Die Gartenlaube (1889)/Heft 42
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No. 42. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Sicilische Rache.
Mit einem seltsamen Leuchten im Auge wandte die Gräfin sich
zum Herzog und mit einer Stimme, in welcher alle ihre
Verführungskünste flüsterten
und sangen, sprach sie:
„Mein lieber Herzog! Ihr verspracht mir vor wenigen Tagen, mir eine Bitte zu gewähren. – Bevor unser junger Freund auf Nimmerwiedersehen nach Neapel abreist, gestattet ihm – und gestattet mir – daß er noch ein einziges Mal seinen Kerker – die Citadelle soll doch sein Kerker sein? – verlasse und übermorgen dem Feste, das ich hier bereite, beiwohne. – Verweigert mir’s nicht – ein Abschiedsfest, Herzog! – Ihr kennt ja mein Interesse für diesen armen jungen Mann, laßt mich Abschied von ihm nehmen.“
Sie reichte dem verwunderten Herzog mit bezauberndem Lächeln ihre feine Hand. Er aber, ganz befangen in dem Banne solch berückender Liebenswürdigkeit, bedeckte sie mit feurigen Küssen. Ein Abschiedsfest – dann durfte ja er, der Herzog, hoffen, dem Herzen Teresinas der Nächste zu werden.
„Aber, Gräfin! Dazu müßt Ihr selber mir helfen,“ sagte er endlich, sich aufrichtend. – „Er sitzt dort drüben in seinem Kerker – wie Ihr die Citadelle benennt – und nach einem Balle dürften ihn seine Gedanken wohl nicht ziehen. Schreibt ihm, dem lieben Abtrünnigen, – schreibt ihm mit eigener Hand. Eurem Rufe wird er nicht widerstehen, und ich setze meine Urlaubsgenehmigung hinzu.“
„Ich will thun, was Ihr befehlt,“ und mit rascher Feder schrieb die Gräfin eines jener Frauenbriefchen, denen ein männliches Herz so schwer widersteht. Sie sprach von ihrer Reue, von ihrer Furcht, daß ihr nervöses Wesen ihn vielleicht beleidigt habe; warum er seit jenem Tage von San Placido nicht mehr bei ihr erschienen sei? ob sie denn Feinde geworden seien, während sie doch nichts sehnlicher wünsche, als seine Freundin – seine allerbeste Freundin zu sein, und den Beweis, wie herzlich sie es mit ihm meine und wie tief ihre Freundschaft für ihn sei, den werde sie ihm übermorgen geben, wenn er bei ihrem Feste erscheinen würde. – „Ich selber,“ sprach sie, während der Herzog sein Siegel unter die Erlaubniß, die Citadelle zu verlassen, drückte, – „ich selber werde dafür sorgen, daß dem Hauptmann bei seiner Herüberfahrt über den Hafen nichts geschehe. Er wird doch im Boote kommen? Unser Palazzo liegt am Meere, und einmal in diesen Mauern, wie sollte ihn die Rache jenes Sicilianers erreichen? Also, auf Wiedersehen, lieber Herzog!“ – –
Als sie allein war, blieb sie eine Weile nachdenklich an ihrem Fenster stehen. Widerstrebende Gefühle tobten in ihrer Seele. Plötzlich zuckte
[710] sie zusammen. „Und wenn er dennoch nicht käme!“ Rasch fuhr ihre Hand zur Klingel.
„Befehlet den Abbate sofort hierher!“ herrschte sie Diener an.
Scaglione blieb eine lange Stunde mit ihr zusammen. Als er sich entfernte, war Teresinas letztes Wort:
„Ihr habt verstanden? Daß die Schiffer zuverlässige Leute seien! Führen sie den Befehl zu meiner Befriedigung aus, so zahle ich doppelt. Meinen Namen aber nennt Ihr ihnen nicht!“
In grellem Gegensatze zu der die Bevölkerung in allen ihren Schichten beherrschenden Stimmung stand der Faschingstaumel, der sich der Stadt in diesen letzten Karnevalstagen bemächtigt hatte.
Es war, als wollte sich ein jeder für die düsteren Gedanken, die alles umlagerten, noch einmal aus Herzenslust entschädigen und sich noch zum letzten Male, bevor die Stunde des blutigen Ernstes schlüge, der harmlosen Freude und dem lärmenden Scherze hingeben. An das Herannahen jener Stunde mahnte alles: den Offizieren der schweizer Garde war durch Verordnung des Gouverneurs das Verlassen der Citadelle verboten; ein Kriegsschiff mit neuen Mannschaften wurde aus Neapel erwartet; der Gouverneur hatte Anstalten getroffen, um seinen Palast zu verlassen und ebenfalls in die Citadelle überzusiedeln, – und mitten unter diesen Kriegsvorbereitungen lachte und tanzte der tolle Fasching auf Straßen und Plätzen, und bis tief in die Nacht hinein ertönte aus allen Thüren und Fenstern der sinnbethörendste Karnevalsjubel.
Der Palazzo der Gräfin von Cellamare hatte sich in einen wunderbaren Feenpalast umgewandelt. Geschäftig bewegte sich der Abbate Scaglione unter den Arbeitern herum, welche die letzte Hand an die Ausschmückung der Säle legten; die feinsten Weine standen in langen Reihen für die Gäste bereit; und in ungewohnter Anzahl, von nah und fern waren diese gebeten. Nicht nur die höhere Aristokratie, sondern auch die reichen Kaufmannsfamilien waren geladen, und sogar der Graf, der sich um das, was in seinem Hause vorging, sonst kaum zu kümmern pflegte, hatte sich’s diesmal nicht nehmen lassen, auch an seine Freunde Einladungen ergehen zu lassen, an den Bankier Lerche unter anderen, der ihm Geld zu so niedrigen Wucherzinsen lieh, und auch an seinen alten Jugendkameraden, den jetzt in seine Rechte wieder eingesetzten Marchese della Rovere.
„Was kümmert’s Euch?“ hatte er der Gräfin geantwortet, die sich über diese sonderbaren Einladungen wunderte; „Lerche verkehrt bei dem Gouverneur und ist der brauchbarste Mann von ganz Sicilien, – und der Marchese? Nun, wenn er auch wie ein Bauer dreinschaut, so ist er doch ein Edelmann von altem Schrot und Korn, und wenn er’s auch mit den Liberalen hält, wie man behauptet, so bleibt er doch mein alter Freund, – und besser ist’s, wir versuchen’s noch in letzter Stunde, ihn zu uns herüberzuziehen, als daß wir ihn dem Gesindel von Romeo und Salvatore Merlo überlassen.“
Und, um seiner Sache noch sicherer zu sein, hatte er den Marchese persönlich aufgesucht; die feierliche Einladungskarte würde er schon durch den Diener erhalten, aber mündlich wollte er ihm noch seine kameradschaftliche Bitte überbringen, doch ja bei dem Feste nicht zu fehlen. Der Marchese hatte freundlich zugesagt.
„Ich bin nur ein Landedelmann,“ hatte er mit derbem Handschlag geantwortet, „und werde kommen, wie ich bin. Willst Du mich haben, so wirst Du Dich auch durch meinen Schlapphut und mein unsalonmäßiges Kleid nicht abschrecken lassen.“
Was lag dem Grafen an Schlapphut und unsalonmäßigem Kleide! Freute er sich doch, in dieser bunten und steifen Gesellschaft wenigstens einen zu finden, mit dem er in einem entlegenen Zimmer nach Herzenslust kneipen und rauchen könnte.
Ein Glück war es freilich gewesen, daß er sich persönlich zu dem Jugendfreunde begeben hatte; denn die feierliche Einladungskarte war letzterem nicht eingehändigt worden; mit seinem breiten, dröhnenden Lachen meinte der Marchese dazu, die hätte der Diener am Ende seinem Doppelgänger, dem Marchesendieb zugestellt, und es würde ihn freuen, dieses Kerlchen beim Grafen anzutreffen und mit Fußtritten über das Treppengeländer auf das Straßenpflaster hinunterzubefördern.
Nicht weniger harmlos war die Faschingslust draußen unter der Volksmenge. Von morgens bis abends und von abends bis zum frühen Morgen trieben die Masken ihr Spiel auf Straßen und Plätzen. Troubadoure und Banditen, Ritter und Hanswurste, Mönche und Nymphen tummelten sich in der lärmenden Menge herum; an ihren Scherzen betheiligte sich alles; zwischen wildfremden Menschen entspannen sich rührende Wiedererkennungsscenen; zwischen Engbefreundeten brachen plötzliche Raufereien los, die blanken Degen blitzten in den Fäusten, bis sich alles unter jubelndem Gelächter in einen von Kindertrommeln und schrillen Pfeifchen begleiteten Faschingstanz auflöste.
Bei einbrechender Dunkelheit entfaltete sich der Mummenschanz in seiner ganzen südlichen Fülle und Ausgelassenheit; alles strömte in die Hauptstraße, ein buntes Getümmel, ein sinnbethörendes Geschwirr von Singen, von Rufen, von Lachen. Die Wagen der Adeligen mit den maskirten Damen und Herren waren in das jubelnde Gedränge eingekeilt und bewegten sich nur Schritt für Schritt voran; aus den Nebengäßchen drängten sich plötzlich geschlossene Maskenzüge heraus und alles staute sich in wildem Gewirre; ja, es schien, als läge diesmal in der Maskenfreiheit schon mehr als ein Körnchen von jener andern Freiheit, nach welcher dies Volk sich so ungestüm sehnte. Denn freier als in andern Jahren erlaubte sich die Faschingssatire, mit den höchsten Persönlichkeiten zu scherzen, und über die ernstesten Staats- und Familienereignisse ergoß sich unter dem leichtfertigen Gewande des Karnevalshumors des Volkes beißender Spott. Hier sah man einen in römischer Prokonsulstracht einherstolzirenden Doppelgänger des Gouverneurs, hinter ihm lief, von einer phantastischen Brigantenschar umgeben, ein unter unzähligen Marchesen- und Baronenwappen und -kronen keuchender Advokat, welcher fortwährend Blechpiaster aus seinen Taschen zog, dieselben mit de- und wehmüthiger Gebärde unter seine wilddrohenden Begleiter vertheilte und zugleich mit laut kreischender Fistelstimme dem ihm freundlich zunickenden Prokonsul versicherte, er thue dies nur aus besonderer Privatliebhaberei, er sei der freieste Mann von ganz Sicilien und habe, nur um sich die römischen Liktoren vom Halse zu schaffen, seine besten Freunde als Briganten verkleidet. Dort trieb sich eine Schar von leichtbekleideten Nymphen herum, die einen mit Liebesschleifen überhängten mandolinenbewehrten Ritter in ihrer Mitte fortzogen; nach allen Seiten warf der Ritter Kußhändchen; von allen Seiten drang die lose Rotte auf ihn ein; ein hitziges Handgemenge entstand unter den werbenden Mädchen, wer von ihnen die Bevorzugte sein würde, und ob die Römerin oder die Sicilianerin, die Bäuerin oder die Prinzessin, oder eine in Thränen gebadete, dem entlaufenen Geliebten herzzerreißende Liebesworte nachrufende Schweizerin das rothe, mit weißem Kreuze verzierte, vom Helme des Glücklichen herunterwehende Taschentuch erobern würde.
Zwei Herzen aber schlugen in dieser dem Faschingstaumel geweihten Stadt, an denen all diese Lust und Freudigkeit wie an einer ehernen Mauer abprallte und die sich vergeblich abmühten, jedes in seiner Art und jedes nach seiner Richtung, das Vergangene zu vergessen – oder zu verschmerzen.
Still und in sich gekehrt hatte Felicita die Tage nach ihrer Rückkehr aus der Badiazza in des Vaters Haus verbracht. Sie wollte außer dem Vater niemand sehen; sogar die treue Nina hatte sie zu ihren Verwandten in ihr Fischerhäuschen am Nordrande der Stadt geschickt, als wollte sie alles von sich entfernen, was ihr das Vergangene wieder ins Gedächtniß zurückrufen könnte, – das Vergangene, das sie dem Vater zu vergessen gelobt hatte und an dem doch – jetzt erst fühlte sie es – ihr Herz mit allen Fasern hing. Ach! jenen Schwur, wie hatte sie ihn thun können? Wie konnte sie ihr ganzes Lebensglück opfern? Und doch! Ihrem Vater hatte sie’s geopfert. Und durfte sie des Vaters Ehre brechen um ihrer Liebe willen? Eine düstere Entsagung, ein stummes Ergeben in das Schicksal hatte sich ihrer bemächtigt, hatte sie überwältigt; ihr Leben war geknickt. Sie wußte, was ihr zu thun übrig blieb: an der Seite ihres Vaters für die Freiheit zu kämpfen und vielleicht – wie war es möglich, daß sie diesem Gedanken ihr Herz so lächelnden Sinnes eröffnete? – ja, vielleicht an seiner Seite zu sterben. –
[711] Am Vorabende des letzten Karnevalstages klopfte es hart an Romeos Thür. Felicita erhob die Augen langsam zu dem hastig Eintretenden. Es war Antonino. Mit verschränkten Armen hatte sich der junge Mann vor Romeo hingestellt.
„Du hier?“ sprach der Tischlermeister; „die Gendarmen stellen Dir nach …“
Ein scharfes, unheimlich klingendes Lachen unterbrach ihn.
„Kümmere Dich nicht um mich, Romeo. Um mich handelt es sich auch nicht. Ahnst Du nicht, weshalb ich vor Dich trete?“
Romeo schüttelte verneinend und fragend den Kopf. Felicita hatte sich langsam von ihrem Stuhle erhoben; ihr Auge ruhte düster funkelnd auf dem Jüngling.
Antonino trat näher auf Romeo hin.
„Alle Freunde, die ganze Stadt spricht nur von diesem Einen. Seit drei Tagen, Romeo, warte ich, daß Du mich rufest, daß Du mir sagest: ‚In unserer Ehre sind wir beide getroffen‘ – und daß ich von Dir erfahre, wer von uns beiden der Rächer unserer Ehre sein werde – der Vater – oder der Bräutigam.“
Der Bräutigam? – Das Wort war gefallen. – Felicita trat einen Schritt vor.
„Wessen Bräutigam willst Du sein?“ sprach sie mit stolz erhobenem Haupte; „mein Vater hat nur eine Tochter – und die ist nicht Antoninos Braut.“
Wie ein entfesselter Sturm tobte es über Antoninos Lippen.
„Bist Du meine Braut nicht – wessen Braut wärest Du denn? So sprich ihn doch aus, den Namen, der in Deinem Herzen schlummert, den ich aus Deinen Augen lese, – so habe den Muth, mir ins Gesicht zu sagen, daß Du jenen Schweizer liebst!“
Ihn liebst! – Der Gedanke, den sie so lang ein schmerzlichem Ringen niedergekämpft hatte, hier erstand er plötzlich vor ihrer Seele wieder. Ihre Liebe hatte sie dem Vater geopfert – und unter den höhnenden Worten dieses Mannes schlug sie in hellen Flammen wieder empor.
„Ja, ich liebe ihn!“ rief sie, dem Jüngling einen wilden Blick zuwerfend, „aber was geht das Dich an?“
„Was es mich angeht? Du fragst es? Sprich das Wort nicht zum zweiten Male aus! Du bist meine Braut! – Schüttle nicht den Kopf! Unsere Väter haben unsere Namen vereint, – und sollte ich Dich auch morgen als meiner nicht mehr würdig von mir stoßen …“
„Ich habe nichts gemein mit Dir. Geh!“
Wie eine wilde Katze, die sich zum Sprunge zusammenkrümmt, mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen, stand Antonino vor dem in höchster Erregung ihm die Thür weisenden Mädchen. Pfeifend kam es zwischen seinen zusammengepreßten Lippen hervor:
„Du erfrechst Dich, mir zu gebieten? … Du, ehrlose Dirne, – mir, der ich hier zu befehlen habe!“
Aber mit wuchtiger Hand faßte Romeo den Arm des Wüthenden.
„Du wirst schweigen!“ rief er, indem er ihn mit gewaltiger Kraft zur Thür hinriß. „Wer ist Herr in diesem Hause? Wer hat Dir das Recht gegeben, hier, in meinem Hause, mich und meine Tochter zu beschimpfen? Seit wann erdreistet sich die Jugend, die Väter nicht mehr zu ehren? … Schweig!“ donnerte er dem Jüngling ins Wort, „schweig’ und höre! Niemand hat meiner Tochter Ehre angetastet. Niemand – als Du, Elender! – Jener Schweizer hat sie vom Tode errettet, – was willst Du mit ihm?“
„Vom Tode errettet!“ rief jetzt mit schrillem Lachen der Jüngling, indem er sich aus Romeos Faust losriß, – „ja! Und welchen Lohn die Gerettete dem Retter zahlte, das weiß man! – Dem Retter? – haha! Dem Geliebten der Gräfin von Cellamare! – Und wenn der Vater die Ehre seines Hauses nicht zu wahren versteht – meine Ehre werde ich schon rächen.“
Die Thür fiel hinter dem Rasenden ins Schloß.
Vor ihrem Vater stand das leichenblasse Mädchen.
„Was sprach Antonino? Der Geliebte der Gräfin von Cellamare? Was ist das? Eine Lüge nur kann es sein, denn mich allein liebt Eckart von Hattwyl.“
Romeo suchte sie zu beruhigen. Er erschrak vor der Gewalt, mit welcher ihre Liebe so plötzlich wieder hervorbrach. Eine Lüge war es, eine müßige Erfindung; – sanft schmeichelnd legte er die Hand auf ihr Haupt, indem er sagte:
„Warum beschäftigt sich Dein Herz noch mit jenen Bildern? Felicita! Laß die Vergangenheit in ihrem Grabe ruhen. Morgen schon wird jener Offizier dies Land verlassen haben …“
Bestürzt fuhr das Mädchen auf.
„Morgen? Was sagst Du, Vater?“
„Ich habe mein Versprechen nicht vergessen und morgen löse ich’s. Auf dem Kriegsschiff, das morgen diesen Hafen anläuft, wird er nach Neapel fahren, – und bis nach Neapel reicht Antoninos Rache nicht.“
Sie schaute ihn sprachlos, leichenblaß an.
Fort? Nach Neapel? Auf Nimmerwiedersehen? – Nein, nein! es war nicht möglich! – Und zum ewigen Abschied? Hatte sie dies ihrem Vater gelobt? – Nein, nein! – Sie hatte versprochen, was sie nicht halten konnte, was mächtiger war als ihr Wille, – mächtiger als die Liebe zum Vater! – Welche Wandlung war in ihr vorgegangen! Seit hier in diesem Hause es einer gewagt hatte, ihr zu gebieten, ihr zu drohen, – und seit der Name jener andern Frau an ihr Ohr geschlagen hatte, da war es, als ob es Tag geworden wäre in ihrem Herzen. Ihrer Liebe wollte jener gebieten? Mit welchem Recht? – Freiwillig konnte sie entsagen, für ihren Vater hatte sie’s gewollt; aber gezwungen? – Eine Empörung bemächtigte sich ihrer Seele, und verflogen war ihre Ergebung! Wer konnte noch von Entsagen sprechen, heute, wo man den, den sie liebte, beschuldigte, der Geliebte einer andern zu sein? – Ja, sie liebte ihn, sie mußte ihn wiedersehen! Sie mußte ihm zurufen: „Liebst Du mich, oder liebst Du eine andere?“ – und, wenn es eine Lüge war –
Sie sank auf ihren Stuhl zurück.
Sie mußte es wissen. Sie mußte es aus seinem Munde hören, daß jenes Wort eine Lüge sei, – daß sie allein seine Liebe besitze!
Gedankenlos hörte sie die Stimme ihres Vaters, der tröstende, lindernde Worte zu ihr sprach – den Sinn der Worte verstand sie nicht mehr. Denn getröstet wollte sie nicht mehr sein; nur aus seinem Munde konnte Trost sich in ihr Herz ergießen.
Aus seinem Munde? – Lag nicht das Häuschen, wo Nina bei den Verwandten weilte, am Strande, der Spitze der Landzunge gegenüber, auf welcher sich die Citadelle erhob? Waren die Schiffer dort nicht ihre Freunde? Würde Nina selber nicht eine Botschaft bis in die Citadelle tragen? Und würde der Vater ihr nicht erlauben, die treue Dienerin dort im Fischerhäuschen zu besuchen? Und wenn die Nacht sich dann aufs Meer herniedersenkte – wer würde das Boot bemerken, das an der kleinen steinernen Treppe landen würde? Wer würde durch die Dunkelheit bemerken, daß einer jene Stufen herauf käme zu ihr, der Harrenden? – mit dämonischer Gewalt fuhren diese Gedanken durch ihr Herz.
Der letzte Karnevalsabend war angebrochen. Als Robert von Büren bei dem Hauptmann von Hattwyl eintrat, fand er seinen Freund in schwere Gedanken versunken. In der Hand hielt Eckart den Brief der Gräfin. Er reichte ihn, ohne ein Wort zu sagen, dem Major hin.
„Was hast Du beschlossen?“ fragte dieser, nachdem er das Schreiben durchgelesen.
„Was soll ich bei jenem Feste?“ antwortete Eckart. „Mein Herz ist in Trauer gehüllt; das Liebste, was ich hatte, habe ich verloren. Wer eine Todte beweint, der paßt nicht in den Faschingsjubel. Der Unglückliche gehört in die Einsamkeit. Entschuldige mich bei der Gräfin; sage ihr, daß ich ihr danke – von Neapel aus werde ich schreiben. Jetzt könnt’ ich’s nicht!“
Schweigend drückte ihm der Freund die Hand.
Die Nacht senkte sich auf die Stadt herab. Drüben über dem Meeresarm erleuchteten sich die hohen Fenster des Palazzos von Cellamare. Die Boote, welche die Offiziere hinüber tragen sollten, standen bereit. Bewaffnete Mannschaften begleiteten die zum Feste Geladenen.
Es schien mehr eine kriegerische Expedition als eine lustige Ballfahrt zu sein. Eckart schaute seinen Kameraden von der Mauerzinne nach. Sein Blick schwebte von den in den Dunkelheit entschwindenden Booten zu den fernen, in der Nacht schlummernden [712] Thalgründen; vereinzelte Lichtchen blitzten aus den am Bergesabhang zerstreuten Villen hervor. – Dort suchte noch seine Seele die Geliebte, dort, wo er sie in die Arme geschlossen – wo er sie verloren hatte! In stummes Sinnen vergraben, starrte er in die Nacht. –
An der äußersten Spitze der Marina, wo eine kleine Landzunge gegen die Citadelle hin ins Meer springt, hielt eine Barke am Fuß der Steintreppe eines einsamen Fischerhäuschens.
„Bist Du bereit, Mariano?“ fragte eine Stimme von oben.
„Ich warte,“ antwortete es von unten.
Ein Mädchen trat durch die enge Thür zu dem Schiffer herunter.
„Du weißt, was zu thun ist,“ flüsterte Nina ihm zu; „bringe dies Briefchen in die Citadelle; – Du kannst ja nicht lesen und brauchst auch nicht zu wissen, was drin steht.“
„Hm! was wird drin stehen? Eine Liebesgeschichte! Hältst Du’s mit einem Schweizer, Nina? Ein Glück, daß Du nicht mehr bei Romeo dienst!“
„Was geht das Dich an? Es könnte auch was ganz anderes sein.“
„Gut!“
„Höre! – Du wartest mit der Barke – von dort wird jemand mitkommen – Du fährst ihn hierher – und dann, später, von hier wieder zurück. – Daß Dich aber keiner sehe!“
„Selbstverständlich!“ lachte der Schiffer und stieß ab.
Nachdenklich schaute ihm Nina einen Augenblick nach. „Es ist ja nicht recht von mir,“ sagte sie bei sich selber, „aber konnt’ ich’s ihr abschlagen? Und was ist dabei, wenn er morgen auf immer dies Land verläßt? Und sie liebt ihn ja, als gäb’ es keine andere Liebe auf der Welt – und kein Mensch wird es jemals erfahren!“
Als der Schiffer in die Nähe der Citadelle kam, kreuzte er ein anderes Boot. Ein Mann saß darin – nach seiner Kopfbedeckung zu schließen, war’s ein Geistlicher.
„He, Mariano, wohin so spät?“ rief ihm der andere Schiffer zu.
„Liebesbote, Francesco! Einen Schweizer soll ich aus der Citadelle holen!“ Und er hob das Zettelchen in die Höhe.
Der Abbate war aufgestanden.
„Ist’s ein Offizier, so findest Du ihn nicht in der Citadelle; sie sind alle drüben bei Cellamare. Zeig mir den Zettel – ich kann lesen – sonst fährst Du noch irre!“
Beim Lichte der Schiffslaterne entzifferte der Abbate die Adresse.
„Eckart von Hattwyl! – sieh da! – und den holst Du ab?“
„Die Nina – die bei Romeo diente – läßt ihn rufen; – seht Ihr! Nicht Romeos Tochter war’s – wie man sich in der Stadt erzählt – sondern die Magd. – Weiberpack!“
Der Abbate blieb einen Augenblick unschlüssig.
„Dort nach dem Schifferhäuschen, wo die Nina bei ihren Verwandten wohnt, fährst Du ihn hin?“
„Nun ja! – wenn ich ihn finde und wenn er mitkommt.“
„Den findest Du – fahre nur zu!“
Und als das Boot in der Dunkelheit verschwunden war, sagte Scaglione zu seinem Schiffer:
„Dieser da verrichtet unsere Arbeit. Führe das Boot dicht an die Mauer heran, daß ich sehe, ob der Offizier einsteigt.“ –
Ein Taumel, ein Schwindel, eine Seligkeit überfiel Eckart, als er das Papier entfaltete und die kurzen Worte las, die ihm Felicita schrieb:
„Diejenige, der Du das Leben gerettet hast und die Dich mehr liebt als ihr Leben, will Dir danken. Folge dem Boten, er führt Dich zu
Hatte er diese Worte richtig gelesen? Hielt er diesen Brief wirklich in seiner Hand? Hatte der Himmel sein Flehen erhört? Sollte er sie wiedersehen? – Er schaute über die Mauerbrüstung hinunter zur dunkeln See; – dort am Fuße der Treppe wartete ein Boot. Rasch warf er den Mantel über. Was hielt ihn ab, dem Rufe zu folgen? Zum Feste der Gräfin hatte er Urlaub erhalten, – und wenn er zu einem andern Feste, zum Feste seiner Liebe eilte, wer konnte es ihm wehren?
Frühlingsjubel im Herzen, flog er die Treppe hinab.
„Fahr zu, Schiffer!“
Die Sterne funkelten durch die Nacht, vom Ufer herüber ertönten aus dem Palaste der Gräfin die ersten Tanzweisen.
„Klinge nur, fröhlicher Faschingstanz! Glück auf die Fahrt der Liebe!“ sprach Eckart laut nach den leuchtenden Fenstern hinüber.
„Felicissima notte!“ antwortete es in seltsam scharfem Tone aus der Dunkelheit zurück.
Woher kam wohl der Gruß? Die Stimme schien Eckart nicht unbekannt. Er schaute sich um. Mit raschen Ruderschlägen flog ein Boot dem Ufer zu.
Es war wohl ein verspäteter Kamerad, der dem Davoneilenden seinen Gruß nachsandte.
Die Barke hielt an einer Steintreppe; über die unteren Stufen plätscherten die Wellen; die enge Thür dort oben stand halb geöffnet; ein Lichtschimmer glänzte hervor.
In raschem Schwung war Eckart oben. Eine verhüllte Gestalt trat ihm unter der Thür in den Weg.
„Ein Wort – ehe Du hereintrittst!“
Er erkannte die Stimme; – sie war’s!
„Felicita!“
„Ein Wort,“ wiederholte sie mit zitternder Stimme; – „antworte mir die Wahrheit: Ist es wahr, daß Eckart von Hattwyl der Geliebte der Gräfin von Cellamare ist?“
Was war das? Wie seltsam! Wie kam Felicita zu dieser Frage? in diesem Augenblick?
„Was bedeutet …?“
„Antworte!“ wiederholte das Mädchen in bestimmtem, drängendem Tone; – „ja oder nein?“
Da flog es in zornglühender Empörung aus seiner Brust hervor:
„Nein, beim Himmel! Wer sprach diese Lüge?“
Wie ein überglückliches Frohlocken jubelte es in Felicitas Herzen auf.
„Sprich es nochmals, das selige Wort! Schwöre bei dem Liebsten, das Du hast auf der Welt!“
„Bei Dir, Felicita! bei Deinem Namen schwöre ich hier, vor dem offenen Himmel, hier vor den ewigen Sternen, daß Du meine einzige, ewige Liebe …“
Sie ließ ihn nicht ausreden. Ihre Arme öffneten sich. Ihre Hand suchte die seine; ihre Lippen fanden seine Lippen und bedeckten sie mit glühenden Küssen.
In den festlich geschmückten Räumen des Palazzos von Cellamare wogte ein flimmerndes Gewimmel von Damen und Herren. Trotz der rauschenden Tanzmusik und des Blitzens der Geschmeide lag aber eine düstere Gewitterschwüle auf der Gesellschaft. Die Gäste, die aus allen Vierteln der Stadt herbeigeeilt waren, hatten drohende Volkshaufen unterwegs gesehen. Man erzählte sich von sonderbaren Auftritten; noch sonderbarere Worte wurden wiederholt, die dem einen und dem andern zugerufen worden waren. Es schien, als ob das Volk etwas Besonderes für die Mitternachtsstunde erwartete: der Karneval sollte in althergebrachter Weise, aber diesmal mit besonderem Gepränge beerdigt, der volksthümliche Strohmann vor das Haus des Romeo geführt und von dort unter dem Gesange der Masken zum Meere getragen werden; mehrere Volksführer seien bei Romeo versammelt; man müsse auf das Schlimmste gefaßt sein.
Sogar die Gräfin von Cellamare schien sich der düsteren Gemüthsstimmung, die sich ihrer Gäste bemächtigt hatte, nicht erwehren zu können. In nervöser Erregung bewegte sie sich unter den Gruppen; ihr Auge flog unstet von dem einen zum andern; die an sie gestellten Fragen beantwortete sie flüchtig; die Antwort auf ihre eigenen Fragen wartete sie nicht ab.
Der Gouverneur war noch nicht erschienen; die schweizer Offiziere waren noch nicht angemeldet; sogar den geschäftigen Abbate Scaglione vermißte man noch.
Nur dort, in dem geräumigen Speisesaal, wo der Graf sich mit einigen Zechern niedergelassen hatte, schien die Faschingsfröhlichkeit in vollem Gange zu sein. Der Champagner und der süße Moscato flossen dort in Strömen, Gläsergeklirr ertönte von dort heraus und lautes lärmendes Lachen antwortete den von
[713][714] weinseligen Stimmen vorgebrachten Karnevalsscherzen. „Der Marchese della Rovere vertrinkt dort seinen Triumph über seinen Verwalter!“ meinte schief lächelnd der Bankier Lerche zu den Umstehenden.
Mit lautem Rufe meldete plötzlich der unter der Eingangsthür stehende Diener:
„Der Marchese della Rovere!“ und vor der Gräfin verbeugte sich mit tiefem Bücklinge der Doppelgänger des Marchese. Im selben Augenblicke aber antwortete aus dem Speisezimmer die volle breite Stimme des alten Landedelmanns:
„Wer ruft mich? Hier bin ich! Komme schon!“
Und unter der Thür erschien, den Rock aufgeknöpft, das Weinglas in der Hand, mit rothleuchtendem Gesichte, die stämmige Gestalt des Taorminesers.
Einen Augenblick nur blieb er, nach allen Seiten sich umschauend, unter der Thür stehen – da hatte er auch schon seinen Verwalter erblickt, und, das Glas hinter sich schleudernd, stürzte er auf ihn los:
„Ha ha! Du bist auch hier, Marchesendieb. Warte nur, Schurke! Bube!“
„Zu Hilfe! Frau Gräfin! Man vergreift sich an Euren Gästen!“ schrie des Kleinen entsetzte Fistelstimme, und mit den Händen abwehrend, flüchtete er der Eingangsthür zu.
Die Freunde hatten den tobenden Marchese festgehalten und zogen ihn in den Speisesaal zurück.
„Ja, laufe nur!“ rief dieser dem Fliehenden nach, „ich komme Dir noch zuvor!“
Und mit kräftigem Rucke riß er sich los, stürzte durch eine Seitenthür in den Gang, die Treppe hinunter, bis in den Hof. Dort schaute er sich um.
„Haha! Bist noch nicht unten, – wirst aber kommen, – dann bin ich schon da!“
Mehrere herrschaftliche Wagen hielten nahe am Treppenaufgang. Betreßte Diener unterhielten sich mit einigen herumlungernden Bettlern. In einer Ecke des Hofes tanzte mit rasselnden Tamburins ein Dutzend maskirter Gesellen die Tarantella.
Der Marchese riß mit unsicherer Hand den Schlag eines Wagens auf, stieg hinein in den dunklen Raum und sank auf die weichen Seidenpolster.
„Hast zu tief ins Glas geguckt, Gevatter?“ rief ihm lachend ein Diener nach, der ihn wohl für seinesgleichen nahm; „mach Dir’s bequem, Freundchen! Man wird Deinen Schlaf nicht stören!“
Eine gute Weile wartete der Marchese, zum Sprunge bereit, ob der Kleine nicht die Treppe herunter gestolpert käme, – und seine von Wein und rasendem Ingrimm erhitzte Phantasie malte sich das Bild vor, das sich jetzt hier entfalten würde, wenn einer aus dem Wagen spränge, dem nächsten Kutscher die Peitsche aus der Hand risse und dem Lotterbuben, dem verschimmelten Rechtspraktikanten unter dem Hohngelächter der Bedienten seine längst verdiente Tracht Prügel verabreichte. Es erschien aber niemand – und allmählich übte die kühle Nachtluft ihre Wirkung auf den Alten aus; er lehnte sich sanft in die weichen Kissen zurück, und bald sang ein langgedehntes Schnarchen aus dem Wagen heraus den Grundbaß zu dem Klappern der Castagnetten und zu den lustigen Weisen der Tarantellatänzer.
Durch das Eintreten des Gouverneurs und der Offiziere wurde der Eindruck der Scene, die sich oben abgespielt hatte, unter den Gästen bald verwischt. Forschend flogen die Blicke der Gräfin über die Reihen der Schweizer.
Wo war er – den sie erwartete, dessen Name heute ohne Unterlaß auf ihren Lippen schwebte – er, von dem sie nicht wußte, ob sie ihn liebte, ob sie ihn haßte? – Ja, sie wußte es doch! Denn wenn er käme – ach! alles sollte vergessen sein – an seinem Arme wollte sie sich in jenes stille Boudoir, in den Armidagarten begeben und dort, dort wollte sie ihm sagen …
Robert von Büren verbeugte sich vor ihr.
„Gnädigste Frau! Mein Freund, Hauptmann von Hattwyl …“
„Ist er nicht hier?“
„Er hat mir aufgetragen, seine Entschuldigungen …“
„Er kommt nicht?“
„Er bedauert …“
„Er kommt nicht?“ wiederholte sie.
„Nein, gnädigste Frau; er …“
Sie drehte ihm den Rücken und ließ ihn stehen.
Der Gouverneur trat zu ihr.
„Frau Gräfin, welch düsteres Feuer brennt in Eurem Blick!“
„Ach, Herzog, wie sollt es anders sein? Die ganze Welt spricht nur von Aufruhr, von sicilianischer Vesper, von Mord, von …“
Scaglione war unter der Eingangsthür erschienen. Ohne den Gonvernenr weiter zu beachten, winkte sie dem Abbate und trat in eine Fensternische.
„Nun?“
„Hierher kommt er nicht; – aber dorthin ist er gegangen!“
„Dorthin? – zu … ihr?“
„Er ist bei ihr!“
Ihr Auge ruhte einen kurzen Augenblick auf dem Abbate; ihre Hand zerknitterte ihren Fächer; nur ein Augenblick war’s – dann war alles entschieden. Ihre Stimme klang metallhart, als sie zum Abbate sprach:
„So wißt Ihr, was Ihr zu thun habt! Sorgt dafür, daß mein Befehl ausgeführt werde!“
Athen und das neue Griechenland.
Die bevorstehende Verbindung der Schwester unseres Kaisers, Prinzessin Sophie von Preußen, mit dem Kronprinzen von Griechenland hat neuerdings die allgemeine Aufmerksamkeit auf den bei uns noch viel zu wenig gewürdigten neugriechischen Staat im allgemeinen und auf seine kräftig gedeihende Hauptstadt Athen im besonderen gelenkt. Ueber dem so natürlichen Interesse an dem alten Griechenland hat man bisher vielfach vergessen, das neue zu beachten; findet sich aber einmal jemand, der daran denkt, so geht es den heutigen Griechen in den allermeisten Fällen wie den Söhnen berühmter Männer, von denen man verlangt, sie sollen das Genie des Vaters geerbt haben.
So wie die tüchtigen und braven Nachkommen Goethes von dem Ruhme ihres Ahnherrn beinahe erdrückt wurden, so wird das neue Griechenland infolge des unberechtigten Vergleichs zwischen dem, was die hellenischen Staaten im Alterthum gewesen sind, und dem, was das freie Griechenland heute ist, oftmals von einem unrichtigen Gesichtspunkte aus beurtheilt. Und doch thut man dem Lande, thut man dem Mittelpunkte alles griechischen Denkens und Fühlens, Athen, großes Unrecht. Staat und Stadt haben sich seit dem Neujahrsfeste 1835, an welchem der Einzug König Ottos in seine neue Residenz erfolgte, mächtig entfaltet, und die Griechen stehen – man kann dies ohne jede Uebertreibung sagen – heute in jeder Beziehung an der Spitze der Balkanstaaten.
Es giebt außer Frankreich kaum noch ein zweites Land, in dem sich alles so sehr nach der Hauptstadt richtet wie in Griechenland. Was aber in einem großen Staatskörper unter Umständen von ernstem Nachtheil sein kann, ist oft in einem kleinen Lande sehr förderlich, und Griechenland dankt diesem Streben nach einem einheitlichen Mittelpunkt die erfreuliche Entwickelung des heute an 100 000 Seelen zählenden Athen, eine Entwickelung, die – für das ganze Land von größter Bedeutung – sich vollzog, ohne daß die Provinzen darunter litten.
Als aus einer leicht begreiflichen Pietät gegen die Vergangenheit bei der Wahl der Residenz des künftigen Königs von Griechenland Athen bestimmt wurde, obwohl, was die Lage anbelangt, Patras oder Korinth gewiß vorzuziehen gewesen wären, da war die Auserkorene ein halbverfallenes, fast unbewohntes Fischerdorf, in dem die Gesandten der Mächte, als sie mit König Otto ins Land kamen, nur mit großer Mühe eine bescheidene Unterkunft finden konnten; heute ist die Hauptstadt des Landes, über welches zu herrschen [715] Prinzessin Sophie in der Zukunft einst berufen sein wird, eine schöne, blühende, elegante Stadt, die vielfach an die kleinen deutschen Residenzen erinnert. Südliches Gepräge trägt die umgebende Landschaft mit ihren silberglänzenden Olivenbäumen; auf Schritt und Tritt stoßen wir auf ehrwürdige Trümmer einer großen Vergangenheit, deren bedeutendstes Denkmal, die Akropolis, mit der goldig glänzenden Patina ihrer Marmormassen stattlich in den blauen Himmel ragt; außerordentlich bewegtes Leben herrscht in den Straßen; an allen Ecken öffnen sich Kaffeehäuser, in denen man den köstlichen orientalischen Trank schlürft oder die landesüblichen Süßigkeiten verzehrt. Handwerker und Geldwechsler betreiben lärmend ihr Geschäft auf der Straße; Ausrufer bieten in den unglaublichsten Tönen Obst, Gemüse, Milch, Fische, Lämmer zum Kaufe an; Todte, nach Möglichkeit reich gekleidet und geschmückt, werden im offenen Sarge und begleitet von dem eigenthümlichen Gesang der griechischen Priester zu Grabe getragen; bei den Säulen des olympischen Zeus oder beim Theseion führen Männer ihre eigenartigen Nationaltänze aus; kleine Jungen, die man „Lustro“ nennt, umdrängen uns, das Schuhwerk und die Kleider von dem in der wasserarmen Stadt beständig herrschenden Staub zu befreien; Fremdartiges, wohin man blickt – und doch vermag man die Erinnerung an irgend eine kleine deutsche Residenz nicht loszuwerden.
Diese Empfindung erklärt sich, wenn man bedenkt, daß deutsche Baukünstler es waren, die unter den Augen König Ludwigs I. von Bayern die ersten Pläne zum Wiederaufbau der Stadt entwarfen, in die sein Sohn Otto als König einziehen sollte; und sie wird noch erhöht durch die breiten wohlbehaltenen Straßen, durch die netten kleinen Gärtchen vor den Häusern, die oft, wie z. B. das stattliche Heim des großen Entdeckers Schliemann, aus dem edlen Marmor des Pentelikon erbaut sind, durch den Anblick der lustig daherfahrenden Straßenbahnwagen, auf denen sich nur die schlanke Gestalt irgend eines Palikaren in weißer Fustanella und kurzer gestickter Jacke befremdlich ausnimmt.
So ist schon der äußere Eindruck, den die Stadt macht, ein angenehmer; im Verkehr mit der Bevölkerung aber steigert sich derselbe noch sehr wesentlich. Denn der Grieche ist liebenswürdig und ritterlich, von musterhafter Beschränkung beim Essen und Trinken, ebenso frei von stumpfsinniger Gleichgültigkeit wie von unangenehmer Zudringlichkeit, aufgeweckt und voll Theilnahme für alles, was Fortschritt und Bildung bedeutet. Dabei zeichnet ihn ein manchmal wirklich rührender Familiensinn aus. Zerfahrene Familienverhältnisse sind ihm etwas ganz Fremdes, und der Fall, daß ein Theil der Familie sich in einer guten Lage befindet, indeß der andere mit Mangel und Entbehrungen kämpft, ist einfach undenkbar. Die Sorge für die Seinen erscheint dem Griechen als die heiligste Pflicht; stirbt der Vater oder ist er nicht mehr imstande, die Familie zu erhalten, so übernehmen es die Söhne, für Mutter und Schwestern zu sorgen; fehlen diese oder können auch sie nicht helfen, so treten des Vaters Brüder oder die Gatten der etwa verheiratheten Töchter in die Lücke. Auch wird sich der Bruder nur in den allerseltensten Fällen vor der Schwester verheirathen und namentlich in mittellosen Famlien dies nie und nimmermehr thun, bevor er nicht die „Prika“, die Aussteuer, für die Schwester erworben hat. Aber selbst in reichen Häusern kommt es oft vor, daß ein Bruder unverheirathet bleibt, damit die ledige Schwester des natürlichen Beschützers nicht entbehre.
Trotzdem ist die Stellung der Frau in den niederen Volksklassen und im Mittelstande, soweit man in Griechenland von einem solchen reden kann, unbedeutend und verschwindend; in der Gesellschaft dagegen allerdings einflußreich und maßgebend. Der Grieche der unteren Klassen ist wie in so vielem anderen der Auffassung der Alten auch in Bezug auf die Frau treu geblieben: er sieht in ihr nicht die gleichberechtigte Lebensgenossin, sondern nur die Hausfrau und Mutter, deren Aufgabe es ist, im Hause zu schaffen und zu sorgen, die über diese Grenze weder hinausgehen kann, noch darf und der seine persönlichen Angelegenheiten mitzutheilen er nie für nothwendig findet. Auch die zur Zeit der Türkenherrschaft unwillkürlich angenommene Sitte, die Frauen zu Hause zu halten, wirkt in den unteren Klassen noch stark fort, und man wird z. B. nirgends in Griechenland ein Dienstmädchen bekommen, welches bereit wäre, nach dem Markte einkaufen zu gehen, eine Aufgabe, die stets dem in allen besseren Häusern nothwendigen Bedienten, einem Mittelding zwischen Koch und Kammerdiener, zufällt. Ebenso sieht man in der Hermesstraße, der eleganten Hauptverkehrsader Athens, bei den Konzerten der sehr guten griechischen Militärmusiken vor dem königlichen Schloß oder auf einem der großen Plätze der Stadt fast nur Männer. In der Fustanella oder den außerordentlich weiten, sackähnlichen Beinkleidern, welche die griechischen Inselbewohner kennzeichnen, oder auch in irgend einem der meist aus Italien fertig eingeführten Anzüge gehen sie auf und ab, vom Geschäfte oder von der Politik redend, oder sitzen vor einem Kaffeehause, selten aber erblickt man Frauen aus dem Volke.
Anders ist die Stellung, welche die Frauen der vornehmen Gesellschaft einnehmen. Sie spielen, an Bildung und Eleganz auch den verwöhntesten Ansprüchen genügend, wie bemerkt, eine tonangebende Rolle und das gesellschaftliche Leben ist infolge dessen in Athen sehr angenehm; doch kommt es auch da schwer zu einem vertraulichen Verkehr, weil man, außer an den wöchentlichen Empfangstagen der Damen, ohne Einladung keine Besuche zu machen pflegt und die Veranstaltung kleiner gemüthlicher Abende nicht gebräuchlich ist.
Die Damen der Gesellschaft genießen auch noch einen andern Vortheil. Sie sprechen, in den meisten Fällen wenigstens, bei der Wahl ihres Gatten mit. Liebesheirathen sind zwar auch in den Kreisen der großen Welt selten und meistens werden die Verbindungen von Freunden und Verwandten, welche auf die Versorgung der jungen Mädchen bedacht sind, gemacht; dennoch bleibt dem weiblichen Theile wenigstens das Einspruchsrecht. Im Mittelstande und in den breiten Schichten des Volkes dagegen, wo die Frage der Versorgung noch viel schärfer hervortritt, werden die Mädchen gewöhnlich gar nicht gefragt, und es kommt vor, daß die Braut ihren künftigen Gatten erst am Verlobungstage kennen lernt. Trotzdem ist das Familienleben musterhaft, man hört niemals, daß sich ein Grieche Rohheiten gegen Frau oder Kinder, eine griechische Frau Anstößiges zu Schulden kommen läßt.
Von einem Mittelstande in unserem Sinne läßt sich, wie gesagt, in Griechenland kaum reden. Denn es fehlt ihm namentlich jenes geistige Bindemittel, welches in anderen Ländern seine Stärke ausmacht, und so ist der Uebergang von den ärmeren Klassen der Bevölkerung zu den Vornehmen nur lückenhaft vermittelt. Diese letzteren setzen sich zusammen aus den „Phanarioten“, den Nachkommen jener Griechen, die während der türkischen Herrschaft nach Konstantinopel auswanderten, sich dort in der Nähe des Phanarthores niederließen, zu Ansehen und Macht gelangten und schließlich, als der Kampf der Befreiung losbrach, alles aufs Spiel setzten, um in diesem ihren Mann zu stellen; aus den Kindern und Enkeln der vom Volke selbst während des Aufstandes emporgehobenen Führer; endlich aus der reichen Finanzwelt, dem diplomatischen Corps und einigen anderen Fremden von Bedeutung.
Ein hervortretender Zug der Griechen aller Klassen ist ihr Drang nach Wissen und Bildung. Während die Kinder reicher Eltern „in Europa“, wie man in Griechenland zu sagen pflegt, namentlich in Deutschland und Frankreich, ihre Erziehung und Ausbildung erhalten, benutzen die Minderbemittelten, deren Beispiel übrigens schon vielfach auch von den Reichen befolgt wird, die ausgezeichneten inländischen Bildungsanstalten. Sehr oft verdingt sich solch ein junger Grieche gegen Kost und Wohnung als Diener unter der Bedingung, daß man ihm die zum Schulbesuche und zur häuslichen Arbeit erforderliche Zeit freilasse! Bezeichnend für die Bildungssucht der Neugriechen ist es, daß die Universität Athen, welche bei ihrer Gründung 1839 50 Hörer hatte, heute deren 4000 zählt; und diese alle genießen, wie die Zöglinge sämmtlicher Mittel- und Volksschulen, gänzlich unentgeltlichen Unterricht.
Bei einer Bevölkerung von über 2 000 000 Seelen hat Griechenland ungefähr 1600 Volksschulen, an 180 sogenannte „hellenische Schulen“, die unseren Untergymnasien, an 30 Gymnasien, die unseren Obergymnasien entsprechen, und es bestehen, abgesehen von zahlreichen kleineren Lehranstalten, neben der Universität noch eine technische Schule, eine Lehrerbildungsanstalt, eine Ackerbauschule, eine nautische Akademie, ein Kadettenhaus, ein theologisches Seminar und ein großes Mädchenlyceum. Beachtenswerth ist, daß ein guter Theil dieser Anstalten aus Spenden und Vermächtnissen von Privatleuten erhalten wird, wie denn der [716] Grieche überhaupt stets bereit ist, patriotischen Zwecken im größten Maßstabe Opfer zu bringen.
Selbstverständlich war Griechenland nicht imstande, die große Zahl Gebildeter und Studierter, welche aus diesen Anstalten im Laufe der Jahre hervorgegangen sind, entsprechend zu verwenden, und es entstand daher ein Bildungsproletariat, welches für den kleinen Staat schon wiederholt zur ernsten Gefahr zu werden drohte. Da nämlich unter normalen Verhältnissen für die Stellenlosen keine Aussicht vorhanden war, in Ausübung ihres erlernten Berufes oder im Staatsdienste ihr Fortkommen zu finden, so wandten sie sich der politischen Wühlarbeit zu in der Hoffnung, dabei zu Ansehen und Verdienst zu kommen. Nun ist aber das politische Leben in Griechenland schon an sich ungewönlich rege. Die griechische Verfassung läßt dem politisch noch nicht hinlänglich gereiften Volke sehr große Freiheiten und unterstützt dadurch seine Neigung zu politischen Unruhen. Jeder einzelne will stets klüger sein als die leitenden Minister, und selbst auf die Regierungsmehrheit in der griechischen Kammer ist nie völliger Verlaß, weil die Gegensätze der Parteien nicht auf sachlichen und grundsätzlichen Verschiedenheiten in den Anschauungen der Führer, sondern vollständig in persönlichen Beziehungen ruhen und man ganz gut heute für den Minister, morgen für den Führer der Opposition stimmen kann, ohne dabei eigentlich seine politische Ansicht zu ändern. Diese Sachlage führte nun dazu, daß eine ununterbrochene politische Hetzerei entstand, an der neben den „Kumpari“ – Leuten, die mit einflußreichen und hervorragenden Persönlichkeiten in einem Verwandtschafts- oder doch in einem Gevatterschaftsverhältnisse stehen und ihnen Gefolgschaft leisten, wofür diese sie ihrerseits nach Möglichkeit unterstützen – das gebildete, aber dennoch hungernde Proletariat sich in hervorragender, oft ausschlaggebender Weise betheiligte, in der Hoffnung, durch die mit einem Ministerwechsel üblicherweise verbundene Neubesetzung vieler Beamtenstellen obenauf zu kommen. Der gegenwärtige Ministerpräsident Trikupis, ein kluger und energischer Politiker, hat dem zwar in letzter Zeit durch verschiedene Maßregeln wesentlich Einhalt gethan; aber es ist fraglich, ob die Wirkung seines Eingreifens andauernd sein wird. Da man sich begreiflicherweise nicht dazu entschließen konnte, die Lernfreiheit einzuschränken, so ist nicht ausgeschlossen, daß das alte Spiel in einiger Zeit von neuem beginnen und die Regierung abermals in die Lage kommen wird, bei Entscheidungen wichtigster Natur dem unberechenbaren Drucke der Menge folgen zu müssen.
Wenden wir unsere Aufmerksamkeit der Finanzlage und den Erwerbsverhältnissen Griechenlands zu, so finden wir, daß sie vergleichsweise günstig sind. Es ist ja richtig, daß auch Griechenland eine ganz erhebliche Schuldenlast trägt – an 550 Millionen Drachmen[1] – aber die Zustände sind geordnet und gefestigt und überall tritt ernstes Streben zu Tage. Während 1824 und 1825 die provisorische Regierung in London Anlehen im Betrage von 800 000 und 2 000 000 Pfund Sterling Nennwerth aufnehmen mußte, für die sie in Wahrheit nur 348 000 und 572 000 Pfund Sterling erhielt, wurde in jüngster Zeit eine Anleihe von 125 Millionen, vierprozentiger Goldrente zu einem Ausgabekurs von 771/8 Prozent und den Stückzinsen fast ausschließlich in Deutschland gezeichnet, nicht etwa bloß von Bankhäusern, sondern unter sehr lebhafter Mitwirkung des Privatkapitals.
Die Regierung trägt sich ferner mit dem Gedanken, das System der ewigen Rente an Stelle der tilgbaren einzuführen und auf diese Weise die Mittel zu finden, den Geldwerth zu heben, das Bahnnetz zu vergrößern und durch die Ersparniß an der Tilgung das Gleichgewicht im Staatshaushalte endgültig zu erreichen. Damit wäre auch für den griechischen Handel viel gewonnen. Derselbe ist ja heute schon bedeutend – die Ausfuhr an Korinthen z. B. hat einen Werth von rund 54 Millionen Drachmen, an andern Früchten von 7,2 Millionen, an Wein von 5,1 Millionen, an Tabak von 2,5 Millionen, an Mineralien von 20 Millionen, an Harzen, Oelen etc. von 4 Millionen; die Einfuhr, um nur die zwei größten Posten herauszugreifen, an Getreide einen Werth von 54 Millionen, an Garnen und Geweben von 27 Millionen; im besonderen beträgt der Werth der Ausfuhr nach Deutschland rund 4,3 Millionen, der der Einfuhr von dort 3,3 Millionen. Trotzdem hat der Handel noch lange nicht diejenige Ausdehnung erlangt, die der Erzeugungsfähigkeit des Landes entspricht. Wenn auch die griechische Handelsflotte, die rund 4500 Fahrzeuge mit 270 000 Tonnen und 22 000 Seeleuten umfaßt, ausgezeichnete Dienste leistet, so genügt dies doch nicht, denn es fehlt im Inneren, obwohl in den letzten Jahren in dieser Beziehung sehr viel geschehen ist, noch an Straßen und Eisenbahnen, und die Erzeugnisse an Holz, Marmor, Metallen, Tabak, Wein, Oliven können nur zum geringen Theil ausgeführt werden, weil es an der Möglichkeit der Beförderung fehlt.
Ist diese Möglichkeit einmal geboten, ist ferner der Kanal von Korinth vollendet, der (vergl. die Ausführungen der „Gartenlaube“ in Nr. 30 dieses Jahrgangs) die Verbindung Griechenlands mit dem europäischen Westen wesentlich verbessern wird, so wird nicht nur der griechische Handel zweifellos in einer überraschenden Weise emporschnellen, es werden auch Industrie und Landwirthschaft, die schon sehr erfreuliche Anfänge zeigen, weiteren Aufschwung nehmen. Solche Fortschritte werden aber auch bedeutend dazu beitragen, den politischen Verhältnissen mehr Ruhe und Gleichmäßigkeit zu geben, indem sie einen guten Theil der Unbeschäftigten einem gewinnbringenden Erwerb zuzuführen imstande sind.
Die Lage des Landes, dem Prinzessin Sophie in Kürze für immer angehören wird, ist also unzweifelhaft eine erfreuliche und ganz danach angethan, Gewähr für eine gesunde Weiterentwicklung zu bieten. Wir dürfen die deutsche Prinzessin mit der Ueberzeugung aus der alten Heimath scheiden sehen, daß glückliche Tage in der neuen sie erwarten.
Aber diese Ueberzeugung geben auch die Verhältnisse, welche die Prinzessin unmittelbar und persönlich berühren, denn das Leben am Hof zu Athen kann als das Muster eines glücklichen, herzlichen und liebenswürdigen Familienlebens gelten, ein Umstand, der nicht wenig dazu beigetragen hat, dem Herrscherhause die Liebe des Volkes zu sichern. König Georg, der, seitdem er am 31. Oktober 1863 die Regierung antrat, mit den Griechen gar manche schwere Zeit zu überwinden hatte, ist den Gewohnheiten eifriger Thätigkeit und schlichten, fast bürgerlichen Auftretens, die er vom väterlichen Hofe in Kopenhagen mitgebracht hatte, treu geblieben und hat dadurch von Anbeginn an die Neigung der Söhne Hellas’ erworben, eine Neigung, die er sich durch sein mannhaftes und glückliches persönliches Eintreten für die Interessen seines Volkes und durch seine streng verfassungsmäßige Regierung vollauf bewahrt hat. Königin Olga, eine Tochter des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch von Rußland und der Prinzessin Alexandra von Sachsen-Altenburg, theilt die Neigung ihres Gatten zu einer einfachen Lebensführung und ist stets darauf bedacht gewesen, den Monarchen in seiner durchaus nicht immer leichten Aufgabe zu unterstützen; sie vermeidet es aber sorgfältig, sich mit politischen Angelegenheiten zu beschäftigen. Die Erziehung ihrer Kinder, der Verkehr mit den Frauen aus dem Volke und den Damen der Gesellschaft, die sie alle gerne um sich versammelt, die Förderung der zahlreichen Vereine und Anstalten für Frauenbildung, die Beschäftigung mit Musik und Malerei füllen ihre Zeit aus. Prinzessin Sophie wird an ihr eine gütige und liebevolle Beratherin in der für sie neuen Lebenslage finden.
Kronprinz Konstantin, der 21jährige Bräutigam, ist ein hübscher, kluger und außerordentlich sympathischer junger Mann, der unter der Leitung eines bewährten deutschen Gelehrten, Dr. Lüders, in Athen seine Studien begann und dieselben dann in Leipzig, Heidelberg und Berlin vollendete. Als er zu seiner militärischen Ausbildung in der deutschen Reichshauptstadt weilte, knüpften sich zwischen der Prinzessin Sophie und ihm die ersten Fäden zu dem Bande, welches sie nun bald fürs Leben vereinigen wird.
Der Herzog von Sparta, wie der amtliche Titel des griechischen Thronfolgers lautet, hat den schlichten Sinn seiner Eltern geerbt; nichts desto weniger wird gerade bei den Festlichkeiten anläßlich seiner Vermählung in den letzten Tagen des Monats Oktober der griechische Hof die Gelegenheit ergreifen, in prunkvoller Weise dem Auslande und den eigenen Unterthanen gegenüber, Gastfreundschaft zu üben und zu zeigen, daß ihm neben dem Geschmacke für Einfachheit die Gabe nicht mangelt, fürstliche Hoheit würdig zu vertreten.
Von der Deutschen Allgemeinen Ausstellung für Unfallverhütung.
Im bürgerlichen Haushalt giebt es keine Maschinen, wenigstens keine gefährlichen; denn die Küchenmaschinen und die Nähmaschine sind harmlos. Verletzungen, wie sie in Fabriken vorkommen, sind hier unmöglich, aber selbst in dem stillsten Hause sind Unfälle nicht ausgeschlossen. Wir haben keine Statistik über diese Art von Verunglückungen, man braucht aber nur die Tageszeitungen daraufhin zu prüfen, um zu sehen, daß ihre Zahl eine überaus große sein muß.
Unter den Ursachen derselben steht der Städtefeind des Mittelalters, das Feuer, obenan. Wir spielen viel zu viel mit dem Feuer. Die preußische Regierung hat eine lehrreiche Statistik der Brände zusammenstellen lassen, deren Ursache ein unvorsichtiges Umgehen mit Streichhölzern war, und diese Statistik ergab, daß alljährlich im Königreich Preußen etwa 1500 Brände infolge dieser Nachlässigkeit entstehen. Solche fahrlässige Brandstifter sind zumeist Kinder, und jedermann weiß es, wie viele derselben den Mangel an Aufsicht und warnender Erziehung mit dem Leben büßen müssen. Man kann die Streichhölzer nicht aus der Welt schaffen; wenn man aber bedenkt, daß ein fahrlässiges Umgehen mit denselben in Deutschland alljährlich mehrere tausend Brände zur Folge hat, so scheint es wohl der Mühe werth, auf Mittel zu sinnen, die einem solchen Uebelstande abhelfen könnten.
Seitdem die Petroleumlampen eingeführt sind, hat selbst die dürftigste Stube der Nähterin besseres und billigeres Licht als vorher; aber seit jener Zeit hören wir auch von Explosionen, die nicht nur feuergefährlich sind, sondern auch das Menschenleben in erster Linie bedrohen. Trotz der schmerzhasteften Brandwunden, trotz der zahlreichen Todesfälle gehen die meisten noch viel zu leichtsinnig mit dem Petroleum um, und fast unausrottbar ist in weiten Schichten der Unfug des Feueranzündens vermittelst dieses explodirbaren Stoffes. Gefährlicher noch ist das Benzin, das schon so manches Mädchen, welches billig seine Handschuhe waschen wollte, in jämmerlicher Weise verbrannte.
Diese Andeutungen mögen genügen, um uns in Erinnerung zurückzurufen, wie sehr uns das Feuer in unseren vier Wänden bedroht; aber das Feuer ist nicht die alleinige Ursache der Unfälle.
„Gestürzt beim Fensterputzen!“ Auch dies ist eine stehende Rubrik in der Chronik der Unfälle. Man hört von Vergiftungen, die zufällig geschehen sind, weil jemand aus Versehen eine Flasche mit Gift geöffnet und den Inhalt für eine harmlose Flüssigkeit gehalten hat. Wir wollen die Aufzählung nicht fortsetzen. Es sind ja kleine Versehen, die jedermann kennt und mit einiger Umsicht vermeiden kann. Doch dies schmälert keineswegs die Bedeutung derselben, denn kleine Versehen sind in der Regel die Ursachen großer Unfälle, und diese Unfälle im Hause, die ebenso tödlich verlaufen können wie die Unfälle an rasselnden Dampfmaschinen, bedrohen jedermann, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer, reich und arm.
Die Ausstellung für Unfallverhütung ist das Werk der gewerblichen Berufsgenossenschaften und wir finden nur zerstreut hier und dort in derselben einige Gegenstände, welche die Verhütung von Unfällen im Hause betreffen. Wir wollen auf diejenigen, die uns besonders aufgefallen sind oder die wir in der Masse anderer Geräthe gefunden haben, die allgemeine Aufmerksamkeit lenken. Sie werden namentlich diejenigen interessiren, welche keiner Berufsgenossenschaft angehören, vor allem aber unsere Frauen. Zuvörderst wollen wir ihnen eine Sicherheitslampe fürs Haus vorführen, über die wir folgendes erfahren haben:
In dem Schauspiel „Pleasure“, das im Drury-Lane-Theater in London gegeben wird, kommt auch ein – Erdbeben vor. In dieser Scene kracht alles zusammen, und auch ein gedeckter Tisch fällt um. Auf dem Tische aber steht eine brennende Petroleumlampe, die mit dem übrigen Geschirr gleichfalls zu Boden stürzt. Das ist etwas stark, könnte man meinen. Die Gefahr einer Explosion und eines Theaterbrandes liegt dabei so nahe! Und die Polizei duldet so etwas? Nun, es ist eine besonders konstruirte Lampe, die hier angewandt wird, eine Lampe, die sofort erlischt, wenn sie umfällt, und darum nicht explodiren kann. Dabei zählt diese Lampe nicht zu den sogenannten Bühneneffekten, die im praktischen Leben nutz- und werthlos sind; sie ist nicht als Dekoration für ein theatralisches Erdbeben erfunden worden, sondern für den häuslichen Gebrauch bestimmt.
Sie heißt Shaftesbury-Lampe und ihr Erfinder Phillips. Nachdem sie sich in ihrer britischen Heimath bewährt hat, wird sie jetzt auch in Deutschland eingeführt und verdient in der That, daß das große Publikum auf sie aufmerksam gemacht werde.
In Fig. 1 stellen wir die Shaftesbury-Lampe im Durchschnitt unsern Lesern vor. Wir bemerken zunächst, daß an dem Brenner neben dem Dochte eine Metallklappe angebracht ist. Diese Metallklappe ist beweglich und steht mit einer Drahtstange in Verbindung. Deutlicher ist die Anordnung in Fig. 2 zu sehen. Was geschieht nun, wenn wir die Drahtstange nach unten ziehen? Durch den Zug wird die Metallklappe in die Höhe gehoben und nimmt diejenige Stellung über dem Dochte an, die wir in Fig. 3 finden, das heißt, sie bedeckt den Docht und löscht die Flamme aus, da sich gleichzeitig auf der entgegengesetzten Seite ein senkrecht stehendes Blech emporschiebt, das auf unserer Abbildung nur schwach angedeutet werden konnte. Diesen Theil der Lampe nennt man den „Auslöscher“, und der Erfinder hat dafür Sorge getragen, daß dieser im gegebenen Fall von selbst wirkt. Die Stange geht, wie wir in Fig. 1 sehen, mitten durch die Lampe bis zu dem Fuß derselben und ist an ihrem Ende durch eine Kugel beschwert. Der Mechanismus des Auslöschers ist nun so angepaßt, daß, wenn die Lampe auf dem Tische steht, die Kugel auf dem Tische ruht und der Auslöschapparat die in Fig. 2 angedeutete [718] Lage einnimmt. Der Auslöscher stört das Brennen der Flamme in keinerlei Beziehung. Nehmen wir nun an, daß die Lampe umfällt, was geschieht alsdann? Die am Ende der Stange befestigte Kugel tritt aus dem Lampenfuße heraus, zieht somit die Stange herunter, und der Auslöscher nimmt infolgedessen die in Fig. 3 wiedergegebene Stellung an – die Lampe erlischt. Dieser Mechanismus wirkt aber auch, wenn wir die Lampe hoch heben, denn dann senkt sich die Kugel erst recht nach unten und die Lampe muß erlöschen. Dem mußte nun vorgebeugt werden; denn eine Lampe, die brennend nicht von einem Tisch auf den andern getragen werden könnte, würde höchstens für eine theatralische Erdbebenscene, aber nicht für das tägliche Leben verwendbar sein.
In Wirklichkeit können wir die Lampe herumtragen und sie brennt doch. Der Erfinder hat nämlich an der schmalen Stelle des Lampenfußes, unter dem Oelbehälter, wo wir ja stets Lampen anfassen, einen Metallring angebracht, der auf und ab gleitet. Dieser Metallring (auf Fig. 1 in der Mitte durch die dunkel schraffirte Stelle und den Pfeil gekennzeichnet) ist durch Querstangen mit der senkrechten Kugelstange verbunden. Fassen wir nun den Ring an, so kann die Kugelstange nicht herabfallen, denn der Ring hat an dem Ansatze des Oelbehälters festen Halt; die Lampe brennt also fort. Anders ist es aber, wenn wir den Oelbehälter mit beiden Händen anfassen und die Lampe hochheben; alsdann muß der Ring, von der Schwere der Kugel mitbeeinflußt, hinabgleiten, der Auslöscher thut seine Schuldigkeit, die Lampe erlischt.
Dieser selbstthätige Auslöschapparat kann nicht nur an Flachbrennern, sondern mit einigen Verändernungen auch an Rundbrennern etc. angebracht werden. Der Oelbehälter aber besteht nicht aus Glas, sondern aus Metall.
Die Vorzüge der Lampe sind nun folgende: die Lampe kann nicht explodiren, wenn sie umfällt oder wenn sie dem Träger aus der Hand gleitet, ferner brauchen wir beim Ablöschen derselben weder den Docht hinunterzuschrauben noch die Flamme auszublasen; wir heben die Lampe, indem wir sie am Oelbehälter anfassen, einfach in die Höhe. Da es bekannt ist, wie viele Brände durch Lampenexplosionen, die infolge Herunterschraubens oder Ausblasens entstanden sind, alljährlich hervorgerufen werden und wie viel Menschen dabei zu Grunde gehen, so braucht man über die Zweckmäßigkeit des Auslöschers kein Wort zu verlieren. Er spricht für sich selbst.
Aber damit sind noch nicht alle Vorzüge der Lampe erschöpft. Das Petroleum wird in den Behälter, wie auch sonst üblich, durch eine Seitenöffnung eingegossen. Der Brenner wird nicht in den Behälter hineingeschraubt, sondern bildet einen Stöpselverschluß, das heißt, er wird einfach in die Oeffnung des Behälters hineingezwängt. Sollten nun durch Erwärmung des Petroleums in dem Behälter sich Gase bilden, so müßten diese den Brenner hinausschleudern, ebenso wie die Gase einer Selterswasserflasche den Pfropfen in die Höhe knallen lassen. Geschieht dies aber, so kann die Kugelstange dem Brenner nicht folgen und zieht ihrerseits, während der Brenner höher steigt, die auslöschende Kappe empor; die Flamme muß erlöschen, bevor es zu einer Explosion kommen kann.
Auch an Hängelampen ist der Mechanismus angebracht. Die Kugel, die sonst durch die Tischplatte gestützt wird, ruht hier auf einem Deckel, der, wie wir in Fig. 4 sehen, aufgeklappt werden kann. Das Auslöschen der Hängelampen, das sonst so umständlich ist, geschieht hier durch einen einzigen leisen Fingerdruck.
Die Shaftesbury-Lampe ist zwar eine Fremde unter der leuchtenden Schar, die unser Heim erhellt, aber nützlich scheint sie jedenfalls und wird darum gewiß eine gute Aufnahme finden.
In einem der benachbarten Säle fesselt das Modell einer Scheune unser Auge. Das Giebeldach ist ganz sonderbar, die eine Dachfläche ist mit Stroh, die andere mit Dachschindeln belegt. Der Katalog belehrt uns, daß beide, Stroh wie Schindeln, wetter- und feuerfest sind. Wir stehen hier vor einem Erzeugniß der Imprägnirungsverfahren gegen Feuer, die im Hause ebenfalls die weiteste Berücksichtigung verdienen. Auch der Aussteller des Scheunenmodells steht im Dienste des Hauses; denn wir sehen daneben Bettgestelle, Decken und auch eine alte Matratze, welche ein Plakat mit folgender Erklärung trägt:
„Unmittelbar hinter dieser Schutzmatratze stand im Jahre 1884 bei der Allerhöchst befohlenen Feuerprobe, umgeben von den feuergefährlichsten Stoffen als Strohfeime, Petroleum, Benzin, Terpentin, Naphtha, Spiritus, Pulver, wohlgeschützt Seine Majestät der König von Sachsen gegenüber einem 4 m hohen Lauffeuer.“
Wir erinnern uns dabei, daß auch ein anderes gekröntes Haupt für die feuerfeste Imprägnirung der Stoffe ein besonderes Interesse an den Tag gelegt hat: die Königin von England, an deren Hofe die gesammte Leibwäsche feuerfest ist, und wir möchten hier gleich auch den Mahnruf des Gründers der Samariterschulen, des Professors v. Esmarch, citiren:
„Wer seiner Frau oder seinen Töchtern leichte Stoffe zu Ballkleidern oder Vorhängen schenken will, der lasse sie doch vorher unverbrennlich machen. Das Verfahren ist ja so einfach und so billig und die Farben der Stoffe werden dadurch nicht verdorben. Es sollte allgemein bekannt sein, daß es genügt, solche Stoffe in eine Lösung von schwefelsaurem Ammoniak zu tauchen und sie danach wieder zu trocknen und zu bügeln. Kommen sie dann mit der Flamme in Berührung, so lodern sie nicht auf, sondern verkohlen langsam wie Zunder.“
Der Aussteller der erwähnten Schutzmatratze, Techniker Franz Konrad, hat aber ein besonderes Verfahren, seine Fabrikate sind flammensicher und besitzen außerdem noch andere Vorzüge. Eine flammensichere wollene Decke ist in vielen Fällen ein unschätzbares Mittel, man kann sie über ein ausbrechendes Feuer werfen und dieses im Keime ersticken; in einigen Theatern stehen z. B. Feuerwehrleute mit ähnlichen Decken hinter den Coulissen, um Schauspielerinnen, die etwa Feuer fangen sollten, in die Decken einzuhüllen und so die Flammen zu ersticken. Eine feuerfeste Matratze ist bei ausbrechendem Feuer als bestes und nächstliegendes Feuerabsperrmittel für Gänge, Thüren oder als Feuererstickungsmittel durch Hineinwerfen in das Feuer zu verwenden. Man schläft gut und ruhig auf einer solchen flammensicheren Matratze, die nach Wunsch mit Stroh oder Roßhaar gefüllt werden kann, denn sie ist auch antiseptisch und hält das Bettungeziefer fern. Die Regierungen von Sachsen und Preußen haben dieser Matratze durch vielfache Bestellungen ihre besondere Aufmerksamkeit bewiesen.
Unser Geld schützen wir durch feuerfeste Schränke, viele würden sich jedoch schwer entschließen, eine feuerfeste Decke fürs Haus anzuschaffen. Das sind Widersprüche des täglichen Lebens!
Die Großstädter unserer Zeit fürchten ja das Feuer nicht mehr so wie ihre Vorfahren. Sie weisen mit gerechtem Stolze auf ihre Berufsfeuerwehren hin, und in der That sind die Leistungen derselben so vorzüglich, daß die Brände in Privathäusern viel von ihrem Schrecken verloren haben.
Die Ausstellung für Unfallverhütung ist ebenfalls geeignet, dieses Sicherheitsbewußtsein in uns zu stärken. Welch ein beruhigendes Gefühl erfaßt uns, wenn wir die riesengroßen, fahrbaren mechanischen Rettungsleitern von Magirus in Ulm und Lieb in Biberach anschauen, die schon an das Kuppelgewölbe der Halle reichen, obwohl sie noch nicht ganz ausgestreckt sind. Dort stehen die modellirten Feuerwehrmänner in vorschriftsmäßiger Ausrüstung, und die Spritzenmodelle, die Rettungstücher und Rettungsschläuche. Und trotzdem lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf die unscheinbaren Gurten, Bremsvorrichtungen und Drahtspiralen, die zur Selbstrettung in Feuersgefahr dienen sollen. Das Unglück schreitet schnell, die Flamme ist geschwinder als die Feuersignale, welche die Feuerwehr alarmiren. Namentlich in kleineren Städten, in Dörfern und entlegenen Villen und Schlössern dürfte es für jeden [719] rathsam sein, sich frühzeitig mit den Grundsätzen der Selbsthilfe in der Feuersgefahr vertraut zu machen.
Doch wir müssen weiter wandern.
Da steht ein Glasschrank, der mit Flaschen vollgepfropft ist, auf denen der schwarze Todtenkopf zu schauen oder die Inschrift „Aeskulap!“ zu lesen ist. Das ist auch eine neue Erfindung, denn die Flaschen schließen nicht nur luftdicht, sondern haben auch einen „Patentkapselschraubenverschluß“, der nur vermittelst des dazu gehörigen Schlüssels geöffnet werden kann. Sie eignen sich somit zum Aufbewahren von Giften, ätzenden Stoffen wie z. B. Carbolsäure, und durch ihren Gebrauch lassen sich ohne Zweifel diejenigen Unfälle vermeiden, die aus Versehen in der Verwendung von Giften zu geschehen pflegen. Vor diesem Schrank stand eine Dame und ich hörte sie zu dem Aussteller sagen:
„Aber man kann auch andere Flüssigkeiten in diesen Flaschen aufbewahren?“
„Natürlich, gnädige Frau!“
Sollten vielleicht bei dieser Gnädigen die Dienstmädchen eine Vorliebe für Spirituosen oder Fruchtsäfte zeigen und an einem stillen Schluck ein besonderes Gefallen finden?
Die Ausstellung ist gerecht bei der Vertheilung ihrer Gaben; sie bringt nicht allein Schutzmittel vor Dienstmädchen, sondern auch Schutzvorrichtungen für dieselben. Einer der am häufigsten vorkommenden Unfälle in Dienstmädchenkreisen ist der Sturz auf die Straße beim Fensterputzen. Dies ereignet sich namentlich bei Fenstern, die nach außen schlagen. Man baut solche Fenster, weil man den nach innen schlagenden Fenstern gewisse Nachtheile nachsagt: sie sollen sehr schlecht dichten, Wind und Wetter Eintritt in die Zimmer gestatten, die Gardinen schädigen und höchst unbequem zu öffnen sein, da die Fensterbänke jedesmal geräumt werden müssen. In der Ausstellung finden wir ein Hamburger Fenster, welches alle diese Nachtheile aufhebt. Dieses Fenster wird gewöhnlich nach außen geöffnet, will man es aber nach innen öffnen, so ist dies möglich, nachdem man einige Griffe bei dem Fensterbeschlag, die wir auf unserer Abbildung (Fig. 5) rechts und links unten am Rahmen erblicken, zur Seite gezogen hat. Das Dienstmädchen braucht alsdann beim Fensterputzen nicht auf die Fensterbank zu treten und ein Hinausstürzen desselben ist nicht gut denkbar.
Für alte Häuser wäre die Anschaffung solcher Fensterbeschläge mit großen Kosten verknüpft, es wäre darum wünschenswerth, einfachere Vorrichtungen kennen zu lernen, die bei jedem Fenster sich anbringen ließen. Eine solche Vorrichtung ist für Schlosser beim Befestigen der Jalousien da (vgl. die Abbildung Fig. 6). Sie besteht aus einer starken eisernen Stange, die sich in der Mitte auseinanderschrauben läßt und an beiden Enden in eine viereckige Platte ausläuft. Diese Stange wird nun quer in das Fenster gelegt und so lange auseinander geschraubt, bis die beiden Platten stark genug an die Mauerpfeiler des Fensters drücken und die Stange genügend fest sitzt, um das Gewicht eines Menschen zu tragen. An der Stange ist eine Leine befestigt, an deren Ende sich ein Leibgurt befindet, den der Arbeiter umschnallt.
Mit einigen Abänderungen könnte dieser Apparat vielleicht auch ein nützliches Hausgeräth werden. Dem Scharfsinn der Erfinder auf diesem Gebiete ist übrigens noch ein weiter Spielraum offen gelassen.
Durch Sturz aus dem Fenster pflegen auch Kinder zu verunglücken. Auch dafür ist ein Schutzapparat da.
Die Vorrichtung (vgl. Fig. 7 u. 8) besteht aus einer außen am Fenster anzubringenden schmiedeeisernen Galerie, welche mittels zweier beweglicher Hebel mit den Fensterflügeln derart verbunden ist, daß ein Druck auf die Galerie selbstthätig die Fensterflügel zusammenklappen läßt, welche die dem Sturze ausgesetzte Person sofort einklemmen und festhalten. Je stärker die Belastung dieser Galerie ist, also je weiter der menschliche Körper bereits zum Fenster heraushängt, desto stärker halten die Fensterflügel zusammen, um erst dann wieder nachzugeben, wenn der Körper zurückgezogen wird und sich außer Gefahr befindet. Diese Schutzgalerie ist namentlich für die Fenster in Kinderstuben beachtenswerth.
Da sind wir in jenes lärmvolle Zimmer gelangt, in dem Unfälle, wenn auch kleiner Art, auf der Tagesordnung stehen. Ohne „Unfälle“ wird das Gehen nicht gelernt und kleine Wunden, Nasenblutungen u. s. w. sind in jeder Kinderstube zu beobachten, ebenso manchmal das schon gefährlichere Verschwinden kleiner Körper, wie Perlen, Bohnen u. s. w. in Mund, Nase und Ohr. In der „Bibliothek“ der Ausstellung sahen wir eine kleine Wandtafel, auf der in knapper Form Rathschläge für die erste Hilfe bei Unfällen in der Kinderstube ertheilt werden. Vielen, namentlich jungen Müttern, dürfte sie gute Dienste leisten, obwohl sie sich zu sehr an die englische Vorlage hält, nach der sie bearbeitet wurde, und unsern Verhältnissesn mehr angepaßt werden könnte.
Unser Haus ist, wie wir sehen, bei dieser von den Berufsgenossenschaften veranstalteten Ausstellung nicht ganz leer ausgegangen. Wir suchten aber in ihr vergebens nach mancher praktischen und gemeinnützigen Einrichtung, die uns von anderswoher bekannt war. Eine Sammlung solcher Einrichtungen und Erlasse vorsorglicher Behörden, welche geeignet sind, Unfälle im täglichen Leben zu verhüten, würde gewiß den größten Nutzen stiften.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Ausstellung nicht spurlos vorübergehen wird. Neben dem Hygieine-Museum werden wir später auch ein Museum für Unfallverhütung besitzen und dort wird auch, wie wir hoffen, die Unfallverhütung im Hause nicht vergessen werden.
Unter dem Glockenstuhl.
Ich hatte so ziemlich ausstudiert und bereitete mich aufs große Examen vor. Ursprünglich Mediziner, war ich bei der Botanik hängen geblieben und hatte mit herzlicher Lust und Liebe mich in meine Wissenschaft vertieft. Da starb mein Vater, und bei mir zu Hause sah es traurig aus. Statt des mit gutem Wechsel ausgerüsteten Sohnes eines hohen Beamten war ich plötzlich ein gänzlich mittelloser, so gut wie blutarmer Student, der für sich selbst aus dem großen ungeahnten Schiffbruch des Hauses nichts retten konnte und wollte. Da sagte ich mir: „Gut, so lernst du schon jetzt auf eigenen Füßen stehen!“ und stellte mich zunächst jeden Morgen vor das „Schwarze Brett“ und las die Anschläge durch, ob nicht für mich etwas da wäre. Und die Botanik gab schließlich den Ausschlag. Ich entdeckte eines Tages eine Hauslehrerstelle bei dem Herrn von Mittelstein auf dem gleichnamigen Gut. Ziemlich gleichgültig las ich darüber hin, bis mir am Schluß der Anzeige, hinter dem Namen der Poststation, der Bezirk auffiel, in dem das Gut lag, nahe am Gebirge. Ich ging den ganzen Tag umher und sann vergeblich darüber nach, wo mir der Name dieser Landschaft schon einmal begegnet sein möchte, und zwar in einer für mich bedeutenden Sache. Mit einem Male fiel’s mir blitzschnell erleuchtend in die Seele: das war ja die einzige Gegend, in welcher der böse, gefährliche, aber für unsereins so hoch interessante Giftsumach, Rhus toxicodendron, wild in Deutschland wachsen sollte! Das packte mich. Außerdem schwanden meine letzten Mittel unangenehm schnell, wie sehr ich auch sparte – und kurz entschlossen, setzte ich mich hin, schrieb, bekam Antwort, wurde angenommen – man legte sogar Werth auf einen Naturwissenschaftler dort – und stieg an einem prachtvollen Septembernachmittag in den Wagen, der mich meinem sogenannten „neuen Bestimmungsort“ zuführen sollte, und mein Herz brannte ordentlich darauf, wenn ich nur erst einmal in den Wäldern und Sümpfen dort umherklettern könnte, um mein geliebtes Rhus von Angesicht zu sehen. Die Sonne schien hell durch die Pappeln am Wege; die Fäden des Altweibersommers lagen in der stillen, klaren Luft ausgespannt; munter trabten die Pferde. Auf hoher Bergeswarte rechts lag ein Schloß, weiß und glänzend, aber wir trabten vorbei, immer weiter ins Land hinein, bis wir zur Zeit der sinkenden Sonne mit letzter Anstrengung der anspringenden Pferde auf die Rampe von Schloß Mittelstein hinauffuhren. Ein altes feudales Schloß, mit Thürmen und Erkern und Zinnen und langen dunklen Gängen! Als ich aus dem Fenster meines Zimmers lehnte und hinblickte über das Land, wie’s herbstlich still und schön weithin vor mir lag, übergossen von goldigem, verklärendem Licht, da wurde das Herz mir weit und froh. Endlos schweifte mein Auge in [720] die Ferne bis dahin, wo im Abendglanze der Fluß blinkte; ganz drüben, den Horizont abschneidend, ragte im blauen Nebelduft, jetzt wie mit einem halb durchsichtigen Purpurmantel zugedeckt, ein Gebirgszug, und mir ward es so recht Eichendorffisch zu Muth, als plötzlich, ich ahnte nicht woher, sanfte ferne Glockenklänge an mein Ohr schlugen:
„Es redet trunken die Ferne
Wie von künftigem, großem Glück!“
Es sollte mir ja auch kommen! Und bald schon. Es verging kein Tag, daß ich nicht mit Spaten und Botanisiertrommel und in hohen Stiefeln hinauszog, sobald meine Arbeit gethan war, begleitet von zwei lieben, prächtigen Jungen, die voll Freude mit mir wanderten. Aber mein Rhus fand ich nicht, es wollte auch niemand etwas davon wissen, und ich fing schon an, innerlich weidlich auf die Herren Stubengelehrten und Federfuchser mit ihren unhaltbaren Angaben zu schelten.
Müde und hungrig waren wir eines Abends heimgekehrt. „Wieder nichts?“ fragte Herr von Mittelstein, von seiner Schreiberei aufstehend.
Ich verneinte.
„Wissen Sie,“ sagte er nach einer Weile, „so zwingen Sie’s nicht. Auf die Aussagen der Dienstleute können Sie nichts geben; die gehen zu stumpf an allem vorbei. Ich selbst bin kein Jäger und strolche nicht genug im Walde umher. Aber ich möchte Ihnen rathen, machen Sie Bekanntschaften rundumher und fragen Sie die aufgeweckteren Um- und Anwohner aus. Ich interessiere mich selbst für die Sache, nach dem, was Sie mir davon erzählen, und würde mich freuen, wenn Sie so oder anders zum Ziel kämen. Sagen Sie, können Sie reiten?“
Ich konnte reiten. Ich hatte als „Einjähriger“ bei der Kavallerie gestanden.
„Das ist gut!“ fuhr der treffliche Mann fort. „Denn die hiesigen Wege sind vielfach für Fußgänger zu weit. Vor allem rathe ich Ihnen, in Wulfshagen einen Besuch zu machen; der Pächter und seine Familie sind tüchtige Leute. Er selbst hat allerhand Kenntnisse und kann Ihnen vielleicht Auskunft geben. Dahin können Sie übrigens in einer starken Stunde auch zu Fuß kommen; der Erlenbach bildet die Grenze zwischen ihm und mir, ziemlich genau in der Mitte des Weges, da, wo das Tannenwäldchen beginnt.“
„Eine Frage, Herr Baron! Woher kommen die räthselhaften Glockentöne morgens und abends, die doch unmöglich aus Klein-Sülzach herüberklingen können? Ich wollte mich schon immer einmal erkundigen.“
Er lachte. „Ja, das wundert alle Fremden. Folgen Sie nur einmal dem Fußsteig, der dort am Bach entlang führt, bis zu dem Hügel nahe am Hellmühler Holz; er liegt ziemlich in der Mitte zwischen Wulfshagen und Mittelstein; da werden Sie schon sehen, woher das Läuten kommt. Im Winter muß nach uralter Bestimmung Herr Erhard, im Sommer ich den Läuter stellen. Die Leute wollen nicht gern hinüber. Es ist ein dummer Aberglaube damit verknüpft: sie behaupten, sie würden krank vom Läuten, und den Grund suchen sie natürlich in übernatürlichen Einwirkungen.“
„Sind denn einmal wirkliche Erkrankungen vorgekommen?“
„Eine Art Nesselfieber war hier einmal im Gang; sie hätten’s freilich hier im Stall so gut bekommen wie dort beim Glockenstuhl. Aber es giebt doch immer saure Gesichter, wenn die Reihe an uns kommt.“ –
Es war ein schöner, klarer Tag Ende September, da ritt ich hinüber nach Wulfshagen und bald sah ich das große Gehöft vor mir liegen – lauter neue Gebäude mit rothen Dächern; hinter dem Hause ein großer Garten mit einzelnen alten Bäumen. Als ich zwischen den beiden langen Scheunen hindurch auf den Hof ritt, sprang aus der Thür des niedrigen Wohnhauses ein weißer Spitz und kläffte aus Leibeskräften. Darauf erschien unter der Thür eine wahre Hünengestalt, ein Mann von mächtigen Schultern und mit langherabwallendem blonden Barte. Bequem und etwas breitspurig stand er da, die Hände auf dem Rücken. Ich grüßte.
„Willkommen, Herr Kandidat!“ schallte es tiefstimmig und freundlich mir entgegen; und der Klang, der in dieser Stimme lag, sprach warm zu meinem Herzen vom ersten Augenblick an.
Ich gab mein Pferd ab und trat ein. Seine ungeheure Hand hielt und schüttelte die meine.
„Recht von Ihnen, daß Sie gekommen sind; haben Sie schon erwartet, und wenn Sie sich hier ganz zu Hause fühlen, dann soll’s uns herzliche Freude sein.“
Die Thür that sich auf, eine hübsche, stattliche junge Frau sah aus munteren hellen Augen auf mich, und zwei kleine Mädchen von acht und zehn Jahren etwa reichten mir bescheiden knixend die Hand. Ich war keine Minute fremd da im Hause; vom ersten Augenblick an – ja, wirklich und wörtlich: vom ersten Blick der Augen an – war ich dort heimisch und wäre es gewesen und geblieben mein lebenlang auch ohne die Erscheinung des Fräuleins, die nach einer Weile in die Thür trat, das Kaffeebrett mit klirrenden Tassen in den Händen. War ich an dem Tage gerade besonders veranlagt für plötzlich durchschlagende Eindrücke, oder war’s die wenigstens für mich und meinen Geschmack überwältigende Macht ihrer reizenden Erscheinung: ich sprang auf aus meiner Sofaecke und blickte dem jungen Mädchen wie gebannt in die glänzenden Augen. Es hilft nichts, ich muß es eingestehen, ob ich will oder nicht: ich war verliebt, gründlich verliebt von Stund an in Gertrud, und wenn ihre junge Seele in dem Augenblick gleich ebenso gefangen gewesen wäre, dann hätt’ ich zur selben Stunde fragen können: „Willst Du mein ganzes Lebensglück sein?“ und sie hätte mir beide Hände gegeben und wir wären der Erde seligstes Brautpaar gewesen, so unklug eine solche Verlobung auch in den Augen bedächtiger Leute hätte scheinen mögen.
Ich sehe sie noch da am Tische stehen im einfachen dunkelgrauen Kleid, schlank und voll, eine Masse blonden Haares auf dem Kopfe; ein wunderbarer Glanz leuchtete aus den klugen Mädchenaugen, in denen sich eine ganze Welt von Frohsinn, Vertrauen und Herzensgüte spiegelte. Mit einem Wort: „den Mann hatte es!“
Und daß ich’s kurz mache: den Mann ließ es auch nicht wieder los. – –
Es war ein paar Wochen später. Ich bat wieder einmal um das Pferd, um hinüberzureiten zum Erntefest nach Wulfshagen.
„Na, hören Sie ’mal,“ lachte Herr von Mittelstein, „meine Empfehlung der Familie scheint bei Ihnen geholfen zu haben. Seien Sie ’mal aufrichtig: ist es mehr der Umgang mit Herrn und Frau Erhard, der Sie so anzieht, oder ist es die schöne Erzieherin, das blonde Fräulein Zorn? Ein Prachtmädel!“
Ich muß sehr roth geworden sein. Er klopfte mir leicht auf die Schulter.
„Na, sagen wir: sie ist der Thau in der Rose! Reiten Sie mit Gott und grüßen Sie mir die Erhards!“
Langsam ritt ich durch den trüben Oktobernachmittag dahin. In mir war eitel Sonnenschein. Ich war gefangen, gebunden, davongeführt, fertig! Ich war vollständig unfähig, mir mein weiteres Leben ohne Gertrud zu denken. Wir hatten uns einen Leseabend eingerichtet auf Wulfshagen, nur die Familie und ich. Er, Erhard, saß im Sofa und rauchte langsam und bedächtig aus seiner langen Pfeife; Frau Hedwig, Gertrud und ich lösten uns ab im Vorlesen. Frau Hedwig mit ihren klaren grauen Augen, ihrer wohlklingenden Stimme, ihrer frauenhaften Herzlichkeit und Heiterkeit war eine deutsche Hausfrau, die in einem feinen und reinen Herzen jeden Sonnenstrahl fing, der aus unserm Buch aufblitzte; Gertrud ein Modell für einen Maler, wie der Lichtschein auf ihrem Blondhaar und dem lebhaften, ausdrucksvollen Gesicht lag, dessen weiche feine Züge so leicht und klar jeglichen Eindruck wiederspiegelten, den ihre junge Seele empfand. – Aber es konnte nur immer eines lesen. Und damit die andern nicht allzu sehr in aufhorchende Trägheit versänken, sondern gleichzeitig auch bescheidenen Nutzen schaffen möchten, hatte die energische Frau Hedwig gleich am ersten Abend lachend einen großen Sack voll trockener unausgehülster Bohnen in die Stube getragen und neben den Tisch hingestellt, und nun war es Aufgabe der beiden Hörenden, die Bohnen auszubrechen.
Frau Hedwig, trefflichste und anmuthvollste der Frauen – und auch eine kluge, scharfblickende Frau warst du zugleich – aber das hättest du nicht thun sollen! Wußtest du nicht, daß es gefährlich sein mußte für zwei junge, feurige, ungepanzerte und unbewaffnete Herzen, wenn ihre Hände unter der deckenden Hülle des Sackleinens sich begegneten? – begegnen mußten, um zuerst scheu auseinander zu fahren, und um wieder zusammenzukommen, als wäre nichts geschehen; zwei junge, warme, feinfühlige Hände, zurückzuckend und wieder langsam sich vorwagend, behutsam tastend und gleichsam alles leugnend, wie mit eigenem,
[721][722] selbständigem Leben begabt, wie von elektrischem Strom durchzogen!
Ja, der „Rattenfänger“ war wundervoll, und die Lieder hätte ich lieber singen als vorlesen mögen – aber noch schöner, tausendmal schöner war’s, wenn ich mich wieder an den Bohnensack setzen konnte. – Und allmählich, ganz allmählich, von Abend zu Abend wurde das süße, stets verleugnete Spiel ernsthafter, offener; ich hielt ihre Hand, die schmale, zarte Hand – eine dunkle Blutwelle schoß in Gertruds Gesicht; sie beugte sich tiefer über die Arbeit – und dann flogen die weißen Bohnen nur so hinaus aus den raschelnden Hülsen und rannen hinab auf den Grund. Und wieder haschte ich nach der reizenden Beute; schnellen Rucks entzog sie sie mir. Steht sie jetzt auf? Geht sie jetzt im Zorn? Mein Athem stockt vor Angst und Reue – nein, sie bleibt! Im heißen, lebenbringenden Strom rinnt das Blut durch meine Adern, und ich möchte den Sack umwerfen und sie an mich reißen und ihr zuflüstern: „Gertrud!“ – Man lebt nicht einmal, nein, wer so in Liebe glüht und glücklich ist, der lebt immer wieder ein neues Leben.
In solchen Gedanken ritt ich denn, wenn die Scheidensstunde gekommen und Abschied genommen war, heim durch den Nebel. Aber in mir war’s lichter Frühling und mein Herz jubelte.
Auf Wulfshagen gab es also einen Festtag: „der Schäfer schmückte sich zum Tanz“ und so weiter. Als ich auf den Hof ritt, trat Gertrud in die Thür und winkte mir zum Willkomm mit der Hand.
„Ich soll Sie empfangen,“ rief sie fröhlich; „Herr und Frau Erhard sind im Milchkeller, der Tanz hat schon angefangen; hören Sie nur!“
Ich sprang vom Gaul und haschte nach ihrer Hand. Sie erglühte wie eine Rose. Die Rose war überhaupt das beste Bild für sie. Sie ließ sie mir, ihre Hand; wie warm ich sie hielt!
„Bitte,“ flüsterte sie in süßer Verwirrung – „nicht heimlich – ich habe immer so schreckliche Angst!“
O des Geständnisses, das darin lag, – aber wie plötzlich zur Erkenntniß kommend, riß sie ihre Hand los und lief den langen Flurgang hinab.
Ja, im Milchkeller, da war’s aber schön! Die weißgetünchten Wände waren mit Tannengrün verdeckt, und von der Decke hing eine Art Kronleuchter mit sechs langen Talglichtern. Auf einem Holzgestell saßen die vier Musikanten und bliesen, fiedelten, flöteten und quinkelierten, daß es eine Lust und ein Jammer war; aber mir hing der ganze Himmel voll Geigen. Erhard hielt mir den großen, schäumenden Humpen entgegen, ich that einen mächtigen Trunk ihm zum Bescheid; da kam Gertrud die kleine Treppe zum Keller herunter; ich rief dem braven Weber Schmidt zu: „Die Wacht am Rhein!“
Und alsbald erklang sie als Schnellwalzer. „Juch!“ gellte es aus zwanzig Knechtskehlen – und hin flogen die Paare mit geraden und krummen Beinen – der Komponist der „Wacht am Rhein“ mochte sich mit hörbarem Ruck im Sarge umdrehen; der rothe Staub von den Fliesen wirbelte auf; die Füße scharrten, im stürmenden Takte flogen die Paare und mitten drin Gertrud und ich, dicht aneinander geschmiegt.
„Eine einzige Bitte, Fräulein Zorn!“
„Nun?“
„Die Rose von Ihrer Brust!“
„Was wollen Sie damit?“
„Aufheben!“
„Wozu?“
„Zum Andenken“
„Woran?“
„An diese Stunde!“
„Was hat sie denn Besonderes?“
„Ich tanze mit Ihnen!“
„Haben Sie noch nie getanzt?“
„Ja, aber so nicht!“
„Dann haben Sie Ihrer Dame jedenfalls auch mehr Luft gegönnt!“
„Bekomme ich die Rose?“
„Ja!“
„Wann?“
„Nachher!“
Der Tanz verklang. Hochathmend wanden sich die derben Tänzerinnen aus dem Arm ihrer stämmigen Tänzer. Gertrud sah mich an mit ihren leuchtenden Augen.
„Gertrud!“ sagte ich leise und hielt noch ihre Hand. Sie warf den schönen Kopf in den Nacken und sah mich zornig an.
„Wie kommen Sie dazu?“ fragte sie.
„Fräulein Zorn, die Rose!“ flehte ich.
„Nein, nun zur Strafe nicht!“
Und weg war sie. Und mein Himmel war zerschlagen. Ich setzte mich zu den Herren und trank, hastig, heftig. Ich wollte nicht hinsehen, wo Gertrud seit einiger Zeit die Schenke übernommen hatte, heiter mit den Herren scherzend. Ich sah nicht hin, als sie meinen Krug vor mir wegnahm, und nicht, als sie ihn wieder vor mich setzte; aber als ich ihn an den Mund führen wollte, da schwamm oben auf dem Schaum des halbgefüllten Kruges die Rose, die Rose von ihrer Brust! Und ich hob den Humpen und trank ihn ihr zu in stürmendem Jubel.
Und als ich spät, sehr spät nach Hause ritt, stand sie an der Hausthür und reichte mir die Hand mit herzlichem Druck, und ich küßte ihre Finger, leise, schnell – sie sah sich um, hastig, besorgt – und dann wehte mir der kühle, feuchte Nachtwind um die Stirn – o du Welt, was für Glück hast du doch zu vergeben! –
Ein anderer Abend. Ich stehe am Fenster und blicke hinaus. Dort drüben liegt der Hof, hinter dem Tannenwald. Da lehnt sie vielleicht auch hinaus und der Wind küßt ihr Gesicht und spielt mit ihren blonden Stirnlocken; vielleicht denkt sie jetzt auch an mich.
Vertraut und freundlich kommt sie mir entgegen, wo ich sie treffe. Aber nie bin ich mit ihr allein, wie ich es auch darauf anlege; die grauen, klaren Augen der Frau Hedwig liegen auf uns. „Ich behalte keine Erzieherin, die ein Verhältniß irgend welcher Art hat,“ sagte sie neulich scheinbar harmlos, als wir drei ohne Gertrud allein beisammen saßen und die Rede so darauf kam. „Ich habe zu traurige Erfahrungen damit gemacht, zweimal. Die erste wollte sich durchaus aus unglücklicher Liebe zu dem Hauslehrer auf Gelbersand ertränken und wurde gänzlich unbrauchbar, und meine vorige machte nichts als das heilloseste dumme Zeug, nachdem sie sich mit einem Theologen bei Pastor Lau verlobt hatte; die Kinder und der Unterricht zählten überhaupt nicht mehr mit. Nein, darauf laß ich mich nicht wieder ein!“ sagte sie sehr bestimmt; „und so lieb ich Fräulein Zorn habe, wenn sie den Kindern nicht ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit mehr widmen kann, dann muß sie fort!“
Und die niedliche Frau sah ganz entschlossen dabei aus und warf mir einen Seitenblick zu, als wollte sie sagen: „Du weißt nun, woran Du bist!“ Da mußte ich also vorsichtig sein. Und erst will ich wenigstens Doktor sein, ehe ich meine Hand nach ihr ausstrecke. – –
Ja, was hat man nicht für gute Vorsätze!
Also ich stand am Fenster und schaute hinaus in die Nacht. Draußen kein Stern, kein Schimmer – aber je länger ich hinausstarrte, desto lichter wurde es draußen; ordentlich, als wenn allmählich dort überm Walde Lichtschein aufleuchtete, Strahlen aufzuckten, Funken sprühten und wieder in Nacht versänken. Aber täusche ich mich denn wirklich? Wird’s nicht in der That glühend hell über den Bäumen, immer mehr und mehr?
„Feuer in Wulfshagen!“ durchfährt mich schreckhaft erkältend der Gedanke – ja, da höre ich ja auch schon verworrenes Stimmengewirr vom Hofe her durch die Pause des Sturms – ich hinunter, in den Stall, den Sattel auf meinen Schimmel – ich darf ihn jetzt benutzen, so oft ich will, ohne erst zu fragen, er steht für mich da – und ehe noch die Spritze aus der Scheune rasselt, reite ich so wie ich bin durch die Nacht und das Wetter. Das Pferd kennt den Weg; das Dunkel lichtet sich; die Feuersbrunst fängt an, wie eine ungeheure Laterne zu wirken und matten Schein auf den Weg zu werfen; nun biege ich um die Waldecke – lohend schlagen vor mir die Flammen aus der Nähe auf, daß der Himmel erglüht; taghell beleuchtet liegt Wulfshagen vor mir, wie die Hufe des Schimmels über die Brücke donnern. Aber jetzt sehe ich es: es ist nicht meine zweite Heimath hier ist der Fremde, auf deren Dach der rothe Hahn die Flügel schlägt; es ist der Hof von Finkenfelde, der gerade dahinter liegt, das große Gut, auf dem der Sternhagen sitzt, mir der unangenehmste [723] Mensch in der ganzen Umgegend, ein reicher, dicknäsiger Protz und ungehobelter Geselle, der neuerdings auch auf Wulfshagen verkehrt und da den liebenswürdigen Nachbar spielt, Erhards seine Feldbahn umsonst leiht und für die Benutzung seiner Dampfdreschmaschine nichts haben will als den Leutelohn, und der dabei Gertrud den Hof macht. Dem gönne ich’s! Wird ja wohl auch gut versichert haben.
Ich hole tief Athem und halte das Pferd an. „Konnte doch einmal nach Wulfshagen hinreiten und sehen, wie’s steht –“ und schon ist der Schimmel wieder in Trab gefallen. Wie am Tage hell ist es auf dem Wege. Jetzt bin ich schon da, bin verbotenerweise über den vorspringenden Acker geritten und reite von seitwärts auf den Hof. Alles still; alle Mannschaften sind zu Hilfe geeilt mit Spritze und Wassertonne und Leitern und Pferden. Die Hufe des Schimmels klingen plötzlich hell auf dem Pflaster vor der Hausthür – da fliegt sie auf und – Gertrud tritt heraus.
„Sie, Herr Frenzel?“ ruft sie erstaunt und steht da so schlank und lieblich im Schein der glühenden Lohe, als wär’s ein großer Heiligenschein, der sie umgiebt.
„Ich bin ganz allein,“ fuhr sie fort, „und mir ist’s ganz grausig bei dem furchtbaren Brande; es brennt ja wohl alles zugleich – sehen Sie die himmelhohen Flammen!“ Sie zitterte. „Aber wollen Sie nicht absteigen?“ Sie müssen freilich das Pferd selbst in den Stall führen.“
Ich trat zu ihr ins Wohnzimmer. „Wo ist Frau Erhard?“ fragte ich.
„In der Speisekammer; da bereiten sie ganze Waschkörbe voll Butterbröten; ich habe mir aber die Hand dabei zerschnitten.“
Sie hob die kleine, verbundene Hand hoch – es war die Linke. Der Mediziner in mir erwachte. „Lassen Sie sehen!“
Gehorsam reichte sie die Hand her. Es war ein tüchtiger Schnitt und schlecht verbunden. Ich machte es nach den Regeln der Kunst besser. Sie sah hochathmend vor sich nieder und schwieg.
„So!“
„Ich danke, Herr Frenzel!“ Wir sahen uns an, einen kleinen Augenblick. Die kranke Hand lag noch in meiner.
Sie wandte befangen, mit glühenden Wangen das Gesicht nach dem Fenster.
„Hier können wir nichts sehen!“ sagte sie leise; „besser im Saal –“
Wir standen im dunklen Saal am Fenster. Vor uns war lichter, brennender Tag.
„Sehen Sie, wie auf die Entfernung die dunklen Umrisse der Leute gegen das Feuer sich abheben?“
„Mögen Sie den Sternhagen, Fräulein?“
„Den? Abscheulich finde ich ihn, den aufgeblasenen, hohlen Gesellen!“
„Gertrud!“
Sie blickte ohne ein Wort der Erwiderung ins Feuer.
Ich sah ihr dicht in die Augen, in denen die Gluth von drüben sich spiegelte.
Sie lächelte ein klein wenig; ich hielt ihre gesunde Hand – ganz, ganz sanft; nun faßte ich sie fester; nun hob ich sie und legte zugleich meinen Arm um sie – sie neigte das Haupt – ich hob es empor – lichtbestrahlt, verklärt hatte ich ihr Gesicht vor mir und ihren rothen, weichen Mund. Was war das lodernde Feuer da draußen gegen die lohende Flamme, die in meinem Herzen brannte? Das war gemeiner irdischer Schein gegen himmlisches Licht – für mich! Und für sie!
Ich hielt sie mit beiden Armen umfangen. Ich hatte ihre Lippen, ihre Wangen, ihre Augen geküßt – wie in Andacht. Ihre Hände lagen um meinen Hals; wir sprachen kein Wort; im Hause war’s still, auf dem Hofe war’s still, und wir sahen uns still in die Augen.
„Fräulein Zorn! Wo sind Sie?“ klang da Frau Hedwigs helle Stimme im Flurgange. – Gertrnd schrak auf – ihre Lippen lagen weich und warm auf meinen, und wie vom bösen Gewissen getrieben, eilte sie davon, das schlanke, süße Geschöpf – und „mein! Bis ans Ende meiner Tage!“ – so dachte ich.
Ich riß das Fenster auf und sprang hinaus, schlich mich zu meinem Pferde und ritt sachte vom menschenleeren Hofe; und wie ein Traum war’s mir, als ich dahinritt durch die Nacht, durch die es mit gespenstischem, allmählich erblassendem Gluthschein zuckte, aufflammend und wieder verlöschend: – wie das Glück aufloht und in Nacht versinkt!
So war ich denn mit Gertrud verlobt. Nicht daß es ein feierliches, gehauchtes „Ja“ auf eben so feierlich gedrechselte Phrasen gegeben hätte – das hatten wir nicht nöthig. Es mußte so kommen, daß ich sie im Arm hielt, und es war so gekommen, ganz von selbst, ganz natürlich. Und nun mußte sie zu gegebener Zeit meine Frau werden, das war wieder ganz einfach, unumgänglich, selbstverständlich. Aber niemand durfte etwas davon ahnen, Frau Hedwig am wenigsten. Sie wollte ja keine verlobte Erzieherin, und Gertrud war auf ihre Stellung angewiesen! Da galt es Vorsicht!
Ganz heimlich steckte ich ihr am nächsten Leseabend unter den Bohnen ein Zettelchen in die Hand – manch verstohlener Händedruck ward so scheu, eilig, innig getauscht! – auf dem bat ich sie, ihren Nachmittagsspaziergang nach dem Tannenbusch bei den Steinen zu richten.
Blätter und Blüthen.
Künstler und Kritiker. Einen wesentlichen Theil des Inhalts unserer heutigen Tagespresse bilden die kritischen Referate, die keine Zeitung von nur einiger Bedeutung mehr entbehren kann. Alle Gebiete der Kunst, vielfach auch litterarische Erzeugnisse der Wissenschaften, zieht die Kritik in den Bereich ihrer Besprechungen und je größer der Leserkreis eines Blattes, je umfassender seine Verbreitung ist, desto mehr Einfluß auf den Geschmack und das Urtheil des großen Publikums werden die kritischen Besprechungen ausüben. Wenn die letzteren von kundiger Hand herrühren und mit Unparteilichkeit und gediegener Sachkenntniß abgefaßt sind, so dürfen sie als ein nicht zu unterschätzendes Bildungsmittel angesehen werden; nur der kleinere Theil der Leser ist in der Lage, Konzerte, Theater und Kunstausstellungen regelmäßig besuchen zu können, die überwiegende Mehrzahl derselben aber wird trotzdem mit regem Interesse die Fortschritte auf diesen Gebieten und die persönlichen Leistungen der Künstler verfolgen. Leider macht sich in den Zeitungsmittheilungen dieser Art nur allzu oft Unfähigkeit und Anmaßung breit; in den Mantel der Publicistik gehüllt, taucht die Dame „Kritik“ nicht selten ihre Feder in das Gift persönlicher Gehässigkeit oder würdigt sich zur feilen Dienerin bezahlter Reklame herab.
Es wird schwerlich einen Künstler von Bedeutung geben, welchem trübe Erfahrungen dieser Art gänzlich erspart geblieben wären, und selbst der herrliche Karl Maria von Weber, der Begründer und Schöpfer unserer deutschnationalen Oper, dessen reizvolle Melodien in den prunkenden Musiksälen der Königspaläste so gut erklingen wie in der Tagelöhnerhütte des einsamsten Gebirgsdorfes, mußte es sich gefallen lassen, von übelwollenden Recensenten mit dem Geifer der Geringschätzung bespritzt zu werden, oder – was noch verletzender war – mit der Miene hochnäsiger Gönnerschaft ertheilte Rathschläge für sein künftiges Wirken zu vernehmen.
Als Weber im Jahre 1816 die Leitung der deutschen Oper in Dresden übernahm, stand er unter den Komponisten seiner Zeit bereits auf einer hohen Stufe des Ruhmes, was aber einen Theil der Kritik nicht hinderte, über seine Werke absprechend zu urtheilen. Weber war schon damals sehr reizbar und fühlte sich durch die erbärmlichsten Bemerkungen jedes Winkelblättchens oft tief verletzt; bei den mit vornehmer Ueberlegenheit vorgebrachten kritischen Ergüssen größerer Zeitungen aber konnte er in höchsten Zorn gerathen, anstatt sie im Gefühle seines Werthes mit Verachtung zu strafen.
Zu den litterarischen Kläffern, welche die Bedeutung des Komponisten bei jeder Gelegenheit herabzusetzen sich bemühten, gehörte auch ein Recensent der „Leipziger Zeitung“ Namens Müller, ein Mann, der umfassende musikalische Kenntnisse befaß und eine höchst gewandte, aber scharf gespitzte Feder führte. Seine Urtheile galten bei Künstlern und Kunstkennern für maßgebend und waren bei dem Einflusse, welchen die „Leipziger Zeitung“ in den kunstliebenden Kreisen besaß, sehr gefürchtet. Um so bitterer empfand Weber die Gegnerschaft dieses Kritikers, der seine Opfer nicht selten ganz ungerechterweise mit der ätzenden Lauge einer beißenden Satire überschüttete.
Für den gekränkten Meister gab es kein Mittel, seinem Quälgeiste beizukommen; die Unbestechlichkeit des letzteren war bekannt und um ihn um mildere Beurtheilung seines Schaffens und Strebens zu bitten, besaß der Komponist viel zu viel Mannesstolz. Ein Wagniß aber wäre es gewesen, seinem Gegner in der Presse entgegentreten zu wollen; auf diesem Felde war Müller dem Schöpfer des „Freischütz“ entschieden überlegen und die rücksichtslose Art, mit welcher der Kritiker seine Widersacher zerpflückte, verhalf ihm regelmäßig zum Sieg.
Da verfiel Weber auf einen seltsamen Einfall, drastisch und eigenartig, aber erfolgreich. Während eines Aufenthaltes in Oberbayern ließ er an alle größeren deutschen Zeitungen die Mittheilung gelangen, er sei gestorben, und zwar habe ihn der Tod rasch und ungeahnt ereilt. Die beigefügten Notizen über die näheren Umstände seines Hinscheidens ließen einen Zweifel an der Wahrheit desselben nicht aufkommen und alle Blätter verbanden mit der Todesnachricht eingehende Berichte über die großen Verdienste, welche sich der Verstorbene um die musikalische Kunst erworben [724] habe. In fast überschwänglicher Weise feierte auch Müller in der „Leipziger Zeitung“ den geschiedenen Komponisten, den er den unsterblichen Maëstro nannte.
Zwei Tage darauf waren die Zeitungen in die Lage versetzt, die Todeskunde widerrufen zu müssen; was sie aber über die Bedeutung Webers gesagt hatten, konnten sie nicht ungeschehen machen, und Weber hatte vor den Angriffen einer ungerechten Kritik, insbesondere vor denen des Herrn Müller, fortan Ruhe. Moritz Lilie.
Fleischfressende Pflanzen im Dienste der Kranken. Als Darwin im Jahre 1875 sein berühmtes Werk über die „insektenfressenden Pflanzen“ veröffentlichte, dachte man kaum daran, daß diese auffallende Entdeckung auch eine nützliche werden könnte. Mit großem Eifer wurde das Leben dieser „Thierfänger“ unter den Kindern der Flora beobachtet, und gegenwärtig kennen wir gegen 500 Pflanzen, die Insekten und anderes Gethier verzehren. Eine derselben wurde neuerdings in den Dienst der Heilkunde gestellt; sie soll so zu sagen Fleisch für kranke Menschen, deren Magen geschwächt ist, verdauen.
Wir wissen, daß die Eiweißstoffe, wenn sie dem Körper einverleibt werden sollen, zunächst verdaut werden müssen. Der Magen besorgt in erster Linie diese Arbeit, indem er Salzsäure und ein Ferment, Pepsin, ausscheidet. Durch diese beiden Stoffe wird ein großer Theil des genossenen Eiweißes in eine lösliche Form, die sogenannten „Peptone“, umgewandelt. Schon seit geraumer Zeit hat man versucht, Peptone künstlich herzustellen, um Kranke, deren Verdauung stark beeinträchtigt ist, zweckmäßig zu ernähren und den Magen zu entlasten oder ihm die Arbeit ganz abzunehmen. Wir haben im Handel eine ganze Anzahl von Peptonen, die sich bald durch diese, bald durch jene Vorzüge auszeichnen, obwohl es uns noch nicht gelungen ist, ein Erzeugniß herzustellen, das allen Anforderungen genügte, gut schmeckte und von den Kranken gern genommen würde. – Man setzt darum die Versuche fort und unter anderem hat man auch daran gedacht, mit Hilfe des Saftes der fleischfressenden Pflanzen Pepton zu erzeugen. Zu diesem Zwecke wurde der Traubenbaum (Carica Papaya), der in den Tropen wächst, gewählt, denn aus dem Safte der Blüthen und der Früchte derselben wurde ein Körper, Papain, abgeschieden, der eine große verdauende Wirkung besitzt. Ein Gramm desselben soll 3 Kilo Fleisch vollkommen lösen. Professor König in Münster war der erste, der die Anregung gab, Pflanzensäfte zur Darstellung von Peptonen zu benutzen, und diesem Winke folgte der bekannte Fleischextraktfabrikant Jaims Eibils. Er machte Versuche mit dem Papain und brachte ein „Papaya-Fleisch-Pepton“ in den Handel. Ueber den Werth desselben sprach sich neuerdings Dr. E. Rüger in der „Gesundheit“ günstig aus; man hatte das Papaya-Pepton Kranken verabreicht und war mit den erzielten Ergebnissen zufrieden; die betreffenden Aerzte bezeugen, daß dieses Pepton besser schmeckte als die bisher bekannten.
Der Zweck dieser Zeilen soll es nicht sein, gerade für dieses Pepton besonders einzutreten. Solche Fragen werden ja am zweckmäßigsten in Fachblättern erledigt. Unsre Leser sollten nur auf die gewiß eigenartige Verwendung der fleischverzehrenden Pflanzen aufmerksam gemacht werden; denn das ist doch eine Thatsache, die entgegen dem Spruche Ben Akibas wohl noch nicht dagewesen ist, wenn duftende Blumen für den kranken Herrn der Schöpfung die Fleischmahlzeit verdauen. *
Auf dem Holzwege. (Zu dem Bilde S. 713.) Man kannte ihn, den Grünrock! Es war nicht mit ihm zu spaßen, mochte man ihm nun draußen im Revier begegnen oder ihn im „Kruge“ treffen – er sah dort zuweilen dem Tanze zu, und ein überlegenes Lächeln „über die Thorheit der Jugend“ spielte dann wohl um seinen Mund – oder mochte man ihn im Forsthause aufsuchen, um etliche kernige Unhöflichkeiten „von Amtswegen“ in Empfang zu nehmen. Aber welcher Mensch hat nicht seine schwachen Seiten! Auch der Grünrock hatte sie. Und noch eine andere, als die genannten. Da war nämlich in der Nachbarschaft desselben ein Dirndl, eins, das anders war als alle sonst im Dorf: schmuck und sauber, fleißig und keck – das stach dem Grünrock in die Augen. Einmal traf er sie in den schattigen Buchenhallen draußen im Revier. Sie saß gerade am Wegrande, um sich auszuruhen, denn der große Tragkorb, den sie mit sich führte, war eine Last. Da faßte er einen Entschluß, da wollte er einmal – es ist wirklich ungelogen! – das Gegentheil von dem sagen, was man sonst von ihm zu hören gewohnt war: das sollte etwas Angenehmes sein, eine Schmeichelei, etwas – Galantes. Also los, Grünrock!
Aber da stand er, legte die Hand, die den derben Stock hielt, auf den Rücken, faßte mit der andern die Pfeife, schmauchte, lächelte verlegen, sah vor sich nieder und sagte – nichts, wenigstens lange nichts, und dann nicht, was er wollte. Ja, wer’s erklären könnte! Selbst der Maler hat, als er die Geschichte erzählte, nur nachdenklich gelacht und dabei gesagt: „Siehst, das ist er, der Grünrock, der galant sein wollte und es nicht fertig brachte, und das ist das Dirndl, das ihn perplex gemacht hat.“
Aber nach einer Weile hab’ ich’s herausbekommen, was es war, das den Grünrock in Verlegenheit setzte, und hab’ mir im Stillen gesagt: Freilich, grob sein kann schon eine herzensgute Seel’, aber galant sein, das ist schwer und ist um so schwerer, je besser man’s meint. Geradeaus, Grünrock, ist nicht nur der nächste Weg, sondern auch der einzige. **
Das Venus-Schnupftuch. Die Schnupftücher, die man sich jetzt nur dutzendweise kauft, waren im 15. Jahrhundert noch so selten, daß man sie vergebens in den Besitzlisten jener Zeit sucht, in welchen alle möglichen Tücher: Kopftücher, Betttücher, Handtücher etc., aber keine Schnupftücher angeführt werden. In den Frankfurter Patrizierfamilien gab zu Anfang des 16. Jahrhunderts die Braut dem Bräutigam ein reich gesticktes Taschentuch – das genügte damals. Im Laufe des genannten Jahrhunderts vermehrten sich die Schnupftücher sehr und gerne ließen sich vornehme Frauen mit einem Spitzentaschentuch in der Hand abkonterfeien. Aber noch im 17. Jahrhundert war man kein Freund vom Waschen der Schnupftücher, denn nur aus dieser Abneigung können wir uns die folgende Anweisung zur Herstellung der „Venus-Schnupftücher“, die sich in der „Schatzkammer Rarer und Neuer Curiositäten“ (Hamburg, 1683)[WS 1] befindet, erklären. Sie lautet: „Nehmet Kreiden von Brianzon oder Spanische Kreide ein halb vierthel, lasset dieselbige in einem Glaß-Ofen oder sonsten Calciniren, hernach vermischet sie mit guten Brandtewein oder Spiritu Vini, und lasset es sich vier und zwantzig Stunden lang wol mit ein ander vereinigen, hernach feuchtet euer Tücher damit an, und lasset sie im Schatten trocknen, ohne Staub, Sonnen, oder Feuer; es ist gut, daß man sie mit dieser Materie zu dreyenmahlen befeuchte, hernach behaltet sie trocken; diese Art ist die aller fürtrefflichste unter allen, so ich gesehen, und das Schnupff-Tuch wird fast niemahls unsauber.“ Daß der fortgesetzte Gebrauch dieser „niemals unsauber werdenden“ Schnupftücher aber recht appetitlich gewesen wäre, wird wohl niemand behaupten wollen. H. B.
Indianische Einladungsformulare. Will ein Häuptling der Waikasindianer in Britisch-Guyana ein Fest geben, so überdenkt er die Zahl seiner Freunde und schickt jedem eine Schnur, woran so viel Perlen aufgereiht oder so viel Knoten eingeknüpft sind, als noch Tage bis zu dem Fest vergehen müssen. Boten überbringen dem Stammesfreund die freudeverheißende Schnur, er befestigt sie sorgsam an seiner Hängematte im Wigwam und löst jeden Tag eine Perle ab oder einen Knoten auf. An dem letzten Tage, wenn die Schnur glatt herabhängt, legt er seinen Schmuck an, steigt zu Roß und begiebt sich nach dem Festorte, wo alle anderen Genossen ebenfalls pünktlich eintreffen, um sich dem langwierigen Programm der Tafel- und sonstigen Freuden mit Gründlichkeit zu unterziehen.
Diese werden wir ihnen nicht nachmachen, aber wie wäre es mit der eigenartigen „Einladungskarte“? Wir wollen hiermit den Gedanken derselben als etwas gründlich Neues für die nächste Saison den Fabrikanten und Zeichnern verrathen haben. Zeit und Gedächtniß, um Knoten und Perlen zu lösen, hat ja unsere vielbeschäftigte Jugend freilich nicht, dafür kann sie lesen; wie wäre es also, wenn man ihr zierliche Büchlein übersendete, nach dem System der Abreißkalender geordnet, mit so viel Blättern als noch Tage bis zum Feste vergehen sollen, auf denen je ein für die Sachlage passender Spruch Platz finden könnte. Z. B. am dritten oder vierten: Schreibe endlich die Zu- oder Absage an die Gastgeber! oder: Bringe heitere Laune und Liebenswürdigkeit mit, wenn du in Gesellschaft gehst, auf daß du dich und andere amüsirst! Welche Blüthenlese von Schönheiten sich gar auf diesen Blättern den Damen sagen ließe, das wollen wir nur von ferne andeuten; mögen diejenigen, welche es zunächst angeht, die Ausführung besorgen! Br.
Werthsteigerung durch menschliche Arbeit. Das Kilogramm feineres Puddeleisen kostet gegenwärtig etwa 6,3 Pfennig. Der daraus gefertigte Draht zur Herstellung von Nähnadeln kostet 10 Pfennig, gröbere Nadeln kosten 1 Mark 20 Pfennig, feinere bis zu 5 Mark 20 Pfennig das Kilogramm. Zur Erzeugung von Fischangeln dient ein Draht, dessen feinste Sorte auf mehr als 6 Mark zu stehen kommt; die Angeln selbst werden mit 300 Mark für das Kilogramm bezahlt.
Die zarteste Form des Eisens im Handel sind die stählernen haarfeinen Uhrfedern, von denen etwa erst 40 000 auf ein Kilogramm im Werthe von 8000 Mark gehen – ein Preis, der den des Goldes mehrfach übersteigt.
Peter H. in T. Man kann ganz wohl auch von einer „deutschen Wallonei“ reden. Die ehemalige Reichsabtei Malmedy wurde auf dem Wiener Kongreß getheilt: Stavelot (deutsch: Stablo), die westliche Hälfte, kam an die Niederlande und ist jetzt belgisch, Malmedy selbst fiel an Preußen. Dieses hat dadurch mit den zerstreut umher wohnenden Wallonen gegenwärtig etwa 10 000 wallonisch redende Einwohner. Malmedy, die Hauptstadt der deutschen Wallonei, in dem hochromantischen Thal der Warche gelegen, ist aus seiner früheren Abgeschlossenheit durch die Eisenbahn Aachen-St. Vith, von der eine Abzweigung nach Malmedy führt, herausgetreten und erfreut sich im Sommer eines großen Fremdenbesuchs. Noch immer ist die Umgangssprache das Wallonische, nach einigen dem Keltischen entstammend, nach andern – was wohl das Richtige ist – ein französisches Platt.
M. T. in L. Wir bitten um Angabe Ihrer Adresse, damit wir Ihnen brieflich antworten können.
E. M., Altena. Lassen Sie sich doch keinen solchen „Kohl“ weismachen!
Dr. Fr. Perrot in Mainz. Wie wir schon einmal betont haben, ist es nicht unsere Sache, Ihren Streit über die Priorität der Vorschläge bezüglich des sogenannten „Personenportos“ zu schlichten. Die erste Anregung in Deutschland brachte nach dem englischen Vorschlage in dem Artikel „Der Mensch ein Poststück“ die „Gartenlaube“, und zwar im Jahrgang 1868 (S. 735), also vor Ihrem Buche „Die Reform des Eisenbahn-Tarifwesens im Sinne des Pennyportos“, das erst 1869 erschien. Wir wollen indeß gern feststellen, daß Ihre Anregung der Zonentarife in Anwendung auf Personen- und Güterverkehr der Eisenbahnen wie auf Packetporto eben in das Jahr 1869 fällt, also um fast zwei Jahrzehnte früher als die 1888 von Dr. Eduard Engel neuangeregte Eisenbahnreform.
Frl. S. L. in Mannheim. Sie finden ein Bildniß und eine kurze Lebensbeschreibung W. Heimburgs in Nr. 39 des Jahrgangs 1884 der „Gartenlaube“.
E. P. Gr. in St. Paul. Ja.
P. S. in H. Ihr Brief ist leider so spät eingetroffen, daß die Antwort wohl für Sie keinen Werth mehr haben wird. Es verstreichen zwischen dem Einlauf der Anfrage bei uns und dem Erscheinen der Antwort immer mindestens 3 bis 4 Wochen, denn so lange braucht die „Gartenlaube“ zur Herstellung ihrer großen Auflage. Indessen theilen wir Ihnen trotzdem noch mit, daß als günstigste Jahreszeit allerdings Mitte Juli bis Mitte September gilt, daß Sie aber auch Mitte Oktober noch die angegebene Reise werden machen können, sofern Sie leidliches Wetter haben und auf eigentliche Hochtouren verzichten.
M. K. 112. Für die Aussprache des V in den von Ihnen angeführten Wörtern giebt es keine feste Regel. Der Gebrauch ist innerhalb Deutschlands ganz verschieden. Indessen muß man mit Rücksicht auf den lateinischen, beziehungsweise französischen Ursprung der Wörter die W-Aussprache für die richtigere erklären.
O. K., Creuznach. Wenden Sie sich gefl. an einen Rechtsanwalt.
Inhalt: Sicilische Rache. Ein Kulturbild aus den vierziger Jahren von A. Schneegans (Fortsetzung). S. 709. – Ein Enkel? Illustration. S. 709. – Athen und das neue Griechenland. Von P. v. Melingo. S. 714. – Von der Deutschen Allgemeinen Ausstellung für Unfallverhütung im Hause. S. 717. Mit Abbildungen S. 717 und 718. – Unter dem Glockenstuhl. Novelle von Gerhard Walter. S. 719. – Musikalischer Versuch. Illustration. S. 721. – Blätter und Blüthen: Künstler und Kritiker. Von Moritz Lilie. S. 723. – Fleischfressende Pflanzen im Dienste der Kranken. S. 724. – Auf dem Holzwege. S. 724. Mit Illustration S. 713. – Das Venus-Schnupftuch. S. 724. – Indianische Einladungsformulare. S. 724. – Werthsteigerung durch menschliche Arbeit. S. 724. – Kleiner Briefkasten. S. 724,
- ↑ Eine Drachme gilt etwa 80 Pfennig.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Digitalisate: Ausgabe von 1686 (2. Druck) Google, Ausgabe von 1689 (3. Druck) UB Erlangen-Nürnberg, jeweils auf Seite 71