Die Gartenlaube (1889)/Heft 51
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No. 51. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Eine Erscheinung.
Der Schießstand war eine gute Strecke vom Schloß an der
Grenze des Guts angelegt worden; auf der einen Seite
begrenzte ihn der Fluß, nach der andern, dem Schloß
zugewandten, ragte eine lange hohe Mauer auf, um zu
verhindern, daß die etwa verirrten Geschosse jemand, der
von dieser Seite kam oder auf den Feldern beschäftigt war,
treffen konnten. Ein starker Erdwall diente als Kugelfang
und ihm gegenüber lag der Eingang, welcher durch eine
von leichtem Holz gezimmerte, nach der Schußlinie offene
Hütte führte, in der die Scheiben und allerlei Geräthschaften
aufbewahrt wurden und auch der Schütze, wenn es regnete,
unterstand.
Nachdem der Diener die geladenen Waffen und die Munition auf den langen Holztisch, der sich hier befand, niedergelegt, die Scheiben nach Huberts Anordnung aufgestellt, den bequemen Stuhl, den dieser beim Schießen benützte, an den richtigen Platz gebracht hatte, wurde er gegen die sonstige Gewohnheit von Hubert entlassen. Ich schloß daraus, daß Hubert nicht Lust hatte, das Spiel zu beginnen, ehe die Zuschauer, für die es doch hauptsächlich berechnet war, eingetroffen, denn der Mann, der ihm die Waffe nach jedem Schuß neu zu laden pflegte und überdies als Zeiger diente, blieb sonst anwesend, bis wir die Uebung beendet hatten. Er entfernte sich auch jetzt nur zögernd, erstaunt, nachdem ihm sein Herr den Befehl in barscher Weise wiederholt hatte. Oder wünschte Hubert eine Auseinandersetzung mit mir, zu der er keine Zeugen brauchen konnte? Um so besser! dachte ich, denn ich ahnte etwas derartiges, als er, die geladene Waffe vor sich auf dem Tisch, ohne sie zu ergreifen, in seinem Stuhl Platz nahm und finster brütend ins Leere starrte. Ich schoß indessen die meinige nach einem beliebigen Ziel ab, ohne es, wohl infolge der inneren Erregung, in der auch ich mich befand, zu treffen.
„Weit gefehlt!“ höhnte Hubert, „Du scheinst bei den Weibern mehr Glück als mit der Kugel zu haben, mein Junge! Aber nimm Dich in acht! Wenn Du’s nicht besser lernst, wird Dich der erste Ehemann, dem Du in die Quere kommst, lustig übern Haufen schießen.“
Es war ein böser, feindseliger Ton, in dem er dieses sagte. Ich nahm mich mit Gewalt zusammen und erwiderte kalt, aber ruhig: „Bei den Frauen anderer habe ich nie mein Glück versucht.“
„Aber bei ihren Bräuten!“ lachte Hubert giftig. „Sei vorsichtig, auch das könnte Dir schlecht bekommen!“
„Was willst Du damit sagen?“ frug ich ihn, meiner Erregung nicht länger Herr, in der Voraussicht, daß der entscheidende Augenblick, den ich so oft herbeigesehnt, so lange ängstlich vermieden hatte, endlich herannahe und daß er selbst ihn herbeiführen wolle.
[858] „Glaubst Du,“ fuhr Hubert mit einer Steigerung des früheren Tones fort, „daß ich wie Blicke, die Du unausgesetzt auf Mira wirfst, nicht bemerkt, daß ich es nicht bemerkt habe, wie Du Dich in ihre Nähe drängst, sie mit Deinen fein gedrechselten Phrasen, die Du ja wohl auf der Universität gelernt hast, verfolgst und ihr Gemüth zu umstricken, zu verderben suchst?“
„Hubert!“ schrie ich.
„Schweig!“ erwiderte er in befehlendem Ton, „und laß mich reden, den Aelteren! Freilich, ich theile Deinen Geschmack vollkommen. Mira ist schön, ein berückendes, herrliches Weib! O, auch ich bin nicht blind für ihre Vorzüge, so wenig wie für die Deinen, denn auch Du bist ein hübscher feiner Junge mit gesunden, kräftigen, gelenken Gliedern, so recht wie ein Romanheld sein soll, während ich auf Krücken herumhumple. Und doch rathe ich Dir als guter Freund: Laß ab von ihr; nimm Dich und Deine Sinne von nun ab besser in Zaum! So leicht wie einst auf die kleine Eveline werde ich auf sie, die mir gehört, nicht verzichten; die Zeiten haben sich geändert seitdem. Und ich rathe Dir dieses nicht nur, sondern ich befehle es Dir, denn Mira gehört mir, sie ist mein Eigenthum, meine Braut und bald mein eheliches Weib, die künftige Herrin von Groß-Stegow!“
„Sie ist Dein Opfer,“ unterbrach ich ihn, außer mir vor Wuth über den rücksichtslosen Ton, in dem er von ihr, die ich anbetete, sprach, „und nicht länger soll sie es sein! Lang genug bin ich ein Feigling gewesen, der sie hilflos leiden sah, lang genug hab’ ich’s widerstrebend in mir verschlossen, aber endlich muß es heraus, Du selbst willst es. Glaubst Du wirklich, Mira, die Herrliche, liebe Dich, armer Thor?“ Er wollte aufspringen, ich drängte ihn mit Gewalt in den Stuhl zurück. „Nein, jetzt rede ich, der Jüngere, und Du, der Aeltere, der Majoratsherr, Du sollst und mußt mich hören, anhören bis zum Ende. Nicht Dir, mir gehört Miras Herz! Aus Klostermauern erlöst, ohne jede Kenntniß von der Welt und den Menschen, hat sie sich dem Wunsch der Mutter, ihrer Wohlthäterin, gefügt, ist sie Deine Braut geworden, hat sie stumm Deine Liebkosungen ertragen, wäre sie vielleicht gar Dein eheliches Weib geworden, wenn ich nicht gekommen wäre. Aber ich kam und weiter soll es nicht gehen, das will die Natur nicht, mag es tausendmal Dein und der Eltern Wunsch sein! Mich liebt sie, mich flehen ihre Blicke um Befreiung aus dem schmachvollen Joch an, in das man sie geschmiedet, und ich sah ihre Qual und zögerte. Fliehen wollte sie mit mir, sterben lieber, als Dir gehören. Aber nicht durch feige Entführung und Flucht, nicht als eine Todte, lebend will ich sie mir gewinnen. Was ich längst hätte thun sollen, heute noch soll es geschehen. Vor unsere Eltern will ich hintreten und sie von ihnen, von Dir vor aller Welt verlangen als mein Eigenthum, das sie durch freie Wahl und durch eine höhere Bestimmung ist als die Eure, die ich nicht anerkenne!“
„Elender, Schamloser!“ zischte Hubert. Mit einem plötzlichen Ruck machte er sich von meiner Faust, die ihm bis dahin schwer auf der Schulter gelastet hatte, frei. Er tastete wie im Fieber nach der geladenen Pistole, die vor ihm auf dem Tisch lag, ergriff sie, sprang auf und stürzte mit der erhobenen Waffe auf mich los. Aber auch ich war meiner Sinne nicht mehr mächtig. „Krüppel, erbärmlicher Krüppel, Du wagst es?“ gab ich ihm die Beschimpfung zurück; „wohl, so mag es sein, Du oder ich, einer von uns beiden muß sterben!“ Blitzschnell faßte ich ihn mit der linken Hand am Hals, mit der Rechten entriß ich ihm die Pistole und setzte sie ihm auf die Brust.
„Mörder! Mörder!“ stöhnte er halberstickt unter meinem Griff.
„Erwin!“ gellte da plötzlich ein verzweifelter Schrei. „Was thust Du?“
Es war meine Mutter. Sie mochte den anderen, die mit ihr vom Schloß kamen, in ahnungsvoller Besorgniß vorausgeeilt sein, als sie den Lärm unserer Stimmen vernommen hatte, und nun, da sie das Schlimmste, was sie besorgen konnte, bestätigt sah, warf sie sich in der Todesangst ihres Herzens zwischen uns und riß meine bewaffnete Hand gewaltsam weg von des Bruders Brust, ach, nur um sie gegen ihre eigene zu kehren. Hubert sank, von meinem Griff befreit, schwerfällig in den Stuhl zurück, und in demselben Augenblick, ehe ich noch zur Besinnung gelangt war, krachte der Schuß und die Mutter stürzte lautlos neben mir zu Boden.
Die Waffe entfiel meiner Hand, eine Weile stand ich betäubt, das Gräßliche kaum begreifend, dann beugte ich mich über sie. Nur ein schwaches, dumpfes Röcheln rang sich noch von ihren mit blutigem Schaum bedeckten Lippen, über ihr Auge, das treue, zärtliche Mutterauge, war schon der trübe, gläserne Schleier des Todes gebreitet. Die Kugel hatte ihr die Brust durchbohrt, die Brust, die mich genährt. Ich wollte sie aufrichten, ein Blutstrom brach aus der Wunde, es war alles vorbei, und ein lebloser Körper entglitt meinen Armen, die nicht würdig waren, ihn zu halten. Und Hubert lag mit weit aufgerissenen, starren Augen lautlos, regungslos, wie ein Leichnam mit bleichen Lippen und offenem Mund in seinem Stuhl. Hatten Schreck und Entsetzen auch ihn getödtet, hatte meine Faust ihn erwürgt? –
Ein Geräusch schnell nahender Schritte weckte mich aus der Betäubung, in der ich das alles nur wie durch einen rothen, zuckenden Schleier sah. Auf der Schwelle des Eingangs erschien Mira, hinter ihr mein Vater; der Anblick, der sich ihnen hier bot, bannte sie einen Augenblick schaudernd auf die Schwelle. „Mörder! Doppelter Mörder!“ rief mein Vater, rief Mira. Oder waren es nur die Rächerstimmen in meiner Brust, die so riefen? –
Jetzt erst ward ich mir meiner unseligen That ganz bewußt. Vor ihrem Anblick floh ich wie ein gehetztes Wild die Schießbahn hinunter, kletterte über den Wall, gelangte aufs freie Feld, sprang über Gräben und Hecken ohne Weg und Ziel, den Abend, die Nacht hindurch, immer verfolgt von dem fürchterlichen Ruf, bis ich erschöpft zusammenbrach.
Am nächsten Morgen stellte ich mich selbst den Gerichten.
Ich entsinne mich, daß ich in einer Krankenzelle im Bette lag, wo der Arzt mich pflegte; daß ich in einer Gefangenzelle ruhelos auf und nieder ging; daß ich viele Verhöre bestand, ohne daß ich wußte, was ich angegeben, noch wie lange das gedauert hatte, bis ich endlich in einem großen Saal saß, den viele Menschen füllten, Geschworene, Richter und ein vielköpfiges Publikum von Männern und Frauen, feierlichen Ernst, stilles Mitleid, erbarmungslose Neugier in den Zügen. Ich selbst saß auf der Anklagebank, die mit Schranken umgeben, von Gendarmen bewacht war, und hinter mir saß der Vertheidiger, den man mir beigegeben, ohne daß ich’s verlangt hatte. Er sprach mir Muth zu, dessen ich nicht bedurfte, denn ich war ruhig, schier theilnahmlos.
Der Präsident eröffnete die Sitzung. Da der Angeklagte, so etwa begann er, gleich bei der ersten Vernehmung ein volles Geständniß abgelegt und dasselbe bei allen ferneren uneingeschränkt aufrecht erhalten habe, auch der Einwand der Vertheidigung, daß bei ihm eine geistige Störung und hierdurch bedingte Unzurechnungsfähigkeit vorliege, durch das auf genaueste Untersuchung und Beobachtung gegründete Gutachten der Herren Sachverständigen bereits widerlegt sei, da zwei Hauptbelastungszeugen, nämlich die im Lauf der Voruntersuchung ins Kloster getretene Casimira von Gliwitzka, welche auf Grund ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem Angeklagten das Zeugniß abgelehnt habe, und der durch den Schmerz über des Sohnes Frevelthat ans Krankenlager gefesselte Vater des Angeklagten, welcher nach ärztlichem Ausspruch als nicht vernehmungsfähig zu betrachten sei, wegfallen, und da auch der schwerkranke Bruder sein Zeugniß nur schriftlich habe zu Protokoll geben können, so sei zu hoffen, daß dieser überaus traurige Fall den Gerichtshof wenigstens nicht allzulang beschäftigen werde. Er verlas hierauf das Gutachten der Aerzte, das Zeugniß meines Bruders, das den Thatbestand genau wiedergab, soweit ich mich dessen entsinnen konnte, denn seit ich von Miras Rücktritt ins Kloster und meines Vaters Krankheit vernommen hatte, beschäftigten sich meine Gedanken nur noch damit.
Ich bestätigte alles, was die später vernommenen Zeugen über mein Vorleben, mein Verhältniß zu dem Bruder angaben. Es waren meist Leute aus unserer Dienerschaft, die in Trauerkleidern erschienen, mich mit theilnehmendem, sogar thränenfeuchtem Blick ansahen und gerne zu meinen Gunsten ausgesagt hätten. Die Querfragen, die der Staatsanwalt an sie richtete, bezogen sich namentlich darauf, ob ich nicht früher schon Gelüste nach dem Majorat an den Tag gelegt, meinen Bruder mit schelen Augen betrachtet, hämische Reden über ihn geführt habe, ob ferner der Gang nach dem Schießstand an jenem verhängnißvollem Nachmittag nicht doch auf meine, wenn auch nur mittelbare Veranlassung unternommen worden, ob ich an dem Zurückbleiben der anderen, [859] am Fortschicken des Dieners nicht doch etwa mit betheiligt gewesen sei. Sie mußten das alles, soweit sie überhaupt darüber aussagen konnten, verneinen.
Trotzdem trat der Staatsanwalt, der sich nun zu einer längeren Rede erhob, dafür ein, daß ich die That mit voller Ueberlegung und nach reiflicher Vorbereitung begangen habe, um den Bruder unter dem Vorwand, daß er sich durch eigene Unvorsichtigkeit, wie das ja wohl auf dem Schießstand vorkommen könne, selbst getödtet habe, zu beseitigen und mich damit in den Besitz des Majorats sowie der jenem mißgönnten Braut zu setzen. Er erwähnte in scharfsinniger Weise alles, was etwa für diese Auffassung sprechen konnte, und gab nur in zweiter Linie die Möglichkeit zu, daß ich im Affekt, d. h. unter dem Einfluß des Augenblicks gehandelt habe.
Und des Muttermords, der größten und schwersten Schuld, deren mein Gewissen mich anklagte, ihrer erwähnte er nur nebenbei. Was das Eingreifen der Mutter, so meinte er, und ihren dadurch veranlaßten Tod betreffe, so trete die Anklage in diesem Punkt der Ansicht der Vertheidigung bei, daß nämlich besagte Geschehnisse auf einen beklagenswerthen, von dem Angeklagten zwar mittelbar begünstigten, aber doch nicht bestimmt vorherzusehenden Zufall zurückzuführen seien, daß insbesondere ein Angriff auf das Leben der Mutter nicht in der bewußten Absicht des Angeklagten gelegen, der tödliche Schuß sich vielmehr unabhängig von dessen Willen entladen habe. Selbst von einer Verschuldung durch Fahrlässigkeit sei abzusehen, wohl aber verdiene diese erschütternde Folge des ersten Verbrechens von den Herren Geschworenen bei ihrer Berathung und Abstimmung als erschwerend in Betracht gezogen zu werden.
Demgemäß wurden die Fragen gestellt, die erste auf versuchten Mord, die zweite auf versuchten Todtschlag, eine dritte, die mein Vertheidiger beantragt hatte, auf Zulassung mildernder Umstände. Die Geschworenen zogen sich zurück, sie kehrten wieder und ihre Antwort lautete auf die erste Frage verneinend, auf die zweite bejahend. Die Zulassung mildernder Umstände wurde abgelehnt.
O, das Urtheil, das die Richter fällten, war milde genug, es lautete auf sieben Jahre Zuchthaus. Schwerer, viel schwerer verurtheilte mich das Gericht in meiner Brust!
Nun war auch das überstanden, mein Vertheidiger drückte mir bedauernd die Hand, er sprach etwas von Gnade; ich wollte keine Gnade. Neugierig drängte sich die Menge um mich, als ich abgeführt wurde, und noch am gleichen Abend trat ich meine Strafe an.
Sieben Jahre, Jahre blühender Mannheit, von der Welt getrennt durch Kerkermauern, in Gesellschaft von Betrügern, Dieben, Mördern – Mördern? – Ja, war denn auch nur einer darunter so schlimm wie ich? Sie alle hatten aus Noth, Eigennutz, angeborener oder anerzogener Rohheit gesündigt, aber gegen seinen Bruder hatte keiner die Waffe erhoben, seine Mutter hatte keiner getödtet. Und ich, der ich von Kindheit an nur Gutes von den Eltern genossen, ich, dessen Geist und Herz sich an den besten Lehren, den ehrwürdigsten Beispielen gebildet, ich hatte das gethan, ich allein! Mußte ich nicht dankbar sein, daß jene mich ihres Umgangs würdigten? –
Auch der Direktor des Zuchthauses war mild und gütig mit mir, viel zu mild, viel zu gütig. Er wollte mich mit Rücksicht auf die Erziehung, die ich genossen hatte, bei der Schreiberei beschäftigen. Ich dankte es ihm, aber ich wollte nichts vor den anderen voraus haben, ich verlangte nach schwerer Arbeit, die den Geist, der nicht ruhen will, übertäubt durch die Anstrengung der Glieder, jener Glieder voll strotzender Kraft und Gesundheit, in deren Besitz ich mich so stolz über den Bruder erhoben hatte. Auch diese unverdiente Linderung wurde mir zu theil, in harter Arbeit von früh bis spät durfte ich mir Stunden traumlosen Schlafs in der Nacht erkämpfen. O, was das werth ist, weiß nur der, der sich wie ich endlos lange Stunden auf dem Bett gewälzt hat, bis ihn der Schlaf nicht als der stille Tröster, sondern als der fürchterliche Traumspender umfing, der die Todten wieder aufweckt aus ihren Gräbern und sie mit gräßlichem Vorwurf in dem stieren, gläsernen Blick vor sein Lager stellt.
Meine Aufführung im Zuchthaus war, was man in der dortigen Geschäftssprache eine musterhafte nennt. Als im Spätwinter des Jahres 1868 Amnestievorschläge einverlangt wurden befand ich mich unter denen, die, natürlich ohne ihr Vorwissen, der Allerhöchsten Gnade empfohlen wurden – „der Allerhöchsten“, so nennen es die Menschen in ihrem thörichten Wahn.
Die Nachricht von meiner Freilassung wurde mir ganz unerwartet durch den Zuchthausdirektor, der mich zu sich rief, mir die bescheidene Summe dessen, was ich mir durch Arbeit erspart hatte, auszahlte, ein Zeugniß übergab und sich sogar erbot, mir behilflich zu sein, wenn ich eine Stelle suchen wolle.
Eine Stelle – der Gedanke erschreckte mich, die unerhoffte Freiheit erschien mir als eine neue Qual. Eine Stelle suchen, hier im Vaterland mit dem Zeugniß aus dem Zuchthaus, ich, mit diesem Namen, nein, das wollte, das konnte und durfte ich auch nicht, so sehr mich die Großmuth des Mannes rührte.
Etwas von dem alten Hochmuth regte sich in mir, und als sich die Pforten des Kerkers nun vor mir aufthaten und die weite freie Welt unter dem weiten freien Himmel vor mir lag, da erwachte einen Augenblick auch wieder die alte, sündhafte Leidenschaft in mir.
„Hole Dir Mira!“ rief es in mir. „Sie liebt Dich, befreie sie aus dem Kloster, Du bist stark und muthig und die Welt ist so weit!“
„Wie, Du, Du, der Mörder,“ so sprach mein Gewissen dagegen, „Du wagst es, an sie, die Reine, noch zu denken, die sich schaudernd von dem Friedensstörer abwendet? Ist’s nicht genug an dem, was geschehen? Willst Du Dein verruchtes Werk durch neue Gewaltthat krönen, mit blutiger Hand die Frucht des Muttermords pflücken?“
Und dann sprach eine dritte Stimme, eine leise, süße, rührende Stimme, die aber mächtiger war als die andern: „Wo ist Dein alter Vater? Lebt er noch oder hat Dein Verbrechen auch ihn getödtet? Verlangt Dich’s nicht, ihn noch einmal zu sehen, ihn und den Bruder und die alte Heimath, die Stätten Deiner Unschuld, Deines Glücks und Deiner Schmach? Willst Du ihm nicht zu Füßen stürzen, ihm, dessen Glück Du grausam zerstört und der Dich geliebt hat und Dir vertraute und stolz auf Dich war – seine welken Hände küssen, sie mit Deinen Thränen benetzen und mit flehendem Aufblick zu ihm die Bitte stammeln: ‚Vater, vergieb!‘?“
Die Stimme behielt recht. Aber meine Kräfte hatte ich überschätzt, die frische Luft der Freiheit war mir noch zu ungewohnt, sie wirkte zu stark auf meine an die dumpfe Kerkerluft gewöhnten Organe; das freie Licht blendete mich, der weite, von keiner Mauer begrenzte Raum machte mich schwindeln. Eine Mattigkeit befiel mich, wie ich sie im Kerker nie empfunden, taumelnd schier machte ich mich auf den Weg, wirr im Kopf, und im Herzen nur immer den einen Wunsch, die einzige brennende Sehnsucht nach dem Vater.
Es waren zu Fuß verschiedene Tagereisen von dem Ort, wo ich die Freiheit erlangt hatte, bis zu dem väterlichen Gut, und meine des Wanderns ungewohnten Glieder versagten mir oft den Dienst, und doch mußte ich eilen, denn ich fürchtete, ein Unfall könnte den alten Mann treffen, indeß ich zögerte. Dieser Gedanke, die marternde Angst, daß er sterben könnte, ehe ihn mein Auge noch einmal gesehen, ehe er mir vergeben hatte, trieben mich vorwärts, sie rissen mich empor, wenn ich erschöpft am Wege zusammengebrochen war.
Lebte er noch? Ich wußt’ es nicht und wagte auch nicht, jemand danach zu fragen aus Furcht, eine verneinende Antwort zu erhalten und auch, weil ich meinte, man müsse mir meine That an der Stirne ablesen können. Noch befand ich mich in einer mir wenig bekannten Gegend, wo auch die Leute mich wenigstens nicht von Angesicht kannten, und doch vermied ich die große Heerstraße, schlug die weniger betretenen Fuß- und Feldpfade ein und machte so manchen Umweg. In den entlegensten Dorfschenken kehrte ich nachts ein, froh wenn ich dort einen kargen Imbiß und ein dürftiges Lager auf dem Dachboden oder dem Stroh der Scheune fand, als ein reisender Handwerksbursch, für den sie mich mit meinem Bündel auf dem Rücken halten mochten. Aber je näher ich Groß-Stegow kam, desto mehr wuchs die Furcht des Erkanntwerdens, und nun floh ich alle betretenen Pfade, nährte mich kümmerlich von dem, was ich von umherziehenden Händlern erkauft hatte, verbrachte die Nacht, wenn ich sie nicht zum Wandern benützte, draußen auf dem freien Feld oder im Wald. Natürlich litt mein Aeußeres stark unter solcher Lebensweise. Die wenigen Menschen denen ich begegnete, sahen mir mißtrauisch nach. „Der
[860][861] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [862] kommt aus dem Zuchthaus,“ mochten sie denken, und sie hatten ja recht, wenn sie mich auch gewiß eher für einen entsprungenen, als für einen durch des Königs Gnade befreiten Sträfling hielten. Ich war’s zufrieden, wenn sie mich nur nicht erkannten, und jetzt, wo ich mich schon auf väterlichem Grund und Boden befand, freute ich mich schier meines verlotterten, verkommenen Aussehens. So, sagte ich mir, mag der verlorene Sohn der Bibel einst an den väterlichen Herd zurückgekehrt sein. Aber wird man dich auch so empfangen wie ihn, der doch nur ein leichtsinniger Verschwender war? Wird dein Vater auch die Arme nach dir ausbreiten, wie der seinige nach ihm? Wird dein Anblick ihm nicht Entsetzen einflößen, wird er, von dem du Vergebung erhoffst, dich nicht mit dem letzten Athemzug noch verfluchen? – Diese Angst wurde stärker, je näher ich dem Ziel meiner Schritte kam, sie hemmte meinen Gang, während die Sehnsucht mich vorwärts trieb.
Ja, da lag sie wieder vor mir, die weite Ebene mit ihrer grünen Wand von Kiefern- und Tannenwäldern und in der Ferne der schimmernde Spiegel des Haffs, da grüßte mich auch das Schloß meiner Väter, der Stammsitz derer von Klaritz, den sie sich in treuer ehrlicher Arbeit von Jahrhunderten gegründet, da lag sie vor mir, die Heimath.
Und ich, der jüngste, mißrathene Sproß jenes tugendreichen Geschlechts, mit wie anderen Gefühlen betrat ich sie jetzt als damals, da ich nach der ersten längeren Entfernung vom Vaterhaus dorthin zurückkehrte, von den alten Freunden und Bekannten traulich begrüßt, auf der Schwelle mit offenen Armen empfangen von den Eltern, dem Bruder und – Mira! Ja, auch sie hatte ich hier zum erstenmal gesehen, sie, deren Anblick so heiße Flammen in meiner Brust entfacht hatte, daß alle anderen Empfindungen darin zu Asche versengt wurden, Mira mein Glück – mein Verderben! Und wie anders war alles heute! Die alten Diener kannten mich nicht mehr, sie durften mich nicht erkennen und ich mußte mich vor ihnen verbergen, damit sie mich nicht griffen und fortjagten wie einen Strolch, der in böser Absicht den Hof umkreist, – die Mutter todt durch mich, der Vater, wenn er noch lebte, ein armer, gebrochener Greis, auch der Bruder um sein Glück betrogen und Mira im Kloster, der Welt entsagend, eine Gottesbraut!
Wieder war’s Frühlingszeit wie damals. Wohl erkannte ich auch jetzt wieder jeden Baum, jeden Strauch, aber sie waren verwildert, wie das ganze Gut und auch das Schloß den Eindruck des Verfalls auf mich machte, und nicht mehr die Stimmen der Kindheit waren es, die mich mit ihrem Zauber umfingen, sondern die mahnenden Stimmen des Gewissens, die mir zuriefen: „Das alles hast Du gethan!“
Von allen Seiten umschlich ich das Haus und den Garten, nur an eine Stelle wagte ich mich nicht heran, die Stelle dort beim Fluß, obwohl der Schießstand verschwunden und alles der Erde gleich gemacht war. Als ich einmal in ihre Nähe kam, trieb mich ein Schauder zurück. Mir war’s, als schwebten rächende Geister über der Stätte und lauerten auf den Mörder.
Bis in den Hof hinein schlich ich mich und belauschte dort die Gespräche der Diener und Stallburschen. Sie schalten auf den neuen Verwalter und klagten, daß der junge Herr nur selten noch das Zimmer verlasse, und wie’s der alte, den man an warmen Tagen im Mittagssonnenschein noch manchmal in den Garten hinausführe, auch nicht mehr lange treiben könne, und wie schade es sei um das schöne Gut und die schönen Gespanne.
Er lebte noch! Da bat ich den Himmel um Sonnenschein, ich – den Himmel, und er erhörte mein Gebet, vielmehr er that’s dem alten Vater zu lieb, daß ich ihn sehen konnte am andern Mittag, hinter der Hecke versteckt, nur heimlich, von ferne, aber doch ganz deutlich.
O, wie so krank und hinfällig sah er aus mit dem silberweißen Haar, dem gebeugten Haupt, den eingefallenen, gramdurchfurchten Zügen, daraus die Augen, die alten treuen Augen nicht mehr leuchtend wie einst, sondern trüb und traurig und in ihrer Trauer doch so mild hervorblickten, daß ich neue Hoffnung schöpfte. Nein, diese sanften Augen konnten nicht in Zorn und Haß aufblitzen, nicht in Schreck und Abscheu erstarren; diese welken, zitternden Hände konnten nur segnen, nicht fluchen!
Ein Diener schob den Rollwagen, in welchem der Greis, sorgsam mit Decken umhüllt, saß, ein anderer trug die Krücken und einen Korb. Krücken! – So weit war es mit ihm!
Sie führten ihn weiter und ich schlich mich die Hecke entlang ihnen nach, bis sie stillstanden an einer Stelle des Gartens, der einzigen, die noch mit besonderer Sorgfalt gepflegt war.
Hier standen zwischen Blumenbeeten dunkle Cypressen und eine Bank, und mehr vermochte ich von meinem Standpunkt aus zunächst nicht zu sehen.
Die beiden Diener halfen dem alten kranken Herrn aus dem Wagen heraus, sie reichten ihm die Krücken, stützten ihn mit ihren Armen und trugen ihn mehr, als sie ihn führten, nach jener Bank. Dort ließen sie ihn nieder, schoben ihm weiche Polster unter den Rücken und einen Schemel unter die Füße. Nachdem der eine sodann den Korb, der mit Blumen gefüllt war, geöffnet und ihn im Bereich seiner Hände niedergestellt hatte, zogen sie sich beide ehrerbietig zurück.
Da saß nun mein Vater allein, ich konnte mich auf den Zehen näher heranwagen, und nun sah ich, wie er Blumen und einen Kranz mit zitternder Hand aus dem Korb nahm und sie auf einen kleinen Hügel niederlegte, an dessen Fuß die Bank stand und den mir die Cypressen bisher verborgen hatten. Er war mit Felssteinen umfaßt, von Epheu umwuchert; ein Rosenstock stand darauf und ein marmornes Kreuz. Mein Vater saß wieder ganz still, er hatte die Hände gefaltet und blickte mit verklärtem, wehmüthig sehnsüchtigem Blick auf den Hügel und das Kreuz. Die Sonnenstrahlen, die durch das Gezweig brachen, warfen gaukelnde Lichter auf den Hügel und umflossen das greise Haupt wie mit einem Glorienschein.
O, nun begriff ich’s, der Hügel mit dem Kreuz darauf, er war das Grab meiner Mutter, und heute, heute war ihr Geburtstag. Wie drängte es mich, mich darüberzustürzen, die heilige Erde mit Thränen zu benetzen, meine heiße Stirn an dem Marmor zu kühlen, mich zu ihr zu betten zum letzten, alles sühnenden Schlaf!
Wie, ich, der Mörder, zu seinem Opfer? Durfte ich das? Durfte ich die fromme Andacht des alten Mannes durch meinen Anblick entweihen? War nicht meine heimliche Gegenwart schon eine Entweihung des Orts, ein Hohn auf des Vaters Schmerz? –
Und doch sah er so mild aus, der Greis, wie ein Heiliger, und die Heiligen verzeihen!
Eine Thräne schimmerte in seinem Auge, und auch mir drängten sich Thränen heiß herauf aus der beklemmten Brust. O, daß ich sie weinen dürfte zu seinen Füßen, daß ich ihm Luft machen dürfte, dem verzweifelten Schrei, der mir schluchzend fast die Kehle sprengte: „Vater!“
Hatte ich’s gerufen? Ich weiß es nicht. Ganz plötzlich legte sich eine Wolke vor die Sonne, die gaukelnden Lichter erloschen, tiefer Schatten senkte sich auf den Hügel, auf meinen Vater, auf das ganze weite Gefild, und aus der Wolke klang es wie ferner Donner auf mich herab: „Hebe Dich fort, Verfluchter!“
Da erfaßte mich haarsträubendes Entsetzen, und wie Orestes, der Muttermörder, über dem die Furien ihre Geißel schwangen, stürzte ich fort, an den herbeieilenden Dienern vorüber, sie fast über den Haufen rennend, über die Hecke, fort, nur fort!
„Erwin!“ – so glaubte ich hinter mir eine schwache zitternde Stimme zu vernehmen.
Fort, nur fort, so weit die Welt ist, fort! Aber für die Meerfahrt reichte meine Barschaft nicht aus, und der nächste Hafen, den ich hätte erreichen können und wo man mich vielleicht an Bord genommen hätte, wenn ich mit meiner Hände Arbeit die Kosten der Fahrt bestritt, lag zu nah bei meiner Heimath. Viele kannten mich dort, und wenn auch nicht, so mußte ich meine Papiere vorweisen und der Name Klaritz war an der nordischen Küste weithin bekannt, auch meine That war dort noch im frischen Gedächtniß der Menschen. Südwärts, in entgegengesetzter Richtung mußte ich ziehen, wo andere, fremde Menschen wohnten, freiere Sitten und Gebräuche herrschten, wo man’s mit den Papieren, dem Namen nicht so genau nahm. So bildete ich mir ein, und unter fremdem Namen schlug ich mich, wie ein Verbrecher, durch die Lande, hier und dort durch gelegentliche Arbeit mein Brot verdienend, nie muthig genug, dauernd in einem Dienst zu bleiben, zuweilen auch von den Wohlthaten mitleidiger Menschen mich nährend, bis tief in die Schweiz hinein.
[863] Als ich in katholisches Land kam und oft feierlichen Prozessionen von Mönchen und Wallfahrern begegnete, ihre frommen Gesänge vernahm und die heiligen Gebräuche wieder sah, die mich an meine Kindheit gemahnten, da kam mir wohl auch der Gedanke, in ein Kloster zu treten. Dort, sagte ich mir, erhältst du einen andern Namen, dort findest du Ruhe und Frieden; und wenn ich mich dann mit der Menge auf die Kniee warf und mich bekreuzend die Gebete, wie ich sie einst gelernt, wiederholte, da bildete ich mir ein, ich sei reif zu solchem Los. Aber war nicht diese Einbildung schon ein Beweis des Gegentheils? Durfte ich ein Los begehren, das Mira sich erwählt? Nein, wandern mußte ich, unstät wie jener, der den Herrn von seiner Schwelle stieß, bis Gott selbst mir das Ziel setzte, und so zog ich weiter, tiefer ins Gebirg hinein, wo Eis und ewiger Schnee die Berge deckt und an den kahlen Felszacken kein Halm sprießt und die Ströme zu Gletschern erstarren.
Da, als ich über den Mont Cenis wollte, verließen mich plötzlich Muth und Kraft. Ich hatte mich bei geringer Nahrung überarbeitet beim Ausgraben einer Hütte, die durch einen Lawinensturz verschüttet worden war im Thal auf der italienischen Seite. Nur ungern hatte man mich ziehen lassen, denn es gab dort noch genug zu thun, auch die Eisenbahnlinie war unterbrochen und es fehlte an Arbeitskräften. Die Passagiere der Züge mußten umsteigen, eine Strecke zu Fuß zurücklegen, und eben das war’s, was mich forttrieb. Ich wußte, daß in dieser Zeit viele Norddeutsche die Gegend durchreisten, und vor einer Begegnung mit meinen früheren Landsleuten scheute ich mich. Darum schlug ich mich tiefer ins Gebirg und wanderte die alte, verlassene Straße hinauf.
Hier an einer Stelle, wo ich mich niedergelassen hatte, von welcher der Hang nach der einen Seite steil, fast senkrecht abfiel in schwindelnde Tiefe, daraus gedämpft das Rauschen eines Wildbachs zu mir herauftönte, während rings herum die Bergriesen sich thürmten, hier in der schauerlichen Einsamkeit kam es über mich: wie klein ist doch der Mensch im Vergleich zu diesen Riesenwerken der Schöpfung, er, der sich ihr Herr dünkt! Was ist er mehr als ein winziges Gebilde des Zufalls, in die Welt geschleudert wie jene? Aber während sie feststehen in ihrer steinernen Majestät und mit eisbedeckter Stirn dem Lauf der Zeiten trotzen, wird er rastlos umhergetrieben von den Launen des Schicksals, heute erhoben und morgen zu Boden geschmettert, bis ihn früher oder später die kühle Erde deckt oder der kalte Schnee, wie die Bewohner jener Hütte im Thal. Sie hätten ihr elendes Leben wohl gerne noch weiter geführt, aber ich, was soll ich noch hier? Und wenn keine Lawine niederstürzt, mich zu begraben, ist nicht der Abgrund vor mir auch ein Grab, so gut wie jedes andere? Einer weniger von Millionen! Wer fragt danach, wen stört es? Die Berge stehen so fest wie vorher, aber das ist es, was der Mensch vor jenen Schöpfungskolossen voraus hat, der freie Wille, durch den er, wenn er’s für gut findet, seinem Dasein selbst ein Ziel setzt.
Mit solchen Gedanken beugte ich mich tiefer über den Abgrund, ein eisiger Hauch wehte von drunten zu mir herauf, der mir wohlthat; immer stärker drang das Brausen des Wildbachs in mein Ohr, es betäubte mich.
Schon faßte mich der Schwindel, da war mir’s plötzlich, als riefe hinter mir eine Stimme, eine schwache zitternde Greisenstimme: „Erwin!“ und ich fuhr zurück.
„Erwin!“ Das war meines Vaters Stimme, die Stimme des alten, gelähmten Mannes, der täglich im warmen Mittagssonnenschein an dem Grab seines Glücks saß, den Hügel mit frischen Blumen schmückte und mit gefalteten Händen, wie ein Heiliger verklärt, geduldig abwartete, was der Himmel über ihn beschlossen und wann es ihm gefiele, ihn abzurufen und wieder zu vereinigen mit der, die er auf Erden am meisten geliebt.
Und das Dasein, das er, der Schuldlose, der ein langes Leben voll schwerer, redlicher Arbeit hinter sich hatte, so geduldig trug, das wollte ich, der Schuldbeladene, abkürzen und feige von wir werfen?
Was hatte ich denn gethan, meine Schuld zu sühnen, mir den Tod, der als ein Erlöser nach des Tages Arbeit den Pflichttreuen abruft, zu verdienen? War meine Arbeit denn gethan, hatte ich auch nur einen ernsten Versuch gemacht, den Weg der Pflicht, den ich einmal verlassen, wieder zu finden, der Pflicht gegen die Menschheit, gegen den Schöpfer meiner Kraft und gegen mich selbst, jener Pflicht, deren muthige Erfüllung allein das Vergangene auslöschen und selbst wieder gutmachen konnte? – Nein, wo sich mir eine Gelegenheit dazu bot, war ich ihr in falscher Scham entflohen, und nun wollte ich der Pflicht des Lebens selbst entfliehen, diese neue Schuld wollte ich auf mein Gewissen, diese neue Schmach auf mein Geschlecht, auf das greise Haupt meines Vaters laden? Nein, nie! Dank, Vater, daß Du mich gewarnt, daß Du mir den rechten Weg gezeigt hast, den ich fortan wandeln will.
Ganz entsetzt floh ich von der Stelle.
Ach, nun erkannte ich, wie viel mir noch zur rechten Buße fehlte, wie alles Bisherige nur Selbstbetrug gewesen war. Und ich beschloß, ein neues Leben zu beginnen, meine Kraft, die ich in ziellosem Umherschweifen vergeudet hatte, fortan der Menschheit dienstbar und nützlich zu machen, wo und wie immer es sei. Drunten im Thal gab es Arbeit, zu ihr, der ich feige entflohen war, wollte ich muthig zurückkehren.
Nur den alten Namen wollte ich zuvor begraben, wie ich den alten Menschen begrub. Der sollte todt sein für diese Welt und als ein neuer, besserer in ihr wieder auferstehen.
Hier an der Stätte, wo schon so mancher, wie die am Weg stehenden Kreuze und Bildstöcke bewiesen, gegen seinen Willen den Tod gefunden hatte, wollte ich mich mit Willen noch lebend begraben, und doch sollte es scheinen, als hätt’ ich’s nicht selbst gewollt, als wäre ich verunglückt wie jene.
Meinen Paß aus dem Zuchthaus, die Papiere, die meine Herkunft bezeugten, meine Uhr und den geringen Rest meiner Barschaft steckte ich in die Taschen der Kleider, die ich im Bündel mit mir trug, damit es nicht scheine, als hätten Räuber mich überfallen. Dann ließ ich das Bündel den steilen Hang vorsichtig so hinabgleiten, daß es an einer Felszacke hängen blieb. Dort mochte es, wenn es von einem Vorübergehenden entdeckt wurde, dafür zeugen, daß Erwin von Klaritz hier abgestürzt, daß sein Leichnam irgendwo drunten in der grausigen Tiefe zerschmettert liege.
Ich aber schritt rüstig, denn alle meine Kräfte waren mir wiedergekehrt, des Weges zurück und meldete mich drunten bei der Direktion zur Arbeit an dem verschütteten Bahnkörper, wo ich mit offenen Armen aufgenommen wurde.
Es dauerte Wochen, bis das letzte Hinderniß beseitigt und die Linie wieder frei war. Ich hatte wacker dabei mitgeholfen. Die Beamten, die dies wohl bemerkten, fragten mich, ob ich schon einen andern Dienst habe. Ich verneinte; da bot man mir, weil es eben an Kräften mangelte, an, als Eisenbahnarbeiter Aushilfsdienste zu thun, und ich nahm’s an. Freilich, Papiere hatte ich keine, ich gab vor, sie seien mir abhandengekommen, nannte mich Johann Stiller, meine Heimath, mein Alter gab ich richtig an. Man forschte nicht weiter, man brauchte eben Leute, und zudem war ich ja nur aushilfsweise angestellt.
Ich war, wie mein Name besagte, ein stiller Mann, versah meinen Dienst pünktlich, lernte mit Leichtigkeit die verschiedensten Verrichtungen, zu denen man mich gebrauchte.
Nach verhältnißmäßig kurzer Zeit wurde mir die Bedienung einer Weiche anvertraut, und als der schon bejahrte Bahnwärter in dem Häuschen, vor dem Sie mich gesehen haben, starb, erhielt ich seine Stelle.
Immer und bis heute bin ich nur ein Hilfsarbeiter, aber aus dem provisorischen Verhältniß wurde eben stillschweigend ein dauerndes; die Beamten mochten mir wohl einen Theil meiner Schicksale, so sehr ich mich auch zusammennahm, von den Zügen ablesen, aber sie drangen nicht weiter mit Fragen in mich.
Nun hatte ich, was ich wollte. Vergessen von den Meinigen, von allen, die die Kunde meines Todes erreicht hatte, und doch von dem großen Strom des Lebens täglich, stündlich umbraust, wollte ich lernen, mich selbst, meine Vergangenheit vergessen.
Wie schwer das ist, das hat mir Ihr Anblick gezeigt, des ersten bekannten Gesichts, das ich nach vielen Jahren wiedersah, obgleich ich oft, wenn die Schnellzüge in der Reisezeit an mir vorüberflogen oder auch einige Minuten still hielten und ich mit geschulterter Fahne regungslos auf meinem Posten stand, heimlich nach den Wagenfenstern spähte.
Keinen hab’ ich, keiner hat mich erkannt, nur Sie, die Sie ja auch mein innerstes Wesen früher erkannt als die anderen und als ich selbst und mich oft gewarnt haben vor mir selbst.
Aus eiserner Zeit.
Im alten heiligen römischen Reich deutscher Nation gab es wohl kaum einen Winkel, wo die Zertheilung von Grund und Boden am Ende des Mittelalters so absonderliche Formen angenommen hatte, als dort zwischen dem unteren Neckar und dem Main, zwischen dem Rhein und dem Fränkischen Jura. Von Westen her griff der Kurkreis herein mit den Gebieten des Erzbischofs von Mainz und des Kurfürsten von der Pfalz, der im fröhlichen Heidelberg Hof hielt. Im Osten ragten zwei andere geistliche Fürsten hervor, die Bischöfe von Würzburg und Bamberg, und ihnen that es gleich an Macht die stolze Reichsstadt Nürnberg. Zwischen diesen aber saßen in buntem Wechsel und mit oft merkwürdig zersplitterten Gebietsverhältnissen noch eine ganz erkleckliche Zahl von freien Reichsständen, Grafen, Rittern, Aebten und freien Städten und als Besonderheit auch noch der Orden der Deutschherren zu Mergentheim.
Es ist kein Wunder, daß gerade auf diesem Boden das Wesen des kleinen freien Reichsritters sich am vollendetsten entwickelte. Hier genoß er in vollen Zügen die uneingeschränkte Selbstherrlichkeit, die ihm Lebensluft und -licht war, hier waren unter so und so viel Genossen tausenderlei Gelegenheiten zu Fehde und Bündniß, gemeinsamem Ueberfall und rettendem Unterschlupf, und nirgends besser als hier konnte den „Pfeffersäcken und Ballenbindern“, den unheimlich reichen Kaufherren der Städte, ein Abbruch gethan werden.
Und dieser Boden ist auch der Schauplatz, auf dem das Leben des Ritters Götz von Berlichingen „mit der eisernen Hand“ sich abspielte.
Es ist den Lesern der „Gartenlaube“ aus einem früheren Aufsatze (vgl. Jahrgang 1882, S. 779) bekannt, daß um die Persönlichkeit dieses Ritters sich ein lebhafter Streit entsponnen hat. Folgen die einen dem Bilde, das Goethe von ihm entworfen hat, und in dem er als ein Hort der Bedrängten, als ein Rechtshelfer der Unterdrückten erscheint, so stempeln ihn die andern zum höchst gewöhnlichen, gewaltthätigen Abenteurer und Stegreifritter. Die Wahrheit wird, wie so oft, in der Mitte liegen und es wäre auch, wenn wir die angedeuteten Zeitverhältnisse in Betracht ziehen, von Götz wirklich zu viel verlangt, wollten wir von ihm fordern, daß er mitten in einer eisernen Zeit hätte leben sollen „als frommer christlicher Ritter“, so, wie es seine sanfte Schwester Maria in Goethes Drama von seinem kleinen Sohne Karl wünscht. Auch von Götz wird das Wort gelten, mit dem Maria diesen ihren Wunsch für Karlchens Zukunft begründet: „Die rechtschaffensten Ritter begehen mehr Ungerechtigkeit als Gerechtigkeit auf ihren Zügen.“ Und daß das Geschlecht der Berlichingen nicht gerade nach dem Ruhm der Sanftmuth geizte, mag man daraus entnehmen, daß es als Wappenkrönung einen reißenden Wolf führt, der ein Lamm im Rachen trägt.
Doch wollen wir uns heute nicht mit dieser Streitfrage beschäftigen, für deren endgültige Lösung die Zeit noch nicht gekommen scheint. Wir wollen vielmehr einen Rundgang über die Stätten machen, die durch das Andenken an den Ritter Götz geweiht sind und die des Zeichners Stift dem Beschauer auch vor das äußere Auge führt.
Es sind einfach schlichte, aber liebliche Landschaftsbilder, die der Wanderer im Thale der Jagst, des letzten größeren rechten Nebenflusses des Neckarstromes, zu schauen bekommt. Wer von Möckmühl der Landstraße folgt, die neben dem Flusse her in vielfachen Krümmungen sich thalaufwärts windet, der befindet sich nach zwei bis drei Stunden Wegs ganz auf Berlichingenschen Spuren. Da liegen hinter einander Jagsthausen, Berlichingen und Schönthal, der Hauptsitz, die Wiege und das Grab des Geschlechts. Dort auf dem Schlosse zu Jagsthausen ist auch der Ritter Götz geboren im Jahre 1481 als der fünfte und jüngste von seines Vaters Kilian von Berlichingen Söhnen, dort hat er, wenn auch mit großen Unterbrechungen, in seinen Jugend- und früheren Mannesjahren seine Heimath gehabt. Im Norden des Dorfes liegt das „Alte Schloß“ mit seinem Götzenthurm, während westlich vom Dorfe das „Neue Schloß“ der noch jetzt blühenden Linie Berlichingen-Jagsthausen sich erhebt. Eine seltene Hinterlassenschaft birgt noch heute Jagsthausen; es ist die eiserne Hand Götzens, jenes Meisterwerk der Schmiedekunst, das sich der kampflustige Ritter anfertigen ließ, nachdem ihm vor Landshut seine eigene Rechte abgeschlagen worden war. Durch Vererbung nach Wien gekommen, wurde das Wunderwerk im Jahre 1798 durch eine geb. Reichsgräfin von Hadik, die einen Berlichingen geheirathet hatte, wieder nach Jagsthausen gestiftet, wo ein eigenes Stammbuch die zahlreichen Besucher nebst den Gefühlen, die sie beim Anblick der eisernen Hand bewegten, verzeichnet.
Und nun weiter das Thal hinan. Bald grüßen uns die beiden Thürme der prächtigen Klosterkirche von Schönthal, die einen der berühmtesten Schönthaler Aebte, Benediktus Knüttel († 1731), den angeblichen Vater der „Knüttelverse“, zu ihrem Erbauer haben. Wie oft hat diesen Weg vor uns ein stiller Zug zurückgelegt, ein Viergespann, das einen Berlichingen nach seiner letzten Ruhestätte im Kreuzgange des alten Abteigebäudes verbrachte! Einst hatte der Gründer des Klosters, ein Ritter Wolfram von Bebenburg, von Engelhard von Berlichingen Grund und Boden zum Bau des Klosters unentgeltlich erhalten, unter der einzigen Bedingung, „daß, so oft einer von Berlichingen mit Tod abginge, Abt und Convent verpachtet sein sollen, den Todten mit einem Viergespann abholen zu lassen; dann, wenn der Leichnam vor der Klosterpforte ankäme, ihn processionsweise in die Kirche zu geleiten, die gewöhnlichen Exequien halten zu lassen und endlich im Kreuzgange des Klosters, der für immerwährende Zeiten der Familie von Berlichingen als Erbbegräbniß überwiesen wird, feierlichst beizusetzen.“ Und so geschah es jahrhundertelang; aber bei den „immerwährenden Zeiten“ konnte es freilich nicht bleiben. Als nach dem Durchbruch der Reformation ein Berlichingen um den andern zur neuen Lehre
[865][866] sich bekannte, da wurde jene alte Bestimmung aufgehoben, denn man konnte doch nicht wohl die Abtrünnigen in des Klosters geweihten Räumen begraben. So ist der letzte Berlichingen, dessen Denkmal in dem Krenzgang sichtbar ist, ein Sohn des berühmten Götz, Hans Jakob, der im Jahre 1567 starb.
Inmitten seiner Ahnen hat nun auch unser Ritter Götz von Berlichingen sein Grab und sein Gedächtnißmal gefunden. Auf seinem eisernen Handschuh knieet der Ritter, die beiden gesunden Hände fromm zum Gebete gefaltet – ein merkwürdiges Beispiel künstlerischer Unbeholfenheit oder religiöser Scheu, denn man muß sich fragen: konnte oder wollte der Künstler nicht abweichen von dem üblichen Typus, der ihm in vielfachen Wiederholungen zur Vorlage diente? Wappenschilde schmücken das Fußgestell und die Pfeiler, welche das Bild des Verstorbenen einrahmen, links oben das Berlichingensche Wappen mit dem reißenden Wolfe. Zu Füßen des Helden aber lesen wir die einfachen Worte „Und er wartet allhie einer fröhlichen Auferstehung,“ während die üblichen Nachrichten über den Sterbetag und der Name des Geschiedenen auf einer besonderen, über dem Denkmal befindlichen Inschrifttafel angebracht sind.
Dort heißt es: „Anno domini 1562 den 23 Juli ist in Gott verschieden der Edel und Ernvest Gottfried von Berlichingen zu Hornberg, des Seelen Gott gnädig seye. Amen.“
„Zu Hornberg.“ Ja, der Leichnam des mehr als achtzigjährigen Recken hatte eine weitere Fahrt zu machen als bloß das Stündchen von Jagsthausen herauf. Draußen im Neckarthale, über dem rechten Ufer des Flusses nahe dem Dorfe Neckarzimmern lag die Burg, auf welcher der alte Götz sein Leben beschloß. Zu schwindelnder Höhe ragt der alte, heute noch völlig besteigbare Thurm empor und eine wunderbare, die wechselvollsten Bilder einschließende Fernsicht eröffnet sich von seinem Gipfel. In weitem Umkreise führt der Weg, von festen Mauern begleitet, über einen unteren Hof allmählich hinauf zur Burg, und es heißt, von dieser schneckenförmigen Bauart habe sie den Namen „Hornberg“ erhalten. Sie ist heute, nachdem sie oft und viel den Besitzer gewechselt, Eigenthum der freiherrlichen Familie von Gemmingen.
In die Hände der Berlichingen kam die Burg durch unsern Götz selber. Er hat sie wahrscheinlich im Jahre 1516 von Konrad Schott von Schottenstein käuflich erworben, das Geld dazu aber verdankte er einem der kecksten Handstreiche, die der in diesem Fache gewiß nicht linkische Ritter je in seinem Leben ausgeführt hat. Wegen eines Bauern zu Heimstatt war Götz mit dem Kurfürsten von Mainz in Fehde gerathen, wobei es mit Mainz auch der Graf Philipp von Waldeck, ein mainzischer Lehensmann, hielt; es gelang Götz, diesen Graf Philipp zu fangen und durch kölnisches, waldeckisches, hessisches, hersfeldisches, fuldaisches, hennebergisches, sächsisches, würzburgisches, bambergisches, anhaltisches, nürnbergisches und pfälzisches Gebiet, also durch zwölf wohlgezählte Landesherrlichkeiten „dahin zu bringen, da er hingehört“, das heißt auf irgend eine Feste, die selbst der alte Götz in seiner Selbstbiographie noch nicht verrathen mag. Wohl ward bei Kaiser und Reich Klage geführt, wohl regte sich der „Schwäbische Bund“, dessen Mitglied der Mainzer Kurfürst war, aber alles ging zu schwerfällig und zu langsam, so daß Philipp von Waldeck schließlich es vorzog, auf 8000 Gulden Lösegeld einzugehen. Am 16. Juni 1517 aber schreibt Götz an den Grafen Albrecht von Mansfeld, der inzwischen Götz mit dem Mainzer ausgesöhnt hatte, des Inhalts, „daß er bei Konrad Schott einen Kauf, zahlbar auf Jakobi, gethan und deshalb das Lösegeld wünsche, welches vielleicht der Graf Hermann von Henneberg vorstrecke.“ Dieser Kauf war kein anderer als der der Burg Hornberg.
Zur Ruhe kam freilich der Unermüdliche zunächst noch nicht in seinem neuerworbenen Neste. Nach mancherlei kleineren Händeln trat Götz in die Dienste des Herzogs Ulrich von Württemberg, der ihn im Jahre 1518 zum Amtmanne von Möckmühl machte. Der Leser kennt aus Hauffs „Lichtenstein“ die Geschichte dieses unglücklichen Fürsten. Bald nach jener Verbindung mit Götz verwickelte sich Ulrich in den verhängnißvollen Kampf mit dem Schwäbischen Bund, der mit seiner Vertreibung aus dem angestammten Herzogthum geendigt hat. Am 10. Mai 1519 stand das siegreiche Bundesheer bei Neckarsulm, Götz aber saß noch auf seiner nur einen schwachen Tagemarsch entfernten Burg Möckmühl, entschlossen, wenn nicht die Stadt, so doch die Feste seinem Herrn zu behaupten. Zwei Fähnlein bayerischer Knechte rückten vom Neckarsulmer Hauptlager heran, die Stadt ergab sich [867] sofort, aber Götz war zum äußersten entschlossen und beschoß sogar von seiner Burg aus die Stadt, die jetzt zum Stützpunkt der Feinde geworden war. Noth an Lebensmitteln und Kriegsbedarf zwangen ihn aber bald zur Kapitulation. Als er im Vertrauen auf das Versprechen freien Abzugs die Burg verließ, wurde er heimtückischerweise überfallen, festgenommen und nach Heilbronn in Gewahrsam gebracht.[1]
Da stehen wir nun wieder an einem Punkte in Götzens Leben, den die Phantasie des Dichters und die rankende Volkssage am üppigsten überwuchert hat. Beide lassen den gefangenen Helden jahrelang in dem schauerlichen viereckigen Thurme schmachten, der am südwestlichen Ende der Heilbronner Altstadt unmittelbar am Neckarufer emporragt, und Goethe hat die ergreifende Schlußscene für sein Schauspiel dadurch gewonnen, daß er den Ritter in dem Gärtchen am Fuße des Thurmes sogar verscheiden läßt. Goethe hat überdies die Heilbronner Haft, welche Götz in den Jahren 1519–1522 zu erstehen hatte, zusammengeworfen mit jener anderen zu Augsburg, in welche der „Hauptmann der rebellischen Bauern“ im Jahre 1525 verfiel. Zum Glück wissen wir aus Götzens eigener Versicherung, daß er nur eine einzige Nacht in der Thurmzelle zugebracht hat. Jedermann erinnert sich der köstlichen Scene aus dem Goetheschen Drama, wie Götz vor dem Heilbronner Rath steht und den „Schmieden, Weinschrötern und Zimmerleuten“ nebst dem ganzen hochwohllöblichen Rath selber einen so heillosen Respekt einflößt und wie er sein treues Weib Elisabeth hinausschickt zu dem ihm befreundeten Sickingen, daß er komme und ihm zu einem ritterlichen Gefängniß verhelfe. Das alles ist im wesentlichen der Selbstbiographie Götzens treu nachgebildet, nur daß sich die Dinge nach der letzteren nicht so rasch abgespielt haben. Jedenfalls aber heißt es in den Aufzeichnungen des Ritters: „Daß that nun mein weib vnnd fuhrten mich die bündischen vff daß Rathhauß, vnnd vom Rathhauß inn thurn, vnnd must dieselbige nacht darinne liegen, vnnd wie sie mich vff den Pfingstabendt hinein legten, musten sie mich vff den Pfingstag deß morgens früe widerumb herauß thun.“ Er blieb von da an in ehrlicher Haft bis zum Jahre 1522, wo er sich mit einer Summe von 2000 Goldgulden auslöste.
Einige Jahre scheint sich nun Götz auf seiner Burg Hornberg verhältnißmäßig ruhig verhalten zu haben. Da aber brach im Jahre 1525 das Verhängniß über ihn herein, das ihn in die Arme und an die Spitze der aufrührerischen Bauern und auf solchem Wege abermals in die Gefangenschaft des Schwäbischen Bundes, diesmal nach Augsburg führte. Erst im Jahre 1530, nach fünfjähriger Haft, erhielt er seine Freiheit wieder und dies nur gegen Beschwörung einer harten Urfehde. Er durfte die Markung seiner Burg Hornberg nicht überschreiten, kein Pferd mehr besteigen, und selbst dann, wenn er innerhalb seiner Hofmarkung blieb, sollte er abends wieder auf die Burg zurückkehren.
Das war die lange Zeit des Stilllebens und Stillsitzens auf der Burg Hornberg, von dem ihn erst lange Jahre nachher – Götz behauptet 16 Jahre, aber die Rechnung will nicht ganz stimmen – ein kaiserliches Machtwort erlöste. Noch zweimal rückte der alternde Recke ins Feld, gegen die Türken und gegen die Franzosen, dann aber kehrte er für immer heim nach dem Hornberg, um hier ein beschauliches Alter zu verbringen. In diesen Tagen hat er die Erinnerungen aus seinem sturmbewegten Leben aufgezeichnet oder diktirt, die den vertrauenden Leser so treuherzig offen anmuthen und die den kritischen Geschichtsforscher zu solch tiefgreifenden Zweifeln veranlassen. – Götz war zweimal verheirathet. Zuerst mit Dorothea von Sachsenheim, dann seit 1516 mit Dorothea Gailing von Illesheim; Elisabeth hieß keine von seinen Frauen, den Namen hat Goethe frei gewählt. Von seinen 7 Söhnen starben 5 in ganz jungen Jahren, nur zwei, Hans Jakob und Philipp, hatten Nachkommenschaft. Ein Sohn von Hans Jakob, Philipp Ernst, hat im Jahre 1602 Hornberg verkauft – Götzens berühmte Burg kam damit in fremde Hände.
Noch einmal auf den Spuren des Weihnachtsbaums.
Alle Rechte vorbehalten.
Um die Weihnachtszeit des vorigen Jahres wurde in der „Gartenlaube“ (S. 831) von mir der Versuch gemacht, eine Antwort auf die Frage zu geben: Wie alt ist der Weihnachtsbaum und wo ist seine Heimath? Aber das Material, das jener Antwort zu Grunde lag, war noch lückenhaft und bedurfte sehr der Ergänzung. Zu letzterem Zwecke hat die „Gartenlaube“ damals einen Aufruf an ihre Leser gerichtet, alles irgendwie für die Geschichte unseres Christbaumes Wichtige ihr mitzutheilen, und heute möge denn an der Hand der freundlich eingesandten Nachweise und meiner eigenen weiteren Forschungen den Spuren des Weihnachtsbaumes weiter nachgegangen werden.
Mitten in der Weihnacht, im Augenblick der Wintersonnenwende, steht nach dem deutschen Volksglauben die Zeit eine Weile still, wie der in die Luft geworfene Stein still steht, wenn er seine höchste Höhe erreicht hat, bis er umkehrt und wieder herabsinkt. Es ist gleichsam ein Riß, eine Spalte in der Zeit, durch welche die Ewigkeit mit ihren Wundern hereinschaut. Da reden die Thiere, Berge thun sich auf, die Todten erstehen aus ihren Gräbern, Geister wandeln durch die Luft und Segen und Unheil sind dem Menschenkinde näher als sonst. In dieser Stunde läßt der Volksglaube auch einen Apfelbaum Knospen und Blüthen tragen, die in einer Stunde zur vollen Frucht ausreifen.
Zum erstenmal erscheint diese Sage im Jahre 1430. Damals berichtete Johannes Nider[2]: „Nicht weit von Nürnberg stand ein wunderbarer Baum . . . Jährlich in der rauhsten und [868] unangenehmsten Jahreszeit, immer und nur in der Nacht der Geburt Christi, wann die Jungfrau der Jungfrauen . . . den Sohn Gottes gebar, trug er blühende Aepfel von Daumesdicke . . . Es pflegen daher aus Nürnberg und den umliegenden Gegenden mehrere glaubwürdige Leute herbeizukommen und die ganze Nacht zu wachen, um die Wahrheit davon zu prüfen. Ein in allem ähnlicher Baum findet sich in einem Orte der Diöcese Bamberg.“
Diese Sage erhielt sich durch die Jahrhunderte.
In seinem berühmten Buche „Von schimpff und ernst“ (Straßburg, Grieninger 1522) erzählt J. Pauli fast ein Jahrhundert später mit Berufung auf eine andere zwischenliegende Quelle[3]: „Doctor Hasseltzbach schreibt, das in de bistumb von wirtzburg seien zween öpfelbeum, die bringen in dem iar kein frucht dan in der Weihenacht, und an dem weihenacht abent ist kein zeichen da der frucht, aber zu mitternacht so sahen die beum an brossen utzstossen und blüen und an dem morgen so sein die öpsel zeitig und sein als grotz als gemeine baumnutz, das ist ein grotz wunder. Diser doctor hat brieff und siegel des bischoffs, die darumb geben sein der warheit.“
Dieselbe Geschichte findet sich dann in Abraham Sauers „Parvum theatrum urbium“ („Kleines Städteschaubuch“), das 1610 nach dem Tode des Verfassers in Frankfurt am Main erschien. Hier ist sie jedoch auf Drebern (Tribur) am Rhein übertragen, und die Umstände sowie die Zeugen sind andere. In den geographischen Werken des 16. Jahrhunderts, von denen mir allerdings nur wenige zugänglich waren, habe ich die Sage nirgends finden können.
Aus Sauer entlehnte dieselbe, wie seine eigene Randbemerkung sowie die Vergleichung lehrt, Martinus Zeiller, der 1674 sein „Itinerarium Germaniae, das ist Reisbuch durch Hoch und Nider Teutschland“ herausgab. I, 485 findet sich die Stelle: „Nicht weit von Tribur stehet ein Apfelbaum, welcher alle Jahre in der Christ-Nacht Aepffel trägt: Wann ein gutes Jahr vorhanden, so werden sie groß als eine Bonen, doch an gestalt als ein Aepffelein mit Blumen, Stiel und andern, hart und steiff: Zu andern Jahren aber, als ein Erbis (Erbse). In einer Stund bekompt der Baum seine Blühe und Obs, welches alle Jahr nach dem Alten Kalender mit sonderm fleiß von den Inwohnern observirt wird. Sonsten im Jahr trägt er Wilde Holtz Aepffel, die nach ihrer Art andern gleich seyn: Wie nicht allein gemelter Saur solches bezeuget: sondern mir auch ein vornehmer Freyherr, so neben etlichen Meintzischen und Darmstädtischen Rähten und vom Adel in einer Christ-Nacht daselbsten sich befunden, vermeldet und diß hoch betheuert hat.“ Auch Prätorius in seinen 1663 in Leipzig erschienenen „Saturnalia, das ist eine Compagnie Weihnachtsfratzen und Centnerlügen“ stellt solche Berichte zusammen.
1680 wird aus Lohr am Main ähnliches berichtet, 1697 erzählt Wagenseil in „De civitate Noribergensi“ („Ueber die Stadt Nürnberg“) dasselbe von etlichen Bäumen bei dem Nürnbergischen Städtlein Gräfenberg, und eine weitere Nachricht aus dem Ende des 18. Jahrhunderts greift wieder auf Würzburg zurück.
Am Ende des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts lebte zu Pretzschendorf in der Ephorie Dippoldiswalde in Sachsen der Pfarrer Johann Samuel Adami. Er besaß eine stattliche Bücherei und war ein ehrsamer, wohlgelahrter Herr, der eine ungemeine Belesenheit und eine noch erstaunlichere schriftstellerische Fruchtbarkeit besaß. Im fünften Bande seiner „Biblischen Ergetzlichkeiten“, der 1694 erschien, berichtet er die erwähnte Weihnachtssage und zwar nach Prätorius, den er ausschrieb. Was bei allen diesen Erzählungen wundernehmen muß, ist, daß keiner der Erzähler, was doch sehr nahe gelegen hätte, sich auf eine Sitte bezieht, gemäß der man etwa in den Zimmern äpfelgeschmückte Bäume aufgerichtet hätte. Daß wir es hier mit einer uralten Sage und nicht mit einer allegorischen Weiterbildung der „Ruthe Aaronis“ oder anderer Reiser zu thun haben, liegt auf der Hand. Es geht nicht wohl an, die Erzählung von dem Wunderbaum aus den anderen Erzählungen von den Wundern der Weihnachtsnacht herauszulösen und für fremden Ursprungs zu erklären. Hierin haben sich Paulus Cassel[4] und Wilhelm Mannhardt[5] sicher vergriffen.
Wenn die Männer, welche diese Sage vor Prätorius und Adami berichten, nicht einer Sitte gedenken, in der Weihnacht Bäume aufzustellen, so folgt daraus noch nicht, daß sie eine solche nicht kannten. Sie schrieben ihre Bücher aus andern Büchern zusammen und ihrem Zwecke lag eine solche Bemerkung ganz fern. Anders bei Prätorius und Adami. Jener bezieht sich meist auf selbst Gesehenes in seinen Angaben, und auch dieser würdige Herr war keineswegs nur Bücherwurm. Er hatte sich mit eigenen Augen vielerorts recht gründlich umgesehen und kannte die abergläubischen Meinungen und Bräuche seiner Beichtkinder nur allzu genau. An einer andern Stelle desselben Werkes (Bd. XX, S. 998 ff.) giebt er ein förmliches Verzeichniß davon. Hier handelt er auch vom Weihnachtsabend, vom Lichtanzünden, mehreren Spielen und allerlei Unfug – vom Weihnachtsbaume kein Wort. Da er ohnedies eine natürliche Anlage zur Geschwätzigkeit hatte und gern aus dem Hundertsten ins Tausendste kommt, so z. B. bei der Erwähnung von Josefs Becher den gesammten deutschen Trinkbrauch seit der Urzeit mit einem gewaltigen gelehrten Aufwand von dreißig Seiten behandelt, so ist es nun und nimmermehr zu glauben, daß er die Sitte des Weihnachtsbaumes gekannt haben sollte. Das heißt aber: um 1700 kannte die Umgegend von Dresden in weiterem Sinne den Weihnachtsbaum sicher noch nicht.
Andere Gegenden kannten ihn damals längst.
Vor einem Jahre war die älteste Nachricht über den Weihnachtsbaum, die wir beibringen konnten, dessen Verurtheilung in der „Katechismus-Milch“ des Professors Dannhauer in Straßburg im Jahre 1657. Der Aufruf der „Gartenlaube“ um Mittheilung von Nachrichten über den Weihnachtsbaum hat ein Ergebniß gehabt, welches den Christbaum für dieselbe Rheinstadt unwiderruflich ein weiteres halbes Jahrhundert hinaufrückt.
Im Besitze des Herrn Georg Falck in Friedberg in Hessen befindet sich eine alte Handschrift im Umfang von zwei Bogen Kleinfolio unter der Ueberschrift Memorabilia quaedam Argentorati observata“ („Einige denkwürdige Beobachtungen aus Straßburg“). Der zweite Bogen, Bl. 3 und 4, enthält statistische Aufzeichnungen aus den Jahren 1582 bis 1604, ist also 1604 oder später geschrieben. Der erste Bogen, dessen Papier allerdings älter ist und der sich auch viel weniger gut erhalten hat, ist in den Anfang des Jahres 1605 zu setzen, denn er enthält am Ende Aufzeichnungen aus dem Februar dieses Jahres, die ihrer Einzelheiten wegen nur gleichzeitig entstanden sein können. Die Schrift beider Bogen, die zu diesen Zeitverhältnissen trefflich stimmt, ist, obwohl in der Größe nicht ganz gleich, doch das Werk derselben Hand. In der Mitte von Blatt 2 b steht:
- „Auff Weihenachten richtett man Dannenbäum zu Straßburg in den stuben auff daran hencket man roßen auß vielfarbigem papier geschnitten, Aepfel, Oblaten, Zischgolt, Zucker etc. Man pflegt darum[6] ein viererkent ramen zu machen vndt vorrn … t hier …
1604 erscheint also der geschmückte Tannenbaum zu Straßburg bereits allverbreitet. Es ist demnach anzunehmen, daß er dort noch ein gutes Stück älter ist. Der „viererkent ramen“ entspricht wohl dem Kreuz, auf dem unsere Christbäume stehen. Die Lichter fehlen hier noch. Auch Dannhauer 1657 kennt sie ja noch nicht.
In Straßburg erhielt sich der Weihnachtsbaum ungestört fort. Die Baronin von Oberkirch erzählt in ihren Memoiren von Weihnachten 1785 zu Straßburg[7]: „Le grand jour arrive, on prépare dans chaque maison le Tannenbaum, le sapin couvert de bougies et de bonbons avec une grand illumination“. („Der große Tag naht heran, in jedem Hause rüstet man den ‚Tannenbaum‘, die mit Kerzen und Bonbons bedeckte Tanne, und reichen Lichterschein.“)
Bei Goethe kommt der Weihnachtsbaum, wie wir voriges Jahr sahen, zuerst 1774 im Werther vor. 1770–1771 war Goethe in Straßburg; kannte auch er den Baum vielleicht von dort?
Ein weiteres Gesichtsfeld, dessen Grenzen allerdings nur graue Nebelstreifen sind, eröffnet eine andere Mittheilung, welche infolge des Aufrufs der „Gartenlaube“ dem Verfasser zugekommen ist.[8]
[869]
[870] Im Jahre 1737 fühlte sich Karl Gottfried Kißling aus Zittau veranlaßt, eine sehr gelehrte Abhandlung in lateinischer Sprache zu verfassen, welche neben dem lateinischen Obertitel noch den deutschen Untertitel führt: „Von Heiligen Christ-Geschenken“.[9] Er betrachtet dieselben nach ihrer Entstehung, über die er verschiedene Vermuthungen aufstellt, nach ihrer religiösen Bedeutung, dem Unfug, der mit ihnen getrieben wird, und endlich nach ihrer Geltung als rechtliche Einrichtung. Besonders der Unfug scheint sein Herz schwer beleidigt zu haben; denn er läßt seinem Zorn gegen denselben freien Lauf und zieht gegen ihn ein ganzes Gewitter von Strafverfügungen, besonders des Magistrats seiner Heimathstadt Zittau, heran. Sodann macht er Vorschläge zur Abstellung der Mißbräuche und erzählt dabei von einer würdigen Frau, die „auf einem Gehöfte“ lebe, das er nicht näher bezeichnet: „Am heiligen Abend stellte sie in ihren Gemächern so viel Bäumchen auf, wie sie Personen beschenken wollte. Aus der Höhe, dem Schmuck und der Reihenfolge ihrer Aufstellung konnte jeder sofort erkennen, welcher Baum für ihn bestimmt war. Sobald die Geschenke vertheilt und darunter ausgelegt und die Lichter auf den Bäumen und neben ihnen angezündet waren, traten die Ihren der Reihe nach in das Zimmer, betrachteten die Bescherung und ergriffen jedes von dem bestimmten Baume und den darunter bescherten Sachen Besitz. Zuletzt kamen auch die Knechte und Mägde in bester Ordnung herein, bekamen jedes seine Geschenke und nahmen dieselben an sich.“
Hier haben wir eine Weihnachtsbescherung mit Lichterbaum, ja Lichterbäumen und allem Zubehör vor uns, wie sie schöner kaum zu denken ist. Daß Gottfried Kißling sich dies nur ausgesonnen haben sollte, ist unmöglich, wenn auch die gute Ordnung, in der alles verläuft, seine Zugabe ist. Er bezieht sich sonst in seinen Angaben gern auf seine Vaterstadt Zittau. Hier seltsamerweise nicht. Von etwaigen Reisen, die er gemacht hätte, ist nichts bekannt. Wir gehen wohl kaum irre, wenn wir den Brauch in die Nähe von Zittau setzen. Bemerkenswerth ist, daß hier der Lichterbaum keineswegs als allgemein geübte Sitte, sondern vielmehr nur als Ausnahmebrauch im Hause einer besonders sinnigen Frau erscheint, wie er noch 1789 im Hause der Frau von Lengefeld in Rudolstadt und bei ihren Töchtern, die diesen Winter in Weimar zubrachten, keineswegs feste Regel war, während er in Jena in dem Griesbachschen Hause als bereits eingeführt zu betrachten ist.[10]
1657 eiferte ein Straßburger Theologe gegen den Weihnachtsbaum und 1737 empfiehlt ihn ein frommer Gelehrter als schönen Brauch gegenüber rohem Unfug. So ganz fest wurzelte freilich auch seine Neigung zum Lichterbaum nicht; denn, fügt er hinzu, im Grunde genommen könne dieser Brauch auch wegbleiben.
Vorher offenbar nur rein örtlicher Brauch im westlichen Oberdeutschland und namentlich in Straßburg, begann der Weihnachtsbaum etwa im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts seine Siegeslaufbahn, um sich binnen hundert Jahren Deutschland und in weiteren fünfzig die ganze Welt zu erobern. Im Anfang ging es jedoch mit seinem Vorrücken nur sehr langsam. In den Weihnachtsbeschreibungen aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts fehlt er noch sogut wie ganz. In Pyra und Langes „Freundschaftlichen Liedern“, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden, heißt es z. B.:
„So freudig können kaum die frommen Kinder seyn,
Wenn sie am Weihnachtsfest und bey der Lichter Schein
Den Engel, der beschert, von ferne klingeln hören
Und Kleinigkeiten dann noch ihre Freude mehren.“
Vom Weihnachtsbaum hier kein Wort. Auch die Worte „Weihnachtsbaum“, „Christbaum’“, „Lichterbaum“ entstammen erst dem Ende des Jahrhunderts. Goethe spricht 1774 noch ganz allgemein von einem „aufgeputzten Baume“ und Schiller läßt sich noch 1789 von seiner Braut einen „grünen Baum im Zimmer aufrichten“.
Um 1790 muß der Weihnachtsbaum in Nürnberg bereits üblich gewesen sein. Wenigstens haben wir eine Radierung von Joseph Kellner „Das Christbescherens oder der fröhliche Morgen“[11], welche nach den Trachten in diese Jahre zu setzen ist. Auf dem Bilde steht in der Ecke des Zimmers ein Baum, der in der heute üblichen Weise verziert ist, jedoch kein Nadelbaum. Derselbe trägt drei Lichter. Zwei davon hat ein Engel in seinen Händen, der in der Mitte des Baumes hängt. Näheres hierüber giebt uns eine Nachricht des Schlachtenmalers Albrecht Adam[12], der, 1786 geboren, mit Beziehung auf seine Jugendzeit von seiner Vaterstadt Nördlingen, also aus dem Westen von Bayern erzählt: „In Nördlingen hat man nicht den düsteren Tannenbaum für die Christbescherung, sondern man setzt schon monatelang vorher den jungen Stamm von einem Kirsch- oder Weichselbaume in einer Zimmerecke in einen großen Topf. Gewöhnlich stehen diese Bäume bis Weihnachten in voller Blüthe und dehnen sich weit an der Zimmerdecke hin aus, was man als eine große Zierde betrachtet und was auch in der That zur Feier des Christfestes sehr viel beiträgt. Eine Familie wetteifert hierin mit der andern, und die, welche den schönsten blühenden Baum hat, ist sehr stolz darauf.“ –
Die Einwanderung des Christbaums aus dem Norden im 17. Jahrhundert ist endgültig abzulehnen, da der Baum vor 1632 bereits in Straßburg vorkommt.[13] Daß er hier in das 16. Jahrhundert hinaufreicht, steht zweifellos fest. Aber welches ist sein Ursprung? Ist er vielleicht eine Umsetzung des blühenden und fruchttragenden Apfelbaums der Weihnacht aus der Sage in das volle greifbare Leben? Vielleicht wird auch darauf noch einmal eine Antwort möglich. Einstweilen ist sie noch nicht gefunden. In der Geschichte seiner Verbreitung giebt es ebenfalls noch manche Nuß zu knacken und manchen kleinen Widerspruch zu lösen. Die „Gartenlaube“ aber darf sich freuen, diese Geschichte wenigstens in ihren Grundzügen festgestellt zu haben, und sagt allen den freundlichen Einsendern von Nachrichten über den Christbaum, auch denen, deren Mittheilungen für ihren Zweck nicht unmittelbar verwendbar waren, ihren aufrichtigen Dank und entbietet ihnen ihren Weihnachtsgruß!
Am Grabe des Jahres.
Der Jahre Friedhof ist die Zeit;
Eins nach dem andern ward begraben.
Bald wird die Gruft, schon klafft sie weit,
Auch dieses Jahr verschlungen haben.
Daß würdig es bestattet werde!
Die Stunde drängt, schon „warnt“ die Uhr –
Nun wirf hinab drei Hände Erde!
Die Sorge wirf mit erster Hand,
Hinab tief in der Grube Sand,
Damit dir Herz und Hirn gesunde!
Dann tilg’ die Schuld, die ruhelos
Und peinvoll dir das Herz zerrissen!
Und rette dir ein frei Gewissen!
Mit dritter wohlgehaufter Hand
Laß allen Neid hinuntergleiten!
Du kannst, ist dieser Feind gebannt,
Ein Todtengräber, häufst du so
Des Grabes Hügel ohne Mühen;
Auf ihm wird dir, dem Gärtner, froh
Ein glückliches Neujahr erblühen.
Ueberraschungen.
Ein tiefverschneites nordost-deutsches Landstädtchen um Weihnachten – man kann sich’s leicht vorstellen. Vor dem Ostthor, das längst niedergerissen ist, hat sich der Weg mit einer Anzahl kleiner Villen besiedelt, deren fragwürdiger Baustil jetzt durch kein Baumgrün verschleiert und gewissermaßen entschuldigt wird, und deren Farbe durch den Gegensatz des leuchtenden Schnees schmutzig erscheint . . . nun, heut gerade, am 24. Dezember, steht es nicht so schlimm damit, denn es ist vom frühen Morgen an so nebelig, daß Schnee und Häuserfarbe, wie die Maler sagen, „zusammengebracht“ werden. Die Villen liegen an der Landstraße, und diese Landstraße führt in etwa einstündiger Fahrt zum nächsten Bahnhofe; dies die Erklärung, weshalb sich das behagliche Leben hier im Osten, nicht wie sonst in der Regel im Westen des Ortes angesiedelt hat. Außerdem hat man hier allerdings auch an hellen Tagen den Ausblick auf einen mitten in Aeckern liegenden, schilfumsäumten kleinen See, ein fernes Stück Wald und eine noch fernere Hügelkette.
Doch das ist für unsere Geschichte nicht von Belang; wohl aber, daß die ganze Gegend im übrigen beinahe völlig flaches Ackerland aufweist.
Und das liegt heut im Nebel – Nebel – Nebel . . .
Die letzte Villa ist die jüngste. Sie gehört „Bussens“, wie man im Ort vertraulich sagt, denn man kannte die Familie schon lange, ehe sie sich am Ort anbaute; sie besaßen früher Tempelwiese, ein Gut in halbstündiger Entfernung. Weshalb Busse verkauft hatte? Ein Lieutenant, der durch eine Heirath reich geworden war, hatte durchaus Grundbesitzer werden wollen und dem Tempelwieser ein gutes Gebot gemacht; außerdem war Busse schon bei Jahren, zu gemüthlichem Leben geneigt, sein Sohn Erich aus dem Hause – bereits Referendar –, seine Tochter Sibylla oder „Billa“, wie sie in der Familie hieß, achtzehn Jahr alt, also auf dem Punkte, um gleichfalls demnächst am Arme irgend eines Bewerbers zu entschwinden. Was soll man da noch lange auf einem Gute wirthschaften? Frau Busse war ganz der nämlichen Ansicht.
Die Einrichtung in der Busseschen Villa sah einigermaßen zusammengewürfelt aus, alter Hausrath vom Gute und moderne Prunkstücke durcheinander. Man hängt nach mehr denn zwanzigjähriger Ehe an dem alten Gerümpel! Vater Busse las da beispielsweise am Fenster seine Zeitung nach dem Morgenkaffee in dem nämlichen altfleckigen Lederstuhl, der, so hochlehnig und so hart gepolstert, Jahre und Jahre bereits seine Ruhe bedient hatte. Ein richtiges verwettertes, beinah bäurisches „Oekonomengesicht“, etwas bärbeißig, etwas überlegt verschlossen, im Grunde gutmüthig. Jetzt hob er die scharfen stahlblauen Augen und sah seine Frau an, welche eben aus dem geräumigen „Gartensaal“ in das Familienzimmer trat mit der Miene einer eifrig Beschäftigten.
„Hast Du auch wirklich an Erich geschrieben, daß er und der Landow sich auf der Station einen Wagen nehmen sollen, Lottchen?“ fragte er in halbem Platt. „Sonst wäre ich doch dafür, daß wir den alten Pötter ’nüberschicken.“
„Ach gar! Laß dem alten Manne seine Ruhe heute! Freilich habe ich wegen des Wagennehmens geschrieben! Wenn sie nur den Zug nicht verpassen, das ist meine einzige Sorge. Ich bin gar nicht dafür, daß man immer den letzten möglichen Zug nimmt!“
„Na, dafür wird der Landow wohl sorgen!“ meinte der Hausherr mit leichtem Augenzwinkern. „Hat denn die Schulzen die Guirlande schon geschickt? Es war mir doch, als ob vorhin das Mädchen von ihr gekommen wäre. Das ist aber auch ein Nebel draußen, daß man von hier nicht bis an das Gitter sehen kann. Mir wird es ordentlich schwer, hier zu lesen.“
„Ja, die Guirlande ist da. Ich bin bloß froh, daß die Billa oben in ihrer Stube ist und nicht zufällig aufgemacht hat.“
„Na, ’nen Spaß giebt das doch! Wenn’s denn mal sein soll – und Du hast Dich ehrlich dafür ins Zeug gelegt, Lottchen, das muß wahr sein – dann gefällt mir’s auf diese Art am besten. Ich will bloß wünschen, daß das Kind die Ueberraschung gut verträgt. Sie ist mir so merkwürdig all die Tage her vorgekommen. Was hatte sie heute beim Frühstück wieder für rothe Augen!“
Frau Busse, die inzwischen in einem aufgeschlossenen Schrank zehn Schubladen auf- und wieder zugeschoben hatte, nickte etwas zerstreut. „Ich bin wahrhaftig froh, daß ein Ende wird. Das Kind ist von so heftiger und leidenschaftlicher Gemüthsart –“
„Von mir hat sie das nicht!“ lachte Busse mit gutmüthigem Spott auf.
Rasch fuhr ihr Kopf herum und die braunen Augen blitzten ihn an. „Na – komm Du mir heute so!“ Sicherlich, Frau Busse war eine energische kleine Frau und sie hatte sich in der Ehe die Butter nicht vom Brot nehmen lassen, obwohl sie keinen Heller Geld mitgebracht hatte – aber Bildung! Sie war eine Pastorstochter aus kinderreichem Hause, und sie war einst sehr hübsch gewesen und hatte reichlich „Temperament“, als der Gutsherr von Tempelwiese sie heimführte.
„Na, na,“ begütigte er. „Nun quäl’ Dich aber auch nicht so allein ab mit der Bescherung! Was hat die Billa oben herumzusitzen? Hol sie Dir herunter zum Baumanputzen, das bringt sie auf andere Gedanken. Der Nette unten“ – das war das Faktotum, welches sich Busse von Tempelwiese mitgenommen hatte – „liegt auch bloß am Ofen herum.“
„Das verstehst Du nicht. An den Christbaum lasse ich keine fremden Hände, das ist Familiensache; und was die Billa betrifft, so hat sie noch an ihren Weihnachtsarbeiten zu thun, wie sie mir gesagt hat.“
„Ich pfeif’ auf die alte greuliche Weiberquälerei mit Weihnachtsarbeiten –“
„Und freust Dich doch, wenn Du welche bekommst. Und nun lies Deine Zeitung und kümmere Dich nicht um meine Sache.“
„Wart, Katze, da hast ’nen Fisch!“ lachte er gemüthlich. Sie ging wieder in den Saal, eine Wolke Harzduft hereinlassend. Er schmunzelte auf seine Zeitung nieder, sah dann aber in den Nebel hinaus, wo schattenhaft sichtbar das Dienstmädchen, die Annemarie, und die Frau Nette Bretter voll Kuchen auf den Köpfen angeschleppt brachten. „Nun will ich bloß wünschen, daß sie gerathen sind,“ brummte er. Darauf las er wieder, zuweilen mit weiten Nüstern den Kuchenduft einziehend, der sich im Hause verbreitete.
Im Ofen sauste und krachte das so behaglich …
Da öffnete sich die Thür vom Flur her, und er gewahrte, daß es Billa war, die eintrat. Ein hübsches Geschöpf, zierlich, fast mager, den Kopf schwer voll braunen Haars, welches vorn kraus die halbe Stirne deckte und damit stark die nervöse Blässe des schmalen Gesichtchens hervorhob. Sie trug den Kopf steif aufgeworfen und sah aus wie jemand, der nach viel innerem Leiden einen trotzigen Entschluß gefaßt hat. So schritt sie, ohne von dem Vater Notiz zu nehmen, mit einer Handarbeit auf den Ofen zu, warf sich mit Entschlossenheit in den nächsten grünen Plüschsessel und griff, nachdem sie ein paar Sekunden wie abwesend in die Luft gestarrt und nun tief Athem geholt hatte, zur Nadel.
„Na, Lütting,“ warf Busse hin, der ihr mit innerer [872] Belustigung zugesehen hatte, „hast Du Deine Stickschuhe bald fertig? Das wär ja wohl das erste Mal, daß Dein Bruder seine Sache auf Heiligabend fertig zu sehen bekäm’!“
„Man thut, was man kann,“ sagte sie kühl und ein wenig schnippisch. Ihre Sprache hatte etwas Müdes – in der That, die Augen waren geröthet, matt – jetzt blinzelten sie, und Billa fuhr auffallend schnell gegen den Ofen herum und bückte sich höchst angelegentlich auf die Stickerei hinab.
„Es wäre wunderbar genug, wenn ich zu diesem Weihnachtsfest mit Vergnügen sticken würde,“ fuhr sie nach einer Weile fort.
Ueber das Gesicht des Vaters zuckte es.
„Na, na – gieb Dich nur, Döchting! Das ist doch nun ’mal nicht anders und Du mußt doch auch endlich ’mal ein Einsehen haben. Wenn man so’n Kiekindiewelt ist wie Du, dann möchte man wohl dies und das, aber ob das auch richtig ist, das kann man mit Deinen achtzehn Jahren noch nicht genau wissen. Dazu hat man seine Eltern, die sich so ’ne vierzig, fünfzig Jahre den Wind haben um die Nase wehen lassen. Ich möcht’ bloß ’mal wissen, was aus Dir geworden wäre, wenn ich Dir immer Deinen Willen gethan hätte. Es wäre Dir nicht ein einziges Mal eingefallen, die Arzenei aus der Apotheke einzunehmen, wie Du ein paarmal so schwer krank gewesen bist. Jung und verständig wohnt nicht beikommen, das ist all so.“
„Natürlich, Du hast recht, Vater! Eltern haben überhaupt immer recht!“
„Haben sie auch, Döchting! Hier liegt das doch auf der flachen Hand: er hat nichts und ist ein gelernter Landwirth. Nun rechnet er wohl darauf, daß ich Euch ein Gut kaufen oder pachten soll; aber da gehört viel baar Geld zu, und ich kann das doch nicht so weggeben und riskiren, daß es flöten geht und daß ich auf meine alten Tage mit der Mutter selber nicht auskomme. Wenn er etwas anderes wäre, wollte ich ja nichts sagen; aber so als Landwirth, wenn man nichts Ordentliches in der Hand hat, ist das eine elende, klötrige Sache. Das muß ich doch besser verstehen als so’n Mädchen, das sein Lebtag nichts gethan hat als gesungen und gesprungen.“
„Ich habe nichts von Dir gefordert; wie wir auskommen, das wäre unsre Sache gewesen. Wenn wir sorgen und hungern wollen – wen quält das, Euch oder uns?“
Busse machte große Augen. „Oho, das geht uns denn doch was an! Dafür haben wir Euch nicht großgezogen, Lütting. Wir haben von Gottes- und Rechtswegen die Sorge auf uns, daß Ihr gut durchkommt im Leben. – Und nun komm ’mal her zu mir, Du altes großes Mädchen; die Liebe ist wie das Feuer, das geht auf und ab, zuletzt verbrennt auch ein Scheffel Kohlen, wenn nicht nachgeschüttet wird.“
Er lehnte sich gemächlich in seinem Stuhle zurück und sah erwartungsvoll zu ihr hinüber. Und sie stand wirklich auf, langsam, legte ihre Stickerei in den Sessel und ging auf Busse zu. Einen Schritt vor ihm blieb sie stehen, bleicher als vorher, aber die matten Augen brannten jetzt und waren trocken.
„Vater, ich habe mir vorgenommen, noch einmal ernst mit Dir zu reden. Darum bin ich heruntergekommen.“
„Das Reden hilft Dir doch nichts, Döchting, das ist doch nun ’ne abgemachte Sache; nun laß doch sein, was nicht zu ändern ist!“
Der kleine volle Mund spannte die Lippen so fest ein und es lag ein Zug so feierlicher Bestimmtheit auf dem blassen Mädchengesicht mit dem hübschen Stumpfnäschen und den großen braunen Augen, wie sie weitersprach:
„Ich erfülle eine Pflicht, ich thue, was ich muß, wenn ich Dich noch einmal – das darfst Du glauben, es ist das letzte Mal! – bitte: Gieb mir den Adolf! Ich lasse nie von ihm, das steht so fest wie Himmel und Erde, und es fragt sich sehr, ob Du nicht mehr Unglück anrichtest, wenn Du nein, als wenn Du ja sagst, selbst im Fall mein Leben danach ein schweres werden sollte. Wir wollen nichts von Euch haben, als Euer Jawort. Vater, brich mich nicht innerlich entzwei, ich kann ohne ihn nicht sein – gieb ihn mir!“
Sie schloß mit einem leidenschaftlichen Gefühlsausbruch, ein Schluchzen überwältigte sie und sie sank bei dem Vater nieder und legte sich auf eins der vorgestreckten Kniee und sah ihn mit schwimmenden Augen an.
Er rückte unwillkürlich mit den Füßen, warf die Zeitung bei Seite und sagte betroffen: „Donner und Diez, reden kannst Du für den Landtag, Dirn! Du hast mir zuviel gelesen, und ein rabiates Ding warst Du von klein auf. Sei nicht unklug, mit dem Kopf durch die Wand geht’s nicht. Selber bei unserm Herrgott hilft kein Bitten, wenn er einmal eingesehen hat: anders ist’s besser. E…hm!“ – er räusperte sich ein paarmal, wobei er hilflos suchende Blicke nach der Saalthür warf. Dann schlug er plötzlich einen rauheren Ton an.
„Ich will Dir was sagen: entweder Deine Eltern haben sich’s ordentlich überlegt, und haben sie nein gesagt, so bleibt’s dabei, wenn – –“
Die Gedanken ließen ihn im Stich, vielleicht auch die Widerstandskraft; er stieß murrende Laute des Unmuths aus, nahm die Hände des Mädchens unsanft von den Knieen und erhob sich. Auch Billa stand auf.
„Es bleibt dabei, Vater –?“
„Ja!“ rief er heftig zurück, denn er war bereits auf dem Wege nach der Saalthür.
Da stand sie – schlug die Hände vor das Gesicht – und ließ sie wieder hinab und starrte durch die Scheiben ein paar Sekunden in die Nebelluft, die schmalen blassen Hände zusammengepreßt.
„Gut!“ sagte sie zwischen den Zähnen und ging wieder aus der Stube in ihr Zimmer hinauf. Die Stickerei für Erich blieb in dem grünen Plüschsessel liegen und die Lichter aus dem Ofen liefen drauf hin und wieder.
„Die Billa ist rein des Teufels,“ berichtete Busse kopfschüttelnd nebenan bei der Hausfrau, halb lachend, halb aufgeregt; er hatte das Taschentuch aus seinem Flausrock gezogen und fuhr sich damit über das spärliche ergraute Haar auf der hohen lichten Stirn. „Hast Du’s hier verstanden? Ich habe mir nicht anders zu helfen gewußt, als daß ich davonging; ich glaube, ich wäre sonst herausgeplatzt und hätte uns den Spaß verdorben. Lotting, die kann einem noch mehr zusetzen als Du in Deinen besten Jahren; ihr Adolf kann sich auf was gefaßt machen.“
„Karl, sei nicht albern; Du hast Dich nicht zu beklagen gehabt. Was die Billa betrifft, so habe ich so ziemlich gehört, was Ihr zusammen gesprochen habt; aber ich hatte nicht Lust, mich drein zu mischen. Du weißt, daß ich über Billas Wünsche nie so schroff gedacht habe wie Du – da steh Du auch für Dich ein! Ich habe Dir immer gesagt: Billa ist ein leidenschaftliches Geschöpf, und man weiß nie, wozu ein solches Mädchen in der Verzweiflung fähig ist. Ich wollte, es wäre erst soweit, daß wir die beiden hier hätten, mir wird nicht wohl bis dahin.“
Busse lachte etwas gezwungen, während er zusah, wie die geschickten Hände der Gattin hier eine vergoldete Nuß, dort einen Zuckerkandis-Eiszapfen in die Zweige befestigten.
„Na weißt Du,“ meinte er endlich, „bis zum Abend wird sie’s wohl aushalten. Ins Wasser kann sie bei der Jahreszeit nicht gut gehen, und Gift und Pistolen hat sie, wie ich glaube, nicht oben.“
[873] „Mann – pfui!“ – einer der Eiszapfen fiel aus ihren unsicher gewordenen Fingern und zersplitterte auf der Diele – „versündige Dich nicht! Du kannst immer soviel väterliches Gefühl haben, daß Du einiges Mitleid mit Deiner einzigen Tochter empfindest! Danke Gott, daß Dich niemand im Leben so gequält hat, wie wir sie gequält haben! Jetzt geh mir ab!“
„Sei gut, Lotting –“ er hatte die sich Sträubende in den Arm genommen – „Du weißt ja, daß ich noch keiner von den Schlimmsten bin. Nun gieb mir ’mal ’nen Kuß auf Deine alten Tage!“
Billa war in ihrem niedlichen Mädchenstübchen angelangt. Da war alles so kattunbezogen licht und zart, so ganz Tand und Toilette, selbst die Goldschnittbibliothek in dem aufgehenkten Wandbrett.
Und doch – die arme Billa war sehr ernst. Nicht verzweifelt, nicht leidenschaftlich, nicht zu Thränen gestimmt: sie wußte nur, was sie thun wollte, und das andere lag hinter ihr.
„Halb vier wird’s dunkel,“ sagte sie zwischen den gepreßten Lippen. „Jetzt ist’s“ – sie zog ihre zierliche Golduhr – „halb elf. Das reicht. Um sechs geht der Zug – ich werde von der Station an Magda telegraphiren, daß sie mich abholt. Mit Erichs Zug wird sich der meine hinter Stresow kreuzen – ich will ihm eine Kußhand hinüber werfen. Ach Gott . . . “
Sie hielt wieder die Hände vor das Gesicht; nur Sekunden, dann war die weiche Empfindung vorüber. Sie entnahm mit energischer Bewegung dem Schranke Pelzjacke, den Bibermuff und das Barett – in einer Minute war sie Ausgehen fertig.
Sie stieg so leise wie möglich die Treppe wieder hinab – unbemerkt verließ sie das Haus. Sie vermied es, nach dem Fenster zu sehen, wo der Vater zu sitzen pflegte – nur rasch hinaus, in den bergenden Nebel. So, da war sie vorüber, auf dem gefegten und doch unterm Schritt knirschenden Trottoir. Sie sah nur soviel im Nebel, daß sie die Richtung innehalten konnte, nicht viel mehr. Ein paar Menschen, die ihr in der Stadt begegneten, kamen und entschwanden wie Schemen. Der Tannen- und Kuchengeruch aus den Häusern schien vor jedem festgelagert zu sein, so hielt ihn der Nebel. Sie hatte nicht sehr weit zu gehen – eine Seitengasse, und wieder eine Seitengasse. Dann mußte sie spähend von Haus zu Haus schreiten, um das niedrige graue Ding mit dem großen Dach und den rothbraunen Läden zu finden, das den alten Pötter beherbergte.
Pötter war Milchfuhrmann – er hatte lange Jahre die Milch aus Tempelwiese abgeholt; aber er besaß auch einen alten Kaleschwagen und einen Schlitten und fuhr jedermann nach der Bahn, der zahlte. Eine alte ehrliche Haut, vertraut mit den Tempelwieser Kindern – sehr phlegmatisch und langsam, aber gefällig und verschwiegen.
Nun hatte sie die Thür aufgeklinkt und stand in der Küche vor Pötters Ehehälfte. „He, du lieber Gott, Fräulein, das ist ja noch ’ne Ehre zu Heiligabend – suchen Sie meinen Mann? Der ist drin in der Stube; aber er raucht seine kurze Pfeife schon den ganzen Morgen, und das wird drin wohl noch ein ärgerer Dampf sein als draußen . . . Jochen, komm mal in die Küche, Bussens Fräulein ist hier!“
Das junge Mädchen stand bebend da und sagte nichts. Es hing alles davon ab, daß der alte Pötter sie heute fuhr. Langsam – langsam kamen die schweren Tritte zur Thür . . .
„Je ja, Fräulein, was thun Sie denn bei uns heute? Ist der Herr Bruder noch nicht da, daß ich ihn von der Bahn abholen soll?“
„Wohl, Alt-Pötting,“ sagte sie hastig, „Ihr sollt nach der Bahn fahren, aber – aber nicht ihn holen; Ihr sollt mich nachmittags bei Dunkelwerden hinfahren und dann wieder umkehren; es soll eine Ueberraschung geben,“ schloß sie, und es flog roth über ihr feines blasses Gesicht.
„’Ne Ueberraschung; ja, das will ich wohl thun, weil Sie’s sind, denn das ist heute kein Vergnügen, zu fahren. Dann muß ich aber den Schlitten nehmen, denn das ist ein schwer Fahren mit der alten Kutsche bei dem Schnee; ich habe nur ein Pferd davor. Wann soll denn das losgehen?“
„Um vier Uhr, denke ich.“
„Schön; soll ich denn draußen vor Ihrem Hause halten?“
„Nein, nein – ich warte am Ostthor. Welche Zeit ist es auf Eurer Uhr?“
„Da hängt sie –“ die Frau deutete auf die Schwarzwälder an der Küchenwand. Billa verglich die Zeit auf ihrer Uhr.
„Meine geht fünf Minuten vor. Fahrt punkt vier von hier ab, Pötting; wollt Ihr?“
„Ich werde schon dafür sorgen, Fräulein,“ nickte Frau Pötter. „Er ist all was langsam.“
„Dann adjüs! Ich verlasse mich drauf. Haltet vor Schneiders, damit wir uns im Nebel nicht verfehlen!“
Und draußen war sie, und die Frau Pötter sagte hinterher: „Nein, was das lütt Ding blaß aussah! Sie wird doch gesund sein? Ich weiß bloß nicht, wie sie die Decken all in den Schlitten schaffen will, wenn das ’ne Heimlichkeit sein soll. So kann sie doch nicht fahren! Ich will alle Tücher in den Schlitten thun und Deinen alten Pelz auch, Vatting.“
Billa ging nach Hause, das Herz wenigstens in diesem Punkt erleichtert. Der Vater saß richtig wieder am Fenster, aber er sah nicht heraus. Doch im Hausflur stieß sie auf die Mutter, und der fragende Blick derselben erregte ihr ein entsetzliches Herzklopfen.
„Ich habe noch Besorgungen, Mutter; wundere Dich nicht, wenn ich noch ein paar Gänge heute mache.“
Es war ihr gelungen, das scheinbar ruhig zu sagen. Dann stieg sie langsam – das Herz that ihr völlig weh, so pochte es – die Stufen hinauf. In dem warmen Stübchen oben preßte sie die Hand auf die Brust. O – – nun gab es sich schon. Sie legte ab, suchte auf dem Boden des Schrankes – da lag die Tasche, in der sie allenfalls das Nöthigste unterbringen konnte für die Reise. Koffer und Kisten mitnehmen, das ging ja jetzt nicht. Sie mußte sich in der Residenz einiges neu kaufen. Gott sei Dank, daß sie dort eine Pensionsfreundin besaß, die weder Vater noch Mutter, sondern nur ein Anstandsfräulein bei sich hatte! Und Gott sei Dank, daß sie eine sehr, sehr volle Sparbüchse ihr eigen nannte! Im übrigen kehrte Erich in die Residenz zurück, und mit ihm ließ sich im Nothfalle über weiteres reden.
„Zurück in das Elternhaus auf keinen Fall! Wenigstens nicht so . . . !“
Billa schloß die Tasche auf und packte – überlegte, wählte und packte wieder. Nur nichts Unnöthiges! Nur nichts, was man sich billig neu kaufen kann! Da ist die Sparkasse – gleich den ganzen Bettel eingepackt. Das Reisegeld ins Portemonnaie . . .
Sie öffnete das zierliche rothe Plüschtäschchen und nickte befriedigt.
Die Mittagsstunde war nahe, man aß bei Busses pünktlich um zwölf Uhr, eine Viertelstunde fehlte noch. Billa warf sich in den Schaukelstuhl und träumte – unruhig bewegte sie die Schaukel. Sie sprang auf, legte sich wieder in den Stuhl und träumte weiter. Ihr Mädchenkopf versuchte noch einmal auszudenken, wie ihre Zukunft sich gestalten sollte.
„Adolf muß sorgen. Er muß eine Stelle finden, auf der es wenigstens nicht unmöglich ist, auszukommen. Er ist ein so großer, kluger, tüchtiger Mensch. Weiter ist eigentlich nichts nöthig. Vielleicht geben die Eltern auch nach. Aber wenn [874] nicht – nun gut! Lieber alles leiden, als so zu Grunde gehen, mit dem blutenden wilden Herzen, mit den Aufregungen und schlaflosen Nächten.“
Was weiß ein so junges Geschöpf von Gesetzen und elterlichem Recht!
Billa wird gerufen und geht zu Tische hinunter. Sie erscheint gefaßt – blaß und still und wortkarg freilich, doch Vater Busse, der prüfende Seitenblicke auf sie wirft, ist befriedigt und zwinkert der Mutter höchst verschmitzt zu. Aber nur blitzartig kurz, dann legt er das Gesicht wieder in die ruhigen Falten wie ein rechter Komödiant. Die Mutter fragt Billa, ob sie ihr nachher etwas zurichten helfen will, allein Billa lehnt ruhig ab: sie hat noch soviel zu thun, um mit ihrer Bescherung fertig zu werden.
„Eine schöne Bescherung . . . !“ fällt ihr ein, und es zuckt fast wie der Anfang eines Lächelns um ihren Mund. Nur die großen braunen Augen bleiben gleichmüthig und trübe.
Sie wünscht „gesegnete Mahlzeit“ und geht – sie hat zuletzt wie auf Kohlen gesessen, so eilig hat sie’s. Und oben ist sie so müde – so abgespannt. Sie liegt eine halbe Stunde im Schaukelstuhl, in einer Art Halbschlaf.
Jetzt ist’s höchste Zeit! Sie muß noch einen Abschiedsbrief schreiben. Die Eltern müssen erfahren, was sie gethan hat, warum sie’s gethan . . . man darf nicht den ganzen Abend nach einer spurlos Verschwundenen suchen . . .
Die Aufregung, die sie mit widerstreitenden Empfindungen plötzlich wieder durchflammt, jagt sie auf. Da steht der nette kleine Vertraute ihrer Gedanken, ihrer Mädchenfreundschaften, ihrer Mädchengeheimnisse, so dünnbeinig mit dem schmächtigen Mahagonileibchen: ihr Schreibtisch – die bronzirte Feder mit der goldenen Schreibspitze darauf, und die Schreibmappe mit der Holzmalerei (eigene Pensionsarbeit) und dem Elfenbeinaufschlitzer . . . nun wohlan: ein letztes Schreiben wahrscheinlich an dieser von Erinnerungen geweihten Stätte. Sie schlägt hastig die Mappe auf, nimmt die Feder, taucht sie trotzig ein – und legt sie wieder hin und bricht in Weinen aus.
Nein – dieser Vater verdient es nicht, dieser Barbar! Eigentlich gelten diese Thränen auch allem möglichen . . . also tapfer schreiben! Und die Goldspitze fliegt nur so über das Papier. Der erste Bogen wird natürlich zerrissen, der zweite gleichfalls. Man darf sich gegen Eltern doch nicht gar zu weit von seiner Leidenschaftlichkeit hinreißen lassen!
Und nun Goldsand drauf, und nun fort! Ach du liebes, warmes, duftiges Zimmerchen im grauen Nebellicht . . .
Halt, noch eine Nachschrift!
„Adolf ist unschuldig an diesem Schritt und weiß vorläufig noch nichts davon. Ich will nicht, daß man ihn unschuldigerweise mit verantwortlich macht für das, was ich thue.“
Sie kleidet sich für die Fahrt an wie für einen Ausgang in die Stadt; dazwischen wischt sie sich die Augen ab – aber nun ist sie ganz entschlossen, ganz Trotz . . .
Ach, sie muß noch einmal umkehren. Sie hat ja vergessen, die Schreibtischschlüssel abzuziehen! So viele vertrauliche Mittheilungen von Freundinnen liegen in den Fächern dort, und sie hat nur ein paar Briefe von Adolf eingepackt. Aber vielleicht ist es besser, noch eine Nachschrift aufzusetzen:
„Ich hoffe, daß man meinen Schreibtisch verschlossen und die Briefe meiner Freundinnen ungelesen lassen wird. Von Adolf ist nichts darunter.“
Sie zündet mit einem plötzlichen Einfall noch die Lampe an, nachdem sie die letzten Zeilen geschrieben hat, fast ohne etwas davon zu sehen. Dann geht sie – leise – die Tasche in der Linken, mit der Rechten am Geländer tastend – niemand begegnet ihr.
Nun ist sie draußen im Nebel, in einer seltsamen Dämmerung, welche das umherirrende Schneelicht verursacht. Kein Blick nach den elterlichen Zimmern. Vor ihr glotzen fern und ferner ein paar verschleierte Feuerballen von Straßenlaternen. An der ersten schaut sie noch einmal auf die Uhr: schon ein paar Minuten über die Zeit . . .
Da hält Alt-Pötting; ein paar Glöckchen klingen.
„Na, Fräulein, dann kann das losgehen! Meine Frau hat vorgesorgt, daß Sie nicht frieren, weil Sie doch bei einer Ueberraschung nicht viel Sachen mitschleppen können. Nun wickeln Sie sich nur gut ein!“
„So, Pötting, nun zu!“
Und der klingelnde Schlitten schurrt in die Winternacht, in den Nebel hinaus.
Am elterlichen Grundstück wirft die Scheidende verstohlen eine Kußhand zu den hellen Fenstern hinüber und bückt sich dann tief auf ihren Muff herab.
Die Bismarckburg im Adeliland.
An der Sklavenküste von Westafrika liegt eingezwängt zwischen englischen und französischen Kolonien das deutsche Schutzgebiet Togo. Jetzt tritt seine Bedeutung gegen die anderen deutschen Kolonien zurück; das Togoland bildet ja nur einen schmalen Streifen mit etwa 40 Kilometern Küstenlinie. Vor einigen Jahren stand es jedoch im Vordergrund des Interesses. Hier war es, wo das Kriegsschiff „Sophie“ im Februar 1884 zum erstenmal an der westafrikanischen Küste deutsche Truppen zum Schutze deutscher Interessen landete; von hier brachte es Geiseln nach Deutschland und auf dieser Fahrt besuchte das Kriegsschiff auch die Ruinen von Gross-Friedrichsburg und brachte alte brandenburgische Feldschlangen nach Jahrhunderten in die Heimath zurück – es weckte Erinnerungen an koloniale Pläne aus alter Zeit – und damals kam auch die kolonialpolitische Bewegung in eigentlichen Fluß. Schon am 5. Juli 1884 wurde von dem kaiserlichen Kommissar Dr. Gustav Nachtigal in Togo die deutsche Flagge gehißt, dann folgten die Besitzergreifungen rasch auf einander, und Togo trat gegenüber Kamerun und Ostafrika in den Hintergrund.
Der Küstenstrich von Togo selbst ist auch wenig verlockend. Die „Städte“ liegen hier in der Nähe von Lagunen und Sümpfen, in denen das Malariagift brütet. Das Land soll zwar gesünder sein als andere Striche an der Guineaküste, jedenfalls aber kann der Europäer hier nur Handel treiben.
Noch zur Zeit der Besitzergreifung des Togolandes war dasselbe kaum auf die kurze Entfernung von einigen Kilometern landeinwärts bekannt. Jetzt ist das anders geworden. Im Auftrage des Reiches widmen sich die berühmten Forschungsreisenden Stabsarzt Dr. Wolf und Hauptmann v. François der Erforschung des Hinterlandes und sind bereits gegen 250 Kilometer von der Küste vorgedrungen.
Schon auf eine Entfernung von 60 bis 80 Kilometern ändert sich das Bild. Anstatt der sonst ansteigenden Ebene umfaßt den Reisenden eine Gebirgslandschaft, die von Südwest nach Nordost sich dahinzieht. Die Eingeborenen nennen sie „Obossum“, d. h. „Fetischberge“, außerdem trägt sie verschiedene Namen, welche den einzelnen Landschaften entlehnt sind, wie „Aposso“, „Kebu“, „Adeli“ etc. Das Klima ist hier sehr günstig; es regnet hier häufig auch außer der Regenzeit, und da auch der Boden vorzüglich ist, so prangen die abwechslungsreichen Formen des Gebirgs in einem wunderbar frischen Pflanzenwuchs. Die Kämme und die breiten Thalmulden sind von Savannen, dünn mit Bäumen bestandenen Grasebenen, bedeckt; auf den Abhängen und an den Flußläufen stehen breite Streifen Galeriewald. Nach der Schätzung von François ist ein Drittel des Gebirges mit Wald bedeckt, ein kleiner Theil ist unter Kultur und der Rest ist Savanne. Der Wald ist beachtenswerth, denn neben den zahlreichen Palmen findet sich prachtvolles nutzbares Ebenholz und unter den Schlingpflanzen die Kautschuk liefernde Liane (Landolphia) in solcher Menge, wie kaum an irgend einem anderen Orte in Afrika. In der Savanne dagegen begegnet man zahlreichen Büffelspuren, die anzudeuten scheinen, daß diese Grasfluren sich für Rindviehzucht eignen, während die Kulturen der Eingeborenen auf die Möglichkeit eines günstigen Plantagenbaus hinweisen.
In diese Gebirgsgegend führt uns das Bild Franz Leuschners ein. Wir sehen vor uns den Palaverplatz des berühmten Fetischortes Perëu im Adelilande. Bevor wir jedoch dieses Bild selbst erklären, möchten wir zunächst berichten, wie die Deutschen überhaupt nach dem Adeliland gekommen sind und dort eine „Burg“ gründeten.
Dr. E. Wolf, der ausgezeichnete Begleiter Wißmanns auf seinen Reisen zur Erforschung der südlichen Gebiete des Kongostaates, erhielt den Auftrag, im Hinterlande von Togo eine wissenschaftliche Station zu errichten. Auf seinem Zuge durch das Innere kam er Mitte Mai d. J. 1888 auch an die Grenzen des Adelilandes, welches durch seine Fetische in hohem Ansehen steht, und er hegte wenig Hoffnung, daß es ihm gelingen werde, den Durchmarsch durch diese geheiligten Stätten zu erzwingen. Die Häuptlinge machten die Erlaubniß von einem Orakel abhängig: ein Huhn sollte offenbaren, ob der Fremde als Freund oder als Feind komme. Vor einer großen Volksversammlung erschien der Fetischpriester und bestrich mit dem Huhn den Dolmetscher und Führer Wolfs, die als seine Stellvertreter galten. Beide mußten hierauf in den geöffneten Schnabel hineinspucken, um dem Thiere dadurch ihre und vor allem Wolfs [875] Gedanken und Absichten mitzutheilen. Dann durchschnitt der Fetischpriester dem Huhn die Kehle und warf es, während es noch zappelte und mit den Flügeln schlug, weit weg auf den Boden. Glücklicherweise fiel das Huhn auf den Rücken und verendete in dieser Lage, und der schwarze Augur verkündete nunmehr, daß, wie die Brust des Vogels frei da liege, ebenso die Brust der Weißen frei von Hintergedanken sei.
So wurde dem Deutschen der Einzug in das Adeliland gestattet, aber er war ein gewaltigerer „Medizinmann“ als alle die schwarzen Fetischpriester des Landes: er war ja Stabsarzt! Das sollte sich zum Vortheil der Expedition bald zeigen. Kontu, der mächtigste und einflußreichste Adelihäuptling, litt schwer an einer höchst schmerzhaften Regenbogenhautentzündung; Dr. Wolf hatte in seiner Apotheke auch Atropinblättchen mit und konnte den Häuptling in kurzer Zeit heilen. Noch herrschte aber in der Bevölkerung ein großes Mißtrauen gegen die Weißen, da wollte es der Zufall, daß Dr. Wolf das neugeborene Kind des Sohnes und Erben von Kontu, welches die Angehörigen bereits aufgegeben hatten, durch künstliche Athmung am Leben erhielt. Diese glücklichen Kuren verfehlten nicht ihre Wirkung; der Gründung einer Station stand nichts mehr im Wege. Zweiundeinhalb Kilometer nordöstlich von Jege, dem Residenzdorfe des Oberhäuptlings Kontu, erhebt sich 100 Meter über das Thal (etwa 710 m über den Meeresspiegel) der Hügel Adadó, der wie ein Kegel weit über das wellige Hügelland hinausschaut; dieser Hügel wurde Wolf überwiesen und auf ihm gründete er die befestigte Station, welche „Bismarckburg“ genannt wurde.
Hier schlug nun der Forscher sein Standquartier auf, und während Premierlieutenant Kling auf Expeditionen ging, um das Land weiter auszukundschaften, widmete sich der andere Begleiter Wolfs, Mechaniker Bugslag, der Anlage von Versuchspflanzungen. Ein Bericht Dr. Wolfs vom 11. April d. J. aus Bismarckburg äußert sich über die bereits erzielten Erträge sehr befriedigend; die Station wird sich halten können und zwar zum größten Nutzen des Landes.
In alten Zeiten hat wohl so mancher „Wolf“ auf hohen Bergen, die das Land beherrschten, seine Burg gebaut, und die Kaufleute, die später des Weges dahinzogen, wußten von dieser Burg ein gar schlimmes Lied zu singen. Anders reden schon heute die schwarzen Kaufleute von der Bismarckburg auf dem Adadóberge. Es giebt keine geschriebene Geschichte des Togolandes; aber wir kennen sie in großen Umrissen. Nicht ohne triftigen Grund führt der Küstenstrich, an dem Togoland liegt, den Namen „Sklavenküste“. Jahrhunderte lang herrschte hier der Menschenraub und durch ihn wurde das Land entvölkert, wurden die Bewohner auf eine tiefere Stufe der Kultur niedergedrückt. Es fehlen ihnen Gesetze, die staatliche Organisation steht auf der niedrigsten Stufe, selbst in den Urwäldern der Nebenflüsse des Kongo hatte Wolf solche „Wilde“ nicht gefunden wie hier im Togolande, schon einige Meilen weit von der Küste. Kein Wunder, daß die Handelskarawanen diese Gebiete mieden, daß auch das Adeliland, welches außerdem durch seinen Fetischkultus verrufen war, von den fremden Händlern nicht aufgesucht wurde. Das ist sofort nach der Gründung von Bismarckburg anders geworden. Der weiße Medizinmann hat keinen Gefallen an fortwährenden Fehden und er duldet sie auch nicht unter den benachbarten Stämmen; die Kaufleute fassen Vertrauen zu der Burg auf dem Adadó und man sieht bereits Anfänge des Verkehrs erblühen. Die Fremden werden jetzt freundlich empfangen; dies beweist unser Bild von Leuschner, wo wir unter dem Schatten eines Waldriesen Weiße und Schwarze im friedlichen Verkehr vor dem „Thore“ des Fetischortes Perëu, nur wenige Kilometer von der Bismarckburg entfernt, vereint sehen.
Es war im Herbst vorigen Jahres, da kam Dr. Henrici in Begleitung von Franz Leuschner nach dem Togolande, um im Auftrage der „Togo-Plantagen-Gesellschaft“ Land zu kaufen; er kam auch nach der Bismarckburg und der Burgherr machte ihn darauf aufmerksam, daß in Perëu eine berühmte Fetischpriesterin wohne, welche die Priester und Oberpriester in den verschiedenen Städten bestimme und bei jeder wichtigen Staatsangelegenheit gleich wie das delphische Orakel im alten Griechenland um Rath gefragt werde.
Sollte es Dr. Henrici gelingen, die Erlaubniß zu einem Besuch des angesehenen Weibes zu erhalten, so müßte auch sein Ansehen bei den Eingeborenen dadurch steigen. So beschloß Dr. Henrici, den Oberhäuptling von Perëu, der zugleich die priesterliche Oberhand hat, um diese Erlaubniß anzugehen.
Der Dolmetscher lud den Häuptling ein, die Weißen in ihrem Zelte zu besuchen. Derselbe erschien auch bald in Begleitung seines ersten und zweiten Ministers, und nachdem er den Wunsch des Fremdlings vernommen hatte, erklärte er sich bereit, denselben zu erfüllen, wenn es die Priester und die Unterhäuptlinge gestatten würden. Zu diesem Zwecke mußte ein „Palaver“ abgehalten werden.
Es ist unmöglich, das Wort „Palaver“, welches von dem portugiesischen parlare abstammen soll, zu verdeutschen. Palaver ist eine Sitzung: bald eine Rathsversammlung, bald eine Gerichtssitzung; alle wichtigeren Angelegenheiten werden im Palaver erledigt. Das Wort und die Sitte sind in ganz Westafrika verbreitet. Stanley kaufte den Grund für die ersten Stationen des Kongostaates im Palaver; Streitigkeiten unter einander werden von den Eingeborenen im Palaver erledigt und je nach dem Werth des zu leistenden Schadenersatzes nennt man die Sitzungen: „Frauen“-, „Schweine“- oder „Ziegen-Palaver“.
Unser Gouverneur in Kamerun hält auch viele Palaver ab, darunter auch Blutrachepalaver, denn viele Stämme rings um Kamerun haben dieselben Sitten wie die Korsikaner, was Ausübung der Rache anbelangt, und das Bestreben der Deutschen ist darauf gerichtet, milderen Sühnungsarten Geltung zu verschaffen.
Für den Reisenden, der rasch vorwärts marschieren möchte, sind die Palaver harte Geduldsproben. Der Neger kennt nicht den Werth der Zeit; er handelt beim Verkauf stundenlang um die geringste Kleinigkeit und dehnt auch durch das nichtigste Geschwätz das Palaver in die Länge. Dazu trägt schon die umständliche Art der Unterhaltung vieles bei, denn es schickt sich, daß bei jeder Frage und Antwort die übliche Begrüßungsformel wiederholt wird, wie z. B.: „Gott grüße Dich! Wie geht es Dir? Was machen Deine Frau, Deine Kinder, das Gesinde? Wie geht’s den Hühnern, Schafen, Ziegen etc.?“
Je wichtiger die Angelegenheit, je größer das Palaver ist, desto länger dauert es natürlich und mit desto mehr Geduld muß sich der Europäer wappnen.
So wurden auch Dr. Henrici und Franz Leuschner zum großen Palaver eingeladen. „Dicht bei dem Dorf,“ schreibt uns Leuschner, „unter einem uralten mächtigen Baumriesen war ein Kreis von bemosten großen Steinen gebildet, als Sitze für die am Palaver Betheiligten. Dort hatten auch diesmal die Häupter des Landes Platz genommen. In der Mitte der greise Häuptling mit Zipfelmütze und Hoheitsstab – ihm zur Seite die Minister und die Häuptlinge der benachbarten Dörfer. Dr. Henrici nahm, wie dies für europäische Reisende bei solchen Audienzen üblich ist, auf seinem Feldstuhle Platz.
Unser Dolmetscher, der europäische Kleidung trug, leitete stehend mit den üblichen Begrüßungsformeln das Palaver ein und trug unser Verlangen nochmals in aller Form vor. Nach allen möglichen Fragen, woher wir kämen, wohin wir wollten, wer und was wir wären, ertheilte man uns endlich, nachdem wir über eine Stunde uns auf unseren Feldstühlen umhergedrückt hatten, die Erlaubniß, die heilige Frau zu besuchen. Dieselbe wohnt in einer kleinen Hütte und ist zeitlebens an dieselbe gebunden, nie darf dieses unglückliche Wesen den Fuß über die Schwelle setzen; streng bewacht von verschnittenen Sklaven, vertrauert sie ihr Leben in einem elenden Lehmbau. Als wir ihr gemeldet wurden, erschien sie, ganz in Weiß gekleidet, an der Thür und reichte uns beiden die Hand. Die arme Gefangene lächelte uns traurig an, und nachdem wir ihr gesagt hatten, wer wir wären und daß wir gern ihre Freundschaft wünschten, drückte sie uns nochmals innig die Hand und sagte, daß sie stets bei Gott für uns bitten wolle. Damit war der Besuch beendet, und so kurz derselbe auch war, hat er doch für uns große Bedeutung erlangt; denn unsere Träger, welche die Begrüßung von weitem sahen, erzählten überall, wohin wir kamen, wie freundlich wir von der Priesterin aufgenommen worden seien. Und wenn uns irgend etwas ungelegen kam, drohten wir mit der Fetischfrau – das half.“
Das Togoland ist überhaupt sehr reich mit Fetischen gesegnet; die kleinen Hütten dieser Götzen sind mit allerhand Flittertand ausgeschmückt, selbst altes Zeitungspapier wird dazu verwendet. Die Puppen selbst sind aus rothem Thon zusammengeklebt und mit Lumpen bekleidet; von der Farbe abgesehen, gleichen sie unseren Schneemännern.
Außer mit „Tempeln“ ist das ganze Land dicht mit heiligen Plätzen besäet.
Es giebt hier heilige Bäume und heilige Wälder, wie auch der an den Palaverplatz auf unserem Bilde anstoßende Wald geheiligt ist, heilige Berge und selbst heiliges Gras! Dem Fremden ist diese Menge Heiligthümer sehr unerwünscht; denn er muß auf Schritt und Tritt befürchten, daß er unabsichtlich die heiligen Stellen betritt und dadurch die Eingeborenen gegen sich aufbringt. Welche Hindernisse für den Verkehr das Fetischwesen mit sich bringt, das beweist uns ein heiteres Erlebniß Hugo Zöllers, welcher die in der Nähe von Deutsch-Togo gelegene Fetischstadt Be besucht hat. Be ist dem Sternschnuppen- und Kriegsgotte Njikpla geweiht, dem mächtigsten aller Untergötter, den die Neger sich zu Pferde sitzend und in europäischer Kleidung vorstellen. Njikpla muß aber wohl auf sein Reiten und seine Kleidung besonders stolz sein, denn er duldet dergleichen an keinem, der die ihm geweihten Städte besuchen will. Wer sich in europäischer Kleidung nach Be hineinschliche, würde, falls er lebend und ohne Mißhandlungen davonkäme, sich dennoch mit schweren Geldopfern loskaufen müssen. Vor der Bestadt hielt auch Zöller mit seinen Begleitern ein längeres Palaver ab, das er treffend ein „Hosenpalaver“ nannte, denn es wurde in diesem ausgemacht, daß die Europäer die Hosen anbehalten dürften. „Röcke, Westen und Hemden wurden in die zwei Hängematten verpackt,“ schreibt Zöller, „und bloß mit Schuhwerk, Hose, Helm und einem um die Schultern geschlagenen Negertuch setzten wir den Marsch fort, gefolgt von der stattlichen Schar unserer die Gewehre tragenden und die Pferde am Zaume führenden Kruleute.“
Trotz dieses „Opfers“ wurde ihm dennoch nicht gestattet, bis in das Allerheiligste zu dringen und dem Sternschnuppengott ins Angesicht zu schauen.
„Europäischen Damen,“ fügt er hinzu, „dürfte der Besuch dieses Ortes kaum möglich sein, da die Fetischpriester und Häuptlinge mir auf meine Anfrage ganz bestimmt erklärten, daß sie, ohne den Zorn des Fetischs und des Volkes zu reizen, zwischen Herren und Damen keinen Unterschied zu machen vermöchten.“
Im Hinterlande von Togo hat der Islam fast gar keine Anhänger; die Bewohner stecken noch im Heidenthum. Für die Zukunft unserer Kolonie ist dies kein schlimmes Zeichen; im Gegentheil, der Heide dürfte sich bildsamer erweisen als der Moslim. Bis jetzt haben die Missionare an der Togoküste keine besonderen Erfolge zu verzeichnen gehabt. Ihre Zeit wird erst kommen, wenn andere ihnen den Weg gebahnt haben. Und einer dieser Bahnbrecher ist gewiß der Kommandant der Bismarckburg.
Möge ihm, dem Missionar der Kultur, sein schwieriges Werk gelingen und die Burg auf dem Adadó der Stützpunkt des Friedens und der Ausgangspunkt eines neuen Lebens für das Adeliland werden. *
Blätter und Blüthen.
Geschenkwerke für den Familientisch. II. Gehen wir über auf die Litteratur der Prachtwerke, so sind einige wirklich prächtige und für Weihnachtsgeschenke vortrefflich geeignete Erscheinungen zu verzeichnen. Den Reigen eröffne ein Werk ganz eigener Art, die „Hohenzollernsche Hauschronik“, welche die Verlagshandlung von E. S. Mittler und Sohn in Berlin zur Feier ihres hundertjährigen Bestehens herausgegeben hat. Sie vereinigt 22 Bildnisse hohenzollernscher Herrscher vom Großen Kurfürsten bis auf Kaiser Wilhelm II. in Heliogravüre-Nachbildungen nach Gemälden in den königlichen Schlössern zu Berlin und Potsdam, während der Text in einem nach den Tagen des Jahres geordneten Verzeichnisse der hervorragenden Begebenheiten aus der Geschichte der Hohenzollern und Preußens besteht. Einen besonderen Anreiz giebt das Buch dadurch, daß es dem Besitzer Gelegenheit bietet, weitere, selbsterlebte Ereignisse handschriftlich nachzutragen. – Aus dem Verlage der „Photographischen Gesellschaft“ zu Berlin entstammt die Sammlung „Bildernovellen“. Ist sonst die Novelle das erste, und die Abbildung das zweite, so verhält es sich hier umgekehrt. Phantasievolle Dichtergeister wie A. Godin, Sophie Kaulbach, J. Lohmeyer, Julie Ludwig, Mileto Rhazi, A. Niemann, Frida Schanz, Bertha v. Suttner und Konrad Telmann haben es unternommen, zu novellistisch anregenden Gemälden die ausdeutende Erzählung zu gestalten. – Unter dem Titel „Kirchweih“ hat Konrad Dreher eine Reihe von Gedichten in oberbayerischer Mundart zusammengestellt (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt), die von einem köstlichen Humor durchweht sind. Vollkommen geistesverwandt sind aber auch die prächtigen Gestalten, welche die ersten Münchener Künstler dazu gezeichnet haben. – Von dem Erscheinen des „Deutschen Fürstenbuches“ von Anton Ohorn (Leipzig, Rengersche Buchhandlung) haben wir unseren Lesern schon einmal Kenntniß gegeben. Dasselbe ist jetzt abgeschlossen und hat ein wirklich stattliches Buch gegeben. 28 deutsche Fürsten, meist heute noch regierende, sind darin in guten Lichtdrucken abgebildet und kundige Männer aus den einzelnen Staaten haben die biographischen Geleitsworte geliefert. – Ein anschaulicher Führer durch das Leben des Fürsten Bismarck ist das Werk von Feodor v. Köppen „Der deutsche Reichskanzler und die Stätten seines Wirkens“ (Leipzig, Adolf Titze), eine willkommene Ergänzung zu den rein geschichtlichen Biographien.
Als genauer Kenner und warmherziger Verehrer der österreichisch-ungarischen Armee hat sich Alphons Danzer im vorigen Jahre (vergl. S. 386) bei den Lesern der „Gartenlaube“ eingeführt. Aus seiner Feder ist nun eine den „Völkern Oesterreich-Ungarns in Waffen“ gewidmete, ausführliche Darstellung geflossen, die den Titel „Unter den Fahnen“ führt (Prag, F. Tempsky). Jeder, der für militärisches Wesen und im besonderen für die Armee Oesterreich-Ungarns Sinn und Liebe besitzt, wird an diesem gediegen ausgestatteten, mit vielen Abbildungen nach Zeichnungen des Freiherrn v. Myrbach gezierten Buche seine herzliche Freude haben.
Echte Berliner – Eingeweihte werden sogar ganz bestimmte Porträts erkennen – schildert der bekannte flotte Zeichner C. W. Allers in seinem Werke „Spreeathener“ (Breslau, C. T. Wiskott), ein Geschenk, das für alle Freunde und Kenner unserer Reichshauptstadt einen besonderen Reiz haben dürfte. – Eine künstlerische Veröffentlichung, auf die wir die Leser der „Gartenlaube“ schon mehrfach hingewiesen haben, sind die reizenden Blätter „Aus Studienmappen deutscher Meister“, herausgegeben von Julius Lohmeyer (ebenda). Den schon früher erschienenen Mappen von Knaus, Defregger, Menzel und Geselschap haben sich jetzt zwei weitere mit Studien von Werner Schuch, dem bekannten Schilderer wilden Kriegs- und Reiterlebens, und von Eduard Grützner, dem humorvollen Freunde der Mönche und der Jäger, angereiht. – Eduard Grützner leitet uns hinüber zu der „Münchener bunten Mappe“ (München, Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft, vormals Friedrich Bruckmann), auf deren erster Seite er uns in der Person des Klostergärtners Anselmus begrüßt. Es ist in des Wortes verwegenster Bedeutung eine bunte Mappe, aus der uns Ernst und Scherz in Bild und Wort anmuthig wechselnd entgegenwinkt.
Auf den Humor beschränkt sich ein Photogravüre-Prachtwerk aus dem Verlage der „Photographischen Gesellschaft“ zu Berlin. Es betitelt sich „Künstler-Humor“ und bringt Dichtungen von Blüthgen, Fulda, Lohmeyer u. a. zu Bildern von Brütt, Grützner, Knaus, Vautier u. a. Insbesondere die Namen der bildenden Künstler zeigen uns, daß sich hier in der That Meister des lustigen Humors zusammengefunden haben.
Das Volksfestspieltheater in Worms. Zu dem 1881 erbauten Paulusmuseum mit seinen Alterthumsschätzen und dem wenige Jahre später aufgeführten neuen Rathhaus ist jetzt in der ehemaligen Freien Reichsstadt Worms ein weiterer bedeutungsvoller und von der Blüthe der Stadt zeugender Bau erstanden, das Volksfestspieltheater, das am 20. November d. J. mit einem eigens zu diesem Zwecke gedichteten Festschauspiel „Drei Jahrhunderte am Rhein“ von Hans Herrig eröffnet wurde. – Das Volksfestspieltheater, in der Nähe des großartigen Domes auf dem sogenannten Bergkloster gelegen, erscheint als ein stattlicher Bau in romanischem Stil und besteht aus zwei Theilen, dem eigentlichen Theater, einem Rundbau mit mächtiger Kuppel, und dem Festhaussaalbau mit kleiner Bühne.
Der ganze Bau ist, was die Ausschmückung des Aeußern anlangt, einfach, doch sehr würdig gehalten, reicher behandelt jedoch der über 1000 Personen fassende, große und helle Zuschauerraum. Die Bühne besteht aus Vorder- und Hinterbühne, von denen die erstere ohne Dekorationen, die letztere mit einfarbiger Draperie versehen ist. Für gewöhnliche Schauspiele wird nur die Hinterbühne, die durch einen Vorhang von der Vorderbühne getrennt ist, benutzt werden.
Die Eröffnungsvorstellung, unter Betheiligung von 171 Spielgenossen aus der Wormser Bürgerschaft und unter Leitung von berufenen Fachkünstlern, ließ den idealen Zug, der dieser fast ganz aus freiwilligen Beiträgen kunstsinniger Bürger erstandenen Festspielstätte eine eigene Weihe giebt, erfreulich hervortreten und berechtigt zu schönen Hoffnungen für die Zukunft. **
Inhalt: Eine Erscheinung. Hinterlassene Erzählung von Fanny Lewald (Fortsetzung). S. 857. – Verwaist. Illustration. S. 857. – Aus eiserner Zeit. Von Dr. H. Ellermann. S. 864. Mit Illustrationen S. 864, 865, 866 und 867. – Noch einmal auf den Spuren des Weihnachtsbaums. Von Alexander Tille. S. 867. – Der Schneemann. Illustration. S. 869. – Am Grabe des Jahres. Gedicht. Von Max Hartung. S. 870. – Ueberraschungen. Eine Weihnachtserzählung von Victor Blüthgen. S. 871. Mit Illustrationen S 871, 872 und 873. – Die Bismarckburg im Adeliland. S. 874. Mit Illustration S. 860 und 861. – Blätter und Blüthen: Geschenkwerke für den Familientisch. II. S. 876 – Das Volksfestspieltheater in Worms. Mit Abbildung. S. 876.
Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen Reichspostamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig).
Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.
- ↑ Nach anderer Ansicht freilich wäre er beim Versuch, sich durchzuschlagen, in die Hände der bayerischen Knechte gefallen.
- ↑ F. A. Reuß, „Kleine Beiträge. Jahresbericht für den historischen Verein für Mittelfranken.“ 1859. S. 95.
- ↑ Bl. CIIa. Von dem weihennachttag.
- ↑ Weihnachten, S. 141 f.
- ↑ Baumkultus der Germanen, S. 242.
- ↑ Die Worte in Antiquadruck sind vom Verfasser ergänzt. Die Stelle ist völlig unleserlich. Darauf folgt ein Absatz, der nicht mehr dazu gehört.
- ↑ Leipziger Ztg. 1888. Nr. 300. H. Ludwig, der Weihnachtsbaum im alten Straßburg.
- ↑ Von Dr. Lange in Niederolm bei Mainz.
- ↑ Dieselbe erschien als akademische Schrift, primitiae academicae, also wohl als Habilitationsschrift eines jungen Privatdocenten, 1737 bei Ephraim Gottlob Eichsfeld in Wittenberg, nachdem sie am 18. Februar d. J. in der Universität öffentlich vorgetragen worden war. Der eigenliche Titel ist: „De muneribus, quae propter diem natalem servatoris nostri dari solent“. Verf. benutzte das Exemplar der Universitätsbibliothek zu Leipzig.
- ↑ Schillers Brief an Lotte von Lengefeld, „Gartenlaube“ 1888, S. 831.
- ↑ Mitgetheilt von Dr. Wilh. Schmidt, Vorstand des Kupferstichkabinetts zu München.
- ↑ Albrecht Adams Selbstbiographie, herausgegeben von Holland, S. 23.
- ↑ Die im vorjährigen Aufsatze vom Verf. herangezogene ,,angebundene Christrutte“ hat mit dem Weihnachtsbaum nichts zu thun. Aus Prätorius’ und Kißlings Angaben ergiebt sich vielmehr mit völliger Sicherheit, daß sie als etwas zu betrachten ist, „das da mit zu lere, gehorsam und disciplin gehöret“.