Die Gartenlaube (1889)/Heft 5
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No. 5. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Lore von Tollen. |
Nachdruck verboten. Alle Rechte vorbehalten. | |
(Fortsetzung.) | Roman von W. Heimburg. |
Käthe lief, wie verfolgt, durch das Gärtchen auf die Straße hinaus. Erst als sie in der Thorgasse war, ging sie ruhiger, aber das Buch brannte wie Feuer in ihrer Hand. Unter einer Laterne zur Seite des Fahrdammes blieb sie stehen und betrachtete das Packet. Es war mit einem Siegel zugedrückt und mit Bindfaden umwunden. Ein eisiger Zug legte sich um ihren Mund und ließ das junge Gesicht um Jahre älter erscheinen, ihre Finger zuckten, als müsse sie das Siegel erbrechen, aber sie unterließ es. „Unverschämt!“ flüsterte sie, weiterschreitend mit verdoppelter Hast. Ungestüm trat sie in die Thür des väterlichen Hauses, und als sie Lores Stimme aus der Küche hörte, stand sie im nächsten Augenblick vor der Schwester, die am Herd beschäftigt war, des Vaters Abendsuppe zu bereiten.
„Hier!“ sagte sie fast heiser und hielt Lore das Packet entgegen, „da ist das Buch.“
„Welches Buch?“ klang es überrascht zurück.
„Nun, das vom Doktor Schönberg, thue doch nicht so verwundert; nimm es, ich habe keine Lust, es Dir noch länger hinzuhalten.“
Lore hob die Kasserole vom offenen Feuer, in der die Wassersuppe am Ueberschäumen war, und ergriff erst dann das Packet. Käthe schlug die Arme in einander und beobachtete, wie die Schwester, am Küchentisch vor der kleinen Petroleumlampe stehend, die Kordel löste und aus dem Umschlag ein Buch nahm. Als sie es öffnete, flog ein Streifchen Papier hernieder, ohne daß sie es bemerkte.
Käthe rührte sich nicht.
Lore schüttelte den Kopf. „Ein griechisches Wörterbuch? Käthe, das ist wohl ein Irrthum!“
Das junge Mädchen lachte laut auf. „Der Kommentar liegt zu Deinen Füßen, Lore!“ rief sie; „Schönberg besitzt wahrscheinlich keinen Schimmer, daß Du so schwer kapirst, sonst hätte er vielleicht außen auf dem Päckchen bemerkt: ‚Einliegend ein Billetdoux!‘“
Lore hatte sich rasch gebückt und das Zettelchen aufgehoben, sie las es, roth erglüht:
„Ich konnte Dich nicht treffen heute, Lore, und mich verlangt es, Dich zu sehen. Ich muß mit Dir verabreden, wann ich mit Deinem Vater sprechen darf; so ertrage ich es nicht länger. Entschließe Dich, komme heut abend nach Tische zu meiner Mutter, ich habe ihr alles anvertraut. Ich muß Abschied von Dir nehmen für acht lange Tage; eben fand ich einen Brief vor, der mich nach M. ruft. Wenn Du mich liebst, Lore, so erfülle meine Bitte.“
Sie stand noch immer, den Kopf geneigt, mit sinnendem Ausdruck in ihrem schönen Gesichte. Würde es sich thun lassen heute abend? Aber, es war ja keine
[70] Frage – sie mußte, mußte ihn sprechen, zumal er fortging. Sie wollte sich geborgen wissen gegenüber den Beckerschen Zudringlichkeiten, schlimmstenfalls ging sie heimlich.
Ein bitteres Schluchzen ließ sie aufschauen. „Aber Käthe, warum weinst Du?“ fragte sie.
„O Du!“ stieß das junge Mädchen hervor mit zornfunkelnden Augen, „Du – geh’, Du bist schlecht, Du hast ein heimliches Liebesverhältniß; Du betrügst den Vater und die Mutter, Du hast Dich weggeworfen –“
Lore goß ruhig die Suppe in die große Mundtasse des Hausherrn, und indem sie sich anschickte, die Küche zu verlassen, sagte sie sanft. „Komm, Käthe, der Vater wartet auf sein Abendessen, nachher will ich Dir antworten.“ Sie stieg mit der dampfenden Tasse die Treppe hinauf und trat dann in das Zimmer des alten Herrn.
Er saß im Lehnstuhl am Ofen und rauchte wie immer. „Ihr habt wohl das Mehl erst mahlen lassen?“ begrüßte er die Tochter, „Pünktlichkeit giebts gar nicht mehr. – Wo ist denn Mama?“
„Die sitzt noch unten im Salon bei Tante Melitta, Frau Becker ist vorhin fort – –“
„Was will denn das Weibervolk eigentlich? Die alte Beckern habe ich ja bis hier herauf kreischen gehört!“
„Sie wollte sich erkundigen, ob mir der Ball gut bekommen sei,“ erwiderte Lore achselzuckend.
Der Major, der eben getrunken, wischte sich den Schnurrbart und lachte. „ Alte Katze – gelt, Lore?“
„Ja, Papa!“
„Und so’n Pack hat Moses und die Propheten und kann’s nicht mal cavalierement anwenden! Unsereiner saugt Hungerpfoten! Mit dem Reglement da oben kann’s nicht stimmen, Lore, sonst steckte dieser Kerl, der Adalbert, auf der Regimentskammer und machte Kommißstiebeln – he, Lore? Oder gefällt er Dir etwa?“
Sie strich zärtlich mit der Hand über seine unrasirte Wange. „Guter Papa!“ sagte sie.
„Lore!“ rief Frau von Tollens Stimme.
Die Tochter eilte nach der Thür: „Gleich, Mama!“
„Tante Melitta bleibt zum Abend,“ scholl es herauf, „siede doch ein paar Eier!“
Sie lief bestürzt die Treppe hinunter. Das war dumm von Tante Melitta!
„Aber weich, Kind, pflaumenweich!“ rief das alte Fräulein ihr zu.
Als Lore nach ein paar Minuten mit dem Gewünschten in das kleine Eßzimmer trat, fand sie Mutter, Tante und Schwester bereits dort sitzend, Rudis Platz neben dem ihrigen war leer, der Major pflegte ja immer die Abendmahlzeit in seiner Stube zu nehmen. Fräulein Melitta war entsetzlich redselig, sie wandte sich beständig an Lore.
„Ich sagte eben zu Deiner Mutter, Lorchen, daß man doch nie vorschnell urtheilen soll. – Diese Frau Becker ist so eine charmante Frau, eine wirkliche Dame, Lorchen.“
„Sie zieht sich wenigstens beinahe so an, als wäre sie eine,“ bemerkte Käthe.
„Käthe, ich muß bitten, daß Du etwas zurückhaltender bist mit Deinem noch sehr unreifen Urtheil,“ schalt Tante Melitta, und ihre Löckchen geriethen in zitternde Bewegung, „übrigens spreche ich nicht zu Dir, sondern zu Lore.“
„Lore fehlt heute die Zeit, über Frau Becker nachzudenken,“ erwiderte Käthe und hieb mit dem Messerchen gegen ein Ei, „gelt, Lore? Wir haben nachher noch Geheimnisse mit einander – wegen Papas Geburtstag.“
„Nach dem Essen hoffentlich?“ fragte die Mutter.
„Ja, Mama.“
Lore warf ihrer jungen Schwester einen dankbaren Blick zu, aber die sah an ihr vorüber, als sei sie Luft.
„Ich habe wirklich selten so etwas Geschmackvolles gesehen wie die Beckersche Einrichtung,“ hub Tante Melitta wieder an. „Denke Dir, liebste Marie,“ wendete sie sich an die Schwägerin, „der Salon pensee Sammet, und das Boudoirchen nebenan maisgelber Atlas mit Blumen durchwirkt – ein entzückender Effekt! Ich dekorire die nächste Puppenstube so – die Frau Becker erklärt übrigens, daß die oberen Räume, die ihr Sohn theilweise jetzt schon bewohne, und die er ganz einrichten werde, wenn er sich verheiratet, noch viel schöner seien. Die Braut, die sich Adalbert einmal aussucht, hat wirklich nur nöthig, etwas Leibwäsche mitzubringen, für alles andere ist bereits gesorgt.“
„Nur nicht für anständige Gesinnungen,“ murmelte Käthe, zum Glück so leise, daß die Tante es nicht verstand und fragen mußte, was das Fräulein gemeint habe. „O, nichts!“ erwiderte diese, „ich sprach nur so mit mir selbst, das ist eine Angewohnheit von mir.“
„Ja, und Adalbert Becker erzählte mir gestern, er würde die Hochzeitsreise nur nach Italien machen; er war schon öfter dort in dem Lande, wo die Citronen blühen, ‚dahin, dahin‘ – – Lore, wie heißt es doch? – ‚möcht’ ich mit Dir, o mein Geliebter, ziehn!‘ Der selige Kiebitz sang es so schön –“
Lore erhob sich plötzlich. „Du erlaubst doch, Mama?“
„Ja, aber kommt bald wieder, Papa will eine Partie Whist machen, da Tante gerade hier ist, paßt sich das gut, wenn Du mitspielst.“
„Mama – –!“ stotterte Lore.
„Geh’ nur rasch, Kind, Papa wird so leicht ungeduldig, weißt Du.“
Lore, der die Schwester folgte, lief durch den dunklen Flur in den sogenannten Salon, der gegenüber dem Eßstübchen lag. Es war ein sehr einfaches Zimmer, das die Petroleumlampe spärlich erhellte, die noch – unerhörte Verschwendung – auf dem Tische brannte, an dem vorhin die Damen mit Frau Becker gesessen hatten. – So dürftig das Ganze und doch mit dem unverkennbaren Streben geordnet, daß es dem Besucher einen behaglichen Eindruck machen solle. Die Nußbaummöbel halb erblindet, ein unmoderner Spiegel mit schrecklich geschmacklosem Goldrahmen über dem Pfeilertischchen zwischen den Tüllgardinen, davor die Stutzuhr, die schon lange nicht mehr gehen wollte. Ein großblumiger Teppich vor dem Sofa, rechts und links ein Fauteuil; ein alter gestickter Ofenschirm; ein Silberschränkchen, auf dem eine Alabasterschale stand, die schon hie und da angeleimtes Rankenwerk zeigte, und ein Schreibtischchen, ein recht unnützes Möbel, bedeckt mit kleinen Nippes aus besseren Tagen, als die Hausfrau noch jung und schön war.
Dort sank Lore auf den Stuhl. „Käthe,“ rief sie, „Du mußt mir helfen!“
„Nein!“ erklärte der Trotzkopf.
„Aber Du weißt ja gar nicht – –“
„Ich will es auch nicht wissen!“
„Käthe!“ Lore trat mit gefalteten Händen vor sie hin, „wir haben uns doch immer gut vertragen – ich habe ihn so lieb, Käthe – hilf mir!“
Ueber das Gesicht der jungen Schwester zog eine Leichenblässe. „Du wirst doch nicht so dumme Vorurtheile haben, Käthe, daß wir etwa nicht für einander passen, weil ich zufällig Lore von Tollen heiße, und er – Ernst Schönberg? – Käthe, er ist ein so lieber prächtiger Mensch, Du hast ihn ja auch gern –“
„Nein!“ stieß Käthe hervor.
„Ich muß ihn sprechen, heute abend noch,“ sagte Lore, in einen andern Ton übergehend. „Wenn Du mir nicht helfen willst, so helfe ich mir allein, ich bitte Dich nur um Diskretion.“
„Selbstverständlich!“ erwiderte die Schwester mit gekräuselter Oberlippe.
„Lore! Lore!“ scholl es draußen, „Papa wartet!“ „Käthe,“ flehte das jsunge Mädchen, „ich kann doch nicht fort! Ich bitte Dich – Dich wird niemand vermissen – lauf’ Du zur Frau Pastor Schönberg, sag’, daß ich nicht kommen könnte, mit dem besten Willen nicht –“
„In drei Deibels Namen!“ schrie der alte Herr jetzt mit Donnerstimme über das Treppengeländer, „wo bleibst Du denn? Ist’s gefällig?“
Lore flog zur Thür. „Gleich, Papa, augenblicklich! – Käthe, um Gotteswillen, geh’! Sag’, ich würde morgen früh um halb acht Uhr auf dem Bahnhof sein. Es ist ja gleichgültig, ob uns jemand dort sieht; ich bitte Dich, Käthe, wenn Du mich lieb hast, so geh’! mein Lebelang will ich Dir danken; – sag’, er soll sich nicht sorgen – –“
Sie hatte Thränen der Angst im Auge.
„Ja doch!“ murmelte Käthe, und wie gejagt lief Lore hinauf.
[71] Käthe wickelte sich wirklich in ein Tuch und schlich aus dem Hause. Sie wußte, sie wurde nicht vermißt; man dachte sicher, daß sie ihre schriftlichen Aufgaben arbeite. Es war ein stockfinsterer, stürmischer Abend, die Laternen über der Straße schwankten im Winde. Das junge Mädchen ging sehr schnell, sie wußte selbst kaum, daß sie beinahe lief. Es brannte ihr im Kopf und Herzen, die ganze Welt schien sich mit ihr zu drehen, es war ihr so beklommen, so weh zu Muthe, und doch war sie zornig. Sie dachte, welch eine Wohlthat es sein müsse, könnte sie die Lore am Arme packen, sie schütteln und ihr ins Gesicht schreien. „Du Schlange, Du Verrätherin!“ – Sie ging erst langsamer, als sie sich der Gartenthür des Schönbergschen Grundstücks näherte, sie tastete in der Finsterniß – hier vor dem Thore brannte nirgends eine Laterne – nach der Klinke und ihre Augen suchten den schmalen Lichtstreif hinter den Läden der Frau Pastorin. Oben in seinem Zimmer war es dunkel. Auf einmal fühlte sie sich an der Hand ergriffen und im nächsten Augenblick hatte sie ein Arm umfaßt und ein Kuß drückte sich auf ihre Lippen.
„Lore! Lore! Gott sei Dank, daß Du kommst!“ flüsterte eine leidenschaftliche Stimme.
Sie war völlig schwindlig in diesem Augenblick, sie hatte nicht die Kraft, ein Wort hervorzubringen. Erst als er jetzt ihre Stirn küßte und ihre Hand, und sie wieder „Lore, meine Lore!“ nannte, machte sie sich los aus seinen Armen und stieß ihn zurück.
„Ich bin’s ja!“ rief sie klanglos, „die Käthe. Lore kann nicht kommen.“
Einen Moment blieb es still. „Käthe?“ klang es in ihr Ohr, enttäuscht und ärgerlich.
„Ich kann nichts dafür,“ murmelte sie und brach in Schluchzen aus.
„Nein! Nein! Entschuldigen Sie nur, Fräulein Käthe! – Lore beichtete Ihnen hoffentlich. Aber wollen Sie nicht eintreten?“ Das klang wieder, als stehe er auf dem Katheder, so kühl und besonnen.
In diesem Augenblick öffnete sich die Hausthür, Lichtschein fiel aus dem Dunkeln und einer Silhouette gleich trat die kleine Gestalt der Frau Pastorin in den Rahmen der Thür. „Ist mein Töchterchen da?“ fragte sie leise und freundlich.
„Nein, Mutter, es ist Fräulein Käthe.“
„Wollen Sie nicht hereinkommen?“ wiederholte die alte Frau die Bitte des Sohnes.
„Nein, ich kann nicht, ich will nicht –“ flüsterte das Mädchen, zurücktretend, „ich soll nur einfach bestellen, daß Lore nicht kommen konnte, sie muß Whist spielen mit Papa und Tante, sie würde aber, wenn möglich, am Bahnhofe sein, oder schreiben.“
„Es war wirklich so ganz unmöglich?“ fragte er bitter.
Sie zuckte die Schultern: „Lore sagt’s ja! – Lore ist feig,“ flüsterte sie leidenschaftlich, „wenn ich – ich es gewesen – gute Nacht!“
Sie war plötzlich in der Dunkelheit verschwunden. Als er ihr nacheilte bis zum Thor, vermochte er keine Spur mehr von ihr in der einsamen, schwach erhellten Straße zu erblicken.
„Mag der Irrwisch laufen, was sollte ihr auch in Westenberg passiren?“ murmelte er und ging verstimmt zurück. Ja, Lore hätte kommen müssen, meinte er, sie hätte Mittel und Wege finden müssen, wozu Rücksichten nehmen, wenn es sich um das Glück zweier Menschen handelt. War es nicht ein kleinlicher Zug? – Er stand mit blassem Gesicht vor der Mutter.
„Nun, nun,“ tröstete die alte Frau und setzte die Kuchentellerchen und Theetassen bedächtig wieder in den Glasschrank, die sie zur Bewirthung des Gastes hervorgenommen. „Das sind Liebesleiden, gieb Dich zufrieden, mein Jung, es kommt noch besser!“
Lore saß mit den Karten in der Hand am Whisttische und horchte auf jeden Schritt, der von der Straße herauf erscholl.
„Zum Tausendsapperment! So paß auf!“ schrie der Major, der ihr Aide war. „Ich hab’ Pique angezeigt. Das ist ja um zu verzweifeln, wie Du spielst!“
Sie sah ihn verständnißlos an.
„Da kommt Käthe die Treppe herauf,“ sagte Fräulein Melitta, und stach über; „danke, Lore, Ihr werdet Schlemm.“
„Mag der Deibel spielen!“ schrie der alte Herr zornig und warf die Karten auf den Tisch. „Ich nehme den Strohmann.“
Das Mädchen stand hastig auf und ging der Thür zu.
„Hierher!“ donnerte der Major ihr nach, „hingesetzt und aufgepaßt! Wie willst Du es sonst kapiren?“
Sie kam gehorsam zurück und saß vor den aufgedeckten Karten wie ein Wachsbild. Hie und da richtete der alte Herr eine Frage an sie. „He, Jüngferchen, wie würdest Du das jetzt machen? Wie wird gespielt?“
Sie sah ihn verängstigt und erschreckt an, ihre Gedanken kamen von Ernst zurück.
„Papa, ich habe heftiges Kopfweh,“ entschuldigte sie sich, als die Kuckucksuhr Zehn schlug und die Karten von neuem gemischt wurden.
„Meinetwegen leg’ Dich aufs Ohr,“ knurrte er und ordnete das Spiel in der Hand.
Sie sagte „Gute Nacht!“, eilte hinaus und in das Kämmerchen der Schwester. Die saß auf ihrem Bette, ihre Wangen brannten wie im Fieber und ihre Augen streiften Lore glühend.
„Käthe,“ fragte Lore athemlos und nahm die kalte Hand der Schwester, hast Du ihn gesehen? Was sagte er? War er böse?“ Käthe schüttelte den Kopf. „Ich habe halt bestellt, was Du sagtest, weiter sollte ich doch nichts? –“ entgegnete sie und wandte sich ab.
„Nein, weiter nichts! Ich danke Dir, Käthe,“ klang es enttäuscht. „Aber bist Du krank?“ fragte sie dann, als ein leises Schütteln durch die Glieder des jungen Mädchens ging.
„Nein! Laß mich allein!“
„Sei nicht so garstig, Käthe! Wenn man einen liebhat, da fragt man nicht nach seinem Stammbaum.“
Käthe lachte kurz auf, aber sie antwortete nicht. Lore machte einen Versuch, ihr das Haar zu streicheln, aber die Schwester stieß sie zurück. „Laß mich!“ wiederholte sie.
„Schlaf wohl, Käthe,“ sagte Lore und ging. Sie hatte kaum die Thür hinter sich geschlossen, da schob sich der Riegel vor, und nun war es ihr, als hörte sie leidenschaftliches Schluchzen. „Käthe!“ bat sie noch einmal; da ward es still.
Sie ging in ihr Stübchen und begann einen Brief zu schreiben an Ernst Schönberg.
„Ja, Ernst, es ist besser, Du bittest den Vater bald um seine
Einwilligung. Mir ist so angst um unsere Liebe. So wie Du
von M. zurück bist, komme zu Papa, ich will ihn vorbereiten.
Reise glücklich und denke an
Deine Braut.“
„Für alle Fälle,“ flüsterte sie. „Wenn ich nicht nach dem Bahnhof gehen könnte, muß Käthe ihn abgeben, die wird sich ausgeweint haben in dieser Nacht und sich darein finden müssen, das närrische stolze Ding.“
Sie saß noch lange wach und las in Scheffels „Trompeter“; die Lampe beleuchtete hell ihr schönes reines Angesicht, das so glücklich aussah in diesem Augenblick, wo sie sich in die reizenden Lieder hineinträumte. Dann fuhr sie empor. Draußen war die Thür gegangen.
„Rudi!“ sagte sie, und mit Bergeslasten fiel die bange Gegenwart auf ihre Seele.
Am andern Morgen wanderte Käthe dem Bahnhofe zu, sie
trug bereits die kleine Ledertasche mit den Schulheften am Arme.
Lore war in aller Frühe in das Zimmer der Schwester gekommen
und hatte sie mit müder Stimme gebeten, ihr den einzigen Gefallen
zu thun und Doktor Schönberg das Briefchen zu übergeben,
sie könne leider wieder nicht ihr Versprechen halten, denn
Papa sei wahrscheinlich infolge des längeren Aufbleibens und
des Gläschens Grog gestern abend gar nicht wohl erwacht; sie
müsse gleich hinauf zu ihm, um sein krankes Bein zu verbinden;
Käthe wisse ja, er leide das von niemand anders.
Käthe hatte ihr das offene Couvert förmlich aus der Hand gerissen, im übrigen kein Wort dabei gesprochen. Aber Lore wußte, der Brief würde besorgt werden, zuverlässig war Käthe und „Treu und fest!“ ihr Motto. – Das junge Mädchen ging auf Umwegen nach dem Bahnhofe. Sie hatte einen starren Ausdruck, der ihr unregelmäßiges Gesicht fast unschön machte. In ihren dunkeln, heute von tiefen bläulichen Ringen umgebenen Augen lag etwas Grausames. Sie hielt das Briefchen Lores in der Hand und schien es kaum zu bemerken, daß sie es fast zerdrückte.
Auf einem schmalen Wege, der zwischen Gartenzäunen dahinführte, blieb sie stehen. Es war schon außerhalb des Ortes, die
[72][73] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [74] Gärten gehörten zu den Bürgerhäusern der inneren Stadt, hie und da stand ein einfaches Lusthäuschen. Ueber die schon gelichteten Ligusterhecken ragten die entblätterten Aeste der Obstbäume, in denen die Sperlinge plusterten; sonst glich die Landschaft einem Meere, so dicht war der Nebel, er verhüllte die alten Wälle und Mauern der Stadt zur Linken und die Felder rings umher; kein Mensch war auf dem einsamen Pfade, der sich feucht und schmal vor ihr dahinzog.
Käthe betrachtete das Couvert und biß sich auf die Unterlippe. Darin standen Liebesworte an ihn und – Lore hatte sie geschrieben!
Sie heftete die Augen so starr auf das weiße Papier, als vermöchte sie, dasselbe mit ihrem Blick zu durchdringen. Sie konnte einfach das Schreiben herausziehen, aber sie that es nicht, sie hätte es nicht gethan um alles in der Welt.
Man soll anderer Leute Briefe nicht lesen, auch wenn sie offen sind, und man will es auch nicht, wenn man weiß, daß jedes darin enthaltene Wort so weh thut im eigenen Herzen wie ein Messerstich.
Käthe war seit gestern kein Kind, kein gedankenloser Backfisch mehr; Käthe war zum jungen Mädchen erwacht. Sie begriff selbst nicht, wie sie bis jetzt gelebt! – Sie hatte die Nacht schlaflos verbracht und nachgedacht und geweint, und sie war zu dem Abschluß gekommen, daß sie „verrückt“ werden müsse, wenn – ja wenn – –? „Verrückt werden!“ war immer ein Lieblingsausruf, wenn ihr leidenschaftliches Temperament nicht mehr ein noch aus wußte.
Sie preßte auf einmal den Brief in einen Knäuel zusammen und ballte die Hand zur Faust darum. Weshalb sollte sie, gerade sie, diese Liebesbotin sein?
Durch den Nebel erschollen jetzt drei Glockenschläge. Sie hob den Kopf. „Dreiviertel auf Acht!“ flüsterte sie. Um acht Uhr pünktlich mußte er abfahren! – Sie drehte sich plötzlich auf dem Absatz herum und schritt den Weg zurück, hinter ihr in der Ferne rollte ein Zug, da lag der Bahnhof. Sie schlenderte förmlich, dann blieb sie stehen und zupfte eine halb erfrorene Hagebutte von dem wilden Rosenstrauch, der sich durch die Hecke drängte mit schwankem dornigen Gezweig, sie öffnete die rothe Frucht und begann die behaarten Körner zu zählen. Der Gazeschleier ihres Hutes ward feucht, so naß ging der Nebel hernieder. Sie mußte wohl sehr frieren, sie sah entsetzlich blaß aus.
Nach einer Weite schlug sie wieder die Richtung nach dem Bahnhofe ein, sie schritt jetzt sogar eilig dahin, den Papierknäuel trug sie noch immer in der Hand. Ganz unten tauchte ein rother Ziegelsteinbau aus dem lichter werdenden Nebel auf, das war die Station. Wieder tönte ein dumpfes Rollen, näher und näher kam es, das war der Hamburger Kurierzug, der um acht Uhr von hier weiterging, mit dem er fahren mußte. Sie begann auf einmal zu laufen, sie war dunkelroth geworden und die Augen schimmerten in Thränen. Dann hielt sie athemlos ein, just am Ende des Gartenweges. – Ein greller Pfiff, und der Zug fuhr aus dem Bahnhof, sie konnte ihn hinrasen sehen, hinein in das silbergraue Nebelmeer – hatte dort nicht jemand aus dem Coupéfenster geschaut? Er?
Nun schlugen auch die Glocken der Stadtuhren achtmal.
„Zu spät!“ flüsterte sie, und langsam wandte sie sich nach links, um das Büchower Thor zu erreichen. Der Zug war zu früh abgefahren, entschieden zu früh!
Sie nahm den Papierknäuel und begann ihn zu zerreißen in
lauter winzige Stückchen, sie flatterten wie Schneeflocken ein Weilchen
hinter ihr drein und blieben dann gleich weißen Blümchen auf
dem nassen Grase zur Seite des Weges liegen. Sie wußte kaum,
was sie that; sie dachte nur immer, daß sie „verrückt“ werden
müsse, wenn – ja wenn – –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Wilhelm Jordan.
Von Alexander Tille.
Es war im Sommer des Kriegsjahres 1870, als Rudolf v. Gottschall an dieser Stelle in seinen „Litteraturbriefen an eine Dame“ auch über die Werke seines Studienfreundes Wilhelm Jordan plauderte, der damals rüstig an seinen „Nibelungen“ arbeitete. Seitdem sind achtzehn Jahre ins Land gegangen; das mächtige Doppelepos ist längst vollendet und noch manches andere hat der Dichter geschaffen. Aber auch an ihm sind die Jahre nicht spurlos vorübergegangen: er ist unterdessen ein Greis geworden und feiert am 8. Februar seinen siebzigsten Geburtstag.
Mehr als vierzig Bände füllt die Arbeit seines Lebens, und nicht leicht darf sich einer unserer lebenden Dichter rühmen, mit gleichem Fleiße auf gleich vielen Gebieten so erfolgreich gearbeitet zu haben wie Jordan. Neben politischen Sturmgesängen stehen philosophische Dichtungen, neben dem Epos eine ganze Reihe dramatischer Arbeiten: Trauer-, Schau- und Lustspiele, neben lyrischen Sammlungen zwei umfangreiche Romane und bedeutsame Uebersetzungen, und seine litterarisch-ästhetischen Arbeiten finden ihr Gegenstück in Prosawerken historischen, naturphilosophischen und religiösen Inhalts. Aber so verschieden auch alle diese Schöpfungen nach litterarischer Gattung, Inhalt und Form sein mögen, gleichwohl zieht sich durch sie alle ohne Ausnahme ein rother Faden.
Das Centrum, um das sich Jordans Schaffen bewegt, sind die philosophischen und besonders die religiös-ethischen Probleme des neunzehnten Jahrhunderts. Die Fragen, welche heute die denkenden Köpfe beschäftigen, sind meist solche, von denen man vor hundert, ja vor fünfzig Jahren noch nichts wußte. Die Wissenschaften haben in unserem Jahrhundert eine Reihe von Entdeckungen zu verzeichnen, die bereits allenthalben ins praktische Leben hinübergreifen und berufen sind, die gesammte Anschauungswelt der Gegenwart umzuwandeln. Und die neuen Anschauungen gilt es in Beziehung zu unserem Fühlen und Denken zu setzen, ihnen ein poetisches Gepräge zu geben; das gilt vom Eisenbahnzug wie von der Descendenztheorie und von der elektrischen Maschine wie von den Gesetzen der Zuchtwahl; denn an sich ist nichts poetisch, ebensowenig wie etwas an sich unpoetisch ist.
Namentlich auf geistigem Gebiete mächtig für die Umprägung neuer Errungenschaften zu poetischen Werthen gewirkt zu haben, ist Wilhelm Jordans unbestreitbares Verdienst, und dies sichert ihm einen ehrenvollen Platz in der Litteraturgeschichte der Zukunft. Das Gebiet seines Schaffens lag aber, obwohl es durchaus zeitgemäß und geschichtlich gegeben war, doch etwas abseits von der Straße, auf welche die große Menge durch äußere Ereignisse gedrängt wurde, und vornehmlich daraus erklärt es sich, daß die Werke des Dichters bei den Zeitgenossen noch nicht ihre volle Würdigung gefunden haben. Trotz alledem war es für den Dichter selbst durch eine innere Nothwendigkeit geboten, daß er sich gerade diesem Felde zuwandte; er löste damit eine Aufgabe, welche er gewissermaßen von seinen Vorfahren überkommen hatte, und die ihm überdies sein eigener Bildungsgang an die Hand gab.
Seit dem Beginn des achtzehnten Jahrhunderts waren die Jordans in gerader Linie in vier Geschlechtern Pfarrherren in der deutschen Grenzmark im Nordosten. Ihres liebreichen Waltens, ihrer Königstreue und ihrer – Körpergröße und Stärke wegen waren sie in ganz Ostpreußen bekannt, sie gehörten zu den angesehensten Männern der Provinz. Der Großvater des Dichters, der die Pfarrstelle zu Norkitten innehatte, war ein milder und frommer Mann. Sein ältester Sohn, Karl August Jordan, Pfarrer zu Insterburg und nachmaliger Superintendent zu Ragnit, war gleich ihm fromm und pflichtgetreu, aber strenger und mehr in sich zurückgezogen. Dazu war ihm eine hohe poetische Begabung eigen. Seine sinnige, heitere und schöne Gattin war darin sein volles Gegenstück. Am 8. Februar 1819 gebar sie, selbst erst siebzehn Jahre alt, ihrem Gatten den ersten Sohn, den Dichter Wilhelm Jordan, auf den die poetische Gabe und der ernste Sinn des Vaters zugleich mit der Heiterkeit der Mutter übergingen und dem sein ganzes Leben hindurch der lebendige Familiensinn eigen blieb,
[75] der die ganze Familie auszeichnete. Wie dies herkömmlich bei den Jordans, sollte auch Wilhelm Geistlicher werden. Die Pfarre seines Großvaters war ihm gewiß. Als er 1838, von dem eigenen Vater und dann auf den Gymnasien zu Gumbinnen und Tilsit vorgebildet, die Universität Königsberg bezog, war er auch entschlossen, den geistlichen Beruf zu ergreifen. David Strauß’ „Leben Jesu“ machte jedoch seinen Glauben wanken, und schweren Herzens und zum Schmerze der Seinen und namentlich seines Vaters sagte er der Theologie für immer Lebewohl. Die politische Bewegung der vierziger Jahre, Hegels Philosophie und die Naturwissenschaften zogen ihn mächtig an. Mit Eifer gab er sich dem Studium derselben hin, und von ihnen angeregt, entstanden noch während seiner Studentenzeit die beiden Dichtungen „Glocke und Kanone“ und „Irdische Phantasien“. Nachdem er promoviert hatte, ging er nach Berlin, wo er 1843 „Litthauische Volkslieder und Sagen“ herausgab. Bald wandte er sich jedoch nach Leipzig, erwarb sich in Lindenau ein kleines Haus mit Garten und führte nach siebenjähriger Verlobung 1844 seine Braut dorthin als Gattin heim.
In Leipzig hatte der junge Dichter den harten Kampf ums tägliche Brot zu führen. Uebersetzungen aus dem Französischen und Englischen, Aufsätze für Zeitschriften, Herausgabe einer Galerie merkwürdiger Rechtsfälle und nachmals einer eigenen populärwissenschaftlichen Zeitschrift: „Die begriffene Welt“ ernährten ihn und seine Familie nothdürftig. Daneben arbeitete er emsig auf dem Gebiete der Naturwissenschaften und bekümmerte sich auch angelegentlich um politische Fragen. Sein Haus mit seinen Lieben war für ihn der Inbegriff des Glückes. Aber dieses Glück war von kurzer Dauer.
In den politischen Verwicklungen, die dem Jahr 1848 vorangingen, wurde er, nachdem er eine sechswöchige Gefängnißstrafe verbüßt, 1846 aus Sachsen ausgewiesen, ein Schlag, der ihn um so härter traf, als er ihn zugleich um sein Brot brachte. Er wandte sich zunächst mit seiner Familie nach Bremen, wo er sich mühsam als Privatlehrer und politischer Schriftsteller seinen Unterhalt erwarb und von wo aus er auch seine Jugendgedichte unter dem Titel „Schaum“ herausgab, die sein Freund Ernst Keil verlegte.
Mit Richard Andree, dem damaligen Redacteur der „Bremer Zeitung“, befreundet, wurde er beim Ausbruch der Februarrevolution 1848 als Berichterstatter nach Paris geschickt, kehrte aber, als es sich um Einberufung eines deutschen Parlamentes handelte, schleunigst zurück. In Berlin trat er mehrfach als Volksredner auf, und der zündende „Schlachtruf“, den er dort ergehen ließ, machte ihn schnell in weiteren Kreisen bekannt. Als Vertreter des oberbarnimschen Kreises trat er 1848 in das Frankfurter Parlament. Gleichzeitig mit ihm siedelte seine Familie nach einer kleinen Miethswohnung in der Mainstadt über. Das Parlament nahm seine ganze Zeit und Kraft in Anspruch und die Diäten reichten nur nothdürftig zum Unterhalt hin. Von Anfang an sich eine eigene politische Ueberzeugung wahrend, schloß er sich doch im allgemeinen der Linken an, auf der alle die deutschen Poeten saßen. Mit seiner gewaltigen Beredsamkeit kämpfte er manchen Kampf. Der Septemberaufstand, bei dem sein Freund, der Fürst Lichnowski, ermordet wurde, veranlaßte seinen endlichen Uebertritt zur erbkaiserlichen Partei, und die weiteren Ereignisse schoben ihn noch weiter nach rechts. Später wurde er sogar in das Reichsministerium berufen und zum Marinerath ernannt. Mit der Auflösung des Parlamentes und der Versteigerung der deutschen Flotte durch Hannibal Fischer ging seine politische Thätigkeit zu Ende; aber das ansehnliche Ruhegehalt sicherte ihm wenigstens eine sorglose Zukunft.
Während der nun folgenden Bundestagszeit war in Frankfurt ein glänzendes Leben rege. Selbst eben erst vom politischen Schauplatz abgetreten, verkehrte der Dichter oft in Diplomatenkreisen, und viele der angesehensten Bundestagsgesandten gingen in seinem Hause ein und aus, unter ihnen auch der heutige Reichskanzler. Der eigentliche Mittelpunkt des geselligen Verkehrs war das Haus der greisen Frau von Günderode, einer Tochter der Frau von Stein, und wenige standen der edlen Frau so nahe wie der Dichter.
Jordans nächste poetische Arbeit war das gedankenreiche dreibändige Mysterium „Demiurgos“, das aber, weil die Gedanken nicht in lebensvolle Gestalten umgesetzt waren, niemals in weitere Kreise gedrungen ist. In demselben suchte er den Entwickelungsgedanken zum Ausdruck zu bringen, zugleich mit der Vergangenheit poetisch abzurechnen und mit der Wiederaufnahme der Kaiserhoffnung einen Ausblick in eine lichtere Zukunft zu thun. Nach Vollendung dieses umfangreichen Werkes beschäftigten ihn außer naturwissenschaftlichen Studien Arbeiten für die Bühne. Mehrere seiner Lustspiele erblickten auch das Lampenlicht der Bretterwelt, und 1858 erhielt er vom König Maximilian II. von Bayern einen Preis für sein Trauerspiel „Die Witwe des Agis“. Von den Lustspielen haben „Die Liebesleugner“ und „Durchs Ohr“ einige Berühmtheit erlangt, ja „Durchs Ohr“ gehört zu den besten Lustspielen, welche wir überhaupt besitzen. Es verdankt seine Entstehung einem Streit in einer Gesellschaft, in welchem der Dichter den Gedanken verfocht, daß das Ohr ein feinerer Sinn sei als das Auge. Um diesen Gedanken poetisch durchzuführen, schrieb er das Stück. Von seiner Thätigkeit als Marinerath her mit dem Herzog Ernst von Sachsen-Koburg-Gotha befreundet, weilte der Dichter mehrmals als Gast an dessen Hofe. Später trat er auch zu König Maximilian II. in nähere Beziehung, und nur dessen rascher Tod im Jahre 1864 verhinderte es, daß Jordan die Intendanz der Münchener Hofbühne übernahm.
In Frankfurt hatte sich in jenen Tagen ein Kreis geistig bedeutender Männer zusammengefunden. Der rheinische Novellendichter Herm. Presber, Friedrich Hornfeck, Theodor Creizenach, Friedrich Hebbel, Arthur Schopenhauer, der Komponist Eduard Rosenhain und später Friedrich Kreyßig standen mit Jordan in lebhaftem Verkehr, und er war ein allezeit heiterer und liebenswürdiger Gesellschafter, wenngleich er ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein besaß. In der Folgezeit zog er sich mehr aus der Gesellschaft zurück, da ihn ein neuer großer Gedanke beschäftigte, für den er selbst im Freundeskreise nicht sofort Verständniß fand.
Während seiner Studienzeit von Franz Liszt persönlich dazu angeregt, hatte Jordan nämlich schon kurz vor seinem Abschied von Königsberg mit seinem Freunde Rudolf Gottschall ein öffentliches Deklamatorium veranstaltet, bei dem er sich des Zaubers, den das freie, gesprochene Wort ausübt, vollends bewußt geworden war. Jetzt faßte er den Gedanken, den Nibelungenstoff der nationalen Heldensage in einem großen Epos zu erneuern und das Epos selbst in allen deutschen Gauen, ja über die Grenzen des deutschen Sprachgebietes hinaus, als wandernder Sänger vorzutragen. Nachdem er sich mit dem alten Sagengold vertraut gemacht, schritt er an dessen Ausmünzung. Jahrelang arbeitete er für sich im Stillen. Endlich, 1862, als ein guter Theil vollendet war, unternahm der Dichter seine erste Rhapsodenfahrt. Der Erfolg war ein über Erwarten günstiger. Bis 1876 war er in Deutschland, Oesterreich und der Schweiz, in Rußland, England und Holland und jenseit des Weltmeeres vom Erie- und Michigansee bis zur Mündung des Mississippi, vom Hudson, Schuylkill und Ohio bis zum Goldenen Thor der Bai von San Francisko zusammen in 160 Städten aufgetreten, und seitdem hat er noch manche andere Sängerfahrt unternommen. Auch der klingende Lohn blieb nicht aus. Durch seine unermüdliche Arbeit hatte er sich bald ein ansehnliches Vermögen erworben, und er konnte sich ein eigenes Haus mit Garten am Taunusplatz zu Frankfurt am Main kaufen.
In den sechziger und siebziger Jahren gab der Dichter außer einer Sophokles- und Homerübersetzung mehrere litterarisch-ästhetische Schriften heraus sowie eine lyrische Sammlung „Strophen und Stäbe“. Außerdem schuf er eine Reihe Dichtungen religiös-philosophischen Inhalts, zunächst für sich und die Seinen. Erst den Bitten seines Freundes Emil Rittershaus gelang es, ihn zur Herausgabe derselben zu bewegen. So erschienen im Jahre 1878 die „Andachten“, vielleicht Jordans bedeutendste Leistung. Sie entsprechen am meisten von allen seinen Dichtungen seiner natürlichen Anlage. Der Dichter macht in ihnen den Versuch, die Ergebnisse neuzeitlicher Wissenschaft mit den Sätzen des kirchlichen Glaubens in Einklang zu bringen, indem er den Bildern derselben einen zeitgemäßen Ideengehalt giebt. Das Buch erfuhr von mehreren Seiten scharfe Angriffe, und er vertheidigte es in einer weiteren Schrift, „Die Erfüllung des Christenthums“.
Es fußt auf dem Gedanken:
„Zertrümmert scheint, zermalmt zu losem Staube
Des Menschenglückes Grundbaufels, der Glaube.“
Aber, fragt der Dichter weiter:
„Erschlossen denn schon Wage und Retorte
Zu Psyches Heiligthum die letzte Pforte?
Ist das den Sinnen Unerlängliche
Nicht doch in uns das Unvergängliche?“
[76] Als auch diese Rufe in der Weite verhallten, griff der Dichter zu einem zeitgemäßeren Mittel, seine Anschauungen zur Geltung zu bringen, zum Romane. Die neuzeitliche Weltanschauung und ihre Einflüsse auf das Leben der Zukunft darzustellen, ist das Thema der „Sebalds“ wie der „Zwei Wiegen“; nur betont das erstere Buch mehr die religiöse und das zweite mehr die ethische Seite.
Schon in den siebziger Jahren vereinsamte der Dichter, indem alle seine literarischen Freunde in Frankfurt in rascher Folge dahinstarben, und so zog er sich noch mehr in den Kreis der Seinen, in das stille Haus am Taunusplatz, zurück, in dem er an der Seite eines geliebten Weibes, umgeben von erwachsenen Kindern und blühenden Enkeln, ein stilles und glückliches Leben führt, bis ihn einmal die alte Wanderlust ergreift und er nicht mehr täglich dichtend unter den Schatten der Kastanien seines Gartens auf- und abschreitet, sondern hinaus zieht in die Fremde, um die Schöpfungen seines eigenen Geistes lauschenden Hörern vorzutragen.
Die Landenge von Panama.
Der Gedanke an einen Kanal zur Verbindung des Caraibischen Meers mit dem Stillen Ocean ist so alt wie die Entdeckung der Landenge selber. Schon Cortes befragte den unglücklichen Montezuma nach dem vielgesuchten „Geheimniß der Durchfahrt“ und faßte auch an der Hand einer ihm übergebenen Karte den Plan, den Isthmus von Tehuantepec schiffbar zu machen. Dieser Plan wurde jedoch nie in Angriff genommen und schließlich ganz aufgegeben, als man sich von der Verjüngung der Landenge nach Süden zu überzeugte.
Nun wies Karl V. den Statthalter von Panama an, die passendsten Mittel vorzuschlagen, um eine Verbindung des schiffbaren Theils des Chagresflusses mit dem Stillen Ocean zu bewerkstelligen. Aber zu einem Versuch, ein solches Projekt auszuführen, kam es damals ebensowenig wie in späteren Zeiten, die sich immer noch ab und zu mit allerlei ähnlichen Entwürfen beschäftigten. Mit der Regierung des zweiten Philipp erlosch dann in Spanien das „heilige Feuer der Thatkraft“ wie für vieles andere so auch für dies große Unternehmen.
Freilich ließ Spanien 1781 einige Vermessungen machen, aber nun trat die französische Revolution mit den großen darauf folgenden Kriegen, dann der Abfall der spanischen Kolonien dazwischen, und die darauf in den neukonstituirten Republiken Centralamerikas gebildeten Gesellschaften arbeiteten ohne Erfolg. Ein 1830 im Namen des Königs von Holland mit Nicaragua abgeschlossener Vertrag führte wohl zu einigen Vorarbeiten, aber die Revolution, welche Belgien von Holland trennte, machte der Sache ein Ende.
Zwölf Jahre später wurde das Projekt in Amerika selber abermals aufgenommen. Nun bewarb sich der Mexikaner Garay bei seiner Regierung um ein Privilegium zur Herstellung einer interoceanischen Verbindung. Der Präsident Santa Ana erklärte in hochtönenden Worten, es sei die Absicht, vermöge derselben Mexiko zum Mittelpunkt des Handels und der Schifffahrt der ganzen Welt zu machen. Dabei wußte man von den Niveauverhältnissen des zu durchstechenden Landes blutwenig und dem Urtheil des deutschen Ingenieurs Cramer, welcher 1774 einen Kanal ohne Schleusen für möglich erklärt hatte, trat der Ingenieur Moro mit der Behauptung entgegen, daß man mindestens 150 Schleusen werde erbauen müssen.
Das Privilegium ging durch Kauf von einem Unternehmer zum andern, bis es schließlich sehr zum Mißvergnügen der Mexikaner in die Hände der Yankees gerieth, ohne daß aber das Unternehmen selber dadurch irgendwelche Förderung erfuhr. Und es dauerte nicht lange, so präsentirte sich der Welt Projekt auf Projekt, bis deren Zahl endlich bis zu achtzehn heranwuchs.
Aber gethan wurde nichts; am ernsthaftesten nahm die Sache wohl der Erbauer der Panama-Eisenbahn Totten, welcher sogleich nach Vollendung der Bahn an die Ausführung eines Schleusenkanals zwischen Colon und Panama dachte, denn die Idee eines Durchstiches hatte man bereits für ganz Centralamerika aufgegeben. Ein Schleusenkanal kann aber für den interoceanischen Verkehr eine verhältnißmäßig nur geringe Bedeutung haben; die Amerikaner in der Union freilich sind es schon zufrieden, wenn derselbe nur ihrem Handelsverkehr zwischen den östlichen und südlichen Staaten einerseits und jenen der pazifischen Küste andererseits sich förderlich erweist.
Bis aber Lesseps, der geniale Erbauer des Suezkanals, der Sache näher trat, kam man über Erwägungen, Untersuchungen und Berichte wenig hinaus, kein endgültiger Plan wurde aufgestellt, kein Schritt gethan, dem Unternehmen die nöthige finanzielle Grundlage zu sichern. Erst im Jahre 1876 bildete sich zu Paris ein internationales Komitee, um von neuem selbständige Forschungen zu beginnen und namentlich die Ausführbarkeit eines Kanals im Niveau der Oceane, also ohne Schleusen, ins Auge zu fassen, da nur ein solcher dem Weltverkehr in ausgiebigstem Maße zu nützen vermag. Man beauftragte nun die Schiffslieutenants Wyse und Reclus, eine genaue Aufnahme derjenigen Linien zu machen, welche über die Landenge an ihrer engsten Stelle gehen.
Als am 15. Mai 1879 die Generalversammlung der internationalen Gesellschaft in Paris zusammentrat, lagen acht Projekte vor. Sieben davon gingen durch kolumbisches Gebiet, eines führte durch Nicaragua. Fast alle bedurften zu ihrer Ausführung der Tunnels und eines mehr oder weniger umfangreichen und kostspieligen Schleusensystems. Aber gegen ein solches war die Versammlung fast einstimmig; nach lebhafter und eingehender Diskussion wurde am 29. Mai mit 74 von 98 Stimmen der Kanal im Meeresniveau und ohne Tunnel durch den eigentlichen Isthmus von Panama, und zwar längs der Panama-Eisenbahn, wie Wyse und Reclus es empfohlen hatten, beschlossen. Man verwarf alle Schleusenkanäle, gegen die das schwerwiegende Bedenken sich erhob, daß kaum mehr als 12 Schiffe täglich durch die Schleusen würden fahren können. Die Ausführung des Projektes wurde in die Hände Ferdinands von Lesseps gelegt.
Der Kanal sollte eine Länge von 75 Kilometern haben, wovon die ersten 23 Kilometer von Colon aufwärts, sowie die letzten 11 Kilometer gegen Panama zu aus weichen Bodengattungen bestehen, welche mit Maschinen ausgehoben werden können, während der mittlere Theil durch den Bergrücken des Cerro Culebra aus hartem dolomitischen Gestein gebildet wird, das durch Sprengungen entfernt werden muß. Man berechnete die Masse des auszuhebenden Gesteins auf 100 bis 120 Millionen Kubikmeter, wovon 40 Millionen aus Dammerde, Konglomerate, thonige Schiefer und Schlammboden unter Wasser, dagegen 80 Millionen auf sehr harte eruptive Gesteine kommen. Die Arbeiten wurden durch Lesseps’ unermüdliche Thätigkeit, der die ersten Schwierigkeiten bei Beschaffung des nöthigen Kapitals glücklich überwand, im Jahre 1882 begonnen und sollten 1888 beendet sein. Wir wissen heute, daß man von der Eröffnung des Kanals noch recht weit entfernt ist. Es ist die Vollendung dieses großartigsten Unternehmens der Neuzeit jetzt zu einer Kapitalfrage geworden, deren endliche glückliche Lösung man erwünschen mag, wenn man dieselbe auch als höchst zweifelhaft, zum mindesten als in eine recht weite Ferne gerückt bezeichnen muß.
Der Anfang des Unternehmens ließ sich sehr ungünstig an. Lesseps hatte die Gesammtkosten auf 780 Millionen Franken veranschlagt und bezeichnete eine Summe von 400 Millionen als vorläufig völlig ausreichend, allein trotz des Vertrauens, das man ihm allseitig aussprach, war die Theilnahne der Finanzwelt, namentlich der amerikanischen, eine so geringe, daß die Zeichnung auf die 800 000 ausgegebenen Aktien zu je 500 Franken höchst dürftig ausfiel und die Anzahlungen zurückgegeben werden mußten.
Aber Lesseps’ unermüdliche Thätigkeit überwand im Verein mit seinem großen Ruf als Sachverständiger alle sich entgegenstellenden Schwierigkeiten, so daß 1882 die Kanalgesellschaft sich konstituiren konnte, allerdings mit einen Aktienkapital von nur 300 Millionen Franken. Die Arbeiten konnten nun aber [77] doch in Angriff genommen werden und die Trace wurde wie folgt festgestellt:
Der schleusen- und tunnellose Kanal sollte im wesentlichen der Eisenbahn folgen, und zwar von Colon ab zunächst dem Rio Chagres, dann dessen Nebenfluß Obispo, sollte dann 20 Kilometer von Panama die Cordilleren im Bergkamm Culebra durchbrechen und dem Rio Grande bis zum Stillen Ocean folgen. Die Breite des Wasserspiegels sollte in der Ebene 50, im Gebirge 28 Meter betragen, hier würde der tiefste Durchstich 87 Meter messen. Das fortzuschaffende Terrain berechnete Lesseps auf 120 Millionen Kubikmeter und glaubte, die Arbeiten mit einem Kostenaufwand von 600 Millionen Franken vollenden zu können.
Diese Arbeiten begreifen aber noch anderes außer dem eigentlichen Kanalbau. Der Rio Chagres, weit entfernt, eine Hilfe zu sein, ist ein höchst gefährlicher Begleiter des Kanals. Er steigt während der hier gewaltigen Regenzeit mehr als 14 Meter über seinen gewöhnlichen Wasserspiegel und führt bisweilen in der Sekunde 1200 Kubikmeter Wasser. Wollte man solche Massen in den Kanal leiten, so würde sich der Wasserspiegel desselben gelegentlich um 8 Meter erhöhen und die Strömung eine Geschwindigkeit von 5 Metern in der Sekunde erreichen. Um der dadurch entstehenden Gefahr für die Schifffahrt zu begegnen, faßte Lesseps den großartigen Gedanken, den unbequemen Gefährten unschädlich zu machen. Er beschloß, den Chagres in zwei Theile, einen westlichen und einen östlichen zu spalten. Der letztere würde der bei weitem stärkere sein. Wollte man ein genügendes Bett für die gelegentlichen Fluthwasser schaffen, so würde das der Ausschachtung eines zweiten Kanals gleichkommen, deshalb sollte der Zufluß mittels einer Thalsperre so aufgespeichert werden, daß dem Kanal nicht mehr als 400 Kubikmeter in der Sekunde zugeführt würden.
Ein solcher Damm würde alle derartigen bisher geleisteten Arbeiten in den Schatten stellen. Es würden dazu 7 Millionen Kubikmeter Steinwerk nöthig sein, und man veranschlagte die Kosten dieses Werkes auf 6½ Millionen Mark. Der höchste Wasserstand des aufgestauten Sees würde 67 Meter über der Kanalsohle, die Krone des Sperrdammes 5 Meter höher liegen. Der Wassergehalt des Bassins wurde auf 600 Millionen Kubikmeter berechnet.
Selbstverständlich ließe sich ein solches Riesenwerk in einem Sommer nicht herstellen. Sollten aber die ersten Arbeiten dem gewaltigen Druck der Hochfluthen widerstehen, so müßten sie in einer außerordentlichen Stärke hergestellt werden. Es sind allerdings ähnliche Thalsperren in Amerika bereits ausgeführt worden, keine aber von solchem Umfang und unter so ungünstigen Verhältnissen. Die Schwierigkeiten sind in den jährlich der Versammlung von Aktionären vorgelegten Berichten kaum gestreift und in den allmählich immer höher sich stellenden Nachforderungen gar nicht in Betracht gezogen worden. Auch die Kosten des Kanals selber hatte man weit unterschätzt.
Auf die erste Emission von 300 Millionen Franken folgte bald eine zweite von 109 375 000, eine dritte von 171 Millionen, eine vierte von 158 969 871, eine fünfte von 206 439 900, eine sechste von 220 Millionen Franken, so daß sich das gesammte bisher aufgewandte Kapital auf rund 1200 Millionen Franken beläuft. Man erinnere sich, daß der erste Kostenanschlag nur die Hälfte dieser Summe forderte. Aber auch diese riesige Summe genügte noch nicht und im Sommer 1888 mußte der Verwaltungsrath abermals die Aktionäre angehen, ihm zu gestatten, die Genehmigung der Regierung zu einer Anleihe in Prämienobligationen im Betrag von 600 Millionen Franken einzuholen. Das war die letzte Thätigkeit der Gesellschaft. Nach kurzer Frist sah sie sich genöthigt, die Regierung um ihre Beihilfe anzugehen, und als diese verweigert wurde, war der Zusammenbruch unvermeidlich. Lesseps trat von der Leitung zurück und an 600 000 Besitzer von Aktien und Obligationen (denn man hatte sich vornehmlich an kleine Kapitalisten und Rentiers gewandt) sehen sich mit dem Verlust ihrer Einlagen bedroht. Der Verlust betrifft fast ausschließlich Franzosen, aber auch die Bewohner der jetzigen Reichslande sehr hart. Dennoch sprach eine große Versammlung von Aktionären [78] unbedingtes Vertrauen in Lesseps aus und erklärte, auf jegliche Zinszahlung vorläufig verzichten zu wollen. Aber die Katastrophe ist eine so ungeheure, daß sich ihre Folgen noch gar nicht übersehen lassen. Jedenfalls hatte Lesseps mit allen ihm zur Seite stehenden Berathern und Ingenieuren sich einer großen Selbsttäuschung hingegeben.
Ueber die Größe der Arbeit hatte man sich ganz irrige Vorstellungen gemacht. Wenn schon die Chagresstrecke recht große Schwierigkeiten aufweist, so sind dieselben in der 16 Kilometer langen Gebirgsstrecke noch viel bedeutender. Denn hier sind Einschnitte von mehr als 100 Metern zu machen und die Böschungen reichen bis zu 170 Meter hinauf. Man erinnere sich, daß der ursprügliche Plan nur 87 Meter als tiefsten Durchstich angenommen hatte.
Zwar konnte man die Masse des auszuhebenden Terrains durch verschiedene Veränderungen im Programme von 120 Millionen Kubikmeter auf 108 Millionen herabsetzen, aber am 2. März 1888 waren davon erst 30 Millionen ausgehoben, denn die heftigen Fluthen der Regenzeit zerstörten wiederholt, was während der trockneren Zeit geleistet worden war. So wurde es denn bereits im Anfang des verflossenen Jahres klar, daß an eine Eröffnung des Kanals am 1. Januar 1889, wie versprochen, nicht gedacht werden könne. Man setzte den Termin nun auf den 1. Juli 1889 fest.
Aber auch für diesen Zeitpunkt war der Kanal nicht nach den ursprünglichen Plänen zu vollenden. Lesseps mußte den Aktionären den Vorschlag machen, die Höhen des Culebra-Kammes vermittelst Schleusen zu überfahren, und zwar sollten 9 Schleusen angelegt werden von Dimensionen, welche es den größten Schiffen ermöglichen, den Kanal von einem Ende bis zum andern zu befahren. Allerdings wollte man den ursprünglichen Plan nicht aufgeben, der Kanal sollte später nach dem früheren Projekt fertiggestellt werden und zwar aus seinen eigenen Einnahmen.
Die Schätzungen dieser Einnahmen haben mit dem Anwachsen der Ausgaben gleichen Schritt gehalten. Anfänglich meinte man, daß man nach Eröffnung des Kanals im Jahre 1889 auf einen Durchgangsverkehr von 7 250 000 Tonnen rechnen könne. Allein der letzte Jahresbericht der Gesellschaft spricht bereits von 17 Millionen Tonnen, ohne zu zeigen, wie diese riesige Zunahme zu erklären sei. Ganz kühle, dem Kanalunternehmen nicht unfreundlich gegenüberstehende Sachverständige glaubten, nur 5½ Millionen Tonnen als voraussichtliche Verkehrsmenge des Kanals annehmen zu dürfen. Diese ansehnlichen Schwankungen in den Schätzungen sind nicht gerade Vertrauen erweckend.
Auch darf der Verwaltung der Vorwurf nicht erspart bleiben, mit den ihr übergebenen Millionen wenig haushälterisch verfahren zu sein. Man hat prunkvolle Gebäude für die Direktoren in Panama errichtet und dieselben dann wieder aufgegeben, mit riesigen Kosten Baggermaschinen, die unbenutzt daliegen, angeschafft u. dergl. m., man hat freilich auch manches Nützliche geschaffen. Auch die Vorarbeiten erforderten außerordentlich viel Zeit.
Tausende von Arbeitern waren anzuwerben und an die vorher zu bestimmenden Arbeitsplätze zu befördern, an denen man umfassende Vorkehrung zu treffen hatte, um Schutz gegen die Hitze der trocknen und die schweren Regengüsse der nassen Jahreszeit zu gewähren. Der Transport der großen Baggermaschinen von ganz besonderer Konstruktion, für die man bis 200 000 Dollars per Stück zahlte, zum Aushub der Erdmassen bot ganz außerordentliche Schwierigkeiten, bis durch Beseitigung der Barre des Chagresflusses dieser dienstbar gemacht worden war.
Mit lobenswerther Vorsicht errichtete man in der neben Colon schnell entstandenen Stadt Neu-Columbus ein Hospital, auf der Insel Taboga eine Heilstätte und warb für die verschiedenen Arbeitsplätze einen Stab von Aerzten an. Und doch starben in dem zweiten Halbjahr des Jahres 1884 nicht weniger als 1100 weiße Arbeiter, der Tausende von Negern, Mulatten und Chinesen gar nicht zu gedenken.
Einen großen Theil der Arbeiten, insbesondere den bedeutendsten Theil der Ausschachtungen, überließ die Direktion an englische, holländische, französische, amerikanische, italienische, kolumbische und schwedische Unternehmer. Aber damit durch Versagen der Maschinen und Geräthe dieser Leute die Arbeiten nicht ins Stocken gerathen konnten, ließ die Gesellschaft überall selbst Maschinen zum etwaigen Eingreifen aufstellen. Das ausgehobene Terrain verdünnte man zu einem flüssigen Brei und lagerte dasselbe auf den sumpfigen Ländereien ab, wo sich dann nach Abfluß des Wassers ein fester und für spätere Benutzung sehr werthvoller Boden bildete.
Was den Panamakanal wesentlich von seinem großen Vorläufer und Vorbild, dem Suezkanal, unterscheidet, das sind die Niveauverhältnisse der Meere, welche er verbindet. Während sie bei dem letzteren völlig gleich bleiben, sind sie bei dem ersteren infolge der Ebbe und Fluth und des ungleichmäßigen Eintretens derselben völlig verschieden. Der Unterschied der Gezeiten beträgt bei Colon nur 0,58 Meter, bei Panama dagegen 2 bis 4, ja zu Zeiten sogar 6 Meter. Ferner tritt die Fluth in Panama bereits neun Stunden früher ein als in Colon. Um daher starke Strömungen im Kanal selbst zu verhindern, welche die Durchfahrt periodisch sehr erschweren, wenn nicht hemmen, auch den Kanal selbst gefährden würden, hatte man sich mit dem Plan befreunden müssen, bei Panama am Ausgang des Kanals drei mächtige Fluththore zu errichten.
Aber vor dem Suezkanal hat der Panamakanal das voraus, daß ihn weder hüben noch drüben eine enge, nur mit Dampfern zu befahrende Meeresstraße, wie das Rothe Meer, erwartet, daß er also auch für Segelschiffe benutzbar sein wird.
Die Länge der wichtigsten Verbindungsstraßen wird der Kanal aber sehr bedeutend abkürzen und so durch ermöglichte Beschleunigung und Vermehrung der Geschäfte wie durch Verminderung der Assekuranz den Reedern große Vortheile zuwenden. Nehmen wir als Ausgangspunkt den britischen Kanal, so berechnet sich die Entfernung
um das Kap Horn | durch den Panamakanal | ||||
nach | Valparaiso | 20 000 | km | 13 000 | km |
„ | Callao | 22 000 | „ | 11 000 | „ |
„ | Panama | 23 500 | „ | 8 500 | „ |
„ | San Francisko | 27 500 | „ | 13 000 | „ |
Was die Verbindung mit Ostasien und Australien anlangt, so würde die Linie Liverpool-Auckland (Neuseeland) durch den Panamakanal um 1850 km kürzer sein als via Suez, und um 820 km kürzer als via Kap Horn. Von New-York würde man gegen die Suezkanalroute nach Yokohama nicht weniger als 6250 km ersparen, und nach Auckland gegen die jetzt kürzeste Route um das Kap Horn 4220, nach Melbourne, der Hauptstadt der englischen Kolonie Viktoria in Australien, 4670 km.
Den Vereinigten Staaten würden also die größten Vortheile durch Vollendung des Kanals erwachsen. Indessen hat man dort nie aufgehört, Konkurrenzprojekte zu planen, namentlich seitdem die von Washington aus erhobenen Ansprüche auf eine der Union ausschließlich zustehende Kontrolle der Durchfahrt, welche man durch die Anlage von Forts an beiden Meeren zu beherrschen dachte, von England und in der Folge von den übrigen europäischen Mächten zurückgewiesen wurden. Die Amerikaner haben dem Unternehmen des Panamakanals seitdem immer feindlich gegenüber gestanden. Vergeblich hat Lesseps durch persönliche Agitation den amerikanischen Geldmarkt zu gewinnen gesucht, vergebens hat er jährlich anderthalb Millionen zur Dotirung des „amerikanischen Komitees“, das heißt zur Beeinflussung der Presse und maßgebenden Persönlichkeiten, in den Vereinigten Staaten verwandt. Die Amerikaner wollen nichts von einem internationalen Kanal wissen in einem Gebiet, das sie als ausschließlich ihrer Interessensphäre anheimfallend betrachten. Ganz besonders hat die Amerikaner der Gedanke erregt, daß eine der europäischen Regierungen den Bau des Kanals in die Hand nehmen könnte, eine Möglichkeit, die nach dem Zusammenbruche der Panamagesellschaft vorübergehend allerdings zur Erörterung kam. Sie würden ein solches Eingreifen Enropas als den gerechten Interessen der Union nachtheilig und als eine Bedrohung ihres Wohls betrachten, wie dies Anfang dieses Jahres in einem Beschluß des Senats zu Washington zum Ausdruck kam und sämmtlichen europäischen Regierungen mitgetheilt wurde. Sie haben daher dem Panamakanalprojekte zwei eigene entgegengestellt, von denen eins bereits in die ersten Stadien der Verwirklichung eingetreten ist.
Das eine Projekt, herstammend von dem berühmten Baumeister Eads, bezweckt die Beförderung der Seeschiffe in besonders konstruirten Fahrzeugen auf einer Eisenbahn von einem Meer zum andern, das andere plant die Durchstechung der Landenge von Nicaragua mit Benutzung der Flüsse San Juan und Rio Grande und des Nicaraguasees. Und dies letztere Projekt ist es, welches [79] nach dem Zusammenbruch des Panamakanal-Unternehmens wieder eifrigst aufgenommen wurde. Denn das erste Projekt, das ja in kleinem Maßstabe bereits bei dem Elbing-Oberländischen Kanal in Ost- und Westpreußen zur Anwendung gekommen ist, wird sicherlich nie einem Seekanal ernstliche Konkurrenz machen können, selbst wenn es gelänge, die Bedenken gegen eine solche Beförderung schwerbeladener Vollschiffe außerhalb des sie stützenden Elementes vollständig zu beseitigen.
An der Ausführbarkeit eines Kanals dagegen ist nicht zu zweifeln. Dies Projekt, schon längst beifällig in Amerika aufgenommen, ist nach der Inangriffnahme des Panamakanals dort besonders beliebt geworden und scheint nach dem Zusammenbruch jenes Unternehmens feste Gestalt gewinnen zu sollen.
Die beiden Endhäfen sind Greytown am Atlantischen Ocean, an welcher Stadt der aus dem großen Nicaraguasee strömende San Juan mündet, und Brito am Stillen Meer. Die Länge des hier herzustellenden Kanals beträgt 272 km, von denen 62 km im Querschnitt völlig auszuheben sind, während 210 km von Flußläufen und Seen eingenommen werden. Da der Nicaraguasee 33 m über dem Meere liegt, sind Schleusen nöthig, und zwar vom See nach dem Stillen Ocean vier, nach dem Atlantischen Ocean drei, eine jede von 195 m Länge.
Die zu durchfahrende Strecke des Nicaraguasees mißt 90 km, sie bedarf aber noch der Vertiefung. Den San Juan dagegen will man auf halbem Weg bei Ochoa abdämmen und damit das ganze Flußthal in einen weiten Binnensee verwandeln, der als Halte- und Ausweichestelle dienen kann. Von da ab kommt die eigentliche, völlig auszuhebende Kanalstrecke mit den drei Schleusen bis Greytown, dessen Hafen jetzt ganz versandet und daher vollständig neu zu schaffen ist. Ebenso ist bei Brito ein Hafen herzustellen; hier soll durch zwei Wellenbrecher ein Becken von 25 Hektar Fläche gewonnen werden, das gegen alle Winde geschützt ist.
Der Kanal soll mindestens 9 m Tiefe haben, im Nicaraguasee und im Becken des San Juan geht die Wassertiefe über 16 m hinaus. Man erinnere sich, daß die Tiefe des Suezkanals nur 8½ m beträgt. Die Durchfahrtszeit mit allem Zeitverlust wird auf 30 Stunden berechnet. Die Schleusen sollen zwei Schiffe auf einmal aufnehmen können und jede Schleusung wird 45 Minuten beanspruchen. Aber wenn auch nur ein Schiff auf einmal durchgelassen werden sollte, so ergiebt das 32 Schiffe für den Tag oder 11 680 Schiffe im Jahre, die einen Gesammtgehalt von 20½ Millionen Tonnen repräsentiren würden; das ergäbe bei einer Abgabe von 10 Schilling pro Tonne, wie im Suezkanal, 10 250 000 Pfund Sterling oder 205 Millionen Mark Einnahmen.
Die Gesammtkosten des Unternehmens werden auf 65 Millionen Dollars veranschlagt, doch will die Gesellschaft, welche bereits vom Kongreß der Vereinigten Staaten dem Repräsentantenhaus zur Gewährung des nöthigen Freibriefs empfohlen ist, und die selbst von vornherein auf jede Unterstützung seitens des Staates verzichtet hat, sich auf ein Kapital von 100 Millionen Dollars stützen. Der obige Anschlag schließt freilich weder die Kosten für den zu erwerbenden Grund und Boden ein, noch Entschädigungen, die an die Eigenthümer zu zahlen sein werden, welche durch die Stauungen der Flüsse jedenfalls bedeutende Schädigungen erleiden müssen.
Hinsichtlich der Zeitersparniß welche er gewähren würde, müßte dieser Kanal hinter dem Panamakanal nicht weit zurückbleiben. Und so scheint es denn nun, daß trotz der anfänglich gegen das Schleusensystem erhobenen Einwände und der Opposition, welche die großen Eisenbahngesellschaften dem Kanalbau entgegenbrachten, dies Projekt doch eine Verwirklichung erfahren soll. An den nöthigen Mitteln wird es heute nach der Stockung der Arbeiten am Panamakanal gewiß nicht fehlen, wenn nicht etwa der Fall eintreten sollte, daß die Amerikaner das Erbe Lesseps’ und seiner Aktionäre antreten und der Westen das vollendet, was der Osten nicht vermochte. Es wäre das nur ein weiterer Triumph der Monroe-Lehre, welche behauptet, daß in Amerika Europa nichts zu schaffen habe.
Die Vermählung der Todten.
Ginevra erkannte die Särge, die am Boden gereiht standen, um am nächsten Morgen in die Erde versenkt zu werden, und es schien ihr, als umfange sie ein riesiges Grabgewölbe. Ihre erste Bewegung war, sich in sich selbst zusammenzuschmiegen und das Gesicht zu verstecken wie ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtet, aber nun stieß sie an die Wände ihres Sarges und sah über sich den zurückgeschobenen Deckel.
Von namenlosem Grauen erfaßt, erhob sie sich und stieg, an allen Gliedern zitternd, aus ihrer engen Ruhestätte hervor.
Lange Schatten, durch das schwankende Licht hervorgerufen, wankten an den Kirchenwänden hin und huschten an ihr vorüber. Sie fühlte, wie sich die Haare auf ihrem Kopf aufrichteten, und wußte nicht, wohin sich wenden; in der grausenvollen Einsamkeit fürchtete sie sich vor sich selbst. Jeden Augenblick, dachte sie, müßten sich auch die anderen Särge aufthun, die Leichen heraussteigen, sie mit kalten Armen umfassen und in einem wahnsinnigen Reigen mit ihr durch die öden Kirchenräume wirbeln.
In sinnloser Angst stürzte sie vorwärts; aber der Weg, den sie wählte, war zu ihrem Heil, denn ohne es zu wissen, hielt sie sich an die frische Luftströmung, die ihr entgegenwehte. Mit wankenden Knieen und Gliedern, in denen noch die Starre des Todes lag, eilte sie der kleinen Pforte zu, die Leonardo offen gelassen hatte, und trat auf den einsamen Domplatz heraus.
Der volle Mond stand am Himmel und beleuchtete fast taghell die Piazza und die umstehenden Gebäude. Ginevra raffte sich auf, und mit einer Schnelligkeit, als säße ihr ein ganzes Gespensterheer im Nacken, flog sie dem nächsten Gäßchen zu, das sich vor ihr aufthat. Auf der raschen Flucht durch die stillen Straßen vermehrte sich noch ihre Furcht und trieb sie zu immer rasenderem Lauf; wer ihr begegnet wäre, hätte sie leicht für den Geist jener vom wilden Jäger verfolgten Jungfrau halten können, deren jammervolle Geschichte Meister Boccaccio in seinem „Dekamerone“ berichtet.
Aber niemand begegnete ihr, Straßen und Plätze waren ausgestorben, die Häuser lagen im Dunkeln. – Hoch über Florenz thronte der Tod und spannte über die ganze verstummte Stadt seine breiten schwarzen Flügel aus.
Ohne sich umzusehen, rannte Ginevra nahe an den Häusern hin und wagte nicht eher still zu halten, als bis sie mit laut pochendem Herzen vor der Thür ihres Hauses stand.
Auf ihr Klopfen regte sich lange nichts, endlich ging ein Fenster im obern Stockwerk auf und ein Kopf erschien vorsichtig, um mit einem lauten Aufschrei wieder zu verschwinden.
Aufs neue faßte Ginevra den Klopfer und begann mit der Kraft der Verzweiflung ihre Thür zu bearbeiten wie einen Amboß; sie wollte auch rufen, aber die Zunge klebte ihr am Gaumen, daß sie keinen Laut hervorbrachte.
Obwohl sich niemand blicken ließ, wurde es doch innen lebendig, ein Diener rannte mit Licht in der Hand von Zimmer zu Zimmer, weckte die Schläfer und erzählte mit leichenblassem Gesicht und stockender Stimme, daß vor der Hausthür der Geist der todten Madonna Ginevra stehe und Einlaß begehre.
Die ersten, die diese Botschaft vernahmen, meinten, der Pförtner habe sich beim Leichenschmaus übernommen; der aber horchte mit aufgehobenem Finger in solcher Herzensangst nach der Straße hinunter, daß auch die andern still wurden und das Klopfen an der Hausthür vernahmen.
Von Zimmer zu Zimmer flog die Kunde und trieb die ganze Familie aus den Betten. Alle drängten sich Gebete sprechend und Kreuze schlagend zusammen wie eine Schafherde im Gewitter und niemand wagte mehr ans Fenster zu treten und nach der Straße hinabzublicken, wo Madonna Ginevra in dem weißen Sterbegewand und dem goldenen Kränzlein, mit dem man sie vor wenigen Stunden in den Sarg gebettet, stehen sollte.
Zuletzt erschien auch Messer Baldassarre im langen Nachtkleid, ein Kruzifix in der einen und ein Licht in der andern Hand. [80] Mit leichenblassem Gesicht und schlotternden Knieen stellte er sich an die Spitze der Seinigen und hinter ihm her zog die ganze Familie in Prozession zitternd und betend nach der Hauskapelle, wo Herr Ricciardo gelobte, hundert Messen für den Frieden der armen Seele lesen zu lassen, und erst als auf der Straße alles still geworden war, suchten die verstörten Hausgenossen ihre Betten wieder auf.
Um dieselbe Stunde wurde der alte Pförtner in dem Palast der Amieri durch lautes Pochen aus dem Schlafe geweckt. Er öffnete langsam das kleine Seitenthor, woher der Lärm kam; aber als er die junge Herrin, die er vor wenigen Stunden selbst zu Grabe geleitet hatte, im weißen Leichengewand, mit aufgehobenen Händen und einem Gesicht, in dem alle Grauen des Todes lagen, draußen stehen sah, meinte er, ein Blendwerk der Hölle vor sich zu haben, denn nimmermehr konnte er glauben, daß die Seele seiner frommen tugendhaften Gebieterin dem dunkeln Sarg entstiegen sei und spukhaft auf der alten Stätte wie ein verdammter Geist umherschweife.
Mit einem Ruf des Schreckens warf er die Thür ins Schloß, rief seine Frau und erzählte ihr, was er gesehen hatte. Beide kamen überein, den Herrn zu wecken und ihm von dem entsetzlichen Gesicht Mittheilung zu machen.
Bebend stiegen die zwei alten Leute in Messer Ciones Schlafgemach hinauf; aber der alte Ritter hatte seinen Schmerz tief im Grunde des Bechers begraben und wäre jetzt selbst durch die Posaune des jüngsten Gerichts nicht zu erwecken gewesen. Vergebens war alles Anrufen und Schütteln, Herr Cione stieß nur unartikulirte grunzende Laute aus und ließ den Kopf, den man ihm mit Gewalt in die Höhe gerichtet hatte, schwer in die Kissen zurückfallen.
Und als die Alte, um bis zu seinem Bewußtsein durchzudringen, ihm den Namen seiner Tochter in die Ohren schrie, lallte er:
„Ja, ja, sie ist ein Engel geworden, – laßt mich in Frieden!“ und führte mit dem mühsam aufgehobenen Arm einen so kräftigen Schlag nach der Stelle, woher der Eingriff in seine Ruhe geschah, daß es die beiden Alten gerathen fanden, sich zurückzuziehen, von ferneren fruchtlosen Versuchen abzustehen und die Verantwortung für den ganzen Vorfall selbst zu tragen.
Sie flüchteten sich in ihr Bett und sprachen noch viele Vaterunser für die Ruhe der armen Seele, bis sie endlich selbst entschliefen.
Nachdem Leonardo in seiner Betäubung lange, ohne zu wissen, was er that, noch wo er sich befand, in der nächtlichen Stadt umhergeirrt war, den Tod erwartend, den er glaubte von Ginevras Lippen getrunken zu haben, bog er endlich, von einem inneren Triebe geleitet, in die Straße ein, wo sein elterliches Haus stand. Da sah er eine weiße Gestalt regungslos auf den Thürstufen sitzen, ein goldenes Kränzlein in den Haaren, die Flechten aufgelöst über die Schultern hängend und das Gesicht im Mondschein geisterbleich glänzend.
Der starke Mann stand vor Schreck gelähmt, kaltes körperliches Entsetzen rieselte durch seine Glieder und sträubte ihm die Haare auf dem Kopf.
„Ist das der Wahnsinn?“ fragte er sich, an die Stirn greifend. „Ist das Bild aus meinem eigenen Geiste herausgetreten und hat die Gestalt des Lebens angenommen, daß ich ihm auf allen Schritten begegnen muß?“
Als Ginevra die Männergestalt sah, die zuerst vor ihrem Anblick zurückgeprallt war und nun in der grellen Mondbeleuchtung mit weit aufgerissenen Augen zaudernd vor ihr stehen blieb, erhob sie sich wie schuldbewußt und wich mit ausgestreckten Händen scheu zurück.
„O bleibe, bleibe, entflieh mir nicht!“ rief der junge Mann, indem er sich aus dem Bann des Grausens loszuringen strebte und entschlossen herantrat, denn er glaubte seine letzte Stunde gekommen. – „Und wenn Du ein Blendwerk der Hölle wärst, ich fürchte mich nicht vor Dir, da Du so theure Züge trägst.“
„Ich bin ja todt,“ sagte sie zögernd mit gesenktem Kopf, als gestehe sie ein Verbrechen ein, und drängte sich dabei immer weiter nach der Mauer zurück. – „Alle haben sich vor mir gefürchtet,“ setzte sie mit halberloschener Stimme hinzu, die klang, als sei ihr die Gewohnheit des Sprechens schon fremd geworden – „sie wollten mich nirgends einlassen; aber ich thue niemand ein Leides und will gleich wieder gehen.“
„Ginevra!“ rief er, und sie horchte hoch auf bei diesem Ton, aber noch immer war ihr Blick fremd und irr.
„Nein, kein Trugbild,“ fuhr er mit schauerndem Entzücken fort, „dies ist meine Ginevra selbst – Du kommst, weil ich Dich rief – im Sarg hab’ ich mich Dir zum zweiten Mal verlobt und Dein bin ich mit Leib und Seele. O, fürchte nicht, daß mir Dein Anblick schrecklich sei! Wohin Du gehst, will ich Dich begleiten, und wo Du seist, will ich bei Dir sein.“
Da brach das Licht der Liebe durch die Umdüsterung ihres Geistes, und sie sank willig in die Arme, die sich ihr entgegenstreckten.
„O Leonardo!“ sagte sie und die Worte brachen gewaltsam wie ein Schluchzen aus ihrer Brust. – „Laß mich noch einmal den Kopf an Deine Schulter legen – so lange, lange hab’ ich mich danach gesehnt – ich mußte Dich noch einmal sehen, ich bin ja nur aufgestanden, um Dir zu sagen – ach, fühle, wie kalt ich bin – alle haben sich gefürchtet –“
Ihre stammelnde Rede ward unterbrochen durch heftige Küsse, die ihr den Mund verschlossen.
„Ich fürchte mich nicht,“ rief der Jüngling außer sich – „wenn Dein Hauch Verwesung ist und Dein Kuß Verdammniß, was sind Tod und Hölle, wenn ich bei Dir bin? – Sieh, wie der feige Tyrann besiegt und winselnd um die Ecke schleicht! Fasse mich an – halte fest an mir, daß er Dich nicht noch einmal hinwegführe.“
Er hob sie in den Armen auf und eilte mit der theuern marmorkalten Last nach dem Hause, dessen Thür er durch einen Fußtritt sprengte, als ob ein Verfolger hinter ihnen wäre.
In einem Zimmer zu ebener Erde ließ er sie auf ein Ruhebett nieder, bedeckte sie sorgsam mit seinem Mantel und warf sich daneben auf die Kniee, sie von neuem umschlungen haltend. Ginevra schmiegte sich schauernd an ihn und sog gierig Lebenswärme von seinen Lippen, während ihre kalten Hände wie halberstarrte Vögelein an seiner warmen Brust eine Zuflucht suchten. Sie wollte reden, aber die Stimme gehorchte nicht, und nur ein heftiges, krampfartiges Schluchzen machte ihrer Erschütterung Luft. Der Jüngling ließ ihr keine Zeit, zur Besinnung zu kommen; überwältigt von der schauerlichen Süße dieses Zusammenseins preßte er die vermeintliche Todte an seine klopfende Brust und stammelte unter heftigen Liebkosungen:
„Weine nicht, Ginevra, ich bin ja Dein – Du sollst nicht mehr in Deinem kalten Bette liegen! Ist es Sünde, daß ich diesen Mund küsse, auf den der Tod sein Siegel gedrückt hat, daß ich in diese starre Brust meine Lebensflamme ausströmen lasse? – Mag sie erlöschen, wenn sie Dich nicht mehr wärmen kann. O Ginevra, dieser Augenblick wiegt mir die ganze Ewigkeit auf, die ich verscherze. Und wenn ich ihn mit Strafen der Hölle zahlen muß, der Preis soll mir nicht zu theuer sein für so viel Glück.“
Am Ende stammelte er nur noch unzusammenhängende leidenschaftliche Worte, auf die Ginevra durch Thränen, Seufzer und Küsse antwortete. Das irdische Dasein zerfloß zu Nebel vor ihren entzückten Sinnen, sie wußten nicht mehr, ob sie dem Tode oder dem Leben angehörten, sie wußten nur, daß sie Selige waren. Und endlich lösten sich Ginevras Arme vom Hals ihres Geliebten, ihr Kopf sank ermattet an seiner Brust herunter und sie entschlief. Leonardo bewegte noch zuweilen die Lippen, um ihren Namen zu flüstern, während der Schlummer auch seine Lider streifte und sein Haupt herniederzog, daß es auf dem ihren ruhte. Und die reine Florentinische Sternennacht wachte mit ihren glänzenden Augen über der Liebe, die die grausenvolle Schranke zwischen den Lebendigen und Todten übersprungen hatte.
Erst die Morgensonne scheuchte aus Leonardos vom Schlummer gestärkten Sinnen die schauerlich süßen Nachtgebilde, und er erkannte, daß er keine Leiche auf den Knieen hielt, sondern blühendes junges Leben, das in seinen Armen erwarmt war und nun mit gleichem Pulsschlag ruhig lächelnd athmete. Er bettete die Schläferin sanft auf dem Lager, das er mit Thränen der Freude und frommer Rührung benetzte. Er brauchte sich nicht zu fragen, wie alles gekommen sei, von selber drängte sich die Erkenntniß in seine Seele, daß er es gewesen, der ohne sein Wissen Ginevra vor dem schrecklichen Los der Lebendigbegrabenen gerettet hatte.
Den Rest des Hergangs erfuhr man aus ihrem eigenen Munde, als sie nach langem erquickenden Schlummer sich allmählich mit glücklichem Staunen in der Wirklichkeit zurechtfand.
[81]
[82] „Sind wir im Paradiese?“ waren ihre ersten Worte, als sie die Augen aufschlug und gleich aufs neue ihre Arme um Leonardos Hals verschränkte. Doch gern ließ sie sich nun überzeugen, daß warmes lebendiges Blut in ihren Adern rann und daß ihre Wonnen noch der Erde angehörten.
Sie saß auf dem Ruhebett Hand in Hand mit ihrem wiedergefundenen Freund, und kein Gedanke, jemals in die alten Fesseln zurückzukehren, kam in ihre Seele. An das Jahr ihrer Ehe dachte sie wie an einen schweren Traum, den ein seliger Morgen verblassen läßt, und wenn Leonardo die Arme um sie schlingend sagte:
„Du bist jetzt meine Gefangene, weißt Du das? Ich gebe Dich nie, nie wieder frei“ – nickte sie nur, als verstehe sich das von selbst.
Ueber die Ereignisse, durch die sie vor einem Jahre getrennt worden waren, hatten sich die Liebenden sehr bald verständigt.
Leonardo erzählte von seiner schweren Verwundung in jener Nacht, wo ihm das Schicksal den Kelch vom Mund gerissen, den er schon an die Lippen zu setzen glaubte. Erst nach seiner Genesung, die er vor allem Gianettas sorgsamer Pflege dankte, erfuhr er, daß Ginevra schon seit Wochen vermählt war. Ginevra vermählt und er in ihren Augen ein Treuloser, ein Feigling, nicht werth, daß sie Ruf und Freiheit, vielleicht das Leben gewagt hatte, um die Seinige zu werden. Wir schweigen von des Jünglings Wuth und Verzweiflung, von all den sinnlosen Plänen, die er schmiedete, um zu ihr durchzudringen, ihre Bande zu zerreißen und sie mit sich fortzuführen oder zu ihren Füßen sein Leben auszuhauchen. Der alte Rondinelli, der mit heimlicher Sorge das scheue wilde Wesen des Sohnes sah, beschloß, diesem Treiben ein Ende zu machen und selbst mit Leonardo nach Livorno zu reisen, um ihn dort nach Frankreich einzuschiffen. Der Jüngling gehorchte und riß sich mit blutendem Herzen los; doch auch in diese Wunde goß die weise Gianetta einen kühlenden Balsam, indem sie ihm zusagte, ihn in seiner Abwesenheit vor Ginevra von der Schmach des Abfalls zu reinigen – freilich fand es die kluge Matrone dann nach reiflicher Ueberlegung für Ginevras Ruhe und den Frieden aller gerathener, ihr Versprechen zu vergessen und die Vergangenheit schlafen za lassen. – Noch bei der Abfahrt, als schon der Wind die Segel blähte, rief ihm sein Vater nach, er solle sich nicht unterstehen ohne Braut zurückzukehren, und gleich bei seiner Ankunft in Lyon sah er das schöne Mädchen, das ihm bestimmt war und dessen stille Augen ihn erwartet zu haben schienen. Aber all ihre sittsame Anmuth vermochte nichts über das Herz, das noch ganz von Ginevras glänzenderem Bilde erfüllt war; er besorgte still die aufgetragenen Geschäfte und blieb ein wortkarger Gast in dem Haus, das ihn so freundlich aufgenommen hatte. Eine nagende Sehnsucht, die er zur Beschönigung vor sich selbst Heimweh nannte, die aber nichts anderes war als das unüberwindliche Verlangen, Ginevra wiederzusehen oder doch von ihr zu hören, trieb ihn Tag und Nacht umher und ließ ihn in der Fremde keine Stunde froh werden, bis seines Vaters plötzlicher Tod ihn nach Florenz zurückrief. Er sah Ginevra wieder und ihre tiefe Bewegung bei seinem Anblick sagte ihm, was sein Herz längst geahnt hatte: daß er nicht vergessen war. Und obwohl er sich den Schwur gethan hatte, ihren Frieden nicht zu stören, trieb es ihn doch unwiderstehlich in ihre Nähe und er konnte es nicht lassen, ihr Haus zu umschwärmen, ob er vielleicht von weitem nur ihren Schattenriß oder den Saum ihres Gewandes erblicke.
Und so hatte er endlich den Tag zuvor von den Nachbarn die Schreckenskunde vernommen, daß Ginevra der Seuche erlegen sei.
Ginevra hatte ihrerseits nicht viel hinzuzufügen und zu erklären, da Leonardo nur allzu bereit war, sie von aller Schuld freizusprechen. Das schwere Geheimniß, durch das sie die ganze Familie der Agolanti ins Verderben stürzen konnte, behielt sie tief in ihrer Brust, indem sie Leonardo sein Leben lang über die Urheber jenes nächtlichen Ueberfalls im Dunkel ließ. Sie erklärte nur, daß sie sich durch die Grausamkeit, mit der man sie bei lebendigem Leib zu Grabe getragen und ihr dann die Rückkehr in das eigene Haus verwehrt habe, jeder Pflicht gegen die Agolanti entbunden fühle und nun auch wirklich für sie todt sein und bleiben wolle.
Gegen abend aber schwand Ginevras Freudigkeit mehr und mehr, sie versank in Nachdenken und ihre Augen füllten sich häufig mit Thränen. Auf Befragen gestand sie, daß der Gedanke an den Kummer und die Einsamkeit ihres Vaters, wenn er fortfahren müßte, sie für todt zu betrauern, ihr Glück auf ewig trüben würde. Leonardo war zwar der Meinung, ihr Vater würde sich mit der Zeit schon zu trösten wissen, gab aber schließlich ihren Bitten nach und versprach, den alten Ritter ins Geheimniß zu ziehen, doch nicht ohne daß ihm Ginevra zuvor durch einen heiligen Schwur gelobt hätte, sich durch keine Bitten, Drohungen noch Vorspiegelungen jemals wieder von seiner Seite reißen zu lassen.
Ein vertrauter Diener wurde mit der wunderbaren Botschaft zu Ginevras Vater geschickt. Des alten Mannes Staunen, Rührung und Freude kannten keine Grenzen. Er stieg sogleich zu Roß, um sein vom Tode erstandenes Kind wiederzusehen, und nahm nicht einmal Anstoß daran, daß er sie im Hause seines Todfeindes suchen mußte. Schon mehr als einmal hatte er im Laufe dieses Tages die Frage bei sich aufgeworfen, ob nicht ohne die gezwungene Heirath mit Ricciardo sein Kind noch am Leben wäre.
Aber während der alte Ritter schluchzend seine wiedergeschenkte Tochter in den Armen hielt und von Zeit zu Zeit sanftmüthige Blicke auf den jungen Leonardo warf, der ihm mit einfachen männlichen Worten das ganze herzbewegende Ereigniß erzählte, herrschte Schreck und Bestürzung unter den Agolanti.
Frau Fama war nämlich nicht müßig gewesen; die Gespenstererscheinung der vergangenen Nacht machte durch die ganze Stadt die Runde, die Diener der Agolanti tauschten mit dem Pförtner vom Palast der Amieri ihre nächtlichen Abenteuer aus, endlich hatte ein Nachbar der Rondinelli die weiße Gestalt vor Leonardos Thür sitzen sehen und war Zeuge gewesen, wie der junge Mann sie ins Haus trug – kurz, was Messer Cione, der von der mitternächtlichen Erscheinung nichts wußte, so sehr überrascht hatte, war den Agolanti längst kein Geheimniß mehr.
Als sich Messer Baldassarre nach vielen Ueberlegungen entschloß, mit dem alten Ritter über die Begebenheit Rücksprache zu nehmen, erfuhr er zu seinem maßlosen Erstaunen, daß Messer Cione schon seit mehreren Stunden bei dem jungen Rondinelli verweile.
Er versuchte noch zu vermitteln und auszugleichen, aber all seine Söhne und Anverwandte, Ricciardo an der Spitze, schlugen Lärm und beklagten sich bei der Signoria über den Schimpf, der ihnen widerfahren, und daß Ricciardos Schwiegervater selbst die Hand im Spiele habe.
Die Signoren ordneten eine strenge Untersuchung an; da fand es sich, daß Ginevras Gruft schon geschlossen war, denn der Küster hatte, um das Verschwinden der Leiche geheim zu halten, den leeren Sarg frühmorgens eingemauert. Auch stand Ginevras Name in aller Form auf der Liste der in der Domkirche bestatteten Todten.
Den Klagen der Agolanti trat Leonardo entgegen, indem er erzählte, wie Ginevra wider ihren Willen zu der Heirath mit Messer Ricciardo gezwungen worden sei, wie man die Scheintodte mit unwürdiger Eile eingesargt und davongetragen und ihr in kalter Nacht unbarmherzig die Rückkehr in das Haus des Gatten verwehrt habe.
Messer Cione, auf dessen alten Groll die Gegenwart Leonardos einen erstaunlich sänftigenden Einfluß übte und der nun von Entrüstung über das Gebahren der Agolanti überfloß, schlug sich ganz auf die Seite des liebenden Paares und die wunderbare Geschichte machte einen tiefen Eindruck auf die Väter der Stadt.
Es saßen damals im Magistrat von Florenz erleuchtete Köpfe, die besonders, wenn es die Sache eines Popolanen gegen einen Granden galt, nicht leicht um einen guten Einfall verlegen waren. Sie faßten also den Beschluß, „daß, sintemalen durch den Tod jeder Ehebund gesetzlich aufgelöst werde, auf Grund der vorhandenen regelrechten Urkunden, welche Madonna Ginevras Ableben bezeugten, die Ehe mit Messer Ricciardo als erloschen zu betrachten sei und daß in Ermangelung eines Gesetzes, welches das fernere Verhalten einer vom Tode Erstandenen bestimme, besagte Madonna Ginevra befugt und ermächtigt sei, nach Belieben und im Einverständniß mit ihrem Vater über ihre Hand zu verfügen.“
Die Agolanti spieen Feuer und Flammen; da aber der Wahrspruch der Signoria nicht anzutasten war und eine Gewaltthat bei den herrschenden strengen Gesetzen als ein zu großes Wagniß erschien, mußten sie sich bequemen, die Schlappe einzustecken. Nach reiflichen Erwägungen entschlossen sie sich, den Grabstein, unter welchem der leere Sarg versenkt war, in der Familiengruft stehen zu lassen und die Thatsache von Madonna Ginevras frühem Ende vor Freund und Feind aufrecht zu halten. Dadurch gaben sie [83] einerseits ihrem Familienstolz und ihrem Haß Ausdruck und zeigten sich zugleich doch dem Spruch der Signoria gehorsam.
Die blonde Ginevra wurde gleich den andern Tag in aller Form Rechtens dem jungen Rondinelli angetraut, und der Priester vernahm diesmal ein lautes, freudiges Ja von ihren Lippen.
Messer Cione söhnte sich in der Folge ganz mit dem neuen Schwiegersohn aus, und da seine Freundschaft für Messer Baldassarre durch die letzten Ereignisse einen schweren Stoß erlitten hatte, brachte er von nun an seine Abende meist in Gesellschaft des jungen Paares zu, das ihn durch den Anblick seines Glückes in der rosigsten Laune erhielt.
Und als er nach Jahresfrist einen kräftigen, kugelrunden, zappelnden Sprößling auf den Armen schwang, der ihm zu Ehren Cione getauft wurde, war seine Zufriedenheit vollkommen und er vergaß ganz, daß er einst geschworen hatte, seine Tochter lieber todt als in den Armen eines Rondinelli zu sehen.
Seine Vergeßlichkeit ging mit der Zeit noch so weit, daß er, als ihm eines Tages zu Ohren gekommen war, Messer Ricciardo habe sein ganzes Erbe im Spiel vergeudet und noch seinen alten Vater in Schulden verwickelt, zu seiner Tochter sagte:
„Siehst Du, ich hab’ es Dir ja immer gesagt, daß der Mensch ein Taugenichts ist und nie für Dich paßte.“
Das alte stolze Geschlecht der Amieri sank mit Messer Cione in die Grube, aber von seinem herrlichen Palast sind noch die Ueberreste vorhanden, die jedoch wer weiß wie bald der herrschenden Zerstörungswuth zum Opfer fallen werden. Nicht lange, so erlosch auch der söhnereiche, weitverzweigte Stamm der Agolanti. Aber von Leonardo und Ginevra sproßte ein Geschlecht, das jahrhundertelang eine Zierde seiner Vaterstadt war und dessen Name noch heute in einer der Hauptstraßen von Florenz erhalten ist.
Noch lange Zeit nach den Ereignissen, die wir hier erzählt haben, zeigte man in Florenz das leere Grab der blonden Ginevra, und das Gäßchen, durch welches die Auferstandene an jener für sie so verhängnißvollen Nacht von der Domkirche nach dem Haus ihres ersten Gatten zurückgekehrt war, heißt bis auf heute die Via della Morte (Weg der Todten).
Wer aber dem gestrengen, fürsichtigen und wohlweisen Magistrat von Florenz kein so salomonisches Urtheil zutraut und daher diese schöne Geschichte für die Ausgeburt eines müßigen Hirnes hält, der mag auf der Laurentianischen Bibliothek zu Florenz in einer ungedruckten, vergilbten Chronik des vierzehnten Jahrhunderts den ganzen Hergang mit allen Namen, Daten und Umständen nachlesen.
Blätter und Blüthen.
Arabische Trick-Track-Spieler. (Mit Illustration S. 81.) Es giebt kein spielseligeres Volk als die Araber. Selbst ihre Kunst ist ein phantastisches Spiel aus Ornamenten, mit geometrischen Linienverschiebungen, die niemals zum Denken anregen, niemals einer Idee Ausdruck geben, sondern nur den Sinn des träumerisch Dahinlebenden spielend beschäftigen und zerstreuen wollen. Der Araber spielt überall und mit allem. Fehlt es ihm an jeder andern Gelegenheit dazu, so greift er zu der Schnur dicker Bernsteinperlen, die er, wie der Katholik seinen Rosenkranz, im Gürtel trägt, und läßt dieselben langsam durch die Finger gleiten. Die feine, milde Masse des fossilen Harzes schmeichelt den empfindlichen Nerven der Fingerspitzen angenehm, deshalb zieht der Orientale den Bernstein allen anderen Stoffen zu diesem Spielzwecke vor. Wo wir in Marokko, in Tunis, in Aegypten Menschen beisammen sehen, da spielen sie entweder selbst oder schauen einem Gaukler, einem Schlangenbändiger, einem Taschenspieler zu. Die Kaffeehäuser sind angefüllt mit Schachspielern, weniger häufig werden dort Karten hervorgesucht. Es ist wohl kein Zufall, daß die meisten unserer Spiele aus dem Orient stammen. In seiner Spielsucht unterscheidet das niedrige arabische Volk sich durchaus nicht von den höheren Ständen, nur greift ersteres mehr zu einfacheren Spielen, das königliche Schach ist ihm zu hoch. Es ist offenbar ein Kaffeehaus für das niedrige Volk, das wir im Bilde überblicken. Der Wirth führt wohl nicht viel mehr als jenen braunen, schokoladendicken, aromatischen Trunk, der nirgends vorzüglicher bereitet wird als im Orient. Seine Gäste sind an Komfort nicht gewöhnt, selbst die Schale Kaffee, auf deren Abnahme der Wirth anderswo wohl Anspruch machen würde, versagen sie sich, sie treten, auf die orientalische Gastlichkeit vertrauend, nur ein, um zu spielen.
Auf den Teppich gekauert folgen sie mit fast leidenschaftlicher Erregung den Zügen auf dem Trick-Trackbrette. Die in ihre Burnus und Kopftücher gehüllten Gestalten sind so ernsthaft bei der Sache, daß sie auf die anderen Besucher des Kaffeehauses nicht achten. Diese aber zieht das Spiel herbei. Der eine hat seine Nargileh bei Seite gestellt, der Schlauch der Wasserpfeife liegt am Boden, er selber hockt auf einem Hühnerkäfig, um von den Schwankungen des Kampfes nichts zu verlieren. Ein junger Arbeiter sitzt zwischen den Kämpfenden, ein anderer blickt von der gemauerten Bank an der Wand zu ihnen hinunter. Keinen aber interessiren die Spielenden, jeden nur das Spiel selbst, das augenblicklich wohl bei der Entscheidung angelangt ist. Alle semitischen Stämme, die an den Küsten des Mittelmeeres wohnen, theilen mit einander dieselbe Vorliebe für unthätiges, träumerisches Dahinleben und für die leichten Anstrengungen, die ihnen das Spiel gewährt. Bei allen orientalischen Spielen handelt es sich niemals um Einsatz und Gewinn, wie zumeist bei unseren europäischen, sondern allein um die Freude am Spiele selbst. Deshalb behält es hier völlig die harmlose kindliche Art und weit lieber als an den grünen Tischen unserer Spielhöllen bleibt der europäische Fremdling bei diesen malerischen Gruppen stehen, weniger um den von Spitze zu Spitze vorgeschobenen Damenbrettsteinen des Trick-Track zu folgen, als die interessanten Charakterköpfe zu beobachten, die der Spielenden sowohl als der Zuschauenden, wie der Künstler sie hier charakteristisch wiedergegeben hat, indem er einen der hervorragendsten Züge orientalischen Volkslebens schildert.
Ruhm und Nachruhm. Die schwierigste aller Voraussagungen ist doch die über geistige Unsterblichkeit. Wie viele von ihrer Mitwelt in die Wolken gehobene Namen sind heute zu Sternlein dritter und vierter Größe zusammengeschrumpft, wie viele andere strahlen heute als Leuchten ersten Ranges, von denen ihre Zeitgenossen wenig wußten! In welchem Dunkel Shakespeare lebte und webte und dahinging, ist bekannt – haben sich ja doch auf diesen Umstand die abenteuerlichsten Hypothesen gegründet! Auch Cervantes, der größte Dichter Spaniens, wurde nicht entfernt nach Gebühr gewürdigt, und Molière, der Corneille und Racine so weit überragt, galt der großen Menge gegen sie nur als lustiger Possenreißer. Selbst Ludwig XIV. war hocherstaunt, als ihm der feinsinnige Boileau auf seine Frage, wen er für den größten Dichter Frankreichs halte, ohne Zögern erwiderte: „Molière, Majestät!“
„Wirklich?“ entgegnete zweifelnd der König. „Das hätte ich nicht für möglich gehalten!“
Es gereicht demselben Boileau zur hohen Ehre, daß er, im Gegensatz zu den Gelehrten seiner Zeit, unter der schlechten Uebersetzung den Geist Homers fühlte, während später Voltaire die Aeneis des Virgil hoch über die Ilias stellte und in Deutschland Thomasius versicherte, daß jeder vorurtheilsfreie Leser Hans Sachs unbedingt den Vorzug vor Homer geben müsse!
Und wie erging es erst den Musikern! Mozart mußte sich nach der ersten Aufführung des „Don Juan“ von der Berliner Kritik die unsterblichen Werke „eines Gretry, Montigny und Philidor“ vorrücken lassen im Gegensatz zu seiner „gekünstelten Oper“; über Beethovens „Fidelio“ schrieb 1806 Kotzebues Blatt, alle unparteiischen Musikkenner seien einig, daß so etwas Unzusammenhängendes, Grelles, das Ohr Empörendes noch nie in Musik geschrieben sei!
Aber auch Weber, der melodienreiche, entging demselben Schicksal nicht. Zelter, dessen musikalisches Urtheil für Goethe so maßgehend war, schreibt nach der ersten Aufführung des „Freischütz“: „Von eigentlicher Leidenschaft habe bei allem Gebläse wenig bemerkt – Teufel schwarz, Tugend weiß, Orchester in Bewegung, und daß der Komponist kein Spinozist ist, magst Du aus dem Umstand abnehmen, daß er ein so kolossales Nichts aus eben benanntem Nihilo erschaffen hat.“
Ludwig Tieck aber, das ästhetische Orakel seiner Zeit, nennt den „Freischütz“ ganz kurz „das unmusikalischste Getöse, das je über die Bühne getobt ist“.
Sollte man solchen Beispielen der Vergangenheit, die sich noch unendlich vermehren ließen, gegenüber nicht auch manchmal an der Unfehlbarkeit unseres heutigen Geschmackes im Bewundern und Verdammen einen stillen Zweifel hegen? Br.
Gedichte von Isolde Kurz. Den Lesern unseres Blattes ist die Dichterin wohl bekannt als beliebte Erzählerin, wie durch Aufsätze über italienische Zustände, deren lebendiges Kolorit ihre Vertrautheit mit denselben hinreichend bewies. Italien ist ihre zweite Heimath geworden; singt sie doch in ihrer soeben erschienenen Sammlung „Gedichte“ (Frauenfeld, J. Huber) ein begeistertes Loblied dem schönen Lande, das mit den Worten beginnt:
„Hingestreckt zwischen beiden Meeren
Liegst du und träumst in Mittagsruh,
Götterliebling!
Und die Wellen singen ihr altes Lied,
Das wellenalte,
Von deiner Schöne, von deinem Ruhm.“
Auch benutzt sie mit Vorliebe die Formen der italienischen Dichter, und in dem Todtenkranz „Asphodill“ sind es vorzugsweise Sonette mit anmuthig verschlungenen Strophen, die sie auf das Grab eines beweinten Todten legt.
Ueberhaupt muß man der Dichterin das Lob großer Formgewandtheit, schöner Klarheit in Gedankengängen, harmonischer Vers- und Reimbildung spenden, ein Lob, das man vielen ihrer Schwestern in Apoll vorenthalten muß, deren Gedanken oft so verworren sind wie die aus einem Haufen Werg hervorgezausten Fäden. Und wir wollen nicht einmal diesen künstlicheren Strophenformen den Vorzug geben, obschon die hier überwundenen Schwierigkeiten am meisten für die Formbeherrschung der Dichterin sprechen; unter den kleineren Liedern und Gedichten in der ersten Hälfte der Sammlung finden sich einige, die so zartempfunden, so [84] stimmungsvoll hingehaucht sind, daß sie, noch dazu bei der Durchsichtigkeit ihrer Form, die peinlichste Kritik entwaffnen müssen. Die hüpfenden Verse im „Gesang der Wellenmädchen“ erinnern lebhaft an Goethesche Vorbilder. Hin und wieder findet sich ein humoristischer Anklang, wie in dem trefflichen Gedicht:
So weiß kann keine Wäscherin
Als wie die Liebe waschen.
Da bringt Verschwärzen nicht Gewinn,
Sie haucht nur auf die Flecken hin
Und weg sind Staub und Aschen.
Die Thrän’ aus ihrem Aug’ so treu
Ist wunderthät’ge Lauge.
Nicht Jordans Wasser schafft so neu,
So rein macht Buße nicht und Reu’
Wie Thrän’ aus Liebesauge.
Und wär’ die Schuld so riesengroß,
Und könnt’ sie Engel fällen,
Und reicht’ bis in der Hölle Schoß:
Die Liebe wäscht sie fleckenlos
Mit ihres Herzbluts Wellen.
O schilt mir nicht um ihren Fleiß
Die Wäscherin, die gute,
Und wäscht sie auch die Mohren weiß,
Sie thut’s mit Thränen rein und heiß,
Sie thut’s mit ihrem Blute.
Ein ähnlicher Gedanke ist in „Amors Schmiede“ ausgesprochen:
„Herzen schartig, rostzerfressen,
Nimmt er gern und schmilzt sie ein;
Aus dem Feuer seiner Essen
Gehn sie ganz und spiegelrein.“
Die Gedichte von Isolde Kurz schlagen verschiedene Tonarten an, doch es ist nirgends hohler Klingklang, es ist in allen Geist und Seele.
Von der Zeitrechnung der französischen Republik. Bekanntlich hat die erste französische Republik außer der Religion auch die alte Zeitrechnung abgeschafft und an deren Stelle eine neue treten lassen. Durch dieselbe, die mit dem 22. Herbstmonat 1792, dem Tage der Gründung der Republik, ihren Anfang nahm, wurde das Jahr in 12 gleiche Monate von je 30 Tagen getheilt, die fünf übrig bleibenden Tage – die Sansculottentage – wurden zu keinem Monate gerechnet, waren vielmehr verschiedenen Nationalfesten gewidmet, so dem Feste der Tugenden, des Genies, der Arbeit, der Meinung und der Belohnungen. Die Monate erhielten ihre Namen von der Witterung und den Erzeugnissen der betreffenden Jahreszeit; sie hießen für den Herbst (vom 22. September bis 20. Dezember) Herbst- oder Weinlese- (Vendémiaire), Nebel- (Brumaire) und Reif- (Frimaire) Monat; für den Winter (vom 21. Dezember bis 20. März) Schnee- (Nivôse), Regen- (Pluviôse) und Wind- (Ventôse) Monat; für den Frühling (vom 21. März bis 18. Juni) Keim- (Germinal), Blüthe- (Floréal) und Wiesen- (Prairial) Monat; für den Sommer (vom 19. Juni bis 17. September) Ernte- (Messidor), Hitze- (Thermidor) und Frucht- (Fructidor) Monat. Die Tage vom 18. bis 22. September bildeten die erwähnten sogen. Ergänzungstage (jours sansculottides). Jeder Monat wurde in drei gleiche Theile, Dekaden, getheilt, deren jede 10 Tage hatte, welche die Namen Primedi, Duodi, Tridi etc. führten; der letzte Tag – Décadi – war der Ruhetag für alle öffentlichen Geschäfte.
Weniger bekannt als die vorstehende Eintheilung sind die Namensbenennungen der Tage, welche an die Stelle der Heiligennamen traten, welche die französische Republik natürlich nicht brauchen konnte. Auch hier ging dieselbe ganz systematisch vor. An die Stelle des Heiligennamens wurde der Name irgend eines nützlichen Erzeugnisses des Pflanzen- und Mineralreiches gesetzt. Nur der fünfte Tag – Quintidi – und der letzte Tag jeder Dekade machten hiervon eine Ausnahme; ersterer wurde nach einem Thiere, letzterer nach einem Acker- oder sonstigen landwirthschaftlichen Geräthe benannt. Wie entsetzlich nüchtern und andererseits wie komisch sich solche Tagesbenennungen ausnahmen, möge aus folgenden Beispielen ersehen werden. Die erste Dekade des Reifmonats zeigte folgende Namen: 1. Rapunzel; 2. Runkelrübe; 3. Wegwart; 4. Mispel; 5. Schwein; 6. Rebkressen; 7. Blumenkohl; 8. Honig; 9. Wachholder; 10. Pickel. Die des folgenden Monats – des Schneemonats – hießen: 1. Torf; 2. Steinkohle; 3. Erdpech; 4. Schwefel; 5. Hund; 6. Lava; 7. Pflanzenerde; 8. Dünger; 9. Salpeter; 10. Dreschflegel. Zu ihrer richtigen Beurtheilung muß allerdings beigefügt werden, daß diese Namen in irgend einem Bezuge zu dem betreffenden Monate standen. H. B.
Ein Entsumpfungsmittel. In den fiebererzeugenden Sumpfgegenden Italiens, Spaniens und Südfrankreichs, namentlich aber im nördlichen Afrika, in Algerien und am Nil, pflanzt man, wie wir schon in unserem Artikel über die Campagna in Nr. 45 des Jahrgangs 1888 erwähnten, den blauen Gummibaum (Eucalyptus globulus), welcher die Eigenschaft besitzt, die in den Sümpfen sich entwickelnden Fieberstoffe aufzusaugen und dadurch den Boden und die Luft zu verbessern, in großer Menge an. Leider gedeiht aber diese Pflanze, welche sich in den Tropen, besonders in Australien und Tasmanien, zu mächtigen Bäumen entwickelt, in unseren Breiten nicht im Freien, da die hier auftretenden Winterfröste sie vernichten würden, und die Bewohner sumpfiger Gegenden waren daher genöthigt, sich nach Ersatz umzusehen, der dieselbe Wirkung übt wie der Gummibaum, aber unser Klima verträgt, dessen Anpflanzung aber auch mit wenig Mühe und Kosten verbunden sein darf. Eine solche Pflanze hat man in unserer gewöhnlichen Sonnenblume (Helianthus annuus L.) gefunden, nachdem vielfache Versuche mit anderen Gewächsen sich als nutzlos erwiesen. Auf den ausgedehnten sumpfigen Moorgründen und schwammigen Heidestrecken bei Rochefort in Frankreich baut man schon seit längerer Zeit Sonnenblumen in großer Menge an und hat damit sehr gute Erfolge erzielt und in Holland ist da, wo man dem Beispiele Frankreichs gefolgt ist, das Fieber verschwunden.
In Deutschland hat man unseres Wissens die Sonnenblume noch nicht zu derartigen Zwecken verwandt, es dürfte sich aber der Mühe verlohnen, auch hier Versuche anzustellen. Es fehlt auch bei uns nicht an Sumpf- und Moorstrecken, die nutzbar zu machen ein großer Gewinn wäre, besonders wenn sich dies auf so einfache und billige Weise erzielen läßt. Außerdem ist aber auch jeder Theil dieser Pflanze zu verwerthen: die Stengel als Brennmaterial, die Blätter als gutes Viehfutter, die Kerne zur Oelbereitung oder als treffliches Mastfutter für Geflügel und die Blüthen zur Honigbereitung, da die Bienen dieselben mit großer Vorliebe aufsuchen. Die Sonnenblume verbraucht sehr viel Feuchtigkeit, die sie dem Boden entzieht, wodurch sie ihn austrocknet, so daß sie wohl geeignet erscheint, werthloses Sumpfareal in brauchbares Ackerland zu verwandeln.
Fräulein Margarethe in W. Die scherzhafte Räthselfrage lautet: Wenn eine Gans 10 Pfund wiegt und die Hälfte ihres eigenen Gewichtes, wie viel wiegt die Gans? Den meisten ergeht es bei der Auflösung wie Ihnen, sie nehmen irrthümlich die genannte Zahl 10 als Gewichtszahl an und fügen 5, die Hälfte, hinzu, wonach dann 15 sofort als die gesuchte Zahl genannt wird, ohne daß jemand den Widerspruch bemerkt, der in dieser Auflösung liegt. Wollen Sie nicht noch einmal über das große Problem nachdenken? Wir wollen Ihnen die Freude gönnen, selbst die Auflösung zu finden. Sollte dies aber wider Erwarten nicht der Fall sein – nun, so besteht ja der Briefkasten auch ferner noch und wird Ihnen mit Vergnügen das Facit übermitteln.
Adolf Sch. in L. Beim Sylvesterpunsch ist der Wunsch in Ihnen aufgestiegen, über die Herkunft des Punsches einiges Nähere zu erfahren? In seinem schönen und lesenswerthen Buche „Der altindische Geist“ bringt M. Haberlandt unter vielen andern interessanten Thatsachen die wohl auch Sie sehr überraschende, daß der feurig belebende Punsch nicht ein Produkt des Nordens zum Schutz gegen die Winterkälte ist, sondern der brennenden Sonnengluth Indiens entstammt, welche auf den menschlichen Körper ebenso verderblich durch Stockung wirkt wie starke Kälte. Der unwiderlegliche Beweis für die indische Herkunft des Getränkes liegt in dem Namen „Punsch“, der durch keine nordische Sprache erklärbar ist, indisch dagegen wörtlich bedeutet: „die Fünf“, die fünf Dinge nämlich, aus welchen der Inder seinen Trank ursprünglich mischte, indem er seinen Rum durch Wasser, Thee, Zucker und Citronensaft zu mildern gewohnt war. Indien ist das Heimathland der Mischungen, sowohl für Wohlgerüche als für Getränke. Eine ganze Menge der letzteren ist dort von Alters her bekannt und begehrt, wenngleich die Inder das fröhliche und gemüthliche Trinken der Germanen so wenig kennen wie die Sylvesterstimmung, welche hier zu Lande den dampfenden „Fünfen“ entsteigt. „Uns aber,“ schließt der Verfasser seine hübsche Abhandlung, „ist gerade der Punsch ein rechtes Symbol für die Ansprüche, welche die indische Kultur auf manches theure Stück unseres Besitzes zu erheben hat. Denn so wie hier mit dem Punsch stehen wir auch mit vielem geistigen Gute, mit philosophischen und religiösen Ideen, mit Märchen und Sagen, unseren Zahlen und dem Schach u. a. zu der indischen Ursprungswelt: wir sind die Beschenkten, aber wir haben nichts empfangen, das wir nicht erweitert, vertieft, geschmückt hätten. Die Inder mischten uns den Punsch, wir aber kränzten den Becher und schufen ihn zum Sylvestertrank!“
Eine treue Abonnentin in Buffalo. Besten Dank für die freundlichen Mittheilungen, welche wir mit Interesse gelesen haben.
Vogelfreund in P. Wir geben hiermit als Ergänzung zu dem Artikel „Der Kuckuck brütet“ in Nr. 25 des vorigen Jahrganges Ihre Mittheilung wieder. Demnach soll schon der Großvater des berühmten Charles Darwin einen Kuckuck brüten gesehen haben; man hatte ihm aber nicht geglaubt und seine Beobachtung für Verwechslung mit einem anderen Vogel gehalten.
Fräulein Helene in K. Sie haben in Ihrem Garten ein Futterplätzchen für Vögel eingerichtet und fragen uns, ob Sie während des Winters Ihren gefiederten Gästen auch Fleisch geben sollen. Es empfiehlt sich, neben den anderen Futterbestandtheilen auch erbsengroß geschnittene Stückchen Fleisch zu geben; dieses muß aber gekocht sein und zwar womöglich ohne Salz. Vor Verabreichung rohen Fleisches ist in diesem Falle zu warnen, einerseits, weil dies vielen Kleinvögeln leicht schädlich wird, und andererseits, weil sich die Amseln, die doch zumeist die Gartenplätze besuchen, dadurch verwöhnen und unnatürliches Futter, junge nackte Vögel, als Näscherei annehmen könnten. Im übrigen verweisen wir Sie auf die treffliche Flugschrift „Futterplätze für Vögel im Winter“ von K. Th. Liebe (Gera, Theodor Hofmann), welche wir wiederholt warm empfohlen haben.
Inhalt der eben erschienenen Hefte 3 und 4 (Preis des Heftes 40 Pfg.)
Heft 3: Das Finkenfranzl. Märchen v. Frida Schanz. Illustr. v. H. Vogel. – Die Heimkehr in der Christnacht. Erzählung v. Julie Ludwig. Illustr. v. H. Vogel. – Wer hat’s am besten auf der Welt? Gedicht v. Georg Lang. – Weihnacht. Gedicht v. Julius Lohmeyer. – Der kleinen Ruth Herzenswunsch. Weihnachtsmärchen. Erz. v. B. Renz. Illustr. v. C. W. Allers. – Weihnachtsarbeiten von Anna Fraenckel. Illustr. nach Zeichnungen der Verf. – Lampenschleier mit Oblaten-Verzierungen. Von M. Laudien. – Mahnung. Spruch v. Julius Lohmeyer. – Knackmandeln. Von Robert Löwicke. – Räthsel etc. von A. Nikolai, Agnes Bochow, C. Leo und R. Löwicke.
Heft 4: Zum neuen Jahr. Gedicht v. J. Trojan. Zeichn. v. Th. Rocholl. – Die vierte Bitte. Erz. v. Wilhelm Fischer. Illustr. v. Jul. Kleinmichel. – Erzählungen aus dem alten deutschen Reich. Von Werner Hahn. – Die Schlacht von Hemmingstedt. Ballade v. Joh. v. Wildenradt. Bild von Johannes Gehrts. – Berthier in Bamberg. Erzähl. v. Joseph Mayer. Originalzeichn. von Richard Knötel. – Sprüche. Von Friedrich Güll. – Blumentopf mit Verzierung aus Gummiknetmasse. Von M. Laudien. Mit Illustr. – Ein Gesellschaftsspiel. Homonym. – Kaiserliche Zurechtweisung. Von L. M. – Die Brüder Grimm. Lebensbild von Julie Ludwig. Illustr. v. C. W. Allers. – Der Gagel. – Knackmandeln.
Inhalt: Lore von Tollen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 69. – Ein Försterheim. Illustration. S. 72 und 73. – Wilhelm Jordan. Ein Gedenkblatt zu des Dichters siebzigstem Geburtstage. Von Alexander Tille. S. 74. Mit Porträt S. 69. – Die Landenge von Panama. 3. Die Durchstechung des Isthmus. Von Dr. Emil Jung. S. 76. Mit Karte S. 77. – Die Vermählung der Todten. Von Isolde Kurz (Schluß). S. 79. – Blätter und Blüthen: Arabische Trick-Track-Spieler. S. 83. Mit Illustration S. 81. – Ruhm und Nachruhm. S. 83. – Gedichte von Isolde Kurz. Von Rudolf von Gottschall. S. 83. – Von der Zeitrechnung der französischen Republik. S. 84. – Ein Entsumpfungsmittel. S. 84. – Kleiner Briefkasten. S 84.