,“ sagte sie, „zwischen Clairon und mir ist alles aus. Ich habe das überwunden und denke, noch einmal sehr glücklich mit Lüdinghausen zu werden.“

„Er verdient es! Er verdient es!“ rief Rahel. Sie war augenblicklich erweicht und glaubte der Schwester.

Zu Leas Erleichterung dröhnte jetzt ein Donnerschlag durch die Nacht und riß Rahel aus ihrer Rührung. In den Parkbäumen rauschte der schnell einherfegende Wind.

Die Schwestern horchten hinaus und beriethen, ob sie wieder hinuntergehen oder ihr Bett aufsuchen sollten. Indessen begann ein heftiger Regen und der nächste Donner klang schon ferner; so gingen sie zu Bett.

Rahel lag fast die ganze Nacht wachend. Sie war von heißen Wünschen bewegt für das Glück ihrer Schwester, und gerade so zuversichtlich, wie sie einst von Clairon gedacht: er wird sie leiten, gerade so vertrauensvoll glaubte sie nun: Lüdinghausen ist der beste Gatte für sie. Alles, was sich begab, wandte sie in ihrem Kopf so lange hin und her, bis sie eine heilbringende Seite für ihre Schwester daran entdeckte. Sie dankte Gott, daß Lea Clairon nicht mehr liebe. Denn das fühlte sie merkwürdig fest und klar in sich: sie – Rahel – würde es niemals zugegeben haben, daß Lüdinghausen das Opfer einer Lüge werde, und daß Lea sich mit einer Lüge beflecke.

Wie sie das hätte verhindern wollen, darüber dachte sie jetzt nicht nach: das Geschick hatte ihr ja alle weiteren Kämpfe erspart.

Sie lächelte in wehmüthiger Freude. Es war auch nur zu natürlich, daß Lea den Grafen über ihm vergessen, und ebenso natürlich, daß er sich in ihre schöne, geistvolle, herrliche Lea verliebt hatte!

Und dann fiel ihr ein, daß man die Feierstunden des nächsten Tages doch nicht entweihen sollte durch eine lärmende Gesellschaft. Sie wollte es schon durchsetzen, daß nur Raimar geholt werde. Und geschäftig dachte sie sich aus, daß sie morgen recht früh aufstehen müsse, um Lea einen Rosenstrauß an ihr Bett zu bringen. Dazu rauschte der Regen andauernd auf die Blätterfülle der Linden vor dem Fenster nieder, eintönig, immerzu, immerzu, bis er mit seinem raunenden Geräusch das Mädchen einschläferte. – –

Am nächsten Morgen war das ganze Schloß in ersichtlicher Aufregung. Jeder wußte, daß Fräulein Lea sich heute verloben werde. Die Dienerschaft rieth einstimmig bis auf Ludwig, daß der Landrath der Bräutigam sei. Ludwig, der im Morgengrauen den Brief an den Lieutenant besorgt hatte, glaubte es besser zu wissen und lächelte hochmüthig zu dem Gerede der anderen, das er mit geheimnißvollen Andeutungen bestritt.

Frau von Römpker weinte viel und brach fast zusammen unter der Vorstellung von all den schwierigen Pflichten, welche ihrer nun als Brautmutter harrten. Herr von Römpker war seelenvergnügt. Er brannte vor Begierde nach dem alten Lüdinghausen, den der junge telegraphisch herbeirufen wollte, malte sich die dicke Freundschaft aus, die ihn mit jenem verbinden würde, sprach davon, nach Schlesien zu reisen, und sah die Lüdinghausenschen Besitzungen schon als sein Miteigenthum an. Er würde zur Jagd hinreisen und man müßte freundschaftlich vereinbaren, wann man sich auf Römpkerhof, wann in Schlesien vergnügen wollte.

Rahel hatte den Papa bestimmt, die Gesellschaft aufzuschieben, bis der alte Lüdinghausen angekommen sei; aber Onkel Raimar war durch einen reitenden Boten für den Abend gebeten. Rahel hatte rothe Wangen und leuchtende Augen und lief im ganzen Schloß geschäftig umher. Alles mußte imstande sein, alle Vorräthe mußten ergänzt, der Plan für die Verlobungsfeier genau durchgesprochen werden.

Lea war erschreckend bleich und saß thatenlos am Fenster, in den Regentag hinausstarrend. Sie hatte schon in der Nacht vergebens gesonnen, wie sie Clairon von dem Geschehenen Kunde geben könne. Ludwig zu sprechen, konnte sie nicht wagen, denn Rahel war überall und nirgend. Und es war ihr doch eine seltsame Beklemmung im Herzen zurückgeblieben nach dem kräftigen Auftreten der Schwester. Eine stumpfe Ergebung hatte sich endlich ihrer bemächtigt.

„Es muß überstanden werden,“ sagte sie sich, „Clairon wird Haltung bewahren, das ist er mir und sich schuldig. Und besser, wir ertragen das gleich heute.“ –

Clairon war im Dienst, als Ludwig den Brief bei ihm abgab. Erst gegen Mittag kam er heim, durchnäßt bis auf die Haut, übermüdet und sehr verstimmt. Er hatte nur das rein körperliche Bedürfniß, sich trocken anzuziehen und zu schlafen. Leas Schriftzüge auf dem Briefumschlag erweckten ihm in diesem Augenblick Mißbehagen. Er kannte den Inhalt ihrer Zeilen im voraus. Ein ganzes Bündel solcher Briefe ruhte schon in seinem Schreibtisch; sie waren stets voll von leidenschaftlicher Reue nach heftigen Auftritten, wie sie einen solchen gestern vormittag wieder im Walde erlebt hatten.

Diese Liebe voll Unruhe, Zorn, Verlangen und Jammer rieb ihn auf. Sein ganzes Wesen neigte sich noch immer Lea zu, vielleicht sogar in erhöhter Leidenschaft, aber er sagte sich seit langer Zeit, daß es seine Mannespflicht sei, eine Entscheidung herbeizuführen. Leas Benehmen gegen Lüdinghausen erregte seinen grenzenlosen Zorn, er verzehrte sich vor Eifersucht und glaubte doch, daß er ihre Entschließungen nicht beeinflussen dürfe. Wenn er auch noch immer eine Heirath mit ihr als recht schwer zu erreichen und als eine viele Opfer fordernde Sache ansah, so gewöhnten sich seine Vorstellungen doch mehr und mehr daran. Er spielte bereits mit dem Gedanken, den Dienst aufzugeben und als Schwiegersohn mit auf Römpkerhof zu wohnen, was niemand auffallen würde, da Römpker keinen Sohn hatte.

Lea freilich fand das alles bis jetzt noch „pauvre“ und unter ihrer beider Würde. Aber Clairon war der Ueberzeugung, daß eine zeitweilige Trennung von ihm ihr erst recht die Gewalt ihrer Liebe klar machen werde, und wenn er hie und da doch wieder zweifelte, ob er sie je erringen könne, in seinem geheimsten Innern hielt er es für völlig unmöglich, daß sie mit Lüdinghausen Ernst machen werde.

So sah er dem Manöver mit Ungeduld entgegen. Er ließ sich lange Zeit, ehe er ihre Zeilen heute überflog, und diese beunruhigten ihn nicht besonders. Der hastige, leidenschaftliche Ton darin war ja überhaupt oft Leas Ton. Mochte Lüdinghausen denn mit seiner Werbung kommen. Dann hatten wenigstens diese Kämpfe ein Ende; die Lage war ohnehin schon verwickelt genug. Daß Lea, wenn sie sich auch tausendmal vorgenommen haben sollte, [359] Ja zu sagen, dennoch, von der Gewalt ihres alten Gefühls getrieben, schließlich Nein sagen würde, war ihm ganz sicher.

Ihr Wunsch, daß er heute mit einer Schar von Bekannten draußen erscheinen solle, ließ sich allerdings nicht erfüllen bei dem Regen! Aber als der Nachmittag vorrückte, entstand trotzdem Unruhe in ihm.

„Sie wird mich vergebens erwarten,“ dachte er, und als er sich vorstellte, wie sie mit ihren dunklen sehnsüchtigen Augen in den Regen hinausstarrte, überfiel ihn das heftigste Verlangen nach ihr.

Er kleidete sich schleunig an, hing seinen Mantel um und ging in das Nebenhaus, wo der Rittmeister von Ehrhausen das erste Stockwerk bewohnte.

Die Baronin freute sich seines Erscheinens unbändig. Sie hatte gerade vor Langerweile weinen wollen und ihrem Mann eine Scene gemacht über das öde Dasein in einer kleinen Garnison.

„Das ist nur was für bedeutende Geister,“ sagte sie, „wenn man nicht ganz versimpeln will. Ich mag nicht lesen. Ich mag nicht Klavier spielen. Ich mag nicht malen. Ich mag nicht sticken. Ich muß Menschen haben, viele Menschen und sehr nette. Clairon, Sie retten durch Ihr Erscheinen meinen armen Mann vor einem fürchterlichen Abend. Ich bin ja nicht böse und sehe meine Schlechtigkeit ein. Aber ich bin nun mal so.“

„Eigentlich wollte ich Sie nur abholen; ich wollte Sie bitten, Ehrhausen, anspannen zu lassen und …“

„Ausfahren? Bei dem Wetter? Nein!“ rief sie dazwischen und that, als ob sie friere, indem sie ihr Spitzentüchlein um die Schultern nahm, „ich bin ohnedies etwas erkältet. Wohin denn?“

„Nach Römpkerhof.“

„Mit meinem abscheulichen Regenmantel? Lea lacht mich ja aus, daß ich noch immer dies Monstrum trage!“

„Aber wie die Herrschaften draußen sich wohl langweilen müssen! Sind wir es ihnen nicht gerade bei dem Wetter schuldig, sie aufzusuchen?“ bat Clairon.

„Du kannst ja hier bleiben,“ rieth ihr Gatte.

„Allein? Ich? Wie finden Sie das, Clairon?“

„Also kommen Sie mit!“

„Aber ich muß mich umkleiden – ich kann doch bei diesem Wolkenbruch nicht mit solchem hellen Kleid fahren,“ sagte sie zweifelnd. Ihre Zweifel galten also schon der Wahl des Kleides, nicht mehr der Fahrt.

„Aber bitte, schnell, ich lasse sofort anspannen.“

Ehrhausens gingen hinaus und Clairon blieb allein. Er wartete, eine Viertelstunde, eine halbe. Der Wagen fuhr vor. Man hörte draußen den Rittmeister schelten. Wieder eine halbe Stunde. Es schlug sechs Uhr. Da endlich kam die kleine Frau, frisch, niedlich, grau wie ein Mäuschen, und sagte mit der unschuldigsten Miene:

„Ich habe sehr schnell gemacht.“

Ihr Gatte seufzte.

„Das ist noch mein größtes Unglück in dieser Ehe,“ sprach er, „daß ich ihr nie böse sein kann. So werde ich sie auch nie erziehen.“

„Ach Du,“ rief sie und schlug mit dem Handschuh nach ihm.

So wurde es denn halb sieben Uhr, bis man abfahren konnte. –

Auf Römpkerhof erwartete sie niemand außer Lea. Diese ging gleich nach Tisch in ihr Zimmer und bat, daß man sie rufe, wenn „jemand“ käme.

Rahel sah der Schwester innig und sorgenvoll nach. Sie schonte ihr Gemüth heute, sie tastete mit keiner Frage, kaum mit einer leisen Zärtlichkeit an ihre Seele. Sie dachte, daß der Schwester das Herz zum Zerspringen voll sein müßte, und daß an einem solchen Tage alle ihre Gedanken dem Erwählten gehörten. Aber sie umgab Lea mit immerwährender, zarter Aufmerksamkeit.

Im Laufe des Vormittags sandte Lüdinghausen durch seinen Reitknecht einen sehr ehrfurchtsvollen, kurzen und ernsten Brief an Lea, meldete, daß er seinem Vater eine Depesche geschickt und daß sie es seiner Pietät zu gute halten möge, wenn er erst die Antwort abwarte. So könne es Abend werden, ehe er vor ihr erscheine, er hoffe dann aber, gleich die Segensgrüße seines Vaters mitbringen zu können. Lea verschlang förmlich diese Zeilen, denn sie ersah das eine daraus, was ihr heute die Hauptsache war, nämlich daß Lüdinghausen wahrscheinlich erst später eintreffen würde als Clairon.

Sie wartete nun mit nervöser Ungeduld. Er sollte und mußte kommen, und sie würde ein Alleinsein von zwei Minuten schon zu erzwingen wissen, um ihm zu sagen: ich bin Lüdinghausens Braut. Der Regen rann gleichförmig hernieder, das Blattwerk der Bäume glänzte blank, an den Rasenkanten höhlten die fließenden Wassermengen Rinnsale aus und führten den Sand mit hinweg, die zarten Pflanzenleiber der Astern und Levkojen lagen gebadet und mit Erde befleckt flach zu Boden – es war unbeschreiblich traurig und endlos eintönig, dies Bild der Natur.

Die Stunden schlichen. In Lea erwuchs eine zornige Verzweiflung, sie hätte toben mögen. Aber Clairon kam immer nicht.

Eben schlug es sieben Uhr, als Rahel hastig eintrat, entgegen ihren sonstigen sicheren und sachten Bewegungen. Mit hochrothem Gesicht rief sie:

„Er ist da.“

Lea stieß einen Laut aus, einen Seufzer, der fast einem Aufstöhnen glich.

„Allein?“ fragte sie mit blassen Lippen.

„Nun, sein Vater kann doch erst in zwei Tagen hier sein!“ sagte Rahel.

„Ach – Lüdinghausen!“ entfuhr es Lea. Das war voll so unverhohlener Enttäuschung, so ganz deutlich in der Mattigkeit gesagt, welche jäh zurückfluthende Freude hinterläßt, daß Rahel es bemerken mußte.

Ein schreckensvolles Verständniß fuhr ihr wie ein Blitz durch die Gedanken. Sie taumelte fast zurück.

„Also doch! Doch noch!“ stammelte sie. „Du dachtest an einen andern? Erwartetest einen andern?“

Lea faßte sich und erwiderte ungeduldig:

„Ich bitte Dich, nun endlich davon zu schweigen. Ich habe Dir doch gestern abend noch gesagt, wie die Sachen stehen.“

Aber diesmal glaubte Rahel nicht mehr so schnell und so blind. Sie ging wieder treppab, fast mit wankenden Schritten, fassungslos und entsetzt. Wie soll das werden? Was muß ich thun? fragte sie sich.

Sie ging in das Zimmer ihres Vaters – natürlich, es war leer. Herr von Römpker hatte den Schwiegersohn eben der Hausfrau zugeführt. Rahel wußte kaum, was sie that, sie ging an die Thür des Salons und rief:

„Papa, ein Wort!“

Herr von Römpker kam sogleich und eilte der sich schon entfernenden Rahel nach. Er glaubte, daß Rahel ihn nach den Weinsorten fragen wolle, die heute abend auf den Tisch kommen sollten, und war ärgerlich, denn er hatte Ludwig schon die nöthigen Anordnungen gegeben.

„Was willst Du? Ludwig weiß ja über alles Bescheid.“

Rahel wandte sich plötzlich um, ergriff mit beiden Händen den rechten Arm ihres Vaters, als wolle sie sich daran halten, und sprach leise:

„Papa, ich beschwöre Dich, von der Verlobung Leas kein Wort verlauten zu lassen, nicht einmal gegen Raimar. Gönne ihr noch Zeit! Ich bin gewiß, daß Lea Clairon noch liebt. Hilf ihr nicht, in der Verblendung ein Unrecht zu thun!“

Herr von Römpker sah in das völlig farblose und erregte Gesicht seiner Tochter. Er war so erstaunt, daß er nicht einmal unwillig wurde. Er wunderte sich nur, wie man sich über die harmlosen, unbegreiflichen Einfälle eines Kindes wundert, die weiter keine ernste Beachtung verdienen.

„Thu mir den Gefallen, Rahel, und schweig von der alten Geschichte, über die längst Gras gewachsen ist. Clairon konnte nicht geheirathet werden – das that vielleicht weh – Lea wie er haben sich aber darein gefunden, Du hast doch schon oft genug gesehen, daß sie ganz unbefangen als gute Freunde verkehren. Nun thut Lea das Vernünftigste, was sie thun kann: sie nimmt den bedeutendsten und reichsten Bewerber, der sich ihr je genähert hat. Und Lea weiß, was sie thut. Alt genug ist sie auch, sie wird schon wissen, wie es in ihrem Herzen aussieht und wie sie mit sich fertig wird.“

„Papa,“ erwiderte Rahel mit flüsternder Stimme, denn sie standen auf dem Flur und konnten gehört werden. „Du mußt Dir doch sagen, daß die Unmöglichkeit, Clairon zu heirathen, [360] nur in – in Leas eitlen Einbildungen besteht. Ich flehe Dich an: verhüte ein Unglück! Mehr: verhüte eine Schändlichkeit! Gieb es nicht zu, daß man diesen Mann betrügt! Sprich mit Lea!“

Nun wurde es Herrn von Römpker aber wirklich zu bunt.

„Laß mich zufrieden mit solchen verrückten Einfällen,“ sagte er heftig und schüttelte Rahels Hände von sich. „Wie kann ich mich und Lea vor Lüdinghausen so lächerlich machen! Sie hat Ja gesagt und damit basta!“

Er ging davon und ließ Rahel stehen. Diese sah ihm nach mit großen, traurigen Augen. Ihr Herz war unaussprechlich betrübt. Sie fühlte, daß es ihrem Vater zu – unbequem war, sich in diese Angelegenheit zu mischen, und ein bitteres Lächeln schlich um ihre Lippen.

Sie versuchte, sich zu fassen, sich auf die Pflichten zu besinnen, die ihrer noch im Hause harrten. Es wurde ihr schwer. Sie konnte nur an Lea denken und versuchte sich einzureden, daß sie sich doch täuschte. Wie sollte Lea denn auch Clairon erwartet haben, für dessen Kommen heute und bei diesem Wetter doch gar keine Wahrscheinlichkeit vorlag!

Das bißchen mühsam zusammengesuchte Vertrauen sank aber jäh wieder zusammen, als Ludwig mit der Meldung in die Wirthschaftsräume kam, daß soeben Rittmeisters und der Graf Clairon fast zugleich mit Raimar angelangt seien.

So hatte sie ihn bestellt gehabt und ihn erwartet, um ihm ihre Verlobung mitzutheilen – oder wußte sie von derselben noch nichts, als sie an Clairon schrieb? Wann hatte sie ihm geschrieben und durch wen?

Sekundenlang kämpfte Rahel mit dem Wunsch, Ludwig zu fragen: Haben Sie einen Brief meiner Schwester besorgt? Aber ihr Stolz verbot ihr das.

Bleich, doch ziemlich gefaßt begab sie sich in die Wohnräume. Sie war entschlossen, zu beobachten, sie sammelte ihre Kräfte.

Die Gesellschaft war sehr laut und lustig. Römpker freute sich ungemein, daß Rittmeisters, die er nicht hatte einladen dürfen, von selbst gekommen waren. In Clairons Anwesenheit sah er einen „gesunden Zufall“, man konnte da gleich und ein für alle Mal mit dem früheren Bewerber Leas den rechten, unbefangenen Ton herstellen und Clairon mußte Haltung bewahren, selbst wenn’s ein wenig schmerzte. Lüdinghausen war noch etwas ernster und stiller als sonst. Er hielt sich aber stets in Leas Nähe und machte es ihr unmöglich, mit Clairon ein unbewachtes Wort zu reden. Auch Rahel bewegte sich immer in Hör- und Sehweite, und Lea fühlte dunkel, daß dies nicht, wie bei Lüdinghausen, harmlos geschah.

Ihre Augen brannten, ihre Kniee bebten. Wenige Minuten noch und man ging zur Abendtafel, und dann hörte Clairon die Wahrheit, ohne daß sie ihm ein kleines, ein armes Zeichen davon gegeben, wie ihre Seele litt und sich nach ihm sehnte.

Sie setzte sich an den Flügel und begann zu präludieren. Rahel sah, daß Lüdinghausen und Clairon neben der Spielerin standen, es war dieselbe Gruppe wie damals, als Lüdinghausen zum ersten Mal vertrauensvoll der Gast dieses Hauses gewesen war, wo man ihn jetzt betrog. Betrog? Wirklich? War denn jede Täuschung darüber ausgeschlossen?

Rahel fuhr zusammen. Ja, nun gab es keinen Zweifel mehr.

In dem Wahn, daß die Sprache der Töne allen Anwesenden ein Geheimniß sei, am meisten aber der überwachenden unmusikalischen Schwester, griff Lea eine Reihenfolge nur zu bekannter Akkorde:

„Mit meiner Seele glühendstem Ergusse
Sei mir gegrüßt, sei mir geküßt.“

Und in Clairons Augen leuchtete der Gegengruß auf. Er verstand, was die Geliebte ihm sagte.

„Was spielen Sie?“ fragte Lüdinghausen.

„Phantasien,“ sagte Lea und ging leise in solche über.

„Bitte zu Tisch!“ rief Herr von Römpker. Lüdinghausen bot Lea den Arm.

„Papa,“ raunte Rahel und erhaschte mit ihren eiskalten Fingern seine Hand.

„Was denn wieder?“

„Es kann, es darf nicht sein!“

„Ach, Unsinn! Ich verbiete Dir, noch eine Silbe davon zu sprechen. Du erzürnst mich ernstlich.“

Er bietet der Frau des Rittmeisters den Arm, der Rittmeister nimmt Frau von Römpker und Raimar führt Rahel, während Clairon, ohne Dame, es gewandt einrichtet, daß er an Leas anderer Seite bleibt. Die kleine Tafelrunde schließt sich.

Rahel ist stumm und ihr Gesicht weiß wie das eines Todten.

„Bist Du krank, mein Kind?“ fragt Onkel Raimar. Das Aussehen des immer rosig blühenden Mädchens erschreckt ihn.

Sie hört ihn gar nicht. Sie sieht nur immer starr ihren Vater an. Diesen ärgert ihr Blick, dem er zuweilen wider seinen Willen begegnen muß und der ihm allen Appetit an dem trefflichen Vorgericht verdirbt.

So viel Ueberspanntheit hätte er Rahel nicht zugetraut. Aber freilich, sie spielt bei jeder Gelegenheit irgend einen „sittlichen Grundsatz“ aus. Sie ist pedantisch, ein bißchen engherzig und gar zu unbeholfen. Allein das gute Kind wird sich schon beruhigen, wenn man ihr beweist, daß Clairon die Sache, ebenso wie Lea, als ein „Märchen aus uralten Zeiten“ ansieht. Daß das „Märchen“ überhaupt Lüdinghausen etwas angehe, begreift er gar nicht. Er versteht Rahel nur soweit, daß sie fürchtet, Lea könnte mit der alten Liebe im Herzen elend werden. Und das ist ja am Ende auch ganz schwesterlich gedacht. Deshalb muß man ihr wohl dies Benehmen verzeihen.

Ludwig trägt die erste Schüssel ab. Lea hat ganz gefaßt, nur etwas ernster und eintöniger als sonst mit Lüdinghausen gesprochen, während sie unter dem Tisch leise ihren Fuß neben denjenigen Clairons gestellt hat.

Da erhebt sich Herr von Römpker und schlägt an das Glas. Lea erbleicht und preßt ihren Fuß enger an den Clairons. Lüdinghausen sieht ernst vor sich hin.

Rahel, wie von einer Macht, der sie gehorchen muß, willenlos emporgezogen, steht mit vorgeneigtem Leibe da, ihren Vater anstarrend.

„Meine Freunde,“ beginnt Herr von Römpker, „ein artiger Zufall hat Sie heute in dies Haus geführt, wo die Freude eingekehrt ist.“

„Ah,“ sagt die kleine Baronin ganz laut und sieht Lea lachend an.

„Sie stehen mir alle zu nahe durch die innigen Beziehungen langer Freundschaftsjahre, als daß ich mit Ihnen an einem Tisch sitzen könnte, ohne Ihnen, vorerst im Vertrauen, eine Neuigkeit mitzutheilen …“

Da fällt ein Glas, und kurz klirrt es von den zusammenbrechenden Scherben auf. Rahel hat es umgestoßen und eine Sekunde lang schaut der Redner auf sie, auch die andern sehen flüchtig nach ihr.

„Eine Neuigkeit,“ fährt Herr von Römpker fort.

„Eine Neuigkeit,“ sagt Rahel laut und schwer und hält sich mit der rückwärtsgreifenden Hand an ihrer Stuhllehne, ihre Stimme übertönt die des Vaters und macht diesen vor Schreck verstummen.

Dann setzt sie hinzu, mit eherner Härte im Ton:

„Meine Schwester Lea hat sich mit dem Grafen Robert Clairon verlobt.“

Und sie sinkt auf ihren Stuhl zurück, bleich, mit geschlossenen Augen, nicht ohnmächtig. aber unfähig, zu sehen, zu sprechen, eine Hand zu bewegen. Doch hört sie alles.

Eine lähmende Stille folgte zunächst ihren Worten.

Jeder fühlte und sah: da war etwas Ungewöhnliches, etwas Unerhörtes geschehen, Rahel hatte diese Worte unbefugt gesprochen.

Herr von Römpker verlor jede Fassung. Er wollte sprechen, sagen, daß Rahel phantasiere, sie hinausführen lassen, er wollte eine Erklärung an Lüdinghausen, eine andere an Clairon richten. Aber die Worte blieben ihm im Halse stecken, was er auch hätte sprechen können, wäre verkehrt gewesen, alles eine Taktlosigkeit, welche diese Lage nur verschlimmern konnte. Er wagte nicht, Lüdinghausen anzusehen, noch weniger Lea.

(Fortsetzung folgt.)



[361]

Schlaf ein!

Schlafe, du kleiner, du trotziger Wicht,
Schließe die Augen zu!
Sonne, die löscht bald ihr goldenes Licht,
Legt sich in Wolken zur Ruh.

5
Ueber dem Wasser die Ente schreit,

Fliegt noch im Abendschein,
Aber für Dich ist’s späte Zeit,
Schlafe, mein Schatz, schlaf ein!

Drunten da schimmert und blinkt es wie Schnee,

10
Ringsum äugelt’s so bunt:

Wiegt seine Wellenkinder der See,
Nicken die Blumen im Grund.
Über uns schaukelt der Weidenbaum,
Sitzen zwei Vögel drein,

15
Klingen zwei Lieder in deinen Traum,

Schlafe, mein Schatz, schlaf ein!
 Victor Blüthgen.

[362]

Die Bakterien des Auges.

Von Professor Dr. Hermann Cohn in Breslau.

Es ist bekannt, daß die Bakterien, die kleinsten Lebewesen, den menschlichen Körper auf dreierlei Weise schädigen, indem sie ihn einmal mechanisch vollpfropfen, zweitens ihm die zu ihrem Leben nöthigen Nahrungsstoffe entziehen und endlich ihre eigenen Erzeugnisse in ihm ablagern. Das letzte ist das Schlimmste; die meisten Bakterien erzeugen nämlich selbst die giftigsten Produkte, sogenannte Ptomaine oder Toxine, die Professor Brieger in Berlin direkt chemisch dargestellt hat und von denen er nachwies, daß die allerkleinsten Mengen genügen, um große Thiere in kürzester Zeit zu tödten.

Das Auge ist nun ein ganz besonders guter Nährboden für Bakterien, und da sie sich durch Theilung so riesig schnell vermehren, daß aus einem einzigen winzigen Pflänzchen in 24 Stunden über 17 Millionen entstehen, so sieht man leicht ein, daß das edle Organ dem Ansturm dieser grimmigen Feinde meist schnell erliegt.

Eine große Anzahl von Augenkrankheiten verdankt ihre Entstehung erwiesenermaßen den Bakterien; die Tuberkulose, die Diphtherie, die Wundrose, der Milzbrand kommen am Auge wie an anderen Theilen des menschlichen Körpers vor. Ich will hier nur die allgemeine Aufmerksamkeit auf drei Bakterienarten lenken, die dem Auge besonders große Gefahren bringen und bei deren Besprechung sich allgemeine Rathschläge für die Verhütung der Krankheiten geben lassen.

Fig. 1.   Fig. 2.

Die Augenlider (Fig. 1 und 2) sind bekanntlich mit dem Augapfel beweglich verbunden durch eine zarte Schleimhaut, die man „Bindehaut“ nennt, weil sie eben den Augapfel mit dem Lide verbindet (b). Der vordere mittlere Theil des Augapfels aber hat keine Bindehaut, sondern eine wasserklare, sehr feste, durchsichtige sogenannte Hornhaut (h), durch welche das Licht ins Auge gelangen kann, die aber rein und spiegelnd sein muß, wenn scharf gesehen werden soll.

Seit Jahrhunderten kannten Aerzte und Publikum eine überaus gefürchtete Augenkrankheit, die sogenannte „Augenentzündung der Neugeborenen“. Am zweiten oder dritten Lebenstage beginnen nämlich öfters bei Neugeborenen die Augenlider mehr oder weniger anzuschwellen, einen dicken gelben Eiter abzusondern, zu verkleben; der Eiter, der von der innern Fläche der Schleimhaut der Lider ausgeht, kommt bald auf die Hornhaut und erzeugt daselbst ein Geschwür (Fig. 2, h); dieses platzt entweder und der Inhalt des Auges läuft aus, oder es heilt vielleicht nach wochenlanger Krankheit, aber statt der durchsichtigen klaren Hornhaut bleibt eine ganz weiß gefärbte, undurchsichtige zurück, durch welche das Sehen unmöglich gemacht oder doch überaus geschwächt wird.

Man wußte schon seit langen Zeiten, daß dieser Eiter fürchterlich ansteckend ist; wenn einem Erwachsenen nur die kleinste Spur davon ins Auge kam, war dieses gewöhnlich in drei Tagen verloren; haben doch manche Augenärzte bei der Reinigung solcher Kinderaugen selbst ein Auge durch hereingespritzten Eiter eingebüßt!

In den Blindenanstalten Deutschlands haben statistische Zählungen ergeben, daß bis vor kurzem mehr als ein Drittel aller blinden Kinder ihr Augenlicht durch diese „Blennorrhoe“ (Eiterfluß) verloren hatten. Im ganzen machen die auf diese Weise Erblindeten sicher mehr als den zehnten Theil aller lebenden Blinden aus.

Die Zahl der Blinden in Europa wird auf über 300 000 geschätzt; also 30 000 haben durch diese Krankheit beide Augen gänzlich eingebüßt; wie viele durch sie nur ein Auge verloren haben oder mit geschwächter Sehkraft daraus hervorgegangen sind, läßt sich nicht bestimmen, mindestens aber beläuft sich ihre Anzahl auf das Dreifache, also auf rund hunderttausend.

Schon oft wurde früher in populären Mittheilungen das Publikum vor der Gefahr dieser Blennorrhoe gewarnt, weil nur bei schnellster Behandlung, und auch da nicht immer sicher, Hilfe gebracht werden kann und jede Stunde der Vernachlässigung sich bitter rächt. Diese Thatsache ist allerdings auch heute noch richtig. Aber wie ganz anders sind heute unsere Anschauungen über die Entstehung der Krankheit, wie großartig ist der Triumph der Vorbeugung geworden, und zwar wesentlich durch die Kenntniß der Bakterien!

Früher glaubte man, daß ein Kind die Entzündung bekomme, wenn es zu früh an das Tageslicht gebracht worden sei; man machte daher die Wochenstuben recht dunkel. Jetzt weiß man ganz bestimmt, daß das Licht keinerlei Einfluß auf diese Krankheit hat.

Fig. 3.

Im Jahre 1879 entdeckte Professor Neisser in Breslau in dem Eiter, der aus den kranken Augen dieser Kinder kommt, eigenthümliche Bakterien, Coccen, die er „Gonococcen“ nannte (Fig. 3, g) und die sich von andern durch ihre Gestalt ziemlich sicher unterscheiden. Es sind runde Gebilde, die fast stets zu zweien verbunden auftreten, also Doppelcoccen. Ihre Berührungsflächen sind gewöhnlich ziemlich stark abgeplattet, so daß ein Paar solcher Coccen wie ein Paar Semmeln aussieht. Sie färben sich unter dem Mikroskop mit Methylenblau prachtvoll blau. Sie finden sich theils frei, theils dringen sie in Massen in den Leib der Eiterzellen ein. Diese Coccen kommen in allerkleinsten Spuren, sobald das Kind zum ersten Male die Augen aufschlägt, von seinen Augenlidern ins Auge selbst, brechen dann in die Zellen der Bindehaut ein und sind die Ursache der Blennorrhoe.

Man hat schon wiederholt versucht, diese Bakterien auf Thiere überzuimpfen, aber vergeblich; die Coccen sind die eingefleischtesten Parasiten des menschlichen Körpers und finden außerhalb desselben kaum die Bedingungen für ihr Fortkommen. Aber dennoch ist es gelungen, Reinzüchtungen zu erzeugen und zu übertragen.

Was nun den Kampf gegen diesen gefährlichen Feind des menschlichen Augenlichts betrifft, so spielt in ihm die Vorbeugung die größte Rolle, hier ist sie dankbarer als bei allen andern Krankheiten.

Die Krankheit könnte nämlich ganz und gar zum Verschwinden gebracht werden, wenn vor der Geburt die nöthigen Maßregeln ergriffen würden. In dieser Beziehung kann der Hausarzt nicht früh genug um Rath gefragt werden, zumal in Familien, wo bereits ein Kind mit diesem Leiden geboren worden ist.

Wenn dies aber versäumt worden ist, so giebt es doch Mittel und Wege, die Krankheit unmittelbar nach der Geburt sicher zu beseitigen. Professor Credé in Leipzig machte nämlich 1880 die glänzende Entdeckung, daß ein einziger Tropfen einer ganz schwachen Höllensteinlösung, unmittelbar nach der Geburt dem Kinde ins Auge gegossen, alle jene von Neisser entdeckten Gonococcen vollkommen zerstörte.

Diese herrliche Beobachtung hat bereits die schönsten Erfolge gezeitigt. Während früher nämlich in den Entbindungsanstalten zehn Prozent der Kinder von dieser Entzündung befallen wurden, erkrankt jetzt daselbst kaum mehr ein Zehntel Prozent daran. Jedes Kind erblickt also jetzt in den meisten Anstalten nicht das Licht der Welt, sondern einen Tropfen Höllensteinlösung, der sein Auge in jedem Falle vor der gefährlichen Krankheit schützt, ohne ihm im geringsten zu schaden.

In Breslau macht sich die Abnahme der Krankheit schon ganz außerordentlich geltend. Während noch vor zehn Jahren in meiner Polikinik täglich mindestens ein halbes Dutzend Kinder mit dieser gefahrvollen Krankheit erschien, vergehen jetzt Wochen, ehe einmal ein Fall vorkommt, und dieser ist dann meist vom Lande, wo kein Arzt bei der Geburt zugegen war.

Würde diese Methode bei allen Neugeborenen auch in der Privatpraxis angewendet, so könnten wir hoffen, dreißigtausend völlig Blinde in Europa weniger zu haben, aus den Blindenanstalten ein Drittel der Blinden verschwinden zu sehen und [363] hunderttausend Menschen die gute Sehkraft eines Auges zu erhalten. –

Wir kommen nun zu einer zweiten Sorte von Bakterien. Seit vielen Jahrzehnten ist den Augenärzten bekannt, daß, wenn ein Auge infolge einer Verletzung eine schwere Entzündung der Regenbogenhaut (Fig. 1, i) davongetragen hat, namentlich wenn ein fremder Körper ins Innere des Augapfels eingedrungen ist, daß dann nach 3 bis 6 Wochen, oft auch erst nach langen Jahren, das andere nicht verletzte Auge sich entzündet und dann meist unrettbar verloren ist. Es ist dies die so gefürchtete „sympathische Augenentzündung“, so genannt, weil man annahm, daß das andere Auge aus Sympathie, aus Mitleidenschaft erkranke.

Auf welchem Wege das andere, soweit entfernte Auge in Mitleidenschaft gezogen wurde, während doch die übrigen in der Nähe liegenden Körpertheile von Erkrankung frei blieben, das war bis vor einiger Zeit ein großes Räthsel. Da brachte Prof. Deutschmann in Hamburg in die dunkle Frage Licht und erhielt für seine Arbeiten auch mit Recht den großen Gräfe-Preis.

Fig. 4.

Bereits im Jahre 1883 hatte Professor Rosenbach in Göttingen bei den meisten Eiterungen ein ganz bestimmtes Bakterium entdeckt, das er den „goldgelben Traubencoccus“ nannte (Fig. 4). Es sind dies völlig rundliche kleine Zellen, die sich niemals in Ketten, sondern in dichten unregelmäßigen Haufen ordnen; in ihrem Aussehen, namentlich in den Geweben, erinnern sie an dichtbeerige Trauben, daher der Name „Traubencoccus“. Dieser Coccus ist sehr widerstandsfähig; selbst wenn er zehn Tage auf einem Uhrglase eingetrocknet ist, ist er noch nicht vernichtet; aber Siedehitze natürlich zerstört ihn. In Gelatine hält er sich fast ein Jahr. Sticht man ihn in ein Röhrchen mit fester Gelatine, so erscheinen nach zwei Tagen auf dem Boden desselben (Fig. 5, tr) kleine weiße Pünktchen, welche die Umgebung verflüssigen und einen orangegelben Farbstoff erzeugen. Da die Gelatine verflüssigt wird, so sinken die Coccen in die Tiefe und bilden einen krümeligen Bodensatz. Um die Einstichstelle bildet also die Verflüssigung eine Art Strumpf.

Fig. 5.

Man kann diesen Coccus sehr erfolgreich übertragen. Dr. Garré prüfte dies an sich selbst. Wenn er etwas davon nur auf der gesunden Haut seines Vorderarms verrieb, so erzeugte er dadurch einen mächtigen Absceß, der Wochen zu seiner Heilung brauchte und große Narben hinterließ; in diesem Absceß waren wieder die Traubencoccen massenhaft vermehrt, und mit ihnen konnte er von neuem die Krankheit weiter impfen. Dieser Traubencoccus findet sich überall, wo es Eiter giebt.

Fig. 6.

Nun benutzte Deutschmann die Reinkultur dieses Traubencoccus und spritzte sie einem Thiere in ein Auge, und siehe da, nach einiger Zeit waren die Coccen aus dem Auge heraus entlang dem Sehnerven (Fig. 6, n) nach dem Gehirn gewandert, an dessen Basis (bei k) sie zum andern Sehnerven übergingen, um sodann diesem entlang bis zum andern gesunden Auge vorzukriechen. Hier erregten sie eine Entzündung, ähnlich derjenigen, die man beim Menschen nach Verletzungen als sympathische Augenentzündung kennt. Und nun konnte man die Traubencoccen aus dem zweiten Auge weiter züchten und anderwärts einimpfen. Die sympathische Augenentzündung beruht also auf einem Wanderprozeß der Bakterien durch die Bahn der Sehnerven, die sich im Gehirn überkreuzen, von einem Auge ins andere.

Was lernen wir daraus? Da es unmöglich ist, die Coccen in dem ersterkrankten Auge zu zerstören, so nehme man dieses in schweren Fällen, wo es ja immer vollkommen oder fast vollkommen erblindet ist, ganz heraus, damit ein Ueberwandern der Coccen in das gesunde Auge gar nicht erst möglich wird. Es ist gewiß ein ernster Entschluß, sich ein Auge fortnehmen zu lassen, und man hat immer lange Kämpfe mit den Kranken und ihren Angehörigen, ehe sie die Erlaubniß zu dieser Operation geben; aber wenn man wartet, so wandern eben die Coccen in das andere Auge und vernichten beide. Da ist es doch besser, gleich radikal vorzugehen, als Jahre lang die gänzliche Erblindung fürchten zu müssen und sich dann erst zu spät zu der Entfernung des ersterkrankten Auges zu entschließen. –

Fig. 7.

Ebenso gefährlich wie die Traubencoccen sind die „Kettencoccen“, die namentlich bei Thränensack-Entzündungen gefunden werden. Die Thränen laufen durch die Thränenpunkte (Fig. 7, pp) und Thränenröhrchen (rr) nach dem Thränensack (s) und von da nach der Nase durch den Thränennasengang (g). Wenn aber hartnäckiges Thränenträufeln vorhanden ist, so deutet das oft auf eine Eiterung im Thränensack. Es tritt dann Eiter aus demselben durch die Thränenröhrchen und Thränenpunkte auf den Augapfel zurück.

Solange nun die oberste Schicht der Hornhaut (h) gesund ist, schadet dieser Eiter nicht. Wenn aber nur das leiseste Stäubchen auf die Hornhaut fällt und sie ganz oberflächlich etwas ankratzt (was sonst ohne jeden Schaden geschieht), so entsteht durch eine Spur dieses Thränensackeiters die allergefährlichste Entzündung der Hornhaut, die schnell zur Zerstörung des Auges führen kann.

Dieser Eiter enthält nämlich meist die „Kettencoccen“. Sie sind den Traubencoccen ähnlich, kleine rundliche, kugelige Zellen, die aber niemals in Haufen wie die Traubencoccen liegen, sondern in lange Ketten auswachsen (Fig. 8), wie Perlschnüre, die 6 bis 10 bis 100 Glieder zeigen. Sie haben die Eigenthümlichkeit, die Gelatine nicht zu verflüssigen, wie man in dem Röhrchen k der Figur 5 zum Unterschied von den Traubencoccen beobachten kann. Die Gefahr, welche sie dem Auge bringen, ist eine sehr große. Daher lasse man also Thränenleiden niemals sich einnisten und frage bei Zeiten einen Arzt! Denn im Thränensack lassen sich die Kettencoccen sehr gut zerstören; sind sie aber erst auf das Auge gekommen, so ist das recht schwierig.

Fig. 8.

Wie die Erkenntniß, daß die Bakterien ausschließlich die Ursachen der Eiterung sind, von hervorragendem Einflusse auf die ganze neuere Chirurgie geworden ist, so feiert diese Lehre auch ihre Triumphe in der modernen Augenheilkunde. Alle Operateure haben sich früher den Kopf zerbrochen, warum trotz der elegantesten, saubersten und technisch vollkommensten Staaroperation doch ab und zu das ganze Auge am 2. oder 3. Tage durch Vereiterung zu Grunde ging. Ja, als der große Meister Albrecht v. Gräfe einmal 61 Staaroperationen hintereinander ohne jede Eiterung hatte heilen sehen, glaubte er in seiner Technik den Schlüssel für dieses glänzende Ergebniß gefunden zu haben. Allein als darauf die 62., 63. und 64. Staaroperation zur völligen Vereiterung der operirten Augen führte, schrieb er in seiner dadurch gedrückten Stimmung vor 20 Jahren: „Man sieht eben, daß die Fenster der Augenkliniken nicht alle nach der Glücksseite hingehen!“

Heutzutage sehen die Fenster der Augenkliniken allerdings bedeutend mehr nach der Glücksseite als damals; denn seit man die Entstehung der Bacillen kennt, ist eine völlige Vereiterung des Auges nach Operationen sehr selten geworden, falls das Auge nicht schon eiternd in Behandlung kam.

Man weiß, daß nur und ausschließlich nur, wenn Bakterien ins Auge gelangen, eine Eiterung stattfinden kann; man zerstört daher die Keime der Bakterien, die etwa aus der Luft auf die Instrumente gefallen sind, indem man vor dem Gebrauche alle Instrumente in strömenden Wasserdampf bringt; man „sterilisirt“ sie, wie man sich ausdrückt. Es ist eines der vielen unvergänglichen Verdienste des großen Bacillenforschers Robert Koch, den Nachweis geführt zu haben, daß alle Bakterien dem strömenden Wasserdampf erliegen.

[364] Während vor 50 Jahren immer das fünfte Auge, vor 20 Jahren noch das zwanzigste oder dreißigste Auge bei der Staaroperation vereiterte, gehört dieses Unglück heute zu den größten Seltenheiten; ja es ist so selten geworden, daß man seit einigen Jahren diese Krankheit den Studierenden der Medizin kaum mehr zeigen kann.

Sind die Coccen einmal ins Auge eingedrungen, so ist es bei der fabelhaft schnellen Vermehrung derselben kaum möglich, gegen sie zu kämpfen. Um so wichtiger und segensreicher ist die Verhütung ihres Eindringens ins Auge.

Fig. 9.

Gegen die Wundrose, gegen die Diphtherie, gegen den Milzbrand sind leider noch keine beim Menschen verwendbaren Mittel gefunden; gegen die Tuberkulose hat Robert Koch, wie bekannt, in neuester Zeit das „Tuberkulin“ empfohlen.

Am Auge kommen Tuberkelbacillen sehr selten vor, kaum jemals primär, meist erst in sehr vorgeschrittenen Stadien des Allgemeinleidens, dann gewöhnlich in der Iris, ferner in den allerletzten Tagen vor dem Ende in der Aderhaut bei der Miliartuberkulose. Hier wird also, da Koch selbst sein Mittel nur für den Beginn des Leidens empfiehlt, nicht viel zu hoffen sein.

Dagegen wird man es mit Nutzen anwenden können beim Lupus der Augenlider und der Bindehaut. Es ist ja jetzt wohl allgemein bekannt, daß die fressende Flechte, der Lupus, nichts anderes ist als Tuberkelbacillen in der Haut oder Schleimhaut (siehe Fig. 9, t). Lupus gehört freilich zu den seltensten Augenkrankheiten – unter 50 000 Augenkranken sah ich ihn nur zweimal – aber er ist ein furchtbares Leiden; ein General, dem der Lupus von den Wangen schließlich ins Auge stieg, griff trotz seiner 70 Jahre zur Pistole. Bisher stand man der Krankheit völlig hilflos gegenüber; vielleicht hat aber auch für diese Unglücklichen die Erlösungsstunde durch Kochs Tuberkulin geschlagen. –

Da die Skrophulose eine der Tuberkulose sehr verwandte Krankheit ist, hofften einzelne Aerzte, auch bei skrophulösen Augenleiden Heilung durch das Tuberkulin zu erzielen. Koch hat nichts davon gesagt. Ich selbst habe auch bei skrophulösen Kindern keine Heilung von Entzündungen der Bindehaut und Hornhaut infolge von Einspritzungen mit Tuberkulin gesehen; glücklicherweise haben wir gegen diese Krankheiten auch viele altbewährte andere Mittel, mit denen wir, ohne ein allgemeines Fieber zu erzeugen, örtlich vorgehen können.

Hier ist also der Wunsch nach neuen Mitteln nicht so rege als bei den oben besprochenen schweren Augenkrankheiten. Hoffen wir, daß es der mächtig vorwärtsschreitenden Bakterienforschung bald gelingen möge, Mittel zu finden, welche die bereits eingedrungenen Bacillen zerstören, ohne zugleich das zarte Auge selbst zu gefährden. Bis dahin behüte der Himmel die Augen unserer Leser vor Coccen und Bacillen!




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Eine Räubergeschichte.

Von Isolde Kurz.0 Illustrirt von Fritz Bergen.

Ich war dieses Jahr früher als sonst, schon mit den ersten Leuchtkäfern, gekommen und ging in den holperigen Gäßchen von San Terenzo umher mit dem angenehmen Gefühl, eine wandelnde Sehenswürdigkeit zu sein. Die guten Leute waren ordentlich stolz auf den zeitigen Sommergast, um so stolzer, als in Lerici drüben noch nicht eine einzige Wohnung vermiethet war. Keine süßere Würze der eigenen geschmeichelten Eitelkeit als das Mißgeschick derer „von drüben“! Ist doch selbst der aufgeklärteste Kopf im ganzen Ort, mein Hauswirth Giacomino, von seinen Weltumsegelungsfahrten mit der unerschütterten Ueberzeugung zurückgekehrt, daß jeder Bewohner von Lerici mit dem Keim alles Bösen geboren werde – gerade wie weiland dem großen florentinischen Dichter Dante die gottverlassene Schlechtigkeit der nachbarlichen Fiesolaner ein Glaubenssatz war. Und auch der Klassiker von San Terenzo, ein dichtender Kapitän, hatte in einem seiner ungedruckten Gedichte, die sich von Mund zu Mund fortpflanzen, der Vermuthung Raum gegeben, daß Judas Ischariot aus Lerici gebürtig gewesen sei.

Diese uralte Eifersucht der beiden feindlichen Nachbarorte hat sich schon so weit auf mich übertragen, daß ich immer eifrig zustimme, wenn mein Hauswirth mir die Vorzüge San Terenzos auf Kosten von Lerici anpreist, und ich thue es mit gutem Gewissen, genieße ich doch in meinem unscheinbaren Felsennest den Segen einer wind- und sonnegeschützten Lage und habe das prächtige, gluthbestrahlte und von Stürmen umtoste Lerici auf der anderen Seite der Bucht mit seiner gewaltigen alten Zwingburg, die Land und Fluth beherrscht, gerade vor Augen; ich bin also weit besser dran, als wenn ich mich im umgekehrten Fall befände.

Als ich auf der Höhe des „Solaro“ aus dem über und über mit Staub bedeckten unbeschreiblichen Vehikel, das mich bis hierher gebracht hatte, herausgekrochen war, meine Gepäckstücke auf die Köpfe der herzugeeilten Weiber und Kinder vertheilt hatte und jetzt an der Spitze meiner Karawane den steilen Berghang hinunterstieg, kam ich mir vor wie ein Forschungsreisender mit seiner Expedition in wilden Ländern, und als ich zuerst wieder durch die Olivengebüsche tief, tief unten eine weite Fläche von geradezu unwahrscheinlichem Ultramarinblau leuchten sah, da pries ich die Natur, daß sie dies Restchen Paradies durch einen fast uneinnehmbaren Schutzwall gegen die anfluthende Kultur gesichert hatte.

In der That, nichts hat sich in dem stillen Golf geändert seit meinem letzten Hiersein. Dieselben Gesichter kommen mir entgegen, wie vor Jahren schaukeln sich die zur nächtlichen Fahrt gerüsteten Fischerboote auf der Reede, und die Netze werden von halbnackter, schwarzgebrannter Jugend keuchend ans Land gezogen. Wenn ich das Meer eintönig zwischen den Klippen murmeln höre und die Weiber mit bloßen Füßen die Wäsche in der schmutzigen Kanalmündung stampfen sehe, so ist mir, als stehe die Zeituhr still – und richtig, dort wandelt auch schon wie gewöhnlich der Doktor um die Ecke, begleitet von dem jungen Mann aus Bagnola, von dem mir Giacomino schon vor Jahren versichert hat, daß er ganz gewiß in kurzem ein Genie werden oder ins Narrenhaus kommen müsse, zwei Fälle, von denen bis jetzt noch keiner eingetroffen ist.

Und doch, eine Veränderung stößt mir auf, als ich mich abends zur Ruhe begebe: ich bemerke nämlich, daß Giacomino, der sonst um diese Zeit immer sorglich die Hausthür zu verriegeln pflegte, heute sich damit begnügt, sie einzuklinken und einen umgestülpten Kehrbesen von innen gegen die Thür zu lehnen, doch wohl mehr ein andeutendes Sinnbild der Sicherheit als ein wirkliches Werkzeug derselben. Der Riegel ist nämlich, wie ich höre, schon vor Monaten zerbrochen. Uebrigens ist ein solcher Besen der landesübliche Verschluß, und der Riegel vom vergangenen Jahr war nur einer der vielen Luxusgegenstände, die der in allen Dingen vorangeschrittene Giacomino sich gestattete, gewiß ein Ueberfluß in einer Gegend, wo man, wie die Einwohner versichern, das Geld auf den Straßen niederlegen kann und gewiß ist, es des andern Tags wieder zu finden. Darum theilen sich auch die beiden feindlichen Nachbarorte in die zwei einzigen verfügbaren Carabinieri dergestalt, daß die Wächter des Gesetzes zweimal wöchentlich, am Montag und am Donnerstag, in San Terenzo Aufenthalt nehmen, während sie den Rest der Woche auf die Sicherheit von Lerici verwenden.

Um meinen Vortheil als einziger Badegast nun auch sattsam auszukosten, nahm ich meinen Hauswirth, der sich während der Saison verhundertfachen muß, ausschließlich in Beschlag und besuchte in seiner Gesellschaft all die wunderbaren Orte, die ich bisher nur dem Namen nach gekannt hatte. Bald fuhren wir in die geheimnißvolle Grotte von Maralunga, wo das leise glucksende Wasser unser Boot ganz von selbst nach innen zog, daß die Fledermäuse erschreckt von den Wänden auffuhren. Bald steuerten wir zwischen dem Tino und der Palmaria hindurch nach dem kleinen Tinetto, der jetzt nur noch als ein wüster Steinhaufen aus den Wassern ragt. Das Nonnenklösterlein, das vor Zeiten dort gestanden hat, ist der Sage nach bei Nacht von kreuzenden saracenischen Piraten überfallen worden; seine Insassinnen wurden bis auf die letzte nach der Levante geschleppt, ohne daß die frommen Brüder vom Tino, der doch so nahe liegt, daß sich [365] Nonnen und Mönche fast die Hände über die schmale Wasserstraße hinüber reichen konnten, Hilfe zu bringen wagten.

So erzählte mir im Vorüberfahren Giacomino, der wie immer an Geschichten unerschöpflich war. Wer, der je den Golf besuchte, hätte nicht von Giacominos Geschichten gehört? Er ist das wandelnde Sagenbuch der ligurischen Küste. Und da er gewissenhaft immer mit denselben Worten erzählt, so kann ich die meisten seiner Geschichten auswendig, brauche also nur noch mit einem Ohr zuzuhören, während das andere dem sanft klatschenden Eintauchen der Ruder lauscht.

Inzwischen hat der Mond seine flimmernde goldene Straße von Ufer zu Ufer gezogen, auf dem Tino flammt das elekrische Licht auf und wirft, sich im Kreise schwingend, starke blitzende Strahlen über das verdunkelte Wasser. Ich wickle mich in mein Mäntelchen, strecke mich auf der Ruderbank aus und noch in den dämmernden Halbtraum hinüber folgt mir Giacominos Lieblingsgeschichte von dem Nationalhelden von San Terenzo, dem tapfern Banditen Giuseppe Suffardi, für dessen todten Leib eine schöne Gräfin vergeblich sein ganzes Gewicht in Gold geboten hat.

Doch nicht lange dauerte dieser weltabgeschiedene Zustand. Eines Tags, als ich wieder in eifrigem Müßiggang am Strande saß, meine Haare an der Sonne trocknend, und einem Seesterne zusah, der sich langsam in dem Sande unterm Wasser vor mir in Drehbewegungen zwischen Moos und Gesträuchen hinwand, legten sich mir plötzlich zwei kleine warme Hände über die Augen, ich fühlte nach den runden Fingern, die mit zahlreichen Ringen besetzt waren, und rief: „Clelia!“

In der That, sie war es, meine gute Freundin vom vergangenen Jahr, die Frau des deutschen Botanikers. Sie hatte sich „emancipirt,“ wie sie sagte, und war allein gekommen, da sie hörte, ich sei schon hier, denn ihr Mann, der ewige Wanderer, hatte eine Reise nach dem hohen Norden angetreten.

Das also bedeutete der endlose Zug von Koffern und Kisten, der sich vorhin wie eine Völkerwanderung den Solaro herabgewunden hatte – Signora Clelias Gepäck für die Sommermonate! Da stand sie vor mir, unruhig und glitzernd wie ein Stern, und schon wieder voll Begier nach etwas Neuem, noch nicht Dagewesenem.

Kaum hatte sie an meinem nassen Kopf gesehen, daß ich eben aus dem Bade kam, als sie auch schon die Lust anwandelte, entgegen dem italienischen Vorurtheil, das erst vom 15. Juni an die Seebäder gestatten will, ebenfalls mit ihrer Badekur sofort zu beginnen.

Das hat nun aber seine Schwierigkeiten, denn die Kabinen sind natürlich noch nicht aufgeschlagen, und so vom Kahn aus unter freiem Himmel in die Fluth zu springen, das erscheint Signora Clelia als ein unnatürlicher Gewaltakt. Daher beschließen wir ein freundlich Wörtlein mit dem Inhaber des „Stabilimento“, der Badeanstalt, zu sprechen, ob er nicht von der Regel eine Ausnahme machen und uns vorläufig eine Badehütte aufrichten wolle.

Der Badebesitzer, der im Ort, Gott weiß warum, den Spitznamen „Il Principe“ führt – denn alles „Fürstliche“ liegt seinem Wesen und Anstand fern – steht eben hemdärmelig am Strand und betrachtet zufrieden die vielen im Meeresgrund eingerammten Pfähle, welche die Säulen seines Wohlstandes sind, da er auf ihnen in ein paar Wochen wieder die Bretterbude aufzurichten gedenkt, aus der ihm seine Einnahme für das ganze Jahr quillt. Der „Principe“ ist eine der wunderlichsten Figuren, die mir jemals vorgekommen sind. Wer seinen Kopf ansieht, diesen runden, mit dichtem bürstenartigen Haar bestandenen schwarzen Kürbis, der sucht unwillkürlich nach dem Buckel, der von Rechtswegen zu einem solchen Kopf gehört. Aber der „Principe“ hat keinen Buckel. Erst nach einigem Forschen entdeckt das Auge die Ursache des Mißbehagens, das diese Gestalt einflößt. Ein mächtig entwickelter Brustkasten ruht ganz unvermittelt auf einem schwächlichen schwankenden Säulenpaar, das unter dieser Last bei jedem Schritte umzuknicken scheint. Der „Principe“ schiebt sich deshalb auch nur mühsam und schwerfällig vorwärts und legt sich jahraus, jahrein keine andere Beschäftigung auf, als hemdärmelig mit gekreuzten Armen auf das Meer hinauszublicken, sein Ackerland, das ihm ungepflügt goldene Früchte trägt.

Doch, o Macht des Vorurtheils! Der Mann blieb taub für die Honigzunge der Signora, die ihn einmal über das andere „caro principe, principino mio“ nannte, taub selbst für meine Vorstellung, daß ihm diese Bäder außerhalb des Abonnements mehr eintragen würden, als er uns während der ganzen Saison berechnen dürfte. Er erklärte rundweg, kein Badinhaber, „der etwas auf sich halte,“ werde vor dem 15. Juni seine Anstalt eröffnen, er habe das immer so getrieben und es sei dem Menschen nicht gut, alte Gewohnheiten mit einem Schlag zu ändern.

„So baden Sie dach in der Vallata drüben,“ fügte er schließlich hinzu, als er unsere Verstimmung sah. „Eine schönere Badewanne würden Sie am ganzen Golf vergeblich suchen, und dazu haben Sie dort noch einen Sand so weich wie ein persischer Teppich.“

In der That ist diese tiefe Einbuchtung zwischen San Terenzo und Lerici, die unter dem Namen La Vallà im Volksmund geht – gerade die Mitte des Bogens, an dessen äußersten Enden die beiden eifersüchtigen Ortschaften liegen, – einer der schönsten Punkte im Golf von Spezia, aber der Weg dahin führt auf baumloser Straße über die erste und schroffste Steigung des „Solaro“ und ist deshalb bei einer Temperatur wie der unsrigen wenig verlockend.

Das gab ich dem „Principe“ zu bedenken, allein er erwiderte gelassen: „Warum machen Sie es nicht wie [366] diese?“ – und deutete mit dem Finger auf eine Schar junger Landmädchen, die eben auf dem Klippenvorsprung, hinter dem diese Einbuchtung liegt, zum Vorschein kamen. Sie schritten barfuß, die Holzschuhe in der Hand, den Klippenweg von der Vallata herunter und patschten dann, die Kleider sorgfältig zusammenraffend, gleichmüthig durch das seichte Uferwasser, das herwärts von den Klippen die Parkmauern der Villa Maccarani wäscht. Dies war allerdings der kürzeste und einfachste Weg nach der Vallata. Ich warf einen Blick auf Clelias verzärtelte Erscheinung und wir wandten dem Spötter unmuthig den Rücken.

Gegen Abend, als ich zufällig wieder des Weges kam, fand ich Clelia bei den abgetragenen Baracken stehen und das Sinken der Fluth beobachten. Da sahen wir, wie sich unterhalb der Parkmauer und fernerhin an den Klippen erst einzelne Steine aus dem Wasser hoben; diese bildeten kleine Inselchen, die größer und größer wurden, und bald lag ein schmaler, aber völlig trockener Uferweg vor uns. Ich war schon oft zur Zeit der Ebbe auf dieser Furt hingeschritten, aber Signora Clelia betrachtete die Erscheinung mit Verwunderung und meinte, hier wäre ja die Straße, die der „Principe“ uns vorschlüge.

Ich blickte zweifelhaft auf ihre Stöckelschuhe, doch ein ganz neuer Geist der Thatkraft und Unternehmungslust schien dieses Jahr in die hübsche Frau gefahren zu sein; sie bestand auf dem Versuch.

Eine halbe Stunde später waren wir schon unterwegs und der „Principe“ sah uns kopfschüttelnd nach, wie wir den niederen Quai hinabstiegen und an seinem Pfahlwerk vorüber mit geschürzten Kleidern längs der Parkmauer auf dem trockenen Kies hingingen, den heranhüpfenden kleinen Wellchen rasch ausweichend und begleitet von dem Neffen meines Hauswirths, dem kleinen Oscarino, der unser Badezeug in einem Ballen auf dem Kopf trug.

Die Expedition gelang über alles Erwarten gut, nur der Klippenweg bot einige Schwierigkeit, weil einer der Zinken so steil ist, daß er nur auf Händen und Füßen erklettert und rutschend wieder verlassen werden kann. Doch gute Laune besiegte auch dieses Hinderniß und jubelnd faßten wir nach kurzer Wanderung auf dem Gestade der Vallata Fuß.

Vor uns lag das herrliche Panorama des blauen Golfs mit seinen Buchten und Inseln, hinter uns die bewaldete Höhe von Marigola, zur Rechten der düstere Park der Villa Maccarani, der uns mit seinen hohen Cypressen und dichten Oliven, Steineichen und Pinien die Aussicht versperrte, links der steile Aufstieg nach der Fahrstraße von Lerici, die sich kühn am Berge hinwindet, und an den beiden Hörnern des Golfes auf dem äußersten Landvorsprung die Kastelle von San Terenzo und Lerici.

Natürliche Nischen in der Felswand schienen nur auf uns gewartet zu haben und ließen sich durch ein vorgespanntes Badetuch bereitwilligst in kleine Ankleidekabinette verwandeln. Und was soll ich von dem weichen durchsonnten Sande des Ufers sagen, der sich den Sohlen anschmeichelt wie ein Plüschteppich, was von der glatten Spiegelfluth, die wie ein Krystall den allmählich abfallenden Grund mit seinen breiten Sandwellen durchblicken läßt?

Als wir nach vollendetem Bade den holperigen feuchten Rückweg einschlugen, gelobten wir uns beide, nie wieder von der Bretterbude des „Principe“ Gebrauch zu machen, nachdem wir zu so viel höheren und vollkommeneren Genüssen durchgedrungen waren.

Wir hielten Wort und wochenlang überwanden wir Tag für Tag die Hindernisse des Wegs, der uns allmählich so vertraut wurde, daß wir ihn auch im Schlafwandel zurückgelegt hätten.

Darüber war der Sommer vorgeschritten, duftige bunte Kleider und Sonnenschirme von den wunderbarsten Formen und Farben tauchten schmetterlingsartig in den engen düsteren Gäßchen von San Terenzo auf und blinkten lustig von der Hügelstraße von Lerici herüber, denn jetzt war es auch „drüben“ so voll geworden, daß beide Orte keinen Grund mehr hatten, einander um ihre Badegäste zu beneiden.

Junge Mädchen im Matrosenkostüm, den niedern Strohhut auf den schwarzen hängenden Flechten, steuern geschickt ihre Kähne zwischen den anlandenden Dampfbooten durch, Herren im Badekostüm, gestreift wie Zebras, stürzen sich vom Hafendamm kopfüber in die Fluth, neugierige Fremde erklimmen das alte Kastell und lassen sich von der gutmüthigen drei Mann starken Besatzung das mächtige, den Golf beherrschende Teleskop richten, um drüben auf dem Quai von Lerici, der in einen Korso verwandelt ist, die Damenwelt zu beobachten.

Und richtig, am 15. Juni eröffnet auch der „Principe“ nach Brauch und Herkommen mit einem Festkonzert seine fertige Bretterbude, die er auf den poetischen Namen „Amphitrite“ getauft hat.

Er hat allen Grund, auf sein diesjähriges Werk stolz zu sein, die Pläne, über die er so lang am Ufer brütend gesonnen hat, liegen jetzt verwirklicht vor aller Augen. Der langen Vorderreihe von Badekabinen mit den hohen vom Wellenstoß erschütterten Wassertreppen hat er einen luftiggebauten Tanzsaal angehängt, den eine Reihe Petroleumlampen und rothe Baumwollgehänge an den Innenwänden zieren. Die unvermeidliche Drehorgel läßt ihre ohrenzerreißenden Töne vernehmen, nach denen sich schon einige tanzlustige Paare drehen, und am Schenktisch wird ein abscheuliches Bier verabreicht. Aber mit Kopfschütteln und mit Vorwurfsblicken, als verstehe er die Welt nicht mehr, sah uns der „Principe“ nach, als wir auch an diesem bedeutungsvollen Tage an seinem Wunderbau vorüber nach der Vallata wanderten.

Doch er sollte in der Folge noch mehr Anlaß zum Kopfschütteln und zu Vorwurfsblicken bekommen, da ihm mit einem Male die Hälfte der Badekabinen leer blieb. Die Ursache stellte sich bald heraus, als wir an einem der nächsten Tage bei unserer Ankunft in der Vallata die Felsennischen durch fremde Badetücher verhangen fanden.

Andere waren in unsere Fußstapfen getreten und hatten uns den unvergleichlichen Badeplatz nachentdeckt.

Doch dies kümmerte uns vorerst nicht viel.

Der Strand war lang genug, daß man sich gegenseitig aus dem Wege bleiben konnte, und bot noch andere natürliche Schlupfwinkel, die sich mit wenig Kunst in leidliche Badehütten verwandeln ließen. Indeß auch von diesen Stellen wurden wir mehr und mehr durch die nachrückende Kulturwelt verdrängt, wie es ja zu gehen pflegt, daß die ersten Entdecker eines neuen Landstrichs sich bald ihrer Nachfolger nicht mehr zu erwehren vermögen.

Und immer finsterer blickte der „Principe“ uns nach, wenn wir an seinen Pfahlbauten vorüber den Klippenweg einschlugen, denn stetig mehrte sich die Zahl der Ueberläufer aus seinem Lager, und es war bereits in San Terenzo ein öffentliches Geheimniß, daß der „Principe“ Feuer und Flamme gegen uns war.

Eines Morgens, als ich eben die Felsenstufen hinunter steigen wollte, die nach der Marina, dem sandigen Hafenplatz, führen, kam mir Giacomino barfuß, mit bis an die Kniee aufgeschlagenen Beinkleidern und nassem Tauwerk in den Händen entgegen und rief:

„Wohin wollen Sie? Das Meer ist ja in den Straßen! Haben Sie denn den Sturm nicht gehört? Das brüllte die ganze Nacht und schlug an den Quai wie ein Raubthier, das an den Stangen seines Käfigs rüttelt!“

Ich mußte bekennen, daß ich den ganzen großen Aufruhr verschlafen hatte.

Als ich um die Felsenecke bog, bot sich mir ein überraschender Anblick.

Die Marina war vom Meer völlig verschlungen, die Boote, die Tags zuvor an der sanften Böschung hoch ins Trockene hinaufgezogen worden waren, standen fußtief im Wasser, die Fluth leckte bis an die Stufen meiner Felsentreppe und drang bei den niedriger stehenden Häusern in die Thüren ein. Ein paar Männer patschten mit hoch aufgestülpten Beinkeidern im Wasser umher und fischten Stricke, Bretter und allerlei Geräthschaften zusammen, die da herrenlos einhertrieben. Sonst war der kleine Ort wie ausgestorben, weil die meisten Badegäste nicht zu den Hausthüren herauskonnten.

Doch nein, nicht ganz ausgestorben, denn drüben auf dem Quai steht Clelia in scharlachrothem Kleid mit Sonnenschirm von derselben Farbe und winkt und ruft zu mir herüber. Was sie spricht, kann ich zwar vor dem Getöse des Wassers nicht [367] verstehen, aber ich folge der Richtung ihrer Hand, die nach dem Meere hinausdeutet, und sehe dort ein riesiges dunkles Etwas wie einen Walfisch auf der Fläche treiben und sich mit den lächerlichsten Bewegungen hin und her drehen und wälzen. Bald lag es unter Wasser und schien zu versinken, bald bäumte es sich wie von einem Peitschenhieb getroffen hoch auf und reckte einen halbabgelösten Balken wie einen Riesenarm zum Himmel, dann legte es sich auf die Flanke und entblößte trauervoll eine eisenbeschlagene Bretterwand. Jetzt überschlug es sich plötzlich und streckte, auf dem Rücken liegend, eine hölzerne Treppe in die Luft.

Giacomino stand lachend neben mir.

„Das ist eine von den neuen Kabinen des ‚Principe‘,“ sagte er. „Der Mann ist ganz außer sich, er schwört, Sie hätten sein Kasino verhext und ihm alles Glück fortgetragen.“

Giacomino, der menschenfreundliche Giacomino, macht sich über das Unglück seines Nächsten lustig! Das brächte meine ganze Psychologie ins Wanken, wenn mir nicht noch rechtzeitig einfiele, daß der „Principe“ aus Lerici ist.

Als er noch sprach, tönte ein Schrei vom Quai herüber. Eine Welle, größer und stärker als die übrigen, hatte sich über den Hafendamm bis vor die Thür des Apothekers gestürzt und unterwegs an der armen Signora Clelia und ihrem nagelneuen Kleide ihr Müthchen gekühlt.

Nun war für die nächste Zeit nicht mehr ans Baden zu denken. Der „Principe“ hatte seine Kabinen geschlossen und die Wassertreppen hoch hinaufgezogen, damit sie ihm nicht von der Fluth zertrümmert würden. Desto weiter hatte er aber die gastlichen Thüren seines Kasinos aufgethan, und der gut gesinnte Theil der Badegesellschaft, das heißt diejenigen, die ihr Abonnement bezahlt hatten und ihre Bäder in der „Amphitrite“ nahmen, verbrachte dort die Nachmittage, die Damen mit bunten Stickarbeiten beschäftigt, die Herren rauchend und Zeitungen lesend oder an dem neu eingerichteten Dominotisch. Abends wurde zum Schein der qualmenden Petroleumlampen getanzt und das Gequiekse der Drehorgel übertönte oft noch die Donnerstimme der Wogen.

Daß wir beide, Clelia und ich, uns wie die verstoßenen Engel an dem Thore dieses Eden vorüberdrückten, versteht sich von selbst.

Doch solche Vereinsamung vermochte uns nicht einzuschüchtern, und der erste klare Sonnenschein, der wieder über San Terenzo aufging, sah uns auch schon unterwegs nach der Vallata. Heute mußten wir sogar unser Badezeug selber tragen, denn Oscarino war nirgends zu finden.

Und siehe, da stand auch der „Principe“ wieder unter seinem Kasino. Er grüßte tiefer als sonst, indem er uns mit einem feierlichen „buon bagno!“ ein gesegnetes Bad wünschte. Täuschte ich mich oder sah ich etwas wie stille Schadenfreude um seine Mundwinkel zucken?

Allein kaum hatten wir ein paar Schritte längs der Mauer auf dem schmalen vom Meer beleckten Sandstreifen gemacht, als wir stehen blieben und uns mit zweifelnden Blicken ansahen. Zwischen Sand und Kies sickerte Wasser hervor und durchfeuchtete unser Schuhwerk. Und doch war dies die trockenste Stelle; sobald sich der Boden ein wenig senkte, vielleicht schon hinter der nächsten Mauerecke, mußte die Nässe sich vermehren.

Wäre nur ein Boot erschienen, um uns mitzunehmen, mit ein paar Ruderschlägen hätten wir die Vallata erreicht.

Aber alle Fahrzeuge sind auf hoher See, denn nach solchen Sturmtagen gehen die Bewohner der Tiefe am leichtesten ins Netz, und am fernsten Saume des Horizonts blähen sich in Reih und Glied Dutzende und Dutzende milchweiß schimmernder Segel.

Inzwischen suchte ich das wankende Gemüth der Signora Clelia zu stärken, indem ich ihr vorstellte, wie beschämend ein Rückzug für uns wäre, denn unter der Thür des Kasinos erwartete uns unfehlbar der „Principe“, und er würde sich’s nicht nehmen lassen, im Vorbeigehen zu fragen, ob das Bad erquickend gewesen sei.

Sprungweise mußten wir uns vorwärtsbewegen, indem wir die breitesten und trockensten Steine auswählten; aber immer nässer wurde der Pfad, so daß uns nichts mehr übrig blieb, als nach Landesbrauch Schuhe und Strümpfe abzustreifen und bis zu der Loggia des alten Maccaranipalastes zu waten. Jenseits lag ja eine Strecke festen Landes, mit Kiesgeröll beworfen, welche zu den Klippen führte, und dann waren wir in solcher Höhe über dem Meeresspiegel, daß uns das Wasser nichts mehr anhaben konnte.

Also schnell einen forschenden Blick in die Runde, der uns überzeugt, daß wir allein sind mit Luft und Meer und mit den Vögeln des Himmels, die jenseit der Mauern zwitschern. Signora Clelia ergiebt sich lachend ins Unvermeidliche, wir entledigen uns beide der Fußbekleidung und waten mit geschürzten Kleidern vorwärts.

Indessen welch ein Marterweg war dies! Clelia jammerte laut auf, als sie mit den zarten Füßchen auf die groben Kieselsteine trat, und wäre ohne meine Hilfe zweimal geradezu ins Wasser gestürzt.

Und dabei stach die Sonne, gegen die unsere großen Strohhüte nur mangelhaften Schutz gewährten, mit voller Juligluth herunter. Wir dankten Gott, als wir endlich die geschundenen Sohlen auf die Pflastersteine der Veranda setzten.

Aber ach, jetzt konnten wir erst sehen, daß das Stück Festland, das sonst hier zwischen dem Meer und der zurücktretenden Parkmauer lag, vom Wasser aufgesogen war, – das Meer umspülte heute selbst die Stufen der Veranda. Deshalb also waren wir keiner Seele auf dem ganzen Weg begegnet! Und nun glaubte ich auch zu verstehen, weshalb uns der „Principe“ so höhnisch nachgelächelt hatte.

Ueber unseren Rückzug will ich schweigen, er hat sich auf lange Zeit in unsere Erinnerung schmerzlich eingeprägt.

Die Sonne, die unterdessen ein gut Stück höher gestiegen war, brannte immer stärker, das Wasser, das um diese Stunde noch nicht durchheizt ist, glitzerte so verlockend kühl, und dort stand richtig noch der „Principe“, der unsere Rückkehr abgewartet hatte, und grinste uns von weitem entgegen. Nein, diese Miene war nicht zu ertragen, das sagte selbst Clelia trotz der geschundenen Füße.

Wir hatten jetzt die Wahl, ob wir für heute und so lange der hohe Wasserstand anhielt, auf das Bad verzichten oder beim „Principe“ zu Kreuz kriechen wollten.

Indeß, es blieb noch eine dritte Möglichkeit; ich hätte sie freilich nicht vorzuschlagen gewagt, aber der Anstoß ging von Clelia [368] selber aus. Es stand uns ja noch der Weg über die Höhe offen, der zwar steil und in der Hitze beschwerlich war, aber unfehlbar ans Ziel führte. So eilten wir lachend und scherzend, als ob unser Vergnügen durch die nassen Schuhe noch vermehrt sei, zu der gemauerten Straße zurück und wandten uns vor den Augen des „Principe“, der uns beharrlich nachblickte, dem Solaro zu.

Ich bat heute der Signora im stillen den Vorwurf der Weichlichkeit ab, so wacker hielt sie sich auf dem beschwerlichen Weg. Und wenn sie auch oft schwer athmend stehen blieb und sich mit dem bunten seidenen Tüchlein die Stirn wischte, so kam doch keine Klage über ihre Lippen. Endlich hatten wir die Höhe der Marigola erreicht und hier zweigte unsere Straße rechts um die Ecke nach dem Walde ab. Nur wenige ebene Schritte an der Besitzung der Maccarani vorüber, dann ging es bergab eben so steil, wie wir heraufgeklommen waren, aber die Kühle des Eichen- und Olivendickichts empfing uns hier und von unten wehte uns die Seebrise in die erhitzten Gesichter. Jäh abfallend führte der Weg am Rande eines ausgetrockneten Waldbachs hin, der sich ein tiefes Bett durch das Gehölz gerissen hatte und bald schimmerte es tiefblau herauf – ein Jubelruf grüßte den Anblick und unten standen wir auf dem Sande des langen halbmondförmigen Gestades.

Einen schöneren Tag als diesen habe ich nie am Strande gesehen. So neugeboren, so ahnungsvoll und erinnerungslos blickte das Meer, als ob sich nicht schon Tausende und Tausende von Geschlechtern in seinem Auge gespiegelt hätten, als ob noch wie dazumal am Schöpfungsmorgen der Geist Gottes über den Wassern schwebte. Der Tino und die Palmaria sahen wie frisch gewaschen aus den Fluthen herüber, von Lerici tönte sonntägliches Glockengeläute. Die Vormittagssonne wob über den grünlichen Spiegel ein Netz von Strahlen, das in goldenen Maschen auf den Sandwellen des Grundes flimmerte. Nach diesem Netze haschen, es zerreißen und die zitternden Strahlen ihr zertrenntes Gewebe wieder herstellen sehen, dann uns gegenseitig mit Schaum überspritzen oder wetteifernd nach einem bunten Kiesel auf den Grund tauchen – über diesem kindlichen Spiel müssen uns Stunden vergangen sein. Signora Clelia vergaß selbst die immerwache Sorge um ihr schönes Haar, sie ließ die entfesselten braunen Flechten im Wasser spielen und tauchte wie ein Delphin. Und rings umher die tiefste Einsamkeit, kaum daß dann und wann verlorenes Hundegebell von Lerici herübertönte. Die Villa Orlandini, deren Parkthor auf unsern Strand herausgeht, ist dieses Jahr unbewohnt geblieben, da sie von einem Amerikaner gemiethet, aber nicht bezogen wurde; also auch von dieser Seite her ist keine Störung zu fürchten. Die italienische Gesellschaft, die uns sonst unsern Badeplatz streitig machte, hält sich fern, natürlich im Aberglauben, daß nach Sturm- und Regentagen das Seebad durch das hinzugekommene Süßwasser schädlich sei. Somit sind wir für heute unbestrittene Herrinnen des Gewässers.

Und dann nach dem Bade das sonnige, wonnige Lagern auf dem weichen durchglühten Sand! In den weiten weißen Mantel gehüllt, den breiten Hut über das Gesicht gezogen, sich mumienhaft einbetten im Sande, mit einem freigebliebenen Arm immer neue Schichten heißen Sandes über sich thürmen, bis die ganze Gestalt unter einem Sandhügel verschwunden ist, dann die Last mit einem Mal abwerfen und den Bau von neuem beginnen – aus den Ritzen des Hutes, durch welche goldene Strahlen schießen, hinaufblinzeln in das satte ungebrochene Blau, das uns oben, unten, allgegenwärtig umfängt, und endlich eingelullt von dem endlosen eintönigen Cikadengeschmetter, gedankenlos, selbstverloren ins All hinüberdämmern, sich nicht mehr als Mensch fühlen, sondern als ein beseeltes Stück der umgebenden Natur, als einen Wassertropfen, der zu der unendlichen Fluth gehört, als ein Sandkorn im weiten Sandgefilde! –

Aus diesem seligen Behagen riß uns jählings eine rauhe Stimme, die in barschem Tone ein Almosen heischte.

Entsetzt fuhren wir beide in die Höhe. Vor uns stand ein stämmiger Kerl von abschreckender Häßlichkeit mit einem dicken knorrigen Stock, in Lumpen von jener seltsamen gelblich braunen Farbe gehüllt, die in aller Herren Ländern die eigentliche Bettlerlivree zu sein scheint. Auf mächtigen Augenknochen standen wahre Buschwälder von Augenbrauen, die schwarzen dicken Haare hingen in einem Büschel aus dem durchlöcherten Kopf eines breiten Filzhutes heraus, von dem eigentlich nichts vorhanden war als die Krämpe.

Noch starrte ich ihn fassungslos an, denn ich glaubte mich im Bann eines wilden Traumes, da tönte hinter mir eine andere Stimme: „Un soldo, Signora!“ – und zurückfahrend sah ich einen zweiten Kerl mit Knotenstock, womöglich noch unheimlicher als der erste, denn sein Gesicht war mit Pockennarben zerackert und über dem rechten Auge trug er einen schwarzen Wachstuchfleck.

Ich suchte mein Entsetzen so gut wie möglich zu verbergen und antwortete mit erkünsteltem Unwillen:

„Was fällt Euch ein? Glaubt Ihr denn, man nehme die Börse mit ins Bad?“

Signora Clelia drängte sich an mich heran und suchte ihr goldenes Armband in den Falten des Bademantels zu verbergen; es war an ihrem linken Arm angeschmiedet und hätte ihr nur mit diesem selbst entrissen werden können.

Da tönte es aufs neue mit dumpfer Stimme:

„Un pezzo di pane, Signora!“ Ein Stück Brot!“

Unhörbar war ein Dritter durch das Gebüsch herangeschlichen, schwarz und fürchterlich wie die ersten, ein Kerl, dem der Hunger aus dem fahlen, hagern Gesicht sah.

Wuchsen die Unholde aus dem Boden? War das ganze Zuchthaus los? Da stand ein Vierter – und noch kein Ende.

Sie schlossen einen Kreis um uns, sagten aber kein Wort mehr. So standen wir uns gegenüber, wie lange, weiß ich selbst nicht, doch war es lange genug, um uns diese Gestalten auf ewig ins Gedächtniß zu prägen, die scheußlichen Banditengesichter, die kurzen, nur bis zu den Knieen reichenden, zerschlissenen Beinkleider, unter denen die sehnigen Beine und bloßen Füße zum Vorschein kamen, die grotesken Filzhüte, die in der Farbe an fetten Humus erinnerten, auf dem eben Moos zu keimen beginnt.

Unsere Blicke flogen rasch nach allen Seiten, ob nirgends Hilfe zu finden wäre. Die schöne Einsamkeit, die wir noch soeben gepriesen hatten, war jetzt unsere schrecklichste Feindin geworden. Auf der Fahrstraße von Lerici war keine Seele zu sehen, der Klippenweg nach San Terenzo war durch das Wasser abgeschnitten, das Thor der Villa Orlandini blieb verschlossen.

(Schluß folgt.)
[369]

Ein Besiegter.
Nach einer Zeichnung von Richard Strebel.

[370]

Aus Noth und Tod!

Zum 25jährigen Bestehen der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“.
Von Otto Felsing.

Wer an Bord eines Schiffes, von See kommend oder in See gehend, die Elbmündung berührt, erblickt weit draußen auf den grollenden grauen Wogen der Nordsee mehrere feuerroth angestrichene Leuchtschiffe, die außenbords die Bezeichnung „Elbe“ und eine Nummer in ellenhohen weißen Buchstaben tragen. Das mit der Nummer II beherbergt einen alten Seemann, der nach und nach nicht weniger als achtzig Menschen vor dem Wellentode gerettet hat – stets mit Anspannung aller körperlichen und seelischen Kräfte bis aufs äußerste und immer mit opfermuthiger Einsetzung des eigenen Lebens! Ringhoff, so heißt der Wackere, ist Schiffszimmermann auf diesem Feuerschiffe, zugleich aber gehört er zu der Rettungsmannschaft, welche die „Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ auf diesem ewig meerumbrausten Posten unterhält; und in ihrem Dienste hat er seine Heldenthaten vollbracht – wahre Heldenthaten, wie sie größer und segensreicher selbst in der glorreichsten Schlacht nicht vollführt werden, wenn auch kein Heldenlied von ihnen singt und sagt! Und sie stehen nicht einzig da; denn solcher „braven Männer“ wie Ringhoff giebt es viele an den deutschen Meeresküsten, eine Anzahl auf jeder von der genannten Gesellschaft angelegten Rettungsstation, und dieser Stationen sind nicht weniger als hundertunddreizehn auf dem nur etwa zweihundertundachtzig Meilen langen deutschen Küstensaume von Memel bis Borkum! Sechsundsechzig davon kommen auf die langgestreckte Küste der Ostsee und siebenundvierzig auf die minder ausgedehnte, aber weit gefährlichere der überdies viel stärker befahrenen Nordsee.

Die Leser der „Gartenlaube“ wissen aus einem Artikel im Jahrgang 1880 und den ihm beigegebenen Abbildungen ja schon zur Genüge, wie diese Rettungsstationen eingerichtet sind, wie in einem großen Schuppen die großen und kleinen, meist aus kanneliertem Eisenblech nach dem „System Francis“ gebauten Boote, die Raketenapparate, die Schwimmgürtel etc. untergebracht sind; und es ist den Lesern ebenso bekannt, daß die aus der Fischerbevölkerung der Stationsorte angeworbene Mannschaft regelmäßige Uebungsfahrten und Rettungsübungen unternimmt, um in jeder Beziehung wohlgerüstet zu sein, wenn es gilt, den rasenden Stürmen Opfer auf Opfer abzuringen; es soll daher heute des näheren nicht wieder darauf eingegangen werden – nur einen Gesammtüberblick über das möchte ich heute geben, was jene wackere Mannschaft, was jene Gesellschaft bis heute erreicht haben, erreicht in einem Vierteljahrhundert!

Am 29. Mai d. J. begeht die „Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ die 25. Wiederkehr ihres Gründungstages. Kaum dürfte es ein zweites deutsches, von Privatmännern geschaffenes und lediglich aus privaten Mitteln erhaltenes Unternehmen geben, das sich hinsichtlich seiner musterhaften Organisation und Verwaltung, seiner praktischen Einrichtungen und seiner großartigen Leistungen das gleiche Recht auf allgemeine Anerkennung erworben hätte! Unter dem Vorsitz ihres greisen Begründers und ersten Vorstands, des Konsuls H. H. Meier aus Bremen, hält die Gesellschaft ihre bedeutungsvolle Jahresversammlung zu Berlin, unter den Augen des Reichsoberhauptes, ab, wobei der nahe Wannsee Gelegenheit geben wird, den binnenländischen Zuschauern eine Probe des gesammten Rettungswesens im kleinen vorzuführen.

Ein eigenthümlicher, aber dabei innerlich tief begründeter Parallelismus waltet zwischen den Geschicken des Deutschen Reiches und des deutschen Seerettungswesens ob: aus unbedeutenden Anfängen erwachsen, in den ersten Jahren sonderstaatlicher Zersplitterung anheimgegeben und deshalb ohnmächtig, dann in der Verborgenheit erstarkt, bis es endlich mit einem Schlage wie ein junger Riese thatkräftig und thatmächtig hervortritt ans Licht, so ist das deutsche Rettungswesen in seinem Werden ein getreues Spiegelbild des Werdens unseres jungen Deutschen Reiches, mit dessen und durch dessen Erstarkung es seine heutige Höhe erreicht hat.

Die wenigen wackeren Männer, welche sich am 29. Mai 1865 in Kiel einfanden, um über einen engen Zusammenschluß der bisher an den Küsten der Einzelstaaten getrennt bestehenden, mit äußerst schwachen Mitteln arbeitenden „Vereine zur Rettung Schiffbrüchiger“ zu berathen, kamen fast sämmtlich nur aus den Hafenstädten und Küstenplätzen – was kümmerten sich denn auch damals die Binnenstädte um die See und das Seerettungswesen, wie konnten sie auch viel Interesse daran haben, in welcher Weise die ihnen staatlich fremden Bewohner der Küsten sich mit den Schrecken der Strandungen, dem grauenvollen, Noth und Tod bringenden Elend der Schiffbrüche abfanden! Fremd ihrem Auge, fremd ihrem Herzen war, was dort geschah, und blieb es im wesentlichen, bis die einzelnen Staaten zum einzigen, die deutschen Völker zum deutschen Volk sich geeint hatten und so von jedem Gliede am Körper der Nation empfunden wurde, was einem andern widerfuhr. So lange der deutsche Partikularismus im Staatsleben sich der Einigung widersetzte, so lange hinderte er auch das Einigungswerk und damit die Kräftigung und das segensreiche ins Große Wirken des Seerettungswesens; klarer hat sich das nie gezeigt als an jenem Einigungsversuche in Kiel, der, wenn er auch nicht scheiterte, doch nur zu einem „provisorischen“ Ergebniß führte, weil manche der Versammelten trotz aller Begeisterung für das gemeinsame Ziel sich dennoch nicht überwinden konnten, die kleinen Sonderinteressen ihrer Vereine zu opfern.

Erst im folgenden Jahre, 1866, auf einer zweiten Versammlung in Hamburg am 29. Mai, konnte die Verschmelzung der vielen kleinen Einzelvereine (Emden, Bremen, Lübeck, Danzig etc.) zur großen „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ verkündigt werden – im selben Jahre also, das nach Hader und Bruderkrieg den Anfang einer Verschmelzung der deutschen Staaten zum einigen Bundesstaat sah! Schritt für Schritt mit der Entwickelung Deutschlands ging auch die Entwickelung der Gesellschaft vorwärts, denn aus dem Interesse der Küstenländer und freien Küstenstädte war ein deutsches Interesse geworden! Und das wurde naturgemäß um so lebhafter, je mächtiger sich das Seewesen Deutschlands entfaltete, je stärker damit auch die Zahl seiner Söhne anwuchs, die, bald nach Tausenden zu berechnen, in ihrem Berufe den Kampf mit Wogen und Sturm durchfechten mußten.

Wie dieses Interesse sich bethätigte? Nun, durch den massenhaften Beitritt von Mitgliedern aus allen Gauen des Reichs und durch viele große wie unzählige kleine Spenden! Zu einer wahrhaft nationalen Einrichtung ist die Gesellschaft geworden: dafür spricht unwiderleglich die Thatsache, daß sie heute mehr als 50 000 Mitglieder zählt und lediglich mit freiwilligen Beiträgen von Privatleuten, ohne die geringste Unterstützung seitens der Regierungen, arbeitet. Die Einnahmen an Mitgliederbeitragen, Schenkungen, Vermächtnissen etc. betrugen im verflossenen Rechnungsjahre 253 000, die Ausgaben rund 179 700 Mark. Dabei ist es der Beachtung – und auch der Nachahmung! – werth, daß die Gesellschaft nicht wie so manche andere gemeinnützige Veranstaltung einen unverhältnißmäßig großen Theil ihrer Ausgaben für die Verwaltung aufwendet; im Gegentheil entfällt ein ganz ungewöhnlich kleiner Theil darauf, während dagegen bei den Gehältern der Rettungsmannschaften und bei der Ausrüstung der Stationen, überhaupt bei allem, was dem eigentlichen Zwecke [371] des Werkes förderlich sein kann, ganz gewiß das Aeußerste gethan wird, um bei den Mannschaften der Stationen Lust und Liebe zur Sache wach zu halten. Nicht nur, daß diese seetüchtigen und gut geschulten Mannschaften für jede Uebungsfahrt ihre bestimmte Löhnung, für jede Rettungsfahrt den doppelten und bei Rettungsfahrten unter besonders schwierigen Umständen (Nacht, Eis etc.) sogar den dreifachen Satz erhalten; nicht nur, daß die Gesellschaft für jedes gerettete Menschenleben eine Extraprämie von 20 Mark zahlt (übrigens gleichviel, ob diese Rettung von den Stationsmannschaften und mit den Rettungsgeräthschaften der Gesellschaft erfolgt oder nicht) – sie hat auch das Leben eines jeden einzelnen Mannes der Station versichert, so daß sich keiner dieser Wackeren während des Kampfes gegen die brüllenden Wogen in seiner Thatkraft und seinem Wagemuth von dem Gedanken behindert fühlen soll: was wird aus Weib und Kindern, wenn du bei der Rettung anderer selber „ausbleibst“!

Und es giebt nichts, was diese Tapferen zurückhält, wenn irgend woher bei Tag oder in der Wintersturmnacht ein Bote zur Station jagt mit der Meldung: „Schiff in Noth!“ Man muß sie nur einmal gesehen haben, wie sie in wenigen Minuten das Boot zu Wasser lassen und den Kampf mit der empörten See aufnehmen, um ihr mit eigener Lebensgefahr ihre Opfer zu entreißen. 1868 Menschenleben haben sie bis zum 1. Januar dieses Jahres vor dem sicheren Wellentode bewahrt, also durchschnittlich in jedem Jahre 76! Angesichts dieser Zahlen bedarf es gewiß keiner weiteren Ausführung mehr über das segensreiche Wirken der Gesellschaft – und hoffentlich auch keines besonderen Ansporns, ihr als Mitglied beizutreten oder doch ab und zu ein Scherflein in die kleinen, roth und weißen Sammelbüchsen zu stecken, die uns in so vielen öffentlichen Räumen, Wirthsstuben etc. in Gestalt eines kleinen Rettungsbootes zurufen: „Gedenket Eurer Brüder zur See!“ Jeder Pfennig hilft ja mit, ein Menschenleben zu retten und eine Familie vor bitterer Noth oder doch vor tiefstem Herzenskummer zu bewahren! Noch wissen es nicht alle, die gern hilfsbereit wären, was selbst die kleinste Gabe hier Gutes zu wirken vermag, wenn sie zum Ganzen fließt. Und wenn am Vierteljahrhundertstage der Gesellschaft viele Tausende von nah und fern an die idyllischen Ufer des Wannsees strömen, um das „Kaisermanöver“ einer Normalrettungsstation auf der mächtigen Wasserfläche dieses Havelsees mitanzusehen, die prächtigen Rettungsboote im Gebrauch zu bewundern und eine „Rettung durch die Luft“ vermittels des genial einfach konstruirten Raketenapparates zu bestaunen… möge da recht vielen Tausenden die Bedeutung und der Segen der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ zum Bewußtsein kommen und sie veranlassen, das Ihrige zu thun, und sei es noch so wenig, um diesem wahrhaft national-deutschen Werke zu immer größerer Ausdehnung, zu immer glänzenderen Siegen im Kampfe gegen Noth und Tod zu verhelfen!

Blätter und Blüthen.

Ein geschichtlicher Roman von Ernst Wichert. Einer unserer gediegensten Romanschriftsteller ist Ernst Wichert, mag er sich nun auf geschichtlichem Boden bewegen oder in Genrebildern das Volksleben schildern. Die starken Wurzeln ihrer Kraft hat seine Muse in der ostpreußischen Heimath des Dichters: in seinen litauischen Dorfgeschichten giebt er uns von Land und Leuten treue, lebensvolle Schilderungen, ansprechende Genrebilder von großer Anschaulichkeit, und in seinen geschichtlichen Romanen erscheint er als der Walter Scott Ostpreußens; er erinnert mehr an den ausgezeichneten englischen Schriftsteller als Gustav Freytag in seinen „Ahnen“ und Felix Dahn in seinen Völkerwanderungsromanen; er hat mit Walter Scott das verweilende Behagen in der Beschreibung und Schilderung gemein, und wie dieser und die erwähnten deutschen Schriftsteller hat er die gründlichsten geschichtlichen Studien gemacht. Sein „Großer Kurfürst“ ist ein Werk, in welchem ostpreußisches Leben aus jener Zeit warm pulsirt und zugleich der Hintergrund von Stadt und Land treu und farbenreich ausgemalt ist. Die hervorragenden Männer sind scharf charakterisiert; am schärfsten hebt sich das Bild des bedeutenden Fürsten von den Gruppen der handelnden Gestalten ab.

Besondere Anziehungskraft hat auf den Dichter die Geschichte des Deutschen Ordens ausgeübt. In seinem „Heinrich von Plauen“ hat er eins der interessantesten Kapitel derselben, deren Held lebhafter Antheilnahme gewiß ist, mit einer oft dramatischen Lebendigkeit ausgeführt; in seinem neuesten Romane, „Tileman vom Wege“ (Leipzig, Carl Reißner), schildert er uns den Orden bereits im Niedergang; er führt uns eine der bewegtesten und unglücklichsten Epochen desselben vor, wo sich die Städte und Ritter der von ihm beherrschten Lande gegen ihn empören und einen Bund schließen, durch den zuletzt die Polen mit ihrem König Casimir ins Land gerufen werden und vieler Städte, auch der Marienburg, sich bemächtigen. Die Seele dieses Bundes ist der Bürgermeister von Thorn, Tileman vom Wege, der zugleich eine persönliche Unbill zu rächen hat, da der Hochmeister des Ordens, Ludwig von Erlichshausen, früher seine Frau verführt hat. Diese hat Tileman weit fortgebracht und im Walde ausgesetzt; er hält sie für todt; doch sie lebt mit ihrer Tochter Ursula als eine Waldfrau in der Nähe von Heilsberg und wird allmählich in den Kreis der Handlung wieder mit hereingezogen. Dem tyrannischen ingrimmigen Tileman vom Wege steht der zum Orden haltende wackere Bürgermeister von Marienburg, Bartholomäus Blume, gegenüber, welcher die Stadt tapfer gegen die Bündischen und die Polen vertheidigt und nach der Erstürmung derselben hingerichtet wird. Die Liebe seiner Tochter Magdalena zu Jost, dem Sohne des Thorner Bürgermeisters, und seines Sohnes Marcus zur Tochter der Waldfrau, Ursula, bildet den romantischen Einschlag in das geschichtliche Gewebe. Auf den ernsten Leser, der ein Bild jener Zeit, der damals sich bekämpfenden Interessen, der handelnden Personen und ihrer Beweggründe gewinnen will, wird der Roman große Anziehungskraft ausüben, denn oft wird der Romanschriftsteller vom Geschichtschreiber abgelöst. Alle Leser aber werden sich an der lichtvollen Deutlichkeit erfreuen, mit welcher die Vorgänge uns vor Augen gestellt werden, an den Schilderungen der Ordenswirthschaft in der Marienburg und den andern Schlössern, der Thorner Unruhen, der Kämpfe und Belagerungen und der eingeflochtenen anmuthigen Naturbilder, wie der innigen Herzensneigungen, die zum Theil nach flüchtiger Abirrung zum dauernden Bunde führen.

Das Telephon im Eisenbahnbetriebe. Verhaltnißmäßig beschränkt ist die Anwendung des Fernsprechers auf den deutschen Eisenbahnen; allenfalls auf Nebenbahnen oder als Verständigungsmittel auf großen Bahnhöfen und mit dem verkehrtreibenden Publikum hat man ihn zugelassen, soweit man glaubte, etwas „Schriftliches“, wie es der Morseapparat giebt, entbehren zu können. Als eine wesentliche Neuerung muß es daher bezeichnet werden, daß die österreichische Staatsbahn begonnen hat, den Fernsprecher auch beim Vollbetriebe nutzbar zu machen, zunächst als Verständigungsmittel bei außergewöhnlichen Anlässen wie Störungen auf der Strecke, Liegenbleiben der Züge bei Schneeverwehungen u. dergl. Der Chef des österreichischen Telegraphenwesens, Oberinspektor Franz Gattinger, hat zu diesem Zwecke einen eigenartigen Apparat hergestellt, der, nur 6 kg schwer, in den Zügen mitgeführt und sammt der dazu gehörigen Batterie leicht getragen werden kann. Gleiche Apparate befinden sich auf den Stationen. Will man von der Strecke aus mit den nächsten Stationen sprechen, so bedient man sich eines zusammenlegbaren, mit Leitungsdraht versehenen Bambusstabes, hängt denselben an einem zu dem Zwecke angebrachten Haken an der Telegraphenleitung auf, stellt die Verbindung mit dem vorher mit der Batterie verbundenen Apparat selbst durch eine Klemmschraube her, giebt dann das Zeichen zum Wecken – und das Gespräch kann beginnen. Eine besondere Leitung ist nicht nothwendig, da die als solche benutzte Morselinie hierdurch nicht die geringste Störung erleidet. Vor einiger Zeit wurden zwei solcher Apparate von einem stehen gebliebenen Zuge aus zwischen Hütteldorf und Purkersdorf eingeschaltet; in drei Minuten war die Streckenstation eingerichtet und ummittelbar darauf meldete sich Station Purkersdorf zum Gespräch – die Verbindung mit der Welt war fertig.

Eine Bühne unter Wasser. Das Wiener Karlstheater führte kürzlich ein englisches Stück auf, „Ein dunkles Geheimniß“, in welchem ganz neue theatralische Wirkungen zur Geltung kamen. Ein Ingenieur aus England hatte ein großes Wasserreservoir in die Versenkung des Theaters gebaut und eine Schwimmkünstlerin aus Amerika hatte die wichtigste Rolle durchzuführen. In dem Stück wird ein junges Mädchen, eine reiche Erbin, von ihren Verwandten nachts an die Themse geschleppt und trotz erbitterten Kampfes und lauter Hilferufe ins Wasser geworfen. Sie schwimmt zu der Stelle zurück, wo ihre Mörder stehen, jammert und klagt, doch sie wird in die Fluth zurückgeschleudert. Da kommt ihr Bräutigam des Wegs und rettet sie. Es spielen außerdem in dem Stück noch zwei vollendete Morde und zehn Mordversuche. Nach dem schrecklichen Nachtbild aber folgt ein Bild des Friedens: eine Regatta auf dem wirklichen Wasser. Mehr Lebenswahrheit können doch die Apostel der jüngsten Richtung nicht vom Theater verlangen. Schiller freilich singt:

„Doch siegt Natur, so muß die Kunst entweichen!“

Gehobelte Handtücher. Es giebt noch recht viele Völker im dunklen und dunkelsten Afrika, im fernen Asien und auf entlegenen Südseeinseln, welche Handtücher nicht kennen, und Taschentücher, wenn sie solche bekommen, lieber zu Kleidungsstücken verwenden. In den Küchen solcher Barbaren giebt es auch keine Wisch- oder Polirtücher. Gemeiniglich ersetzt das Gras diese uns so unentbehrlich scheinenden Leinwandstücke. Um so mehr müssen wir den Erfindungssinn eines im fernsten Norden, an der Grenze der Tundra, wohnenden Völkchens bewundern, das, wenn wir so sagen dürfen, Handtücher aus Holz bereitet. Wenn wir tiefer in die sonst einfachen Geheimnisse der Toilette der Ostjakendamen blicken, so erfahren wir, daß jede derselben ein Säckchen trägt (wie bei uns die Damen auf dem Nachmittagswege zu einer Kaffeegesellschaft), in dem sich die „gehobelten“ Handtücher befinden. Mit einer Art Hobel wird nämlich von den Bewohnern der Tundra Lärchen- und Weidenholz fein geschabt und die Späne bilden alsdann eine weiche elastische schwammartige Masse, die sich ganz gut zum Abtrocknen von Gesicht, Händen und manchmal [372] auch von Geschirr eignet. Es sind das also Universaltücher. Ja, der Stoff ist auch gut zu vielen andern Zwecken; leidenschaftliche Schnupfer des Nordens pfropfen zunächst die Nase voll mit Tabak und verstopfen dann die Oeffnung mit einem Bäuschchen aus dieser Masse. Das ist für sie dann ein Hochgenuß erster Güte!

Die wirkliche Form des Blitzstrahles. Wie der Blitzstrahl aussieht, das ist einem jeden seit der frühesten Jugend geläufig. In den Jugendwerken sind genug Gewitterscenen abgebildet und auf diesen Bildern erscheinen die Blitze in der bekannten zickzackförmigen Gestalt. Die Naturforscher hegten schon seit langer Zeit Zweifel an dieser landläufigen Darstellung des Blitzstrahles: James Nasmyth erklärte im Jahre 1856, daß ein Blitzstrahl richtiger durch eine stark gewundene Linie wiedergegeben werde und daß er an das Vorkommen von Blitzen in der Form, wie dieselben von Künstlern dargestellt werden, nicht glaube. Dieser Erklärung standen nun Aussagen vieler glaubwürdiger Zeugen entgegen, welche den Blitz in der Gestalt gesehen haben, wie ihn die Künstler seit alten Zeiten malen.

Die Beobachtung des Blitzes durch das menschliche Auge ist insofern schwierig, als die plötzliche Fülle des Lichtes unsere Netzhaut blendet. In den letzten Jahren wurde die Photographie zur Hilfe herangezogen; aber die Photographien der Blitzstrahlen brachten anscheinend nicht den geringsten Nachweis für die winkelförmig gebildeten Zickzackformen des Blitzes.

Dieser Widerspruch ist in neuerer Zeit durch die Arbeiten von Eric Stuart Bruce gelöst worden. Wer sich darüber ausführlicher unterrichten will, den verweisen wir auf Nr. 5 des „Elektrotechnikers“ vom Jahre 1890. Hier sei nur folgendes hervorgehoben:

Die mehr oder weniger gewundene Linie ist die wirkliche Form des Blitzes; die Zickzacklinie ist aber trotzdem keine Ausgeburt der Phantasie. Bruce wußte das durch Versuche zu beweisen. Er fertigte ein Modell von Haufenwolken an, die eine winkelförmige Oberfläche besitzen. Den Blitz erzeugte eine Glühlichtlampe. Ließ nun Bruce dieselbe plötzlich für einen Augenblick aufleuchten, so wurde die ganze Fläche des Wolkenschirmes gleichmäßig erhellt; man sah einen Flächenblitz.

Im weiteren Verlauf der Versuche stellte Bruce zwischen die Haufenwolken und die Glühlichtlampe einen Schirm mit einer kleinen Oeffnung. Leuchtete jetzt die Lampe für einen Augenblick auf, so sah man nicht mehr den Flächenblitz, sondern das Bild des glühenden Kohlenfadens, jedoch in einer verzerrten Form, weil es auf die unebene Fläche der Wolken fiel. Die Seiten des hufeisenförmigen und weißglühenden Kohlenfadens schienen zickzackförmig zu sein. Wurden zwei Oeffnungen in dem Schirm gemacht, so erhielt man zwei Bilder des glühenden Kohlenfadens. In der Natur spielt sich die Erscheinung ebenso ab, die Stelle des Schirmes mit der Oeffnung vertritt eine Wolkenschicht mit einer oder mehreren Lücken. Durch die letzteren hindurch wird der Blitzstrahl auf die Haufenwolken projicirt und erscheint uns als Zickzackblitz in einfacher oder gespaltener Form. Der Zickzackblitz ist somit ein Projektionsblitz.

Es ist nun leicht zu begreifen, wie diese letztere Gestalt des Blitzes seit alten Zeiten als die einzige angesehen wurde. Wer beide Formen gesehen hat – und dies dürfte bei sehr vielen der Fall sein – der wird zugeben, daß er durch den unmittelbaren Anblick des Blitzes derart geblendet wurde, daß es ihm nicht möglich war, die Form der Lichtquelle genau zu erkennen. Der Zickzackblitz blendet nicht im entferntesten so stark. Dem Schreiber dieser Zeilen ist das Bild eines Zickzackblitzes, das er in seinem Knabenalter auf einer dunklen Wolke am Nachmittage gesehen hat, unvergeßlich. Der Glanz der Erscheinung war ein außerordentlicher und doch jede Zacke deutlich und scharf wahrnehmbar. Damals freute er sich, den ersten wirklichen Blitz, „wie er im Buche steht“, gesehen zu haben. Nun wird er belehrt, daß er nur einen Projektionsblitz gesehen hat. Ebenso wie ihm wird es vielen seiner Leser ergehen.

Durch die Erklärung Bruces ist aber die Ehrenrettung der Maler keine vollständige; denn die zickzackförmigen Donnerkeile, die auf Bildern Thiere und Menschen tödten oder Häuser in Brand stecken, sind unwahr; andererseits ist freilich hervorzuheben, daß es auch Maler gegeben hat, welche den Blitz auf ihren Bildern in der Form der gewundenen Linie dargestellt haben.


[„I. Quittung. Für die darbenden Weber im Glatzer Gebirg“ wird nicht transkribiert]