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Die Gartenlaube (1889)/Heft 49

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[821]

No. 49.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Eine Erscheinung.

Hinterlassene Erzählung von Fanny Lewald.

Die nachfolgende Erzählung, die letzte der berühmten Verfasserin, an welcher sie bis zu ihrem Tode arbeitete, ist nach demselben auf Grund ihrer eigenen schriftlichen und mündlichen Angaben von berufener Feder vollendet worden. Die „Gartenlaube“ hat das interessante Manuskript von den Hinterbliebenen erworben und freut sich, es nunmehr ihren Lesern darbieten zu können.

1.

Ich nenne nicht die Zeit und bezeichne nicht den Ort, an welchem diese Erscheinung vor mir aufgetaucht ist.

Ich war auf der Reise, hatte den ganzen Tag auf der Bahn zugebracht und war dicht an dem Ziele, an welchem wir einen Aufenthalt von mehreren Tagen zu machen beabsichtigten, als der Zug plötzlich anhielt, weil ein anderer Zug, der den unsern an dieser Stelle zu kreuzen hatte, noch nicht eingetroffen war. Aus meinem müden Hinträumen aufgeweckt, blickte ich zum Wagenfenster hinaus und sah gleichgültig nach dem Wärterhäuschen hinüber. Es unterschied sich in nichts von allen anderen, an denen wir vorübergekommen waren. Ein Paar Gartenbeete mit Gemüsen bestellt, ein paar Georginen und Stockrosen zur Rechten und zur Linken. Selbst daß neben einem Hügel, der sich wie ein Grab ansah, ein Kruzifix aufgerichtet war, hatte nichts Ungewöhnliches. Wir waren in katholischem Lande. Christusbilder und Kapellen fanden sich oftmals, wo man sie am wenigsten erwartete.

Ohne daran zu denken, sah ich nach dem Wärter hinüber. Er stand, die Signalfahne regelrecht an der Schulter, fest auf seinem Posten – und wie mit einem Zauber steigt eine ferne, ferne Vergangenheit vor mir empor. Ein Name, ein Ruf drängen sich mir auf die Lippen. Aber er war ja todt! – Und dennoch!

So erschreckend, so hell wie dieses Mannes Augen hätten eines Fremden Augen nicht aufgeleuchtet, als die meinen ihm begegneten. Obschon er sich mit seiner Signalfahne unbeweglich in seinen Schranken hielt, konnte ich erkennen, daß er mich bemerkt, daß meine Ueberraschung ihm nicht entgangen war, daß er den Blick geflissentlich von dem Wagen abgewendet. –

Indeß, der Telegraph läutete, die Lokomotiven ließen ihre Zeichen erschallen, der vom Süden kommende Kurierzug sauste an uns vorüber, die Bahn wurde dadurch frei, und die Wärterbude und der Wärter waren unserem Blick entschwunden.

„Unbegreiflich!“ rief ich aus.

„Was hast Du?“ fragte meine Gefährtin.

„Ich habe einen Todten lebendig vor mir gesehen! Einen, der gestorben ist vor sieben, acht Jahren!“

„Also eine Aehnlichkeit – mit wem?“ fragte sie weiter.

„Nein! keine bloße Aehnlichkeit! So können zwei Menschen nicht einander gleich sein! Ich habe ihn gekannt in seiner frühen Jugend, ihn danach wiedergesehen in der Kraft und Schönheit, im Glück seiner Mannesjahre –“

„Seine“ Weihnachtsbescherung.
Zeichnung von R. Gutschmidt.

[822] „Aber von wem sprichst Du denn?“

„Von dem Bahnwärter, an dem wir eben vorüber gekommen sind!“

„Und den willst Du gekannt haben?“ fragte meine Begleiterin lachend. „Welch ein Einfall! Gespenster am hellen Tage! an der Eisenbahn!“

In dem Augenblicke hielt unser Zug aufs neue. Wir waren am Ziele. Die Thüren des Wagens wurden geöffnet, die Packträger drängten sich heran. Der Kondukteur des Omnibus, der von dem Gasthof kam, in welchem ich mir eine schon zum öfteren benutzte Wohnung bestellt, nahte sich grüßend, uns das Handgepäck abzunehmen. Wir wurden in den Omnibus geladen, Fremde zur Rechten, Fremde zur Linken. Die Straßen, die Plätze blieben hinter uns zurück, Altbekanntes, Neuentstandenes glitt an uns vorüber im hellen Licht der sinkenden Sonne.

Wir hielten vor unserem Gasthof. Der Wirth, seine kleine rührige Frau, der bekannte Thürwart kamen uns mit freundlicher Achtsamkeit entgegen. Wir durchmaßen die kleine Hausflur, die Galerien, stiegen die Treppe hinan, fanden uns in den früher bewohnten Räumen mit Behagen wieder. Eine kurze Rast, ein Ausblick von dem Balkon auf den Fluß, ein leichter Imbiß, und meine Gefährtin zog sich in das für sie bestellte Zimmer zurück. Die Hausknechte brachten den Koffer herauf, mein Kammermädchen begann sie aufzuschnallen und das Nothwendige auszupacken, um in den Räumen, die uns für einige Tage aufnehmen sollten, etwas wie eine Heimath herzurichten, so gut sich das eben in der Fremde machen läßt.

Ich aber saß am Fenster und schaute in den Abend hinaus. Ich wurde den Gedanken an ihn nicht los. Es konnte kein anderer gewesen sein als er. Es ließ mir keine Ruhe.

Man hatte ihn in Schweigen begraben seit den Ereignissen, die ihn in das Gefängniß gebracht, ihn ausgestoßen aus seiner Familie und aus der Gesellschaft, in welcher er gelebt. Ich entsann mich, wie er sich dann später unter der Zahl jener Gefangenen befunden, welche 1867 oder 1868 bei einer Vermählung in dem Herrscherhause begnadigt worden waren, und wie man damals erzählte, daß er während seiner Gefangenschaft sich dem Glauben, der Frömmigkeit zugewendet, und daß er in ein Kloster einzutreten denke. Unmöglich war mir das damals nicht erschienen.

Einer katholischen Familie angehörend, war er in seiner Jugend für die Kirche bestimmt gewesen, und eben das hatte in ihm einen Widerstand gegen dieselbe und jenes Verlangen nach völliger Unabhängigkeit, nach freier Willkür hervorgerufen, das ihn zuletzt ins Verderben gestürzt. Phantastisch war er immer gewesen. Es war also nicht mit Bestimmtheit vorauszusagen, was er thun und nicht thun werde, nichts hatte undenkbar für ihn scheinen können. Geschrieben hatte er nach seiner Freilassung an keinen seiner Verwandten, und wie die Verhältnisse lagen, war das natürlich gewesen. Auch keiner seiner früheren Umgangsgenossen hatte etwas von ihm gehört, bis wir alle plötzlich durch die Nachricht aufgeschreckt wurden, daß er, vermuthlich verzweifelnd an sich selber, bei dem Uebergang über den Mont Cenis seinem Leben ein Ende gemacht haben müsse. An einem der steilsten Abhänge der alten Gebirgsstraße hatte man seine Kleider, in denen sich sein Paß und eine geringe Summe Geldes befunden, mit einem Strick zusammengeschnürt, nach dem Schmelzen eines starken Schneefalls an dem Abhange liegen sehen. Mit dem Schnee war natürlich auch die Spur seiner Tritte verwischt, und der Weg nicht zu erkennen gewesen, auf dem er seinem Ende entgegen gegangen war. Seine Leiche hatte man nicht aufgefunden, obschon die Familie auf die Kunde hin mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln die möglichen Nachforschungen nach derselben veranstaltet. Der Gedanke, daß ein Verbrechen an ihm begangen worden, war ausgeschlossen, weil eben die Uhr, die er getragen, und die kleine Summe Geldes, die er mit sich geführt, in den Kleidern gesteckt hatten.

Aller dieser Einzelheiten entsann ich mich genau. Ich wußte, daß mich in diesem Falle mein Gedächtniß nicht betrog, und ich konnte mich trotzdem nicht überzeugen, daß mein Auge sich in solcher Weise getäuscht haben sollte.

Ich träumte von ihm in der Nacht, ich war am Morgen versucht, mich bei dem Wirthe oder bei der Bahnverwaltung nach dem Wärter zu erkundigen, neben dessen Häuschen sich das Kruzifix befand. Indeß meine Ueberlegung hielt mich davon zurück.

Lebte er noch, hatte er sich in solcher Weise verborgen, wie durfte ich die Achtsamkeit auf ihn zu lenken wagen? Hatte er doch den Blick sofort von mir abgewendet, als er gesehen, daß mein Auge sich auf ihn heftete.

Es war und blieb mir ein Räthsel, gerade darum aber beschäftigte das Ereigniß meine Gedanken; und obschon die folgenden Tage mich durch das Wiedersehen von Freunden mannigfach in Anspruch nahmen, blieb mein Sinnen doch bei ihm. Selbst als wir die Gegend verlassen hatten, als andere lebhafte Eindrücke und der Lauf der Zeit sich zwischen jenen Tag und mich gelegt, konnte ich der Begegnung, der Erscheinung nicht vergessen, und noch lange nachher kam ich oft mit der Frage auf sie zurück: war es eine Täuschung, war es Wirklichkeit gewesen?


2.

Darüber waren Jahre hingegangen, und ich saß im Hochsommer von 1881 in Sorrent, auf meinem nach dem Meere gelegenen Balkon in dem schönen Hotel Tramontano, als mir der Postbote ein Päckchen brachte, das mit meiner vollen Namensaufschrift versehen, offenbar aber auf weiten Umwegen zu mir gelangt war. Als Absender war die Direktion der … Eisenbahn angegeben. Das kleine Packet hatte mich zuerst in Berlin gesucht und war mir von der dortigen Post nach meinem ihr bekannten Aufenthalte nachgesendet worden. Es war unfrankirt.

Verwundert nahm ich es dem Postboten ab, und als ich den ersten Poststempel erkannte, zuckte eine Ahnung in mir auf. Jene geheimnißvolle Erscheinung stand plötzlich wieder vor mir. Ich öffnete mit rascher Hand den äußern Umschlag. Ein Brief von dem Stationschef der … Bahn lag oben auf. Nach ein paar Worten, die es andeuteten, daß mein Name ihm bekannt sei, lautete das Schreiben kurz und geschäftsmäßig also:

„Am 13. Mai dieses Jahres ist in dem Krankenhause zu … der Bahnwächter Johann Stiller an einem Brustfieber gestorben. Nach den Angaben, die er im Jahre 1869 der Direktion bei seinem Eintritt in ihren Dienst gemacht, war er im preußischen Ermeland geboren und zur Zeit seines Dienstantrittes bei unserer Bahn vierunddreißig Jahre gewesen, so daß er ein Alter von sechsundvierzig Jahren erreicht hat. Unter seinem geringen Besitz, der dem Krankenhause zugefallen ist, hat sich das beikommende Packet mit Ihrer Adresse vorgefunden. Es war unseres Amtes, den Inhalt vor Absendung zu untersuchen, obschon die Aufschrift ihn als „Schriftstück ohne Werth“ bezeichnete. Wir haben diese Angabe als eine richtige befunden, und so gehen denn die Papiere mit der amtlichen Versicherung an Sie ab, daß man von dem Inhalt derselben keine weitere Kenntniß genommen hat. Wir waren schon früher zu der Ueberzeugung gelangt, daß sich hinter dem Bahnwächter Stiller ein Mann der höheren Stände verbarg; da aber keine Requisitionen irgend welcher Art gegen ihn vorlagen und er seines Amtes gewissenhaft waltete, haben wir ihn gewähren lassen, und haben jetzt nur zu wünschen, daß diese Zusendung, die zu veranlassen uns oblag, Ihnen keine ungelegene sei.“


Also doch! – Ich hatte mich damals nicht getäuscht, ich hatte ihn wiedergesehen und auch er hatte mich erkannt!

Nun ich die Gewißheit seines Todes hatte, fand ich es erst recht unbegreiflich, daß er „damals“ noch gelebt, daß er nicht umgekommen war, sich nicht das Leben genommen hatte, wie man geglaubt.

Ich hielt die Blätter in der Hand und sah die Schriftzeichen an, als wären es für mich unlesbare Hieroglyphen. Meine Erschütterung war so groß, daß sie die Neugier nicht aufkommen ließ. Was kam es auch jetzt noch darauf an? Es war ja doch zu Ende! Er war todt! der lebensfroheste, der selbstwilligste Mensch, den ich gekannt, als den ich ihn oft genug gegen ihn selbst bezeichnet. Aber wie war er dazu gekommen, einen moralischen Selbstmord an sich zu begehen, der für ihn härter gewesen sein mußte, als der Untergang, an den er uns alle hatte glauben machen, die wir ihn gekannt? Wie hatte eben er sich zu einem Dasein verdammen mögen, das so weit ablag von den Bereichen, aus denen er stammte, das unermeßlich hart für ihn gewesen sein mußte, wenn er sich auf sich selbst, auf seine Vergangenheit besann?

Gesund, schön, in den Jahren der vollen Kraft, war er aus dem Gefängniß entlassen worden, alle fernen Welttheile hatten [823] ihm offen gestanden; in allen würde er Aussichten auf ein Fortkommen gehabt haben. Ich konnte ihn mir unter den Goldgräbern in Kalifornien, unter den Viehzüchtern in Australien, in einem vornehmen Abenteurerleben, auch in den Räumen eines Klosters konnte ich mir Erwin denken, und hatte mich Jahre lang gewöhnt, an seinen Selbstmord zu glauben, denn das alles wäre bei seinem Charakter wahrscheinlich gewesen. Aber so lange Jahre der völligen Abgeschiedenheit mitten in dem an ihm vorüberbrausenden Treiben des Lebens? – Ich konnte es nicht verstehen.

Das Herz war mir zusammengeschnürt. Das völlig Unbegreifliche hat eine lähmende Kraft. Mir bangte vor dem, was ich zu hören bekommen konnte, und doch zog das tiefste Mitleid mich zu dem Hingegangenen. Ich fragte mich, womit ich, gerade ich, sein Vertrauen verdient? Ich sagte mir, er könne doch vielleicht noch einen Wunsch gehegt, eine Pflicht zu erfüllen gehabt haben, für die er mich eintreten zu machen beabsichtigt. Es galt, einem letzten Willen nachzukommen. Er hatte bestimmt, daß ich seine Aufzeichnungen lese – und ich faltete die Blätter auseinander.

Es war ein starkes Heft aus grobem Papier, mit fester Handschrift beschrieben. Auf dem Titelblatt standen die Horazischen Worte:

„Der ich der Meinen vergaß, sie mögen mich wieder vergessen!“

Die erste Seite trug das Datum des sechzehnten August. Sie war also acht Tage nach jenem Abend geschrieben worden, an welchem ich ihn wiedergesehen hatte, und sie hub mit der Wiederholung jenes Horazischen Ausspruches an. Es folgte dann eine ganze Reihe offenbar wie im Selbstgespräch zu verschiedenen Zeiten auf das Papier geworfener Betrachtungen, die kein Datum zeigten, und ihnen schloß sich endlich eine ruhig dahinfließende Erzählung an, die Lebensgeschichte des Hingegangenen.

Man sah, wie die Verschlossenheit, das Sichselbstvergessenwollen, zu dem er sich verdammt, ihm doch endlich unertragbar geworden war; wie er mit sich gerungen, wie das Bedürfniß der menschlichen Natur, sich kund zu geben, schließlich in ihm den Sieg davon getragen, und wie er, ohne ihn auszusprechen, eben durch die Sendung seiner Aufzeichnungen an mich, den Wunsch verrathen, nicht völlig vergessen zu werden, sondern Auskunft zu geben über sich, sein Leben, sein Leiden, seine Buße.

So meine ich denn in seinem Sinne zu handeln, wenn ich den Inhalt des Heftes der Oeffentlichkeit übergebe. Die Personen, mit denen er gelitten, an denen er sich versündigt, und um die er gebüßt, sind vor ihm aus der Weit gegangen. Sein Andenken, sein Geschick, seine Gefangenschaft und sein Verschwinden, sind aber vielleicht doch noch in dem Gedächtniß von einzelnen lebendig, und wie er sich in dem unabweislichen Bedürfniß seines Herzens meinem Urtheil bloßgestellt, gebe ich ihn dem allgemeinen Urtheil preis. Es wird nicht härter sein, als er es sich gesprochen. Auch seinen Namen halte ich nicht mehr zurück, da er selbst ihn und die Menschen nennt, von denen er stammt, in deren Mitte er gelebt, im Zusammenhang mit welchen sich sein Geschick vollzogen!


3.
Wärterhaus Nr. 7 – Station … den 16. August 1877.
„Der ich der Meinen vergaß, sie mögen mich wieder vergessen!“

Wie oft habe ich mir die Worte vorgesprochen, wie ernst es gemeint mit ihrem Sinne! Vergessen wollt’ ich sein von allen! meine Vergangenheit wollte ich vergessen! mich selber vergessen! – Wie wenig kennt sich der Mensch! wie wenig weiß er, was er im nächsten Augenblick empfinden, denken, wollen wird!

Das beharrliche Wollen langer Jahre umgestoßen, gewandelt in sein Gegentheil! Und wodurch? – durch einen Zufall! – durch den Anblick einer Frau, die mich mit raschem Blick erkannt, die, älter als ich, einst theil an mir genommen, die von mir gewußt, mir Wohlwollen bezeigt in den Tagen, in denen ich noch geglaubt, die Welt sei dazu da, damit der Mensch glücklich in ihr werde nach seinem Glücksbegriff, den er sich gebildet nach dem Irrthum der Verblendung, der Selbstüberschätzung, die er ererbt hat von Verblendeten wie er selber.


Sonderbar! wie die Feder sich mir versagt! Meine eigene Handschrift sieht mich fremd an, nun ich etwas anderes schreibe, als die paar Zahlen und Worte, welche seit Jahren der Dienst mir auferlegt. Ich bin mir ein Fremder mit der Feder in der Hand, ein Fremder in der Gemüthsverfassung, in der ich mich befinde.

Und ich spreche von Zufall! – Zufall! Zufall soll es sein, daß der Wagen eben vor meinem Wärterhause hielt, daß sie nach meiner Seite saß, daß ihr Auge sich auf mich richtete, daß das meine sie traf! – Es ist Gottverleugnung, von Zufall zu sprechen! Er hat es so gewollt! Ich soll sie noch einmal in mir durchleben, die langen Jahre meiner ungläubigen Selbstüberhebung. Ueberwältigend, mich bezwingend steigt es noch einmal vor mir auf, das wilde, verzweifelnde Ringen meiner jungen Jahre! des Lebens, das wir hochmüthig als das „Leben in der Welt“ bezeichnen, als ob die Spinne hier vor meinem Fenster ihr Leben nicht ebenso lebte in derselben Welt!


Wie eine Fata Morgana steigen sie vor mir auf, die Gefilde, in denen ich meine Jugend verlebt: die kornbesäete Ebene, über die wir hinwegsahen bis zu dem glänzenden Spiegel des Frischen Haffes, und die Kiefern- und Tannenwälder, die von der anderen Seite sich in dem Flachlande hinzogen, daß sie anzusehen waren wie eine lange grüne Wand, über der nur hier und da sich eine kleine Aufwellung bemerkbar machte.

Mein Großvater hatte das Haus gebaut, und da er, am Sankt Hubertustage geboren, den Namen eines Schutzpatrones trug, hatte er dem Hause, das füglich ein Schloß zu nennen war, auch die Form eines lateinischen H gegeben, das, breit hingelagert, mit seinem Hauptbau von zwei gleichförmigen Seitenflügeln eingefaßt war.

Wir waren kein altadliges Geschlecht, sondern ursprünglich Hörige, Unterthanen der Bischöfe gewesen; aber wir zählten zu meiner Zeit, d. h. als ich geboren wurde, schon lange unter die alten Geschlechter des Landes, die von sich und ihrem Herkommen wußten. Bereits zu den polnischen Zeiten und lange vor diesen hatten Leute unseres Namens in Braunsberg, Frauenburg und Heiligenbeil gelebt und waren dort immer zu Diensten in den jeweiligen Residenzen der Bischöfe, in den Schlössern, den Schloßgärten, in den Forsten verwendet worden. Allmählich waren sie dabei emporgekommen. Einige waren freigelassen und Bürger geworden. Sie hatten schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Domänen der Bischöfe zur Zufriedenheit verwaltet, Vertrauensämter im Lande eingenommen. Einer und der andere hatte erst ein kleines Stück Land, dann größeren Grundbesitz erworben, dann fürstlichem Dienst entsagt und seine Söhne studieren lassen. Ein paar der unsern waren dann wieder als Richter in den Staatsdienst, ein paar andere in den geistlichen Stand getreten. Es war dem Geschlechte nichts Uebles, es war der Mehrzahl seiner Glieder Gutes, Ehrenhaftes nachzusagen; und sich zu uns zu rechnen, zu den Klaritz zu gehören, sahen die Leute als einen Vorzug an.

Das war so fortgegangen von einem Geschlecht zu dem andern. Mein Großvater schon war nach den Kriegsjahren für mannigfache gute Dienste, die er dem königlichen Hause in der Franzosenzeit geleistet, während der Hof in Ostpreußen gelebt, in den Adelsstand erhoben worden, und als um 1829 mein Vater von seinem Vater als einziger Erbe Groß-Stegow übernahm, war er damit ein reicher Mann geworden, denn Stegow galt für eine der stattlichsten und bestabgerundeten Besitzungen in jener Gegend.

Wie der Sinn der Zeit es mit sich brachte, war mein Vater nach England gegangen, um dort die verbesserte Landwirthschaft kennen zu lernen, hatte sich dabei auch weiter in der Welt umgesehen und war just wieder nach Hause zurückgekehrt, als um 1831 die polnische Revolution ausgebrochen, niedergeworfen war und nach dem Siege der Russen das flüchtige Gielgudsche Corps und überhaupt eine große Anzahl von flüchtenden polnischen Offizieren über die preußische Grenze gekommen, denen, soweit sie es zu ermöglichen vermocht, ihre Familien nachgefolgt waren.

In den Städten, auf den Gütern, überall fand man polnische Flüchtlinge, und trotz der engen Verbindung der russischen und preußischen Regierung leistete man den Geflüchteten Vorschub, denn man hatte die Tyrannei stets gekannt und beklagt, unter der die Polen zu leiden gehabt hatten. Sie wurden fast überall mit warmer Sympathie empfangen, wurden als Gäste, nicht als Einquartierung aufgenommen, und sie wußten durch ihr Betragen noch lebhaftere Theilnahme für sich zu gewinnen.

Auch mein Vater hatte einen polnischen Militär, den Major von Drischewski, bei sich aufgenommen. Er war einer der Helden des vierten, bei Ostrolenka fast ganz aufgeriebenen Regimentes gewesen, und ein Schuß, der ihm die Lunge gestreift, hatte gleich

[824]

Weihnachtsabend unter den Linden.
Zeichnung von Fredr. Stahl.

[825] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [826] von Anfang nicht auf eine lange Erhaltung seines Lebens hoffen lassen. – Mein Vater hat ihn uns immer als eine hohe heldenhafte Gestalt, als einen edeln, großherzigen Mann geschildert, und schön und edel war auch seine Tochter, die erst zu ihm gelangen konnte, als er seinem Ende schon nahe war. Nur einige Wochen hatte sie den Hinsterbenden noch in meines Vaters Haus gepflegt, das sie nach dem Tode desselben natürlich wieder verlassen.

Aber diese Zeit hatte hingereicht, die Herzen meines Vaters und des Fräuleins in Liebe zu verbinden, und nachdem das Trauerjahr beendet, war er der schönen Lodoiska nach Dresden gefolgt, wo sie sich bei einer ihrer dort lebenden Tanten, der Gräfin Meilow, aufhielt, und bald nach meines Vaters Werbung war seine Erwählte als seine Gattin in Groß-Stegow eingezogen, von den Gutsleuten, welche sie während ihres Waltens an des Vaters Krankenbett im Schlosse verehren lernten, mit Freuden begrüßt und von dem Fürst-Bischof mit Auszeichnung aufgenommen, dem die treffliche, strenggläubige Herrin auf einem großen Besitze innerhalb seiner Diözese nur willkommen sein konnte.

Ein Jahr höchsten, ungetrübten Glückes entschwand meinen Eltern. Alles, was man unternahm, schlug auf das Erwünschteste ein. Nie hatte man reichere Ernten als in diesem gesegneten Jahre in die Scheuern gebracht. Ganz unerwartet waren unter den vortheilhaftesten Bedingungen Ankäufe zur Vergrößerung von Stegow möglich geworden, nach denen man früher vergebens getrachtet, so daß man Stegow jetzt füglich eine Herrschaft nennen konnte, und als gegen Ende des Jahres die Niederkunft meiner Mutter bevorstand, waren meine Eltern der festen Zuversicht, der Himmel, der sie seit ihrer Verbindung so durchaus begünstigt, werde ihrem Glück durch die Geburt eines Sohnes die Krone aufsetzen, für den und dessen Nachkommen Sorge zu tragen, mein Vater, der Abkömmling höriger Leute, sich von dem aristokratischen Verlangen ergriffen fühlte, seinen Besitz zu einem Majorat zu machen. Er fand für diesen Gedanken bei seiner Gattin die lebhafteste Zustimmung, und weil auch dieses Vorhaben sich nach den Wünschen des glücklichen Paares geordnet, hatte meine Mutter in vorahnender Freude oftmals den Gedanken ausgesprochen, wenn ihr der erwartete Sohn geboren würde, so solle ihm der Name Fortunat als gute Vorbedeutung mit auf den Lebensweg gegeben werden.

So kam die Zeit meiner Mutter heran, und sie ging ihr getrosten Muthes entgegen, denn selbst ein Unfall, den sie erlitten, während sie schon ihr lebendes Kind unter dem Herzen getragen, war, wie man anzunehmen hatte, ohne Nachtheil für sie vorübergegangen und man hatte auch das unter die Glücksereignisse gezählt. Meine Mutter hatte nämlich zu einer Zeit, in der es gerathen für sie gewesen wäre, nicht mehr zu Pferde zu steigen, im Vertrauen auf ihre Kraft und Gesundheit es sich nicht nehmen lassen, meinen Vater auf einem weiteren Ritte zu begleiten, der ohne irgend welchen Anstoß von statten gegangen war. Aber bei der Ankunft vor dem Schlosse war ein Fremder mit seinem großen Hunde vorübergegangen, der Hund war klaffend an dem Pferde meiner Mutter in die Höhe gesprungen, was Pferd hatte davor in dem Augenblick ihres Absteigens gescheut, sie hatte sich mit dem Reitkleide in der Sattelgabel verwickelt, war zu Boden gefallen, ehe mein Vater sie in seinen Armen auffangen konnte, und so eine kleine Strecke weit geschleift worden. Jedoch hatte sie nichts als eine leichte Beschädigung am Beine dadurch erlitten, die durch ein paar Tage der Ruhe geheilt worden war, und die beiden zu Rathe gezogenen Aerzte hatten keine weitere Befürchtung daran knüpfen zu müssen geglaubt.

Alles war in Ordnung gegangen, aber in der entscheidenden Stunde zeigte es sich, daß man sich in den guten Erwartungen doch getäuscht. Die Geburt war schwer, meine Mutter schwebte dabei zwischen Tod und Leben, und als das Kind endlich den Tag erblickte, war es freilich der ersehnte Knabe und ein kräftiges Kind, aber das eine seiner Beine war verkrümmt, in der Ausbildung zurückgeblieben und beträchtlich kürzer als das andere. Auch das kleine Gesicht hatte durch den unglücklichen Fall gelitten, die Nase war an der Stirn auffallend eingedrückt, kurz der Knabe, von zwei schönen Eltern stammend, war entschieden unschön.

Mein Vater war erschüttert, und man hatte es in dem Augenblicke zu segnen gehabt, daß die Schwäche meiner Mutter den Wärterinnen Zeit ließ, das Kind in Tücher zu hüllen, so daß ihr die Mißgestaltung des Unterkörpers zunächst verborgen bleiben konnte; aber schon der nämliche Abend ließ sie das Unglück erkennen und wehklagend rief sie: „Fortunat! Fortunat! Du hast kein Glück! und ich, ich habe Dein Unglück verschuldet! – Du hattest mich gewarnt! Vergieb mir!“ flehte sie meinen Vater an. „Dein erster Sohn – der Majoratsherr von Stegow – ein Krüppel – ein Jammerkind! Nie wieder werde ich eine frohe Stunde haben, ich, die Unglück gebracht über Dich und unser Kind!“

Man hatte Mühe, sie zu beruhigen, hatte an ihre Erhaltung zu denken. Der Neugeborene hatte das Blut der beiden gesunden Geschlechter in seinen Adern. Meiner Mutter Gesundheit stellte sich wieder her, aber ihr strahlendes Lächeln kehrte nicht wieder in ihr Antlitz zurück und sie wurde von dem Gedanken nicht frei, daß sie die Zerstörerin des Glückes sei, das bis dahin dem Geschlecht der Klaritz so hold gewesen war.

Wer hätte damals ahnen können, wie unendlich schwereres Unglück über dasselbe gebracht werden sollte durch mich, der dies heute niederschreibt, mit dem lastenden Bewußtsein, daß er durch alle Buße nicht genug gethan hat für seine Sünde, sein Verbrechen. – Aber weiter!

Den Knaben Fortunat zu taufen, davon war nun nicht mehr die Rede. Er erhielt den alten Klaritzschen Familiennamen Hubertus, und daß die Mutter ihn selber nährte, daß sie ganz und ausschließlich sich seiner Pflege widmete, war für sie selbstverständlich. Der Fanatismus, der den Polen im Blute steckt, warf sich bei ihr auf die Mutterliebe für den Sohn, dessen Unglück sie sich allerdings zuschreiben konnte, da, wie gesagt, der Vater ihr nachdrücklich und bittend von jenem unseligen Ritte abgerathen hatte.

Sobald man daran denken konnte, wurde mit dem Kinde eine Reise nach Berlin unternommen, um die dortigen Aerzte zu befragen, ob für Huberts Gebrechen Abhilfe zu finden sei. Aber sie wußten keinen Rath, und meine Mutter suchte Trost in dem Gedanken, daß es nun ihre Aufgabe sei, sich ganz ihrem Sohne hinzugeben und sein Leben zu beglücken, soweit es in ihre Macht gegeben sei.

Wie ein Schatten war es herniedergefallen auf das Glück meines Vaters. Die schöne, fröhliche Gemeinsamkeit, in welcher die Eltern bis dahin gelebt, hatte zu leiden unter der Unzertrennlichkeit, mit welcher die Mutter sich an den Knaben band. Sie war eine leidenschaftliche und kecke Reiterin gewesen; jetzt hatte sie es sich als Buße auferlegt, kein Pferd mehr zu besteigen, da für Hubert dies alle Zeit eine Unmöglichkeit bleiben mußte. Von den Besuchen in der Nachbarschaft, die man sonst ebenso häufig gemacht, als man Gäste im Hause gehabt, hielt die junge Frau sich zurück, wenn sie den Knaben nicht mit sich nehmen konnte, oder man eine zu späte Rückkehr mit ihm zu befürchten hatte; und als mein Vater anfing, ihr diese Lebensführung als eine Uebertreibung und eine Beeinträchtigung für ihn und seine Ansprüche zum Vorwurf zu machen, entgegnete sie ihm damit, daß sie ihn mitleidlos für Hubert nannte. Wie dann einmal wieder bei einem solchen Anlaß ein Wort das andere gab, brach die Mutter, gegen ihre Gewohnheit heftig werdend, in den Ausruf aus: „Ich glaube, Du gönnst dem Kinde, mit echt männlicher Selbstsucht, meine Liebe nicht. Du bist eifersüchtig auf den Armen, und würdest ihn, wenn er uns entrissen würde, nicht tief betrauern, weil er nicht der Majoratsherr von Groß-Stegow ist, den Du, den wir erhofft. Aber ist das seine oder meine Schuld?“

Die Bitterkeit in dem Tone seiner Gattin reizte meinen Vater. Es war der erste wirkliche Zwiespalt in ihrem Ehestand, und weiter von seinem Zorne fortgetrieben, als er es beabsichtigte, stieß er die Worte hervor: „Ich bin nicht so egoistisch wie Du, ein unglückliches Kind zum Gegenstande meiner Buße und Selbsterhebung machen und darüber alle andere Liebe aus meinem Herzen bannen zu wollen – und daß ich, in der Stunde seiner Geburt, als ich sah, daß er ein Krüppel bleiben werde, seinen Verlust als einen unersetzlichen beklagt haben würde, das zu leugnen bin ich nicht der Mann.“

Beide waren sie weiter gegangen als sie gewollt, aber eben im Schrecken darüber stieg die alte Liebe hell und mächtig in ihnen auf. Sie lagen einander in den Armen, alles war wieder klar und rein zwischen ihnen. Sie gelobten sich einander förmlich aufs neue an. Die Mutter lernte es, die Ansprüche, die ihr Mann an sie zu machen hatte, mit ihrer Vorsorge für den Sohn zu vereinen, und es ist meine Mutter selbst gewesen, die mir einmal in einer aufgeschlossenen Stunde von diesem einzigen Zwist in ihrer Ehe gesprochen.

[827] Als Hubert fast zwei Jahre alt war, kam ich auf die Welt, und auch ich erwuchs an meiner Mutter, an meiner armen Mutter Brust, die nicht ahnen konnte, wen sie in mir groß zog. Ich war gesund und stark. Der Vater freute sich meiner kräftigen Entwickelung, Hubert hatte auch Wohlgefallen an dem lebendigen Geschöpf, das ihm von der Mutter Schoß die Hände entgegenstreckte und ihm durch sein Haar fuhr, wenn er auf seinem Stelzfuß an ihren Knieen lehnte; aber meine freien, oft ungestümen Bewegungen mahnten die Mutter schmerzlich an das, was ihrem Aeltesten versagt war, und je mehr wir heranwuchsen, um so merklicher ward der Unterschied zwischen uns.

Hubert, der nie einen Widerstand gegen seine Wünsche erfahren, dem man alles mit berechneter Fürsorge entgegen gebracht, was irgendwie begehrenswerth für ihn erscheinen konnte, war in dem beständigen Beisammensein mit der Mutter bei seiner glücklichen geistigen Begabung und seinem guten Herzen ein liebenswürdiger Knabe geworden; indeß, er mußte es doch, als ich erst fest auf meinen Füßen war, und jemehr ich frei wurde in meinem Thun und Lassen, bemerken, daß mir vieles möglich, was ihm versagt war; und gewohnt, seinen Willen als Gesetz für seine Umgebung anzusehen, hatte ich frühe schon Befehle von ihm zu hören, „laufe nicht Erwin!“ – oder „klettere nicht, Erwin! ich kann Dir nicht nach!“

Oftmals ließ ich mir das gefallen, denn seit ich zu denken und zu begreifen gelernt, hatte ich von unserer Mutter die Weisung erhalten, daß ich dem „armen Hubert“, oder dem „guten Hubert“, denn nur so nannte sie ihn mir gegenüber, nachzugeben habe, daß ich mich meiner freien Glieder in seiner Anwesenheit nicht in einer Art bedienen solle, die ihn zu schwer an sein Gebrechen erinnere; und wenn ich auch geneigt war, mich diesen Weisungen zu fügen, so war doch die natürliche Folge davon, daß ich Hubert mied, wenn ich nach gesunder Knaben Art meines Daseins froh werden wollte.

Der Vater selber ermunterte mich dazu. Er hatte für mich und den mir gleichalterigen Sohn unseres Amtmanns ein paar schottländische Ponies kommen lassen, und wir beide, ich und Fritz, hatten es mit sieben Jahren gelernt, den Vater sowohl als den Amtmann zu Pferde zu begleiten, während die Mutter mit Hubert sich des Wagens bediente. So bildete sich mit Naturnothwendigkeit frühzeitig eine Zwiespältigkeit in der Familie aus; denn trotz der vorsorglichen Liebe, die mein Vater seinem Aeltesten und die meine Mutter mir bewies, hatten wir das sichere Gefühl, daß meinem Vater das Herz aufgehe gegenüber seinem gesunden Kinde, und daß die Gesundheit desselben in der Mutter den ewigen Kummer um den Aeltesten und die Gewissensbisse wachrief, mit denen sie sich quälte.

Meinen Bruder aus dem Hause zu thun und ihn einer öffentlichen Schule zu übergeben, in welcher eine Schar von gesunden Kindern nicht die Rücksicht auf ihn nehmen würde, an die man ihn unter den Augen unserer Mutter gewöhnt, davon hatte vor dieser nicht die Rede sein können, da es ohnehin auf den Gütern der vermögenden Familien Brauch war, die Knaben im Hause zu behalten, bis sie für die höheren Klassen der städtischen Lehranstalten reif waren. So hatte man denn aus einer der gerühmtesten katholischen Erziehungsanstalten auf Empfehlung des Fürst-Bischofs zeitig einen Lehrer für uns kommen lassen, dessen Gelehrsamkeit ihn befähigte, die Ausbildung Huberts ganz und gar zu vollenden, wenn man mich nach Königsberg auf das Gymnasium schicken würde, auf dem ich mich für die theologischen Studien vorbereiten sollte.

Doktor Sylvester war, wie es sich von selbst verstand, ein strenggläubiger Katholik und schon dadurch, abgesehen von seiner Bildung und seiner feinen Sitte, ganz nach dem Herzen meiner Mutter gewesen, die sich bei ihrem Gemüthszustande der Religion und der Kirche immer fester und mit wachsender Erbauung hingegeben. Daß er uns in diesem Sinne erzöge, hatte sie dem Doktor als ihr höchstes Verlangen ausgesprochen, und da Hubert, je mehr ihm die Beschränkung klar wurde, die sein Gebrechen ihm auferlegte, desto mehr von der Heiterkeit seiner Kindheit einbüßte, so fand bei ihm unseres Lehrers Deutung, daß der Herr ihm eine besondere Lebensaufgabe gestellt, ihn bestimmt habe, nicht an sich und sein Glück zu denken, sondern für das Wohl der Menschen zu leben, deren Herr auf den Gütern zu werden er dereinst berufen sein würde, eine zeitlang ein ihm schmeichelndes Gehör. Er kam sich in dieser Entsagung besser als andere, und viel besser vor als ich.

Das änderte sich jedoch plötzlich, als es sich eines Tages herausstellte, daß Hubert sitzend die Pistole bei seinem sehr scharfen Auge mit Sicherheit handhaben konnte. Der Gedanke, daß man ihn unberechtigt gehindert habe, sich frei der Körperkräfte zu bedienen, die er doch besaß, erwachte lebhaft in ihm. Er verlangte sie zu bethätigen. Er forderte, daß man ihm beim Fahren die Zügel der Pferde, im Boote ein Ruder in die Hand gab, und es zeigte sich, daß er wohl imstande war, mit gut eingefahrenen Pferden einen Wagen zu lenken, daß er auf dem Flusse, der sich durch unsere Güter hinzog, für eine Weile ein Boot oder das Steuer des Segelschiffes zu führen vermochte, dessen man sich für den Transport innerhalb unseres Besitzes bis zum Haff bediente.

Es kam damit ein neues Leben über ihn. Er entzog sich, soweit es anging, der beständigen Ueberwachung durch die Mutter, der Vater ermunterte ihn in seinen Unternehmungen, weil er sich wohl den Vorwurf machen mochte, der Aengstlichkeit seiner Frau zuviel nachgegeben zu haben, und ich hatte meine Freude daran, als er sich so gleichsam mit mir in Reih und Glied zu stellen begann.

Um seinetwillen wurde ein neuer Schießstand eingerichtet, ein niedriges Gefährt angeschafft, das er ohne Hilfe besteigen konnte, und des Sohnes wachsende Zufriedenheit wirkte auf die Mutter zurück, die nun selber den Fehler einzusehen anfing, den sie in seiner bisherigen Erziehung begangen. Sie strahlte vor Freude, wenn Hubert sie in seinem Wagen fuhr, sie machte Besuche mit ihm in der Nachbarschaft, das frühere gesellige Leben kehrte wieder in unser Haus zurück, und nachdem ich in die Stadt auf das Gymnasium geschickt worden, und dann auch Doktor Sylvester ihn verlassen, lernte Hubert es mehr und mehr, sich als den Sohn des Hauses darzustellen, dessen Freunde und Gäste dem Majoratserben natürlich ihre Beachtung nicht versagten.

Er und ich waren als Kinder stets gute Freunde gewesen, und wir blieben es auch, obschon oder vielleicht gerade weil wir, seit ich auf das Gymnasium geschickt worden war, seltener beisammen waren. Allerdings brachte ich die Ferien im Vaterhause zu, wenn die Eltern nicht gerade in denselben eine der Reisen machten, bei denen Hubert sie regelmäßig begleitete, und sie kamen auch in jedem Winter für einige Zeit nach der Stadt. Aber ich wohnte bei dem Oberlehrer, bei dem ich in Pension war, hatte, nachdem ich die Universität bezogen, meine eigene Wohnung, der Schulbesuch, die Kollegien, meine Arbeiten und der Verkehr mit meinen Genossen nahmen einen großen Theil meiner Zeit in Anspruch, abends wurden das Theater, Konzerte, Gesellschaften besucht, und war man dann einmal allein in dem Gasthof beisammen, in welchem meine Eltern abzusteigen gewohnt waren, so gab es des Erzählens immer soviel, daß man es darüber bis zu einem gewissen Grade übersehen konnte, wie ich und Hubert, der durch seine Reisen und durch die auf ihnen empfangenen Eindrücke mir gegenüber an Selbstgefühl gewonnen und sich mehr und mehr als den Bevorzugten zu empfinden gelernt hatte, auch in anderem Sinne auf verschiedene Wege geriethen, da Hubert fest in seiner Strenggläubigkeit beharrte, während ich von derselben damals mehr und mehr eingebüßt hatte.

Da ich wußte, wie dies die Mutter schmerzen würde, hielt ich es vor ihr und vor den Meinen überhaupt zurück, wie hart der Zweifel mich erfaßt, welchen Kampf ich in mir durchzuringen hatte, wenn ich nach meinen philosophischen und naturwissenschaftlichen Kollegien, die ich im Drange nach Aufklärung besuchte, sie zur Messe zu begleiten hatte, und wo in einer Familie sich solch innerer Zwiespalt entwickelt, ist die Gefahr weiterer Entfremdung vorhanden, besonders für eine Natur, die, wie die meine, auf Offenheit angelegt war.

Daneben konnte ich es mir nicht verbergen, daß Hubert eine gewisse spottende Feindseligkeit gegen mich nur schlecht verbarg, seit ein unglücklicher Zufall ihn einmal das Gespräch zweier mit meiner Mutter befreundeter Frauen anhören ließ, das darauf hinausgelaufen war, wie Groß-Stegow mehr werth sei als ein Paar gerader Beine und ein hübsches Gesicht, und wie ein gutes und dabei gescheites Mädchen doch schwerlich bei einem sonst liebenswerthen Manne an nichts als an seine Unschönheit und sein Gebrechen denken werde, besonders wenn er eine so große Entschädigung dafür zu bieten habe, wie dereinst mein Bruder.

Das gescheite Mädchen, um das es sich dabei handelte, war aber niemand anders gewesen als die reizende Eveline von Langenau, der wir beide, jeder auf seine Weise, huldigten, ohne daß ich vorläufig an Heirathen denken konnte, während für meinen Bruder die Verhältnisse natürlich anders lagen.

(Fortsetzung folgt.)
[828]

Weihnachten.

Mach’ auf die Thür und blank das Haus: es kommt mit Klang und Strahl
Der Tag durch Schnee und Sturmgebraus ins engste Erdenthal.
Wie Frühlicht strahlt der Weihnachtstern in jede dunkle Nacht;
Erlösung schimmert nah und fern bei seiner Wunderpracht.
Wohl krächzt der Raben schwarzer Chor, es starrt in Frost der See,
Mit stummer Bitte übers Rohr nach Futter späht das Reh.
Manch Menschenkind, verirrt vom Weg, mit schwerer Last allein,
Steht furchtsam vor verschneitem Steg und weiß nicht aus noch ein;
Doch sacht um Eis und Thränen geht vom Lenz ein Traumeshauch,
Es weicht die Nacht, Verheißung weht: „Sei still – dich grüß’ ich auch!“

Millionenfach im weiten Raum erglänzt der Lichter Bann,
Im Wald den jüngsten Tannenbaum faßt heimlich Sehnen an:
Wie freudlos ruht das Schneegewand auf seinem Nadelgrün,
Er sehnt sich nach der Kerzen Brand, die hell am Christfest glüh’n.
Kein Hof so arm, so schmal kein Herd, kein Mensch in Dorf und Stadt,
Dem Liebe nicht sein Licht beschert, der nichts zu spenden hat.
Es schweigt der Kampf um Glück, berührt von jenem Wundergeist,
Der Könige zur Krippe führt und Hirten singen heißt.
Die Weihnachtsglocken heben an: sie läuten Freude ein.
Frohlock’ auch du und tritt heran, mit Kindern Kind zu sein.

Ida John.




Lenaus Braut.

Von Gustav Karpeles.

Unter den Stürmen des Frühlings ist Lenaus Liebe begraben worden, in den Schauern des Herbstes ist seine Braut aus dieser Zeitlichkeit geschieden; so ist dieses Jahr recht ein Jahr der Erinnerung an den edlen Dichter der Schwermuth und Liebesnoth, den nun schon seit vierzig Jahren die kühle Erde deckt. Als Sophie v. Löwenthal, Lenaus einzige und wahre Liebe, starb, haben wir den Lesern der „Gartenlaube“ von ihrem Leben und ihren innigen Beziehungen zu dem Dichter ausführlich erzählt (vergl. Nr. 33). Es scheint uns nur ein Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit zu sein, nun auch das Lebensbild der armen Dichterbraut an dieser Stelle aufzurollen.

Marie Behrend, so hieß die Braut Lenaus. Und indem ich diesen Namen hier nenne, überkommt mich ein seltsames Gefühl, von Wehmuth und Reue. Ich hatte einst diesen Namen in Deutschland öffentlich genannt – allerdings nicht aus Lust an Indiskretionen, sondern in dem festen Glauben, die Braut Lenaus weile längst nicht mehr unter den Lebenden. Das war vor etwa achtzehn Jahren. Ein Brief mit bittrer Klage und der Bitte, daß man ihren Schmerz und ihre Zurückgezogenheit nicht stören möge, belehrte mich eines anderen. Aber das Geschehene war nun nicht wieder gutzumachen. So bleibt mir nichts übrig, als diese Mahnung an weithin sichtbarer Stelle für alle diejenigen aufzuhängen, die sich mit den Herzensangelegenheiten unserer Dichter und großen Männer beschäftigen.

Marie Behrend war eine Frankfurterin und wurde im Jahre 1811 geboren, erreichte also dasselbe Alter wie Sophie Löwenthal, während Lenau selbst fast nur die Hälfte dieses Lebensalters beschieden war. Als Lenau Marie Behrend kennen lernte, war er bereits ein gebrochener, lebensmüder Mensch. Es war dies im Juli 1844 zu Baden-Baden. Und wir besitzen einen Bericht aus der Feder Berthold Auerbachs über „Lenaus letzten Sommer“, der gerade diese Episode besonders lebhaft und anschaulich darstellt, der uns auch den tiefen Zwiespalt in den Stimmungen des Dichters, in seinem Empfindungsleben und in seiner Weltanschauung aufdeckt, welcher die Zerstörung seines Geistes herbeiführen mußte.

Lenau war nach Baden-Baden gekommen, um dort seinen „Don Juan“ zu vollenden. Er wollte sein Künstlerauge an der [829] schrankenlosen Zügellosigkeit des Weltbadelebens weiden, um den letzten Schluß des Don Juanthemas mit all’ der Freiheit und Kühnheit dichten zu können, die diesem Vorwurf entspricht. Und siehe da, welch ein Gegensatz!

Auf seinem Wege erblühte die Blume der Liebe in reiner Holdseligkeit. „Der Dichter,“ so sagt Auerbach sehr schön, „der die Folgenreihen des fessellosen und pflichtlosen Genusses, den bewußten Taumel der Sinnenlust darstellen wollte, stand unversehens in allen süßen Schauern der reinen Liebe; Friedsamkeit und wohlig umhegtes Heim bauten sich vor ihm auf.“

Aber aus der Ferne tönten die Erinnerungen einer Vergangenheit an sein Ohr, die eben nicht Vergangenheit sein wollte. Und das war Lenaus trauriges Verhängniß . . .

So romantisch und seltsam jedoch des Dichters Schicksal war, die Geschichte seiner Brautwerbung ist eine recht prosaische, ja zum theil sogar noch darüber hinaus eine geradezu philisterhafte. Nicht im Waldesdunkel und nicht im Blitzeszucken, sondern an der Table d’hote im „Englischen Hof“ lernte Lenau Marie Behrend kennen. Und sie war keine Schwärmerin, kein phantastisches Mägdelein, sondern eine ernste, sinnige und sanfte Dame, schon über die ersten Mädchenjahre hinaus und im Kampfe des Lebens durch eine trübe, an dem Krankenbett des geliebten Vaters verbrachte Jugend erfahren und gefestigt. Der erste Eindruck, den sie auf Lenau machte, war gleichwohl – oder vielleicht gerade darum – ein ausgezeichneter. Wonnestrahlend kam er am andern Morgen zu Auerbach und erzählte ihm sein Abenteuer. Er hatte erfahren, daß die Damen – Mutter und Tante des Mädchens – schon am selben Tag abreisen wollten, und während Auerbach im Garten auf und ab wandeln mußte, schrieb Lenau auf seinem Zimmer jenes Gedicht an Marie Behrend in ein schnell herbeigeschafftes Exemplar seiner Dichtungen, das später aus dem Nachlasse veröffentlicht wurde:

„Mich ließ die Gunst des Augenblickes,
Ein flüchtig Lächeln des Geschickes,
Wie bis ins Herz Du schön, erkennen;
Leb’ wohl! Ich muß mich von Dir trennen!
Doch mildert’s mir Dein frühes Scheiden,
Wenn ich vom Glück, das mir entschwunden
– So schnell wie Du! – die heitern Kunden,
Und wenn ich darf den Ruf der Leiden,
Die singend mir das Herz zerrissen,
In Deinen lieben Händen wissen.“

Es war das letzte Liebeslied Nikolaus Lenaus. Und der Erzähler gesteht, daß er nie den Ton habe vergessen können, mit dem Lenau im Umschlag seiner frohen Stimmung am Abend desselben Tages plötzlich zu ihm sagte: „Brüderl! Das Licht geht aus!“ Er saß in sich zusammengekauert, hatte die beiden Hände zwischen die Kniee gepreßt und rief: „Das Licht geht aus!“

Aber ehe das Licht gänzlich verlosch, strahlte ihm noch einmal die Sonne vollen Liebesglückes und umglänzte mit ihrem letzten milden Abendroth das Haupt des schwermüthigen, unglücklichen Sängers.

Er hatte die Gewißheit, daß seine Liebe erwidert wurde, erlangt; und nun sproßte ein neuer Blüthenfrühling in ihm auf. Er machte Pläne für die Zukunft und schwärmte im Ausmalen eines still abgeschlossenen Lebensglückes. Alles Vergangene schien hinter ihm versunken; nur hier und da huschte noch ein Schatten vorüber, um rasch wieder zu verschwinden; sein ganzes Sinnen und Trachten war auf die künftige Gestaltung seines Lebens gerichtet. Es ist aber bezeichnend, daß bei all’ diesen Plänen eine durchaus verständige, ja fast nüchterne Berechnung vorherrschte. Lenau schien geradezu praktisch geworden zu sein. Wer ihn nicht schon gekannt, hätte ihn am Ende gar für geizig halten müssen. Denn neben der Freude an dem neu gefundenen Liebesglück spielte das Behagen eine wesentliche Rolle, nunmehr einen festen Halt und eine materiell gesicherte Lebensstellung zu erlangen. Ja, so klug war Lenau diesmal, daß er in seinen Briefen nach Wien – namentlich an Sophie – auch nicht ein Jota von seinen Plänen schrieb. Er handelte diesmal rasch und entschlossen, er berechnete alle Umstände geschickt und vernünftig – aber es war schon zu spät. Und er selbst fühlte es, als er nachher sagte: „Mein ganzes Unglück ist ein verfehltes Rechenexempel. Ich habe mich verrechnet. Ich wollte noch glücklich sein, und als ich das Glück erkannt, es mir schnell sichern . . . aber die alten Bande lassen mich nicht los.“

Schnell hatte Lenau, wie gesagt, den Entschluß gefaßt, sich zu verloben und die Freundin in Wien mit einer vollendeten Thatsache zu überraschen. Er reiste nach Frankfurt und dort fand die Verlobung statt. „Ueber mein ganzes Leben ist ein freudiger Friede gekommen,“ schrieb er von da aus an seine Stuttgarter Freunde, „wie ich ihn diesseits nicht mehr zu gewinnen hoffte.“

Aber dieser Friede war leider nur von kurzer Dauer, das Abendroth vor Sonnenuntergang. Zuerst war es die Sorge um die Zukunft, die seinen Liebesfrieden störte. Zwar hatte er mit Georg v. Cotta einen Vertrag abgeschlossen, der ihm 20 000 Gulden Honorar für seine Gedichte sicherte. Aber diese Summe reichte doch nicht hin, einen geordneten Hausstand zu begründen. Da war denn alle Hoffnung auf das Vermögen der Braut gerichtet. Leider erwies sich diese Hoffnung nur zu bald als trügerisch. „Eine Eröffnung der Brautmutter, welche einer unter gewöhnlichen Umständen reichlichen, unter den obwaltenden aber keineswegs


Beim Weihnachtsspielzeug.
Nach einem Gemälde von Th. Kleehaas.
Photographie im Verlage der „Photographischen Union“ in München.

[830] ausreichenden Mitgift erwähnte, riß Lenau zu einer Zeit, wo an einen Rücktritt nicht mehr zu denken war, aus seiner Hoffnung auf eine vollkommen gesicherte Zukunft.“ So berichtet Karl Evers, der Zeuge jener Brautfahrt des Dichters gewesen ist und der gleichfalls von dessen wechselnden Stimmungen in jener Zeit zu erzählen weiß. Hatte ihn doch am Verlobungstage die Frage eines Frankfurter Kaufmanns, eines Verwandten der Braut, was er denn eigentlich für eine Art Dichter wäre, ob ein Theater- oder Romanschreiber oder was sonst derlei, aufs tiefste und empfindlichste verletzt.

Dazu kam aber noch ein anderes und zwar das Wichtigste: die Furcht vor Wien. Es war eine recht traurige Reise, die der arme Bräutigam bald nach seiner Verlobung antreten mußte. Am 14. August war er in Wien und ging sofort zu Sophie. Ihre erste Frage lautete: „Niembsch, ist es wahr, was die Zeitungen von Ihnen melden?“

„Ja!“ erwiderte er, „doch wenn Sie es nicht wünschen, verheirathe ich mich nicht, ich erschieße mich dann aber auch!“

Es dauerte mehrere Tage, während welcher Lenau mit Sophie und ihrer Familie in Lainz bei Wien lebte, ehe eine Verständigung erzielt wurde. Nachdem er aber diese erreicht, war er von einer wahrhaft „funkelnden Freudigkeit“, die den Freunden allerdings schon befremdend erschien. Es blickte manchmal durch, als wäre die Lust und Laune etwas erzwungen. Er schien entschlossen, alle Hindernisse der Religion (Marie war protestantisch), des Vermögens etc. gewaltsam zu beseitigen. Als ihm ein Freund die verschiedenen Bedenken gegen diese Ehe vorhielt, stampfte er mit dem Fuße auf und rief: „Ich will aber glücklich sein!“

Und dann kam die Scheidestunde von Wien, von Sophie. Alle Zurückhaltung, alle guten Vorsätze fruchteten nichts. Der endlose Jammer der Trennung überwältigte die beiden so treu verbundenen Herzen. „Mir ist’s, als sollt’ ich Sie nie wiedersehen! Eins von uns muß wahnsinnig werden!“ rief Sophie aus. Lenau aber ermannte sich und mit dem feierlichen Schwur: „Dein fest und ewig!“ ging er von dannen.

Schon in seinem ersten Brief vom Schiffe aus giebt er den wehmüthigen Trennungsgedanken poetischen Ausdruck: „Wenn man von was recht Liebem geschieden ist und um das Verlorene trauert, so ist es gut, in einen Strom zu schauen, wo alles wogt, rauscht und schwindet, wie das Beste des Lebens. Diese Wehmuth hätte sich mir zu bitterer Qual gesteigert, wäre mir nicht mit den Wellen auch der Gedanke zugeschwommen, daß ich ja selbst bald auch so verrauschen werde und vergehen!“ Es ist seltsam, daß Lenaus letztes Gedicht genau denselben Gedanken ausdrückt. Da heißt es:

„Sahst du ein Glück vorübergeh’n,
Das nie sich wiederfindet,
Ist’s gut, in einen Strom zu seh’n,
Wo alles wogt und schwindet.

O, starre nur hinein, hinein,
Du wirst es leichter missen,
Was dir, und soll’s dein Liebstes sein,
Vom Herzen ward gerissen.

Blick’ unverwandt hinab zum Fluß,
Bis deine Thränen fallen,
Und sieh durch ihren warmen Guß
Die Fluth hinunterwallen.

Hinträumend wird Vergessenheit
Des Herzens Wunde schließen;
Die Seele sieht mit ihrem Leid
Sich selbst vorüberfließen.“

Man darf wohl ohne weites annehmen, daß dieses schwermüthige Lied das Empfinden des Dichters nach seiner Trennung von Sophie ausspricht; es trägt in der letzten Cottaschen Ausgabe das Datum des 25. Septembers, des Geburtstags Sophiens. „Die Leiden sind gesellig wie die Raben; sie kommen in schwarzen Scharen,“ schrieb er kurz darauf – in der That, eine seltsame Stimmung für einen Bräutigam, der der Erfüllung seines Lebensglücks entgegenreist.

Allerdings schien dieses Lebensglück, je näher er ihm zu sein glaubte, in immer weitere Ferne zu rücken. Verdrießlichkeiten der seltsamsten Art, Klatschgeschichten alter Blaustrümpfe, Schwierigkeiten bei Feststellung des Vertrags mit Cotta verbitterten die Stimmung des Dichters in bedenklicher Weise und beschleunigten den Ausbruch der Katastrophe, die alle gefürchtet, die er selbst geahnt und die nun mit Sturmesgewalt über Lenau hereinbrach.

Es war am 29. September, an einem Sonntag. Lenau saß mit seinen Stuttgarter Freunden beim Frühstück und las die eben aus Frankfurt und Wien eingelaufenen Briefe. Da fiel ihm das Gewicht seiner Lage schwer aufs Herz. Mit einem Aufschrei des höchsten Zorns und Kummers sprang er auf und im selben Augenblick fühlte er einen Riß durchs Gesicht. Er trat vor den Spiegel und sein verzerrtes Bild starrte ihm entgegen; der linke Mundwinkel war in die Höhe gezerrt und die rechte Wange war gänzlich starr und gelähmt bis ans Ohr. Dieser Schlaganfall war jedoch nur der Anfang des Leidens, das mit reißender Schnelligkeit den Geist des armen Lenau zerstörte.

„In meiner jetzigen Lage kann ich an ein Heirathen kaum denken,“ schreibt er fünf Tage später an Sophie. „Beinahe bin ich schon entschlossen – es fehlt nur noch sehr wenig – entschieden zurückzutreten. Wenn ich mir vorstelle, daß ich jetzt bald nach Frankfurt gehen soll, um dort von neuem über tausend Widerwärtigkeiten, die wie ein Gebirg von Glasscherben vor mir liegen, hinüberzuklettern, so schaudert mir.“

In den nächsten Briefen änderte sich allerdings wieder die Stimmung. Bald ist er voll freudiger Hoffnung auf ein volles Eheglück, bald von düsteren Ahnungen und schwarzen Gedanken erfüllt; heute will er endgiltig abschreiben, morgen geht ein zärtlicher Liebesbrief an die Braut ab. Nur in hellen Stunden fühlt er es klar: „Ein schlechter Ehekandidat bin ich jedenfalls!“

Aber diese hellen Stunden wurden immer seltener. Und in der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober brach die Tobsucht aus. „In dieser Nacht hab’ ich in einer schauerlichen Beleuchtung des Schicksals bis auf den Grund meines Herzens gesehen, daß meine ganze Seele Ihnen gehört auf ewig,“ schrieb er am folgenden Tag an Sophie. Soviel Kraft hatte er noch, den Anfall zu bewältigen. Freilich, auch diese Kraft nahm immer mehr ab und der Wahnsinn trat ein, der entsetzliche Wahnsinn, der nur selten noch lichteren Zwischenpausen Platz machte. In einem solchen lichten Augenblick, unmittelbar nach einem Aderlaß, rief er ein paarmal aus: „Heute kommt meine Braut!“ Niemand konnte daran denken, denn die Aerzte hatten wegen der befürchteten Aufregung davon abgerathen, der Braut irgend welche Mittheilung zu machen. Aber wie seltsam! Am selben Abend traf die Braut mit ihrer Mutter in Stuttgart ein. Auf die Kunde von Lenaus Erkrankung war sie im Eilwagen von Frankfurt abgereist. In Heidelberg mußte der Wagen auf die von Karlsruhe kommende Post warten, die Damen gingen in den Gasthof, Marie nahm eine Zeitung zur Hand, und ihr erster Blick fiel auf die lakonische Mittheilung: „Der Dichter Lenau ist wahnsinnig geworden und liegt in der Zwangsjacke.“

Am folgenden Morgen bestand Lenau darauf, seine Braut sehen zu wollen, obwohl ihm niemand deren Ankunft mitgetheilt hatte. Die Aerzte verboten jedoch entschieden, sie zu ihm zu lassen, weil sie von seiner Erregung das Aeußerste befürchteten. So weilte Marie einige Tage in Stuttgart, ohne ihren Bräutigam anders – als durch das Schlüsselloch gesehen zu haben! Und dieser Anblick soll ein so fürchterlicher gewesen sein, daß sie den Eindruck ihr Leben lang nicht verwinden konnte.

Alle, die Marie sahen, brachten ihr natürlich die wärmsten Sympathien, das innigste Mitgefühl entgegen. Alle stimmten auch darin überein, daß Lenau an der Seite dieser Frau sicher das Glück gefunden hätte, das er im Leben vergeblich gesucht hatte. Emma Niendorf beschrieb ihre damalige Erscheinung folgendermaßen: „Eine zarte Gestalt voll Anmuth; ein Oval, etwas Madonnenhaftes im Antlitz. Im Wesen sehr sanft und ruhig. Achtzehn Tage hatte sie Lenau im ganzen gekannt – achtzehn Tage und dann das ganze Leben einsam, zerstört, vernichtet . . . Lange faßten sie den Gedanken gar nicht, sie und ihre Mutter, die eine gar gute Frau sein muß. Jetzt meinte Marie, sie möge gar nicht hoffen, denn sie wolle diesen Schmerz nicht noch einmal durchringen; sie habe auf alles verzichtet, sie getraue sich nicht mehr, an Glück zu glauben.“

Und sie hatte recht. Vor ihrer Abreise aus Stuttgart war ihr noch der entsetzliche Anblick beschieden, von einem Fenster des Reinbeckschen Hauses aus ihren geliebten Lenau in einer [831] geschlossenen Kutsche an der Seite des berühmten Irrenarztes Hofrath Zeller in die Heilanstalt nach Winnenthal abführen zu sehen …

Auch in diesem Nervenasyl hatte Lenau oft noch lichte Augenblicke. In solchen erfreuten ihn die Briefe von Marie am meisten, während ihn die von Sophie aufs tiefste erregten, so daß ihm fortan nur die ersteren übergeben wurden. In einem der Briefe von Sophie kam der Vers vor:

„Duck dich und laß vorübergahn;
Das Wetter will sein’n Willen han.“

Lenau aber schrieb darunter mit flüchtigen Buchstaben: „Ich ducke mich nicht!!!“ Das „nicht“ dreimal unterstrichen.

Und er mußte sich doch ducken, obwohl er mit aller Macht gegen den tückischen Dämon ankämpfte, der sein Geistesleben zu vernichten drohte. Noch einmal, im Juli des folgenden Jahres (1845), kam Marie Behrend mit ihrer Mutter nach Winnenthal. Aber auch diesmal durfte sie Lenau nicht sprechen. Nur aus der Ferne sah sie ihn im Garten spazieren gehen. Und dann schied sie von dem Manne, dem sie ihr Herz und ihr Leben geschenkt hatte. Der Brautschleier ward ihr zum Witwenschleier und ihr ferneres Leben war in völliger Zurückgezogenheit nur der Erinnerung an den theuren Dichter geweiht.

Lenau gedachte ihrer in guten Stunden noch oft mit Liebe. Man erzählt, daß er sehr oft zu Damen, welche die Anstalt besuchten, sagte: „Wie Sie meiner Braut ähnlich sehen! Ach, wie Sie schön sind!“

„Was fällt Ihnen ein, lieber Lenau,“ erwiderte ihm einmal eine Freundin; „ich bin ja alt und gar nicht schön!“

Darauf antwortete der Dichter: „Man muß Sie nur sehen, wie ich Sie sehe, mit den Augen des Herzens.“

Ein Strahl aus den Augen dieser Dichtersonne war auch in das Herz der armen Marie gefallen und hatte ihr Lebensschicksal entschieden Er war aber auch voll genug, um ihr ein treues, unvergängliches Andenken in der Erinnerung aller derer zu sichern, die in Lenau den Dichter des ringenden Gedankens und der unendlichen Sehnsucht verehren.



Sakuntala.

Novelle von Reinhold Ortmann.
(Fortsetzung.)
9.

Im Orchesterraum und auf dem Podium des mächtigen Konzertsaales, in welchem die letzte Probe der „Sakuntala“ stattfinden sollte, begannen sich die mitwirkenden Musiker und Sänger zu sammeln. Da schwirrte es überall von heiterem Lachen und Plaudern, und das große Ereigniß des Tages, die Uebernahme der Hauptpartie durch Rita Gardini, bildete den wesentlichsten Gegenstand aller Gespräche. In den musikliebenden Kreisen Berlins war ja das Zerwürfniß zwischen der gefeierten Primadonna und dem berühmten Komponisten, die früher in allen bedeutenden Konzerten fast unzertrennlich gewesen waren, durchaus kein Geheimniß geblieben. Man hatte es naturgemäß mit Gerhards Verlobung in Verbindung gebracht, und man war nun nicht wenig auf die erste Gelegenheit gespannt, da die beiden Künstler wieder öffentlich zusammen wirken sollten.

Der weite Zuschauerraum in seiner gähnenden Leere bildete zu dem munteren Treiben da oben einen gewaltigen Gegensatz. Auf den ausdrücklichen Wunsch Gerhards war – dem sonst bei Hauptproben üblichen Gebrauch entgegen – der Zutritt jedermann aufs strengste verwehrt worden, und so zeigte sich in den schier endlos hinter einander aufgestellten Sitzreihen nicht ein einziger Hörer. Der tiefste Hintergrund des Saales freilich war in ein vollständiges Dunkel eingehüllt, das für die auf dem Podium Befindlichen undurchdringlich blieb, und unter dem Schutze dieser Finsterniß hatte eine einzige Person dem von Gerhard erlassenen Verbot zu trotzen gewagt. Der Pförtner, welcher der tief verschleierten jungen Dame den Eintritt hatte verwehren wollen, war rasch zur Nachgiebigkeit bestimmt worden, als sie ihm leise und gleichsam verschämt mitgetheilt hatte, daß sie die Braut des Komponisten sei, daß sie ihre Anwesenheit vor demselben aber geheim zu halten wünsche. Er hatte ihr mit großer Zuvorkommenheit die Thür zu den hinteren Plätzen geöffnet, und da saß sie nun mit in den Schoß gefalteten Händen, regungslos wie ein Steinbild auf den Beginn der Aufführung harrend.

Und nun ging eine merkliche Bewegung durch die Schar der oben Versammelten. Die Orchestermitglieder erhoben sich von ihren Sitzen – Gerhard Steinau war erschienen. Lächelnd und mit strahlendem Antlitz verneigte er sich nach allen Seiten, die dargebotenen Grüße erwidernd, und mit der ruhigen Zuversicht eines siegesbewußten Feldherrn nahm er seinen Platz vor dem Dirigentenpulte ein. Und jetzt, fast in dem nämlichen Augenblick, öffnete sich auch die kleine Thür, die aus dem Künstlerzimmer auf das Podium führte, und in einer Straßentoilette von feinster und reizvollster Art – in demselben Anzuge, in welchem sie Astrid vorhin empfangen hatte, trat Rita Gardini zwischen den sich öffnenden Reihen der mitwirkenden Sänger und Sängerinnen hindurch bis hart an die Orchesterrampe vor. Aller Augen waren auf sie und auf den Komponisten gerichtet; aber diejenigen, welche etwas wie eine theatralische Scene erwartet hatten, sahen sich in ihren Hoffnungen durchaus getäuscht.

Eine stumme, höfliche Verbeugung auf beiden Seiten – damit war die Begrüßung abgethan. Das schöne Antlitz der Sängerin zeigte sein gewinnendstes Lächeln, so vertraut und freundlich, als handle es sich um eine Begegnung zwischen guten Kameraden. Und auch Gerhard lächelte, wenn schon einige Beobachter die Wahrnehmung machen wollten, daß der Ausdruck seines Gesichts ein etwas gezwungener sei. Jedenfalls ging der kleine Auftritt blitzschnell vorüber, schon in der nächsten Minute tönten die ersten Accorde des Orchestervorspiels durch den Saal.

Und nun rauschten die einzelnen Bilder der herrlichen Tondichtung in immer gesteigerter Schönheit vorüber. Gerhard hatte den Künstlern, welche ihn bei der Aufführung seines Werkes unterstützten, nur Gerechtigkeit widerfahren lassen, als er von ihnen sagte, daß sie sich ihrer Aufgaben mit wahrhaftem Feuereifer angenommen hätten. Jeder einzelne fühlte die Verantwortung, welche auch auf seinen Schultern ruhte und welche im Falle des Gelingens einen Theil des Erfolges auch auf seine Rechnung kommen ließ, und jeder setzte infolge dessen sein bestes Können ein. Namentlich die Solisten leisteten Bewunderungswürdiges. Weit über alle anderen hinweg aber ragte die Trägerin der Titelpartie, ragte Rita Gardini mit dem zauberischen Wohllaut ihrer unvergleichlichen Stimme und der wundersamen Innigkeit und Tiefe ihrer Gesangsweise.

Unter den Zuhörern auf dem Podium und im Orchester war keiner, der nicht im Stillen die Erkrankung der Wildenfels, welche Ritas Eintreten veranlaßt hatte, als ein großes Glück für den Komponisten angesehen hätte; so gewaltig fiel die naheliegende Vergleichung zu Ungunsten der ersten Künstlerin aus. Man hatte die Gardini niemals schöner singen hören, und wenn sie morgen im Konzert ebenso gut bei Stimme war, als heute auf dieser Probe, so war ein großer Erfolg unausbleiblich. Mit Spannung sah man der schönsten Nummer der ganzen Komposition, jener großen Arie entgegen, in welcher die verschmähte und verleugnete Sakuntala den König an das einst genossene Liebesglück und an seine heißen Schwüre erinnert. Und die Erwartungen derer, welche sich hier einen ungewöhnlich hohen und herrlichen Genuß versprochen hatten, wurden nicht betrogen.

Mit einem sehnsüchtig klagenden Piano, in dem es wie von verhaltenen Thränen zitterte, setzte die Sängerin ein; wie der weiche Gesang einer liebeskranken Nachtigall perlten die Töne aus ihrer Kehle, um dann bei der Erinnerung an die einst durchlebten Seligkeiten höher und immer höher aufzujubeln in heißer Lust und in bestrickendem Verlangen.

Und während dieser Arie, der jedes lebendige Wesen im Saale mit verhaltenem Athem lauschte, fanden auch diejenigen ihre Rechnung, die von den verstohlenen Beziehungen zwischen [832] der Primadonna und dem Komponisten irgend etwas wahrzunehmen gehofft hatten. Es war kein Zweifel, und Rita bemühte sich nicht im mindesten, es zu verbergen: – sie sang diese Arie nur für ihn allein. Nicht auf seinen Taktstock war ihr Blick gerichtet, nicht auf die Bewegungen seiner Hand, sondern ausschließlich auf sein Gesicht. Ihre schönen Augen bohrten sich gleichsam in die seinigen ein, und je mehr die Macht der leidenschaftdurchbebten Musik sie fortzureißen schien, desto beredter, desto bezaubernder wurde der feuchte Glanz dieser bald heiß aufflammenden, bald sehnsüchtig schmachtenden Augen.

Wie konnte ein Mann, der jede Mahnung, jeden Vorwurf und jede Bitte der verschmähten Sakuntala auf sich beziehen durfte, solcher Versuchung widerstehen? Wie konnte der Komponist, der seine innersten Gedanken hier mit der Meisterschaft eines mitfühlenden und nachschaffenden Genius verkörpert sah, das jubelnde Entzücken niederhalten, das sein Herz bis zum Zerspringen erfüllen mußte? Auf seinem Antlitz ging und kam in raschem Wechsel die Farbe unter dem sengenden Blick der schönen Künstlerin; seine Hand, die den Taktstock führte, zitterte so, daß die Nächstsitzenden es deutlich bemerken konnten, und als nun der letzte, in seliger Zuversicht himmelauf jauchzende Ton verklungen war, als allem Herkommen zuwider ringsumher jubelnder Beifall laut wurde, als die Musiker im Orchester sich wie auf ein gegebenes Zeichen erhoben, um der gottbegnadeten Sängerin zu huldigen, da eilte Gerhard mit zwei raschen Sprüngen auf das Podium, um Ritas Hand zu ergreifen und sie wieder und wieder stürmisch an seine Lippen zu drücken. Es wurde kein Wort zwischen ihnen gesprochen, aber es schien den Umstehenden, als ob dieser kleine stumme Vorgang auch ohne weitere Erläuterungen deutlich genug für sich selber spräche.

Und so erschien es wohl auch der einzigen Zuhörerin im dunklen Hintergrunde des weiten Saales. Astrid war dem bisherigen Verlauf der Aufführung gefolgt, ohne durch einen Laut oder auch nur durch eine leise unwillkürliche Bewegung zu verrathen, was in ihrem Innern vorging. Als sich nun aber die Wogen der begeisterten Erregung da oben auf dem Podium allmählich zu glätten begannen, richtete sie sich langsam auf und verließ geräuschlos, wie sie gekommen war, ihren Platz.

Der Mann, welcher sie eingelassen hatte, stand noch draußen.

„Aber es ist noch nicht aus, mein Fräulein!“ sagte er in dem eifrigen Bestreben, der Braut eines so bedeutenden Künstlers gefällig zu sein.

Astrid aber, die jetzt ihren Schleier zurückgeschlagen hatte, hob den Blick zu ihm auf, und es war ein seltsames Funkeln in den großen Augensternen, die ihm da aus dem todtenbleichen Gesichtchen entgegenleuchteten.

„Für mich ist es aus!“ sagte sie mit einem Ausdruck namenloser Bitterkeit, „denn nun kenne ich auch das Ende!“

Sie ging rasch davon; der alte Mann aber schüttelte höchlichst verwundert den Kopf.

„Vielleicht ist sie gar nicht seine Braut gewesen, sondern nur irgend eine Konkurrentin!“ brummte er vor sich hin. „Ich glaube, es ist doch am besten, wenn ich ihm nichts davon sage, daß ich sie eingelassen habe.“


10.

Als Astrid das Wohnzimmer ihrer mütterlichen Freundin wieder betrat, wurde sie von dieser mit einem Ausruf der Freude und der Erleichterung begrüßt.

„Mit welcher Sehnsucht und mit welcher Sorge habe ich auf Dich gewartet, meine liebe Astrid!“ rief ihr die Rechnungsräthin, die in ihrem Eifer das veränderte Aussehen des jungen Mädchens gar nicht zu bemerken schien, entgegen. „Ich habe Dir etwas sehr Wichtiges mitzutheilen. Es ist eine Nachricht gekommen, auf die Du gewiß nicht vorbereitet bist!“

„Eine wichtige Nachricht – für mich?“ Astrid sagte es so müde und theilnahmlos, daß Frau Haidborn unter anderen Umständen gewiß sogleich auf die Vermuthung gekommen wäre, ihrem Schützling müsse etwas Außerordentliches und etwas sehr Trauriges widerfahren sein. Aber ihre eigene Neuigkeit war ebenfalls von einer so außergewöhnlichen Art, daß daneben für die wackere Frau zunächst alles andere in den Hintergrund treten mußte.

„Ja, liebe Astrid! Und ich hoffe, Du wirst mir nicht böse sein, wenn ich ohne Dein Wissen ein wenig Vorsehung für Dich gespielt habe. Aber ich glaubte das dem Andenken meiner armen Freundin schuldig zu sein. Ich wollte wenigstens versuchen, für die Tochter zu thun, was ich für die Mutter leider nicht thun konnte.“

„Du sprichst in Räthseln, Mama! – Ich begreife wirklich nicht, was Du meinst!“

„Das glaube ich wohl! Und wenn es schlecht ausgegangen wäre, hättest Du auch niemals etwas davon erfahren! Hast Du niemals den Wunsch gehabt, Kind, Dich mit Deinem Großvater zu versöhnen?“

„Mit meinem Großvater? Mit dem harten, mitleidlosen Manne, der meine Mutter verstoßen konnte, nur weil sie bei der Wahl des Gatten nicht seinen selbstsüchtigen Wünschen, sondern ihrem eigenen Herzen folgte?“

„Nun ja, liebe Astrid! Von eben diesem Großvater ist freilich die Rede! Aber ich denke, seine damalige Handlungsweise, so wenig ich sie auch in allen Stücken entschuldigen möchte, könnte doch vielleicht noch aus einem anderen Gesichtspunkt betrachtet werden. Er hat doch in seiner Weise auch nur das Beste seiner Tochter im Auge gehabt.“

„Ihr Bestes, Mama? – So wäre es zu ihrem Besten gewesen, auf den Mann zu verzichten, welchen sie liebte?“

„Das ist eine Frage, auf die ich nicht so leichthin antworten möchte, mein Kind! Niemand hat die vortrefflichen Herzenseigenschaften Deines Vaters aufrichtiger geschätzt als ich, und ich bin sicher, daß Deine Mutter an seiner Seite sehr glücklich gewesen ist, so glücklich wenigstens, wie sie es den Umständen nach sein konnte. Aber Christoph Ulwe war doch eigentlich auch nicht ganz im Unrecht, als er meinte, daß der mittellose Musiklehrer mit seinen schwärmerischen Neigungen und seinem unpraktischen Kindergemüth nicht der rechte Gatte für sie sei. Sie war in Reichthum und Ueberfluß aufgewachsen, die kleinen Sorgen und Mühseligkeiten des Lebens waren ihr so fremd wie irgend ein Zauberland aus dem Märchen, und darum war es nur natürlich, daß sie in der Glückseligkeit ihrer ersten jungen Liebe auch die Leiden der Armuth und die Schrecknisse eines endlosen Kampfes ums Dasein unterschätzte. Sie war nur zu bereit, eine Last auf sich zu nehmen, deren Schwere sie gar nicht kannte, – eine Last, die wohl im ersten Augenblick leicht und unbedeutend erscheinen mag, die aber immer grausamer und unbarmherziger drückt, je länger sie getragen werden muß, und die endlich nicht bloß ein zartes, schwaches Weib, sondern selbst einen Riesen unter ihrem Gewicht erdrücken kann.“

„Und wenn mein Großvater dies alles voraussah, warum hat er meinen armen Eltern die Last nicht abgenommen? Er konnte es doch; denn ich meine, er war ein reicher Mann.“

„Ja, liebes Kind! Das ist der Punkt, in welchem auch ich mit seiner Handlungsweise nicht übereinstimmen kann. Aber am Ende sind wir beide nicht dazu berufen, über ihn zu richten, und Du hast kein Recht, die Hand der Versöhnung zurückzuweisen, die Deine arme Mutter mit Freuden ergriffen haben würde!“

„Die Hand der Versöhnung? Hat denn der Großvater den Wunsch, sich mit mir zu versöhnen?“

„Ja, Astrid! Ich habe an ihn geschrieben, und heute morgen hat mir der Postbote diese Antwort gebracht.“

Mit viel geringerer Theilnahme, als es die Rechnungsräthin erwartet haben mochte, empfing Astrid das Blatt aus ihrer Hand. Die großen, ungelenken und unregelmäßigen Schriftzüge setzten sie in Erstaunen, aber schon in den ersten Zeilen war ja die Erklärung dafür zu finden. Da hieß es:

 „Meine werthe Dame!

Halten Sie es einem halb Erblindeten zugute, wenn seine Handschrift Ihnen Schwierigkeiten macht; aber wenn mir nicht die Gewohnheit eines ganzen Menschenlebens zu Hilfe käme, würde ich in der Dunkelheit, die mich umgiebt, selbst diese armseligen Zeichen nicht mehr zusammenkritzeln können.

Sie haben mir in der Angelegenheit meiner Enkelin Astrid Bernhardi geschrieben, und ich bin Ihnen dafür herzlich dankbar; denn ich suchte eben vergeblich nach einem Mittel, ihren Aufenthalt in Erfahrung zu bringen. Gern hätte ich sogleich selber an sie geschrieben, aber es wird einem alten Manne doch schwer, zu einem jungen, unerfahrenen Mädchen, das er nicht einmal kennt, von seinem Unrecht zu sprechen und davon, was es ihn

[833]

Christnacht.
Zeichnung von Hermann Vogel.

[834] gekostet hat, dieses Unrecht zu begehen. So mögen Sie es sein, meine werthe Dame, die ihr sagt, der alte harte Großvater, den zu hassen man sie wahrscheinlich von Kindesbeinen an gelehrt hat, sei in sich gegangen wie der Sträfling im Zuchthause. Und wie der Sträfling im Zuchthause sitze ich ja auch wirklich da in meinen großen, dunkeln, einsamen Zimmern. Vor wenigen Wochen habe ich meinen einzigen Sohn begraben, meine Hoffnung, meinen Stolz – die Zukunft meines Namens und meiner Firma. Und nun bin ich selbst im Begriff, völlig zu erblinden. Vielleicht ist das genügend, um meine Enkelin etwas versöhnlich zu stimmen gegen einen unglücklichen alten Mann! Nur möchte ich’s gern einmal von ihr selber hören, daß sie mir verzeiht. Darum habe ich ihr einen Vorschlag zu machen. – Es ist selbstverständlich, daß Christoph Ulwes Tochterkind nicht wie die erste beste Bettlerin in das Haus ihres Mannes einzieht. Ich gebe ihr eine Mitgift von hunderttausend Kronen und ich stelle dafür nur eine einzige Bedingung: auf der Hochzeitsreise muß sie mich mit ihrem Manne besuchen, und ich werde zufrieden sein, wenn ich sie auf wenige Tage in meiner traurigen Einsamkeit festhalten kann. Wenn ihr aber ein Ungemach widerfährt und wenn sie früher oder später Sehnsucht danach empfindet, sich an einen norwegischen Fjord und in das stille Haus zu flüchten, in welchem ihre Mutter geboren und aufgewachsen ist, so wird sie dessen Thür allezeit weit offen finden, und ein alter, gebeugter Mann wird sie freudig in seine Arme schließen und wähnen, daß es noch einmal Tag geworden sei in seiner Nacht.

Damit, meine werthe Dame, sei es genug für heute. Ich empfehle mich Ihnen als Ihr ganz ergebener

Christoph Ulwe.“ 

Mit großer Spannung hatten die kleinen hellen Augen der Rechnungsräthin das Mienenspiel der Lesenden verfolgt. Namentlich bei den „hunderttausend Kronen“ hatte sie unzweifelhaft einen lauten Freudenausbruch erwartet und sie schüttelte ein wenig den Kopf, als nicht einmal ein flüchtiges Lächeln auf Astrids ernstem blassen Gesicht erschien.

„Nun, Kind, was sagst Du dazu?“ fragte sie mit merklicher Ungeduld. „Was gedenkst Du, ihm zu antworten?“

„Ich werde ihm antworten, daß ich bereit sei, zu ihm zu reisen und ihn zu pflegen.“

„Ihn zu pflegen? Du meinst natürlich, während des Besuchs auf Eurer Hochzeitsreise, von dem er da spricht?“

„Ich werde keine Hochzeitsreise machen, Mama! Meine Verlobung ist aufgehoben.“

Regungslos vor Schrecken und keines Wortes mächtig stand die Rechnungsräthin da. So unverkennbar prägte sich die maßlose Bestürzung auf ihrem gütigen und ehrlichen Antlitz aus, daß angesichts eines solchen Beweises inniger Theilnahme sich auch die unnatürliche Starrheit in Astrids Wesen löste. Sie warf sich laut aufschluchzend an die Brust der mütterlichen Freundin, und sie fand jetzt endlich die ersten Laute der Klage über ihr so jäh zerstörtes Glück.

Unter heißen Thränen erzählte sie der Rechnungsräthin alles, was sie an diesem unseligen Morgen gehört und gesehen hatte, und wie tief sie auch immer die erlittene Demüthigung jetzt bei der Erzählung zum zweitenmal empfinden mochte, so verschwieg sie doch nicht ein einziges Wort. Als sie geendet hatte, schien der alten Dame einige Hoffnung zurückgekehrt zu sein.

„Wie hast Du mich erschreckt, als Du von einer Aufhebung Deiner Verlobung sprachst! Aber so weit ist es denn doch, Gott sei Dank, noch nicht. Die Worte dieser Frau können nicht genügen zu einem so folgenschweren Entschluß. Du mußt auch Gerhard hören und seine Rechtfertigung!“

„Was bedarf es da einer Rechtfertigung, Mama, wo alles so klar und einleuchtend vor mir liegt? Was Rita Gardini sagte, entspricht der Wahrheit nur allzu sehr! Nicht aus Liebe wollte er mir seinen Namen geben, sondern aus Edelmuth, und indem er mich glücklich machte, wollte er sich selber zum Opfer bringen.“

„So sollte alles, was ich hier vor meinen Augen gesehen habe, nur Lüge und Heuchelei gewesen sein? – Nein, nein, Astrid, das werde ich nimmermehr glauben!“

„Und doch ist es so, Mama! – Auch Du würdest nicht daran zweifeln, wenn Du heute bei der Probe gesehen hättest, was ich sah.“

„Und wenn der Schein auch gegen ihn spricht, Du mußt wenigstens abwarten, was er Dir zu antworten hat! Bis er heute hier gewesen ist, mußt Du wenigstens Deinen Entschluß aufschieben!“

In wehmüthiger Hoffnungslosigkeit schüttelte Astrid das Köpfchen.

„Er wird nicht kommen, Mama! Ich bin ganz sicher, daß er nicht kommen wird.“

Der helle Klang der Hausglocke verhinderte sie daran, weiter zu sprechen.

„Das ist er!“ rief Frau Haidborn freudig. „Es ist seine gewöhnliche Stunde. Nun wird alles gut werden!“

Sie selber eilte zur Thür, um zu öffnen; aber sie prallte erschrocken zurück, als sie nicht Gerhard, sondern seinen Diener vor sich sah.

„Herr Steinau läßt um Entschuldigung bitten, wenn er den Damen heute nicht mehr seine Aufwartung machen kann. Aber er fühlt sich nach der Probe sehr angegriffen und erholungsbedürftig. Er hoffe, die Damen gleich nach dem Konzert zu sehen, und schickt hier die Eintrittskarten.“

Das war die mündliche Bestellung, welche der junge Mensch auszurichten hatte. Gerhard hatte also nicht einmal die Kraft gefunden, an Astrid zu schreiben. Er war unzweifelhaft dem Banne von Ritas schönen Augen rettungslos verfallen.

Noch immer versuchte die Rechnungsräthin, Astrid zum Ausharren zu bewegen; aber sie selber hatte die Hoffnung auf eine günstige Wendung verloren, und ihren mahnenden Worten fehlte die Kraft der eigenen Ueberzeugung. Sie ließ es geschehen, daß sich Astrid, nachdem sie zum Schein einige Bissen von der Mittagsmahlzeit zu sich genommen hatte, auf ihr Zimmer zurückzog, und sie verlangte nicht, den Inhalt des Briefes kennenzulernen, mit welchem eine Stunde später das Mädchen zu Gerhard Steinau gesandt wurde.

(Schluß folgt.)




Weihnachtsbüchertisch für die Jugend.

Unter den mancherlei Geschenken für die Jugend zum Weihnachtsfeste:

„Lichterbaum, Gewehr und Schwert,
Trommel, Jagd- und Schaukelpferd,
Bilderbuch und Kegelspiel,
Nüss’ und Aepfel auch recht viel,
Püppchen, Püppchen, Hampelmann –“

wie es im Liede heißt, nimmt ein Buch immer einen der ersten Plätze ein, wenn der Geber es verstanden hat, seine Wahl nach dem Geschmack und dem Bedürfniß seiner jungen Freunde zu treffen. Wie in früheren Jahren wollen wir auch zum bevorstehenden Christfeste hinsichtlich der neuen Bücher die Wahl erleichtern helfen, indem wir ein paar für jede Altersstufe aussuchen und hier anführen. Recht dringlich möchten wir aber zugleich unseren Rath wiederholen, über den mancherlei neuen Jugendbüchern der vielen und werthvollen alten nicht zu vergessen! Unsere Empfehlungen in den letzten Jahrgängen der „Gartenlaube“ z. B. mögen wieder nachgeschlagen werden, und wer in dem nachfolgenden kurzen Bericht nicht das findet, was er sucht, wird in den früheren Jahrgängen kaum vergebens nachforschen.

Um auf gedrängtem Raume eine thunlichst übersichtliche Zusammenstellung zu geben, setzen wir überall die Titel der Schriften voran und beschränken unsere kurzen charakterisirenden Bemerkungen auf das Nothwendigste.

Bilderbücher für die Kleinsten. Weihnachten von Fritz Reiß (Verlag von Meißner und Buch in Leipzig). Eine mit hübschen Bildern versehene Zusammenstellung der schönsten Weihnachtslieder. Das Aeußere des Buches ist nach den Umrissen des Tannenbaums ausgeschnitten. – Heitere Kindertage. (Ebenda.) Kindliche Gedichte mit feinausgeführten Farbendruckbildern in englischer Manier. – Neues Bilder-A-B-C, mit Versen von M. Raimund (Stuttgart, Gustav Weise). Willkommen als dankenswerthes Hilfsmittel, um den Kleinen die ersten Anfangsgründe im Lesen beizubringen. – Unsere Soldaten in beweglichen Bildern von Willibald König (Stuttgart, Wilhelm Effenberger [F. Loewes Verlag]). Ein kurzweiliges Ziehbilderbuch nach Art derjenigen von Lothar Meggendorfer (siehe vorige Nummer der „Gartenlaube“). – Was die Menschen treiben. Von F. Erck, illustrirt von Fritz Reiß. (Leipzig, Meißner und Buch). Ein vortreffliches Buch, erfreulich sowohl seiner farbenschönen und lebensvollen Bilder wie seiner inhaltreichen Gedichte wegen! – Jung Japan beim Spiel. (Leipzig, E. Twietmeyer.) Das Buch versucht, die zum theil recht munteren Spiele der schlitzäugigen kleinen Japaner auch bei uns einzuführen. Die Spielreime sind meist lebhaft und leicht erlernbar; aber die vielen wunderlichen Namen japanischer Märchenfiguren [835] (Kin-ta-ro, Schi-Yu-Ten, Ka-ra-fu, Fi-Fi-Tse etc.)! Ob sich unsere Kleinen auch mit denen befreunden werden?

Geschichtenbücher für die Kleinen. Für das zartere Kindesalter den richtigen Ton zu treffen, ist nur wenigen Jugendschriftstellern gelungen und deshalb gerade an Geschichtenbüchern für sie ein empfindlicher Mangel. Herangezogen werden können jedoch: Auch ein Schatzkästlein. 50 Erzählungen, gesammelt von Klara Reichner, mit 4 Buntbildern von P. Wagner (Stuttgart, Gustav Weise). – Vier Erzählungen aus der Kinderwelt von Th. v. Gumpert (Stuttgart, W. Effenberger). – Warm empfehlend verweisen wir auf ein älteres Geschichtenbuch für die Kleinen: Aus der Kinderwelt von Ottilie Wildermuth, illustrirt von Oskar Pletsch, E. Kepler und E. Klimsch (Stuttgart, Gebrüder Kröner).

Märchenbücher. Zu den altbekannten Märchensammlungen hat der Büchermarkt einen Zuwachs gebracht, der hocherfreulich ist: Aus der Jugend für die Jugend. Märchen von Friedrich Polack, illustrirt von E. Rancillio (Wittenberg, H. Herrosé). Ein hochverdienter Jugenderzieher, „dessen Haar grau geworden, aber dessen Herz jung geblieben“, ist hier der Erzähler. Aus enem unerschöpflichen Jungbrunnen holt er seine Stoffe, die ganze goldene, gedanken- und gemüthstiefe, kindlich schlichte Poesie der Märchenwelt tritt uns in seinem Buche entgegen, zaubervoll und bezaubernd. Ein echtes Jugendbuch, schlicht zwar im äußeren Gewande, desto köstlicher aber in seinem Kern!

Vermischte Bücher für Knaben und Mädchen von 9 bis 14 Jahren. Der Jugendgarten. Eine Festgabe für die Jugend. Gegründet von Ottilie Wildermuth. (Stuttgart, Gebrüder Kröner). Zum 14. Male tritt dieses ausgezeichnete Jahrbuch für die reifere Jugend seinen Weg in die deutsche Familie an, reich ausgestattet wie immer und wie in früheren Jahren auf freundliche Aufnahme hoffend. Wer den stattlichen Band durchblättert, wird überrascht sein von der Fülle des Gebotenen. Erzählungen, Plaudereien, Charakterbilder aus der Geschichte, Lebensbilder, Sagen, Gedichte und Räthsel wechseln in bunter Reihenfolge ab; acht farbige und zwölf Tondruckbilder, alle ganzseitig, geben einen ebenso mannigfaltigen als künstlerisch schönen Schmuck. Der „Jugendgarten“ ist ein Schatzkästlein für unsere Knaben und Mädchen, das immer neue Anregung gewährt, so oft der jugendliche Leser auch zu ihm zurückkehren mag, und dessen Werth ein bleibender ist auch für die nachwachsenden Kleinen. – Deutsche Jugend. Herausgegeben von Julius Lohmeyer. Neue Folge. VII. Band. (Ebenda.) Die bereits seit 16 Jahren bestehende Zeitschrift ist so allbekannt und beliebt und so oft von den berufensten Männern und Frauen den Eltern ans Herz gelegt worden, daß eine weitere empfehlende Einführung kaum mehr nothwendig ist. Julius Lohmeyer ist einer der verdientesten Jugenddichter, der wohl weiß, was der Jugend frommt, und wenn seine Zeitschrift als ein „Muster der Jugendlitteratur“ bezeichnet wurde, so ist damit nur eine Anerkennung ausgesprochen, die seit langen Jahren wohlverdient ist. – Goetz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Von Jul. Pederzani-Weber. (Leipzig, Ambrosius Abel.) Wie schon der Titel andeutet, ein Kulturbild aus dem 16. Jahrhundert. „Ich will ein Schützer aller Rechtlosen sein,“ hat Goetz schon in seiner Jugend gelobt, und in diesem Sinne führt den tapferen Haudegen das Buch vor. 10 Tonbilder von Eduard Kämpffer gereichen dem Buche nicht nur zum Schmuck, sondern erleichtern auch das Verständniß der unserer heutigen Anschauung fernliegenden Zeit.

Knabenbücher. Die nachstehend aufgeführten Bücher, meistens aus der Länder- und Völkerkunde, sind in erster Reihe für Knaben bestimmt und geeignet, was natürlich nicht ausschließt, daß das eine oder andere auch von Mädchen gelesen werden kann. – Ein afrikanischer Lederstrumpf. Von C. Falkenhorst. II. Band: Der Löwe vom Tanganyika. III. Band: Raubthier-Araber. (Stuttgart, Gebr. Kröner.) Im vorigen Jahre erschien der erste Band des „afrikanischen Lederstrumpfes“ und mit den jetzt vorliegenden Bänden II und III ist derselbe abgeschlossen. Je mehr durch die Ereignisse der letzten Jahre die Aufmerksamkeit auf Innerafrika hingelenkt wurde, in um so höherem Maße wuchs auch das Interesse unserer Jugend an dem „dunkeln Erdtheil“, und der „afrikanische Lederstrumpf“ hat sich die Aufgabe gestellt, diesem Wissensdrang mit anschaulichen Schilderungen entgegenzukommen. Viele Gebiete Innerafrikas sind noch vollständig unerschlossen; was aber annähernd zuverlässig festgestellt werden konnte, hat C. Falkenhorst gewissenhaft für seine lebensvollen Schilderungen herangezogen. – Im Kielwasser des Piraten. Von Friedrich Meister, mit in den Text gedruckten Illustrationen und 8 Vollbildern von A. v. Roeßler. (Leipzig, Ambrosius Abel.) Der Verfasser schildert die Abenteuer zweier Schulkameraden zu Schiff und in den Wildnissen von Süd-Amerika. Die Erzählung ist lebendig und spannend, ebenso die folgende: Bob, der Fallensteller. Eine Erzählung aus dem Westen Nord-Amerikas von Friedrich J. Pajeken, mit Abbildungen von Joh. Gehrts (Leipzig, Ferdinand Hirt und Sohn). – Die Geißel der Südsee. Leben und Thaten eines Freibeuters der Jetztzeit. Von J. H. O. Kern, mit Abbildungen von Joh. Gehrts. (Leipzig, Ferdinand Hirt und Sohn.) Eine fesselnde Schilderung des Lebens jenes entschlossenen Freibeuters James William Hayes oder, wie ihn der Volksmund nannte: Bully Hayes, der ein Vierteljahrhundert hindurch in der Südsee sein verbrecherisches Wesen trieb und trotz der Verfolgung durch die Kreuzer der dort vertretenen Mächte bis zum Jahre 1878 sich behauptete. – In des Königs Rock. Bilder von Richard Knötel, Text von Fedor v. Köppen. (Leipzig, Meißner u. Buch.) Mit Textillustrationen und zahlreichen gut ausgeführten Farbendruckbildern versehene Darstellung des Soldatenlebens vom Eintritt des Rekruten an bis zum Schluß der militärischen Dienstjahre. Das Buch wird überall da Freude erregen, wo Sinn für soldatisches Wesen herrscht.

Mädchenbücher. Gertruds Wanderjahre. Erlebnisse eines deutschen Mädchens im Elsaß, in Spanien, Italien und Frankreich. Von Brigitte Augusti. Mit Abbildungen von Otto Gerlach. (Leipzig, Ferdinand Hirt und Sohn.) Bunte Bilder aus Nähe und Ferne mit besonderer Berücksichtigung des häuslichen und Frauenlebens in den verschiedenen Ländern. Anziehende Schilderungen, für die reifere Mädchenwelt vorzüglich geeignet. – Im Kampfe des Lebens. Eine Geschichte aus dem amerikanischen Leben. Von Brigitte Augusti. (Ebenda.) Freie Uebersetzung der englischen Erzählung „Die Mädchen von Quinnebasset“ von Sophia May, mit Bildern nach englischen Originalen. Die deutsche Jugend ist mit fragwürdigen Uebertragungen vielfach geplagt worden, diese neue Arbeit von B. Augusti aber ist werthvoll.

Schriften für herangewachsene Mädchen. Wir beschränken uns hier auf die Angabe einiger weniger Titel: Als Stütze der Hausfrau. Eine Erzählung von Eva Hartner. (Berlin, F. Fontane.) – Kleine Bilder im engen Rahmen. Märchen von M. vom Walde, illustrirt von E. Giebe. (Leipzig, Georg Wigand.) – Der Trotzkopf. Eine Pensionsgeschichte von Emmy v. Rhoden. 7. Aufl. (Stuttgart, Gustav Weise.) – Unsere Aelteste. Erzählung von E. Biller. (Stuttgart, K. Thienemann.) – Album für Deutschlands Töchter. Lieder und Romanzen. Mit Illustrationen von Kaulbach, Thumann, Grot Johann, Edm. Kanoldt, A. Zick u. a. 11. Auflage. (Leipzig, C. F. Amelangs Verlag.) Dietrich Theden.




Blätter und Blüthen.


Christnacht. (Zu dem Bilde S. 833.) Es giebt kein schöneres Fest als Weihnachten, und selbst das frohe Knospen des heitern Frühlingsfestes Pfingsten muß zurücktreten vor dem Lichterstrahlen der kalten und verschneiten Christnacht. Für ein Kind nun gar bedeutet das Weihnachtsfest den Inbegriff aller Seligkeit. Sein Herz schlägt höher, wenn der Weihnachtsmann genannt wird, und mit den holden Gestalten der Weihnachtsengel belebt sich dem frommen Gemüth des Kindes die ganze in seinem engen Gesichtskreise liegende Welt. Bevor es abends in seinem Bettchen die müden Augen schließt, faltet es die Hände zum Gebete – die Weihnachtsengel sehen es ja und freuen sich darüber; je näher das Christfest heranrückt, um so gehaltener wird das Thun und Denken des Kindes, kommen doch des Abends die Engel und erkundigen sich danach. Haus und Hof und Garten, das weite verschneite Feld, der schneeschwere Wald, der weite Himmelsraum mit seinen funkelnden Lichtern sind belebt mit den strahlenden Gestalten der Engel. Und am Christabend selbst – die Erfüllung des bescheidensten Wunsches ist dem Kinde eine Quelle der Seligkeit und seine Phantasiewelt unerschöpflich in freundlichen, alles verklärenden Bildern.

Und mit dem Auge des Künstlers hat Hermann Vogel, der verständnißvolle Freund der Kinderwelt, so ein bezauberndes Phantasiebild festgehalten; aus ihm heraus strahlt und leuchtet uns die ganze weihevolle Stimmung des Kindergemüthes am Christabend entgegen. An der alten, verfallenen Kapelle im Walde, mit dem die Geburt des Christuskindes darstellenden Fries, führt der Weg der kleinen Wanderer vorüber, die von den Großeltern kommen und reichbeschenkt zurück dem Heim der Eltern zustapfen, neuer Freude entgegen. Da ist selbst die sonst gern gemiedene Stätte des Verfalles vom Zauber der Christnacht verklärt und Engel halten lockend all die Herrlichkeiten, nach denen das Kinderherz Verlangen trägt: den schlichten Hampelmann mit rother Zipfelmütze, den zähnebleckenden Nußknacker, Puppen, goldige Früchte, – und wer weiß, was alles in der geheimnißvollen großen Schachtel sich verbirgt – – o heilige, unergründliche, ewig junge Poesie der unschuldsvollen Kindheit! **

Berliner Weihnachtstage. (Zu dem Bilde S. 824 u. 825.) Es kann beinahe als ein Wunder erscheinen, daß es in unserm immer mehr dem egoistischen Fürsichselbstsorgen zudrängenden Leben einen kurzen Zeitabschnitt giebt, in dem fast ausnahmslos in jeder Brust der Drang emporsteigt, zu geben, zu erfreuen! Ja, es giebt Stunden, in denen die Erwachsenen mit ihren Gefühlen und Empfindungen wieder zu Kindern werden, in denen sie die ruhelos den Tagesansprüchen zugewandten Gedanken abschütteln und ihre „Herzen“ zu ihrem Recht kommen lassen. Das Einfach-Menschliche, das in der Kinderseele seinen Wohnsitz hat, verpflanzt sich noch einmal auf die Erwachsenen; wo im Zusammenleben die Bindemittel zerrissen sind, das Gefühl der Zusammengehörigkeit nur noch dem Namen nach besteht, – in der Weihnachszeit legt sich die lang zurückgezogene Hand in die Hand des Nächsten, Groll, Unfriede weichen sanfteren, versöhnlichen Empfindungen. Was auch das Jahr brachte, und wenn auch noch die letzten vorübergegangenen Tage Gegensätze schufen, der Weihnachtsabend löscht alles aus.

Anders gestalten sich die äußeren Vorbereitungserscheinungen zu dem „Feste des Gebens“ in den kleinen Städten als in den großen, aber die Bewegung der Gemüther ist dieselbe.

An das Schlüsselloch des seit Tagen abgesperrten Zimmers schlüpfen, vorsichtig um sich spähend, die Kinder. Der feine Tannenduft dringt durch die Ritzen der Thür, die unbeschreiblich süße Ahnung des Kommenden steigt ist ihnen auf, das kleine Herz jauchzt und ist voll Ungeduld.

„Wie lange ist’s noch? Warum nicht schon morgen, Mama?“

Mein eigener kleiner Bube rief im vorigen Jahr weinend, im höchsten Zorn, und ich mußte ihn wegen seiner rührenden Einfalt ans Herz ziehen:

„Wenn ich mal groß bin und kleine Kinder habe, sollen sie nicht so lange warten!“

Selige Zeit, in der wir alle noch so genußfähig, so fröhlich, so glücklich waren! – Gleiches vermag nicht mehr in unsere Brust einzuziehen; wir sahen die Welt zu unverhüllt vor uns, in ihr lernten wir unsere Illusionen, das ungetrübte Genießen abstreifen; aber Aehnliches, Verwandtes [836] hat doch Raum in unserm Innern, und das – haben wir uns und wollen wir uns erhalten!

Die Bilder, die sich in den letzten Tagen vor dem Heiligen Abend in den Hauptverkehrsstraßen Berlins dem Auge aufthun, tragen ein so lebhaftes Gepräge, zeigen so lebendige Farben und spiegeln die Eigenart des öffentlichen Treibens so zusammengedrängt ab, daß sie bei einer Schilderung der Weihnachtszeit nicht fehlen dürfen.

Unser Zeichner hat auf dem Holzschnitt mit großer Anschaulichkeit das Hinundher, das um diese Zeit unter den Linden herrscht, wiedergegeben. Da ist die Pickelhaube des Schutzmannes und die Mütze des Dienstmannes, das sind Berliner Droschken und Omnibusse, das sind Uniformen unseres Militärs, und so sehen die Linden aus.

Das wogt und eilt und drängt sich unaufhörlich von der Mittagszeit bis hinein in den späten Abend!

Schnee! Schnee! wohin das Auge blickt, auf den Dächern, den Fenstergesimsen, auf den Bäumen, Kiosken, Laternen, Buden und Litfaßsäulen. Beschneit ist jeder Winkel, jede Ecke, jede Spitze. Starres, hellschimmerndes Weiß hat sich eingenistet überall und weicht nicht. Ganz sind selbst auf der Straße die Spuren des wehenden Schneefalls nicht verwischt, obgleich die Tritte von Hunderttausenden, die Wagenräder der Omnibusse, Equipagen, Droschken und Lastgefährte die Krystallformen des Himmels in einen schmutzig flüssigen Schlamm verwandelt haben.

Anderthalb Millionen Menschen, und von ihnen wohl zwei Drittel, die im Laufe der Woche einmal oder mehrmals aus ihren Häusern eilen, um für den Weihnachtsabend einzukaufen! Zahllose lockt auch die Neugierde in die Hauptstraßen: in die Leipziger- und Friedrichstraße, unter die Linden.

Außerordentlich ist das Gedränge in der Leipzigerstraße. Da giebt’s keinen Laden, keinen Verkaufsraum, der nicht förmlich belagert ist. In den Konditoreien stehen oft fünfzig Menschen auf einmal und warten, in den Fünfzigpfennigbazaren geht’s ab und zu wie eine Völkerwanderung. Und nun erst die Straße selbst; Männer, Frauen, Kinder, Dienstmänner, Fremde, Boten, Bummler, Damen, Herren, das jagt aneinander vorüber, athemlos, ein Bild der Zeit, die ruhelos hastend vorwärts drängt. Tausende von Packeten, Schachteln, Bündeln werden getragen, fast jeder Mensch in den Pferdebahnwagen, Equipagen, Droschken hat um diese Zeit ein „Eingepacktes“ auf dem Schoß.

Die Polizei gestattet an verschiedenen Plätzen die Errichtung von Verkaufsbuden, aber auch die Aufstellung der zum Verkauf bestimmten Tannenbäume auf den öffentlichen Plätzen des Ostens, Südens, Nordens und Westens der Stadt. Bisweilen, wie am Lützowplatz, geht man durch eine schmucke, grüne Allee; die Bäume haben einen Fuß bekommen und stellen sich in ihrer verschiedenartigen Größe zur Auswahl. Es duftet wie der Tannenwald selbst; der ewig lebendige Baum sprüht seinen Athem aus. Ungeheure Massen von Tannenbäumen werden nach Berlin gebracht; ihr Preis hält sich seit Jahren auf gleicher Höhe, ein großer stolzer Baum kann bis zu zehn Mark kosten, der einfache Mann erwirbt einen solchen für eine Mark, bis endlich die theuren und die billigen alle dasselbe Schicksal erreicht. Entkleidet ihrer flimmernden Pracht, stehen sie in den Ecken der Höfe, in den Gärten; in den neuen Straßen des Westens haben sie ihre Aschenbrödelecke auf den Balkonen, bis sie dürr genug sind für das Ofen- oder Herdfeuer oder der Schuttwagen sie aufpackt und so die letzte Erinnerung an das Fest verwischt.

Im vorigen Jahre durchwanderte ich verschiedene Straßen des vornehmen Westens um die Zeit der Bescherung. Mitten im Schnee lichtüberströmte Gebäude; wohin das Auge sich wandte, jenes stille, sanften Frieden und Fröhlichkeit aushauchende Flimmern der Weihnachtslichter, ein Anblick, der Freude und Wehmuth wachruft, aber nur jene Wehmuth der Erinnerung an die selige Kinderzeit, jenen Ernst, der aus dem Gefühl überströmenden Dankes emporsteigt!

Keine Wohnung ohne einen Baum; nur bei denjenigen, die nicht den Heiligen Abend, sondern den ersten Feiertag zur Bescherung wählen, scheint das gewöhnliche Licht oder ist es gar dunkel, weil die Bewohner bei Freunden den Abend zubringen.

Und hier draußen herrscht auch die Stille des Ausruhens, höchstens ertönt jauchzendes Kinderlachen. Im Centrum aber immer gleiches Gewoge, Gedränge, Laufen, Fahren, Geräusch und athemloses Leben ohne Stillstand, wechselnde, so ganz verschiedene Bilder! Nur eine Menschenklasse scheint gar nicht von dem heiligen Feste berührt zu werden. Wo über die zehnte, elfte Stunde hinaus noch Licht hinter den Fenstern und Gardinen sich zeigt, da fahren in langsamem Schritt die Droschkenkutscher zweiter Klasse vor und halten. Es giebt vielleicht eine Fuhre!

Und während die droben in warmer, behaglicher Lust den Fisch, den Braten verzehren, hockt der alte Fuhrmann frierend auf dem Bock und seine Gedanken gehen zu den Seinigen, die, da ihn die Pflicht selbst an diesem Abend hinausrief in die kalte Winternacht, daheim ohne ihn feiern.

Aber siehe! Die Thür öffnet sich. Der Portier erscheint. Einen Teller mit Pfefferkuchen, Pfannkuchen und ein Glas Punsch reicht er dem Frierenden hinauf.

„Von die Herrschaften oben, in die dritte Etage!“ erklärt er, und der Alte nickt und dankt, und etwas Eigenes sickert auf in seinem Innern, und auch er feiert das Fest des Gebens, das Fest echt menschlicher Verbrüderung, das unvergleichliche Weihnachtsfest. Hermann Heiberg.     

Schiffer- und Künstlerkinder und die Volksschule. Im Lande der allgemeinen Schulpflicht genießen auch die Kinder herumziehender Eltern kein Ausnahmsrecht; auch sie müssen die Schule besuchen. Aber sie sind die Irrlichter unter den Schülern und die wirklichen Schmerzenskinder der Lehrer. In einigen deutschen Staaten hat man deshalb solche Eltern, die keinen ständigen Wohnsitz haben, angehalten, ihre schulpflichtigen Kinder an einem bestimmten Orte in Pflege zu geben. Verständige Väter, die den Werth einer ordentlichen Schulbildung zu schätzen wissen, thun dies von selbst. In Mainz z. B. bestehen derartige Anstalten für Kinder der Rheinschiffer. In Holland, in Belgien, wo die Schulpflicht nicht besteht, muß vielfach die öffentliche Wohlthätigkeit eintreten. In den holländischen Provinzen Overyssel, Drenthe und Friesland, die sämmtlich von zahlreichen Kanälen durchzogen und von vielen armen, in sogenannten Wohnschiffen umherziehenden Schifferfamilien bevölkert sind, wurden in den letzten Jahren durchschnittlich 50 Kinder auf diese Weise erzogen und eine große Menge mußte wegen unzulänglicher Mittel abgewiesen werden.

Das erste Paar Schuhe. (Zu der Kunstbeilage.) Ein wichtiges Ereigniß im Leben des Kindes, ein Fest für die Familie: das Anmessen der ersten Schuhe! Und wie viel ähnlich wichtige Feste sind schon vorhergegangen: das erste Lächeln des kleinen Weltbürgers, das erste Wort, der erste Zahn, der erste Schritt – o, lauter Feste, welche die Familie in Aufruhr brachten und die junge Mutter mit Seligkeit erfüllten. Jetzt werden die ersten Schuhe geholt und zuerst fein säuberlich angepaßt. Der alte Meister schmunzelt ob des seltenen Besuches und probt, ob seine zierliche Arbeit gelungen, die Mutter folgt seiner Prüfung mit freudigem Interesse, die Kleine zwar fühlt sich in der ungewohnten Umgebung nicht ganz sicher und verhält sich ziemlich reserviert, aber den Umständen nach doch muthvoll – ein herzerfreuendes Familienbild voll wahren, überzeugenden Glücks! Und als solches ist es wohl geeignet zum fröhlichen Weihnachtsgruße: ein Vorbild des Glückes zum allbeglückenden Feste. **     



Kleiner Briefkasten.

M. W. in O. Einen schönen Wildstand kann nur haben, wer zu ganz bedeutenden Opfern dafür entschlossen ist. In milden Wintern finden Rehe und Hirsche leicht ihre Nahrung; auch aus einer dünnen Schneedecke scharren sie mit den Hufen das Gras hervor. Lastet aber tiefer Schnee auf den Waldgründen, so heißt es entweder, alle schwächeren Stücke wegschießen, oder für ausgiebige Fütterung sorgen. In großen Jagdrevieren wie dem des Herzogs von Coburg in den bayerischen Alpen oder der großen Grundherren in Oesterreich kann sich die dafür nöthige Summe auf 20000 Mark für den Winter belaufen. Dafür giebt es aber auch, nach der Schilderung von Natur- und Thierfreunden, keinen schöneren Anblick als den eines solchen Futterplatzes am klaren Wintermorgen, wenn der hellblaue Himmel über den weißen Schneegipfeln leuchtet und nun das Wild in Rudeln von allen Seiten herbeikommt. Aus dem verschlossenen Futterstadel holen die Jagdgehilfen das Heu, vertheilen es in die Raufen und können kaum mit dem Geschäft zu Ende kommen, so ungeduldig drängen sich die Thiere, manchmal dreihundert und mehr, die in weitem Bogen wartend stehen, vorwärts, sobald sie das ersehnte Futter sehen. Außer Heu verwendet man in großen Massen die wilden Kastanien, welche die Hirsche und Rehe mit Wohlbehagen zwischen den Zähnen zerschroten. Der Wildstand in den Alpen vermehrt sich, Dank der staatlichen und privaten Fürsorge, stetig, freilich hat er auch dort nicht die bedenklichen Schattenseiten, welche ihn den Bauern der Ebene verhaßt machen, so daß man sich in den Vorbergen an der schönsten Waldstaffage, den ziehenden Rudeln von Hirsch und Reh, aus vollem Herzen zu erfreuen vermag. Das dafür ausgegebene theure Geld ist sicher wohl angewendet zu nennen!

A. Sch. in W. Abziehbilder werden von den Eisenbahnverwaltungen in neuerer Zeit zu Tausenden benutzt, um an den Personen- und Güterwagen die Wappenbilder sowie die Aufschriften, bei welchen es auf möglichst einheitliche Ausführung ankommt, wie „Frauen“, „Nichtraucher“ etc. auf mechanischem Wege herzustellen. Das Uebertragen des gewünschten Bildes auf die Wagen geschieht wie bei gewöhnlichen Abziehbildern mittels Andrückens und Befeuchtens der Rückseite. Nach vorsichtiger Entfernung des Papiers wird das übertragene Bild mit Lack bestrichen und ist damit fertig. – Dasselbe Verfahren benutzt man, um gewöhnlichen tannenen Schränken das Aussehen von polirten Nußbaum- oder Mahagonimöbeln zu geben.


Inhalt: Eine Erscheinung. Hinterlassene Erzählung von Fanny Lewald. S. 821. – „Seine“ Weihnachtsbescherung. Illustration. S. 821. – Weihnachten. Gedicht von Ida John. Mit Illustration. S. 828. – Lenaus Braut. Von Gustav Karpeles. S. 828. – Beim Weihnachtsspielzeug. Illustration. S. 829. – Sakuntala. Novelle von Reinhold Ortmann (Fortsetzung). S. 831. – Weihnachtsbüchertisch für die Jugend. Von Dietrich Theden. S. 834. – Blätter und Blüthen: Christnacht. S. 835. Mit Illustration S. 833. – Berliner Weihnachtstage. Von Hermann Heiberg. S. 835. Mit Illustration S. 824 und 825. – Schiffer- und Künstlerkinder und die Volksschule. S. 836 – Das erste Paar Schuhe. S. 836. – Kleiner Briefkasten. S. 836.


In dem unterzeichneten Verlage ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

Gartenlaube-Kalender für das Jahr 1890.
15 Bogen 8º mit zahlreichen Illustrationen. Preis in elegantem Ganzleinenband 1 Mark.
Der Kalender enthält unterhaltende und belehrende Beiträge von A. Ohorn, W. Heimburg, P. von Schönthan, H. Villinger, Dr. L. Fürst, Dr. H. Tischler, Dr. K. Ruß, Rud. Falb, Schmidt-Weißenfels u. A., und eignet sich vermöge seiner eleganten Ausstattung namentlich auch zu Festgeschenken.
Bestellungen wolle man der Buchhandlung übergeben, welche die „Gartenlaube“ liefert. Postabonnenten erhalten den „Gartenlaube-Kalender“ in den meisten Buchhandlungen, oder gegen Einsenduug von 1 Mark und 20 Pf. (für Porto) in Briefmarken direkt franko von der
Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

manicula Hierzu die Kunstbeilage „Das erste Paar Schuhe“, Weihnachtsgruß der „Gartenlaube“ an ihre Leser.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.