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Die Gartenlaube (1888)/Heft 28

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[469]
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Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Wolfgangs äußere Erscheinung hatte entschieden noch gewonnen in den letzten drei Jahren; die Züge waren noch fester, männlicher geworden, die Haltung stolzer und energischer. Der junge Mann, der damals den ersten Fuß auf die Stufenleiter setzte, die ihn emporführen sollte, hatte es gelernt, zu steigen und zu befehlen: das sah man, aber trotzdem hatte das Selbstbewußtsein, das sich in seinem ganzen Auftreten kundgab, nichts Verletzendes; man empfing unwillkürlich den Eindruck, daß hier eine überlegene Natur das ihr zustehende Recht in Anspruch nahm.

Er hielt einen duftenden Blumenstrauß in der Hand, den er mit einigen artigen Worten der jungen Dame des Hauses übergab. Eine gegenseitige Vorstellung war nicht notwendig; denn Gersdorf hatte schon öfter mit dem Oberingenieur verkehrt, und Wally kannte ihn von Heilborn her, wo sie im vergangenen Sommer mit ihren Eltern gewesen war. Man plauderte eine Weile, blieb aber nicht lange beisammen; der Doktor ergriff die erste Gelegenheit sich zu empfehlen, und zehn Minuten später brach auch Wally auf. Sie wäre zwar gern noch geblieben, um ihr Herz gegen Alice auszuschütten, aber dieser Herr Elmhorst schien fürs erste nicht weichen zu wollen; trotz all seiner Artigkeit fühlte die kleine Baroneß doch, daß er ihre Anwesenheit als sehr überflüssig betrachtete; sie verabschiedete sich daher gleichfalls, aber draußen im Vorzimmer legte sie den Finger an das zierliche Näschen und sagte weisheitsvoll:

„Ich glaube – da drinnen entwickelt sich etwas!“

Sie mochte nicht unrecht haben, aber vorläufig ließ diese Entwicklung noch auf sich warten.

Alice hielt den prachtvollen Strauß von Kamelien und Veilchen in der Hand und athmete deren Duft ein, aber sie sah sehr gleichgültig dabei aus. Die reiche Erbin, die stets der Gegenstand allseitiger Bemühungen und Aufmerksamkeiten war, wurde mit Blumengaben überschüttet von allen Seiten; sie schien auch auf diese Artigkeit kein besonderes Gewicht zu legen. Wolfgang hatte ihr gegenüber Platz genommen und unterhielt sie in seiner lebhaften, anregenden Weise; er sprach augenblicklich von der neuen Villa, welche Nordheim im Gebirge hatte erbauen lassen und welche die Familie in diesem Sommer zum ersten Male bewohnen sollte.

„Bis zu Ihrer Ankunft wird auch die innere Einrichtung vollendet sein,“ sagte er. „Das Haus selbst war schon im Herbste fertig und die Nähe der Bahnlinie machte es mir möglich, alles persönlich zu überwachen und zu leiten. Sie werden sich bald genug an den Gebirgsaufenthalt gewöhnen, gnädiges Fräulein.“

„Ich kenne ihn ja bereits,“ erwiderte Alice, noch immer mit den Blumen beschäftigt. „Wir sind regelmäßig im Sommer in Heilborn gewesen.“

„In der großen Sommerpromenade der Residenz, mit einer Alpenlandschaft im Hintergrunde!“ spottete Elmhorst. „Das sind nicht die Berge; die werden Sie erst in Ihrem neuen Heim kennen lernen; die Lage ist herrlich, und ich schmeichle mir mit der Hoffnung, daß auch dies Heim selbst Ihnen gefallen wird, mein Fräulein. Es ist freilich nur eine einfache Villa im Gebirgsstil, aber das war mir ausdrücklich vorgeschrieben.“

„Papa meint, es sei ein kleines Meisterwerk der Baukunst,“ bemerkte Alice ruhig.


Wilhelm Raabe.

[470] Wolfgang lächelte und schob mit einer scheinbar zufälligen Bewegung seinen Sessel etwas näher heran.

„Es würde mich sehr freuen, wenn ich auch als Architekt Ehre einlegte mit meinem Werke. Es ist ja eigentlich nicht mein Fach, aber es handelte sich um Ihren Sommersitz, mein Fräulein, und den wollte ich keiner andern Hand überlassen. Ich erbat und erhielt von dem Herrn Präsidenten das Recht, das Bergschlößchen zu erbauen, das, wie er mir mittheilte, zu Ihrem ausschließlichen Eigenthum bestimmt ist.“

Der Hinweis war deutlich genug und auch das von dem Vater ertheilte Recht wurde leise und doch merklich hervorgehoben; aber die junge Dame erröthete weder dabei, noch gerieth sie in Verwirrung; sie sagte nur in ihrer matten gleichgültigen Weise:

„Ja, Papa hat mir die Villa zum Geschenk bestimmt; deshalb soll ich sie auch nicht eher sehen, als bis alles vollendet ist. Es war sehr freundlich von Ihnen, Herr Elmhorst, den Bau zu übernehmen.“

„Bitte, loben Sie mich nicht so unvorsichtig,“ fiel Wolfgang rasch ein: „Es war im Gegentheil sehr egoistisch, daß ich mich zu der Aufgabe drängte; denn jeder Baumeister fordert schließlich seinen Lohn, und meine Forderung wird Ihnen vielleicht allzu hoch erscheinen. Darf ich sie trotzdem aussprechen, eine Bitte aussprechen, die mir schon lange am Herzen liegt?“

Alice hob langsam die großen braunen Augen zu ihm empor; es war ein fragender, beinahe trauriger Blick, der in den schönen energischen Zügen des Mannes irgend etwas zu suchen schien. Dort stand allerdings lebhaft gespannte Erwartung, aber weiter auch nichts – und die fragenden Augen verschleierten sich wieder unter den langen Wimpern, ohne daß eine Antwort erfolgte.

Wolfgang schien das gleichwohl als eine Ermuthigung anzusehen; er erhob sich und trat an den Sessel des jungen Mädchens, während er fortfuhr:

„Sie ist kühn, diese Bitte, ich weiß es, aber ‚mit dem Kühnen ist das Glück!‘ Das sagte ich einst dem Herrn Präsidenten, als ich mir die erste Vorstellung bei Ihnen erbat; das ist mein steter Wahlspruch gewesen, und er soll es auch heute sein – wollen Sie mich anhören, Alice?“

Sie neigte leicht das Haupt und widerstrebte auch nicht, als er ihre Hand faßte und sie an seine Lippen zog. Er sprach weiter. Es war ein Antrag in aller Form, und er wurde in ehrfurchtsvoller ritterlicher Weise gestellt, während die klangvolle Stimme beredt genug die Worte unterstützte. Nur die Wärme fehlte darin; es war eine Bewerbung, keine Liebeserklärung.

Alice hörte schweigend, aber ohne Ueberraschung zu; es war ihr längst kein Geheimniß mehr, daß Elmhorst um sie warb, und sie wußte auch, daß ihr Vater, der sich anderweitigen Bemühungen gegenüber sehr ablehnend verhielt, gerade ihn begünstigte. Er gestattete dem jungen Manne einen Verkehr und eine Vertraulichkeit in seinem Hause, deren sich kein anderer rühmen durfte, und hatte schon verschiedene Male in Gegenwart seiner Tochter nachdrücklichst erklärt, Wolfgang Elmhorst habe eine bedeutende Zukunft vor sich und das gelte ihm unendlich mehr als die Wappenschilder vornehmer Herren, die mit fremdem Gelde den verblichenen Glanz ihres Namens wieder herstellen wollten. Alice selbst war viel zu passiv, um in diesem Punkte einen eigenen Willen zu haben; man hatte es ihr so auch von frühester Jugend an eingeprägt, daß eine wohlerzogene junge Dame sich nur nach Bestimmung der Eltern vermählen dürfe, und sie hätte in diesem so ganz korrekten Antrage sicher nichts vermißt, wenn Wally nicht auf die Idee gekommen wäre, sie feierlichst zum Schutzgeist ihrer Liebe zu erheben.

Es hatte doch so ganz anders geklungen, das Flüstern und Plaudern, das vorhin aus dem Erker zu der Lauschenden herüberdrang, dies Kosen, Trotzen, Schmeicheln des übermüthigen Mädchens, das gleichwohl mit ganzer Seele an dem viel älteren ernsten Manne hing! Und welche überströmende Zärtlichkeit kam von seinen Lippen! – Hier warb man respektvoll um die Hand der reichen Erbin, nur um ihre Hand, von dem Herzen war gar nicht die Rede gewesen!

Wolfgang hatte geendet und harrte auf Antwort; jetzt beugte er sich nieder und fragte vorwurfsvoll:

„Alice – haben Sie mir gar nichts zu sagen?“

Alice sah wohl ein, daß sie irgend etwas sagen müsse; aber sie war es nicht gewohnt, selbständig zu entscheiden, und ihre Antwort klang denn auch so, wie es einem Zöglinge der Frau von Lasberg zukam.

„Ich muß vor allen Dingen mit meinem Papa sprechen, was er bestimmt –“

„Ich komme soeben von ihm,“ fiel Elmhorst ein, „und ich komme mit seiner vollen Zustimmung und Erlaubniß. Darf ich ihm mittheilen, daß meine Bitten und Wünsche Erhörung gefunden haben? Darf ich ihm meine Braut zuführen?“

Alice sah auf, ebenso fragend und bang wie vorhin, dann erwiderte sie leise:

„Sie werden viel Nachsicht mit mir haben müssen. Ich bin oft und schwer krank gewesen in meinen Kinderjahren, und das liegt noch jetzt auf mir wie ein Druck, den ich nicht abwerfen kann. Sie werden auch darunter leiden, und ich fürchte –“

Sie brach ab, aber es lag etwas kindlich Rührendes in ihrem Ton, in dieser Bitte um Nachsicht aus dem Munde der jungen Erbin, die mit ihrer Hand einen fürstlichen Reichthum zu vergeben hatte. Wolfgang mochte das fühlen; denn zum ersten Mal während der ganzen Unterredung brach etwas wie Wärme aus seinem Innern hervor.

"Sprechen Sie nicht weiter, Alice! Ich weiß es ja, daß Sie eine zarte Natur sind, die behütet und geschützt werden muß, und ich werde Sie schützen vor jeder rauhen Berührung des Lebens. Vertrauen Sie mir, legen Sie Ihre Zukunft in meine Hand und ich verspreche es Ihnen bei meiner –“ Liebe hatte er sagen wollen; aber die Lüge wollte nicht über die Lippen des stolzen Mannes, der wohl berechnen, aber nicht heucheln konnte, er vollendete langsamer – „bei meiner Ehre, Sie sollen es nie bereuen!“

Die Worte klangen fest und männlich und es war ihm ernst damit. Das empfand auch Alice; willig legte sie ihre Hand in die seinige und duldete es, daß er sie in die Arme schloß. Die Lippen des Bräutigams berührten zum ersten Male die ihrigen; er sprach ihr seinen Dank, seine Freude aus, nannte sie seine theure Braut, kurz, die Verlobung vollzog sich in aller Form. Es fehlte nur eine Kleinigkeit dabei, jenes jubelnde Geständniß, das die kleine Wally vorhin zwischen Lachen und Weinen ausgesprochen hatte: „Ich habe Dich so lieb, so unendlich lieb!“




Die Festräume des Nordheimschen Hauses strahlten im hellsten Lichtglanze, man beging zugleich mit dem Geburtsfeste der Tochter deren Verlobungsfeier. Es war eine überraschende Neuigkeit für die Gesellschaft gewesen, die trotz aller Gerüchte und Klatschereien doch niemals ernstlich an diese Verbindung geglaubt hatte. Es war ja auch unerhört, daß ein Mann, der notorisch zu den Reichsten des Landes gehörte, die Hand seines einzigen Kindes einem jungen Ingenieur zugestand, der bürgerlich, aus den einfachsten Verhältnissen hervorgegangen und gänzlich vermögenslos, nichts besaß, als sein Talent, das ihm allerdings die Zukunft verbürgte.

Daß es sich hier um keine Herzensgeschichte handelte, wußte man; Alice galt überhaupt für sehr beschränkt und keiner tieferen Neigung fähig. Trotzdem war sie eine Partie ersten Ranges und die Nachricht ihrer Verlobung rief manche bittere Enttäuschung hervor in aristokratischen Kreisen, wo man sich um die Erbin bemüht hatte. Dieser Nordheim zeigte wieder einmal, daß er die Vorrechte gar nicht zu schätzen verstand, die sein Reichthum ihm gewährte. Er hätte seiner Tochter eine Grafenkrone damit erkaufen können; statt dessen suchte er sich den Schwiegersohn unter den Beamten seiner Bahngesellschaft. Man war förmlich entrüstet darüber; dennoch kam alles zum Feste, was überhaupt geladen war. Man wollte doch den Glückspilz kennenlernen, der all den vornehmen Bewerbern den Rang abgelaufen hatte und den das Schicksal so plötzlich auf die Höhen des Lebens erhob, indem es ihn zum dereinstigen Herrn über Millionen machte.

Es war kurz vor dem Beginn des Festes und soeben trat der Präsident mit dem Bräutigam in den großen Empfangssaal. Er war augenscheinlich in bester Laune und im besten Einvernehmen mit seinem künftigen Schwiegersohn.

„Du mußt Dich ja heute erst der Residenzgesellschaft vorstellen, Wolfgang,“ sagte er. „Bei Deinen kurzen flüchtigen Besuchen hast Du immer nur in unserer Familie verkehrt. Jetzt knüpfen sich auch für Dich all diese Beziehungen an, da Ihr Euren künftigen Wohnsitz hier nehmen werdet. Alice ist an das [471] großstädtische Leben gewöhnt und Du wirst auch nichts dagegen einzuwenden haben.“

„Gewiß nicht, Papa,“ versicherte Wolfgang. „Ich liebe es sehr, im Mittelpunkte dieses großartigen Lebens und Treibens zu stehen, es vertrug sich bisher nur nicht mit meinen Berufspflichten. Daß es in Zukunft möglich sein wird, sehe ich freilich an Deinem Beispiel. Du leitest ja von hier aus Deine sämmtlichen Unternehmungen.“

„Diese Thätigkeit fängt aber nachgerade an, erdrückend zu werden,“ versetzte Nordheim. „Ich habe es in der letzten Zeit doch gefühlt, daß ich einer Stütze bedarf, und rechne darauf, daß Du mich theilweise entlastest. Vorläufig bist Du allerdings noch unentbehrlich bei Vollendung der Bahnlinie; der Chefingenieur mit seiner zunehmenden Kränklichkeit giebt ja eigentlich nur den Namen her für die oberste Leitung.“

„Ja, sie ruht tatsächlich in meinen Händen, und wenn er ganz zurücktritt – ich weiß, daß er ernstlich mit dem Gedanken umgeht – so habe ich Dein Wort, Papa, daß ich sein Nachfolger werde.“

„Gewiß, und ich denke, diesmal wird man mir keine Schwierigkeiten dabei machen. Es ist freilich wohl das erste Mal, daß ein Mann in Deinen Jahren an die Spitze eines solchen Unternehmens gestellt wird; aber Du leistest mit der Wolkensteiner Brücke Dein Probestück, und meinem künftigen Schwiegersohne darf man die erste Stellung überhaupt nicht verweigern.“

„Du giebst mir viel mit diesem Familienbande, Papa, ich weiß es,“ sagte Elmhorst ernst, „unendlich viel – ich kann Dir nur einen Sohn dafür geben.“

Die Augen des Präsidenten ruhten nachdenklich auf dem Antlitz des Sprechenden, und mit einem Anflug von Wärme, der bei dem kühlen Geschäftsmann äußerst selten war, entgegnete er:

„Ich hatte einen einzigen Sohn, an den sich all meine Pläne und Hoffnungen knüpften; er starb schon im Kindesalter und es ist mir oft ein bitterer Gedanke gewesen, daß irgend ein vornehmer Nichtsthuer die Früchte meiner Arbeit ernten und vergeuden könne, wo ich gesammelt habe. Zu Dir habe ich ein besseres Vertrauen; Du wirst fortführen und erhalten, was ich schuf, wirst vollenden, was ich vielleicht unfertig zurücklassen muß; in Deine Hände kann ich dereinst auch mein geistiges Erbe legen.“

„Und ich werde es zu wahren wissen,“ ergänzte Wolfgang mit einem festen Händedruck, der ebenso erwidert wurde. Es fanden sich ja hier zwei durchaus gleichartige Naturen zusammen; aber es war doch ein merkwürdiges Gespräch bei der Verlobungsfeier in Erwartung der jungen Braut. Die beiden sprachen ausschließlich von ihren Angelegenheiten und Plänen; Alice wurde dabei gar nicht erwähnt. Der Vater forderte alles Mögliche von seinem künftigen Schwiegersohn; das Glück seiner Tochter zu fordern fiel ihm nicht ein, und der Bräutigam, der so klar die Vorteile dieses „Familienbandes“ erkannte, nannte nicht einmal den Namen seiner Braut. Sie redeten von Bauten und Brücken, von dem Chefingenieur und der Bahngesellschaft, so kühl und geschäftsmäßig, als ob es sich um eine Kompagnonschaft handelte, die heute zwischen ihnen abgeschlossen wurde, und im Grunde war es so auch nichts anderes; sie hätten beide die Verwandtschaft dabei entbehren können. Die Herren wurden aber jetzt unterbrochen; es trat ein Diener heran, um den Befehl des Präsidenten bei einer Anordnung der Tafel zu erbitten, und Nordheim fand es für nöthig, selbst in den Speisesaal zu gehen, um die Entscheidung an Ort und Stelle zu treffen.

Es war noch zu früh für die Ankunft der Gäste und auch die Damen des Hauses zeigten sich noch nicht. Die Diener waren bei der Tafel beschäftigt oder schon auf ihren Posten in den Vorzimmern und Wolfgang befand sich augenblicklich allein in den Gesellschaftsräumen, welche das ganze oberste Stockwerk des Hauses einnahmen.

Von dem großen Empfangssaal, mit seinen purpurfarbenen Tapeten und Sammetvorhängen, zwischen denen überall die reichste Vergoldung blitzte, übersah man die ganze Flucht dieser Räume, eine Reihe von Gemächern, deren Pracht gerade jetzt, wo sie noch leer und einsam waren, um so blendender hervortrat. Ueberall eine verschwenderische Fülle von kostbaren Gegenständen; überall Gemälde, Statuen und sonstige Kunstwerke, von denen jedes einzelne ein kleines Vermögen gekostet hatte, und am Ende der langen Zimmerreihe, wie ein märchenhafter Abschluß all dieses Glanzes, der nur matt erhellte Wintergarten, der eine exotische Pflanzenwelt von seltener Pracht barg. In der nächsten Stunde füllten sich diese lichtstrahlenden blumendurchdufteten Säle mit den ersten Persönlichkeiten der Residenzgesellschaft, die sämmtlich im Hause des Eisenbahnfürsten verkehrten.

Wolfgang stand regungslos da und ließ seine Blicke langsam umherschweifen. Es war in der That ein berauschendes Gefühl, sich als Sohn dieses Hauses zu wissen, als dereinstiger Erbe all dieser Herrlichkeit. Man konnte es dem jungen Manne nicht verdenken, daß seine Brust sich stolzer hob und seine Augen triumphirender aufblitzten. Er hatte das Wort gelöst, das er sich selbst gegeben, und den kühnen Plan verwirklicht, den er einst dem Freunde anvertraute; er hatte den Flug gewagt und die Höhe erreicht. In dem Alter, wo andere erst anfangen, sich ihre Zukunft zu erbauen, riß er sie mit einem kühnen Griffe vollendet an sich. Jetzt stand er droben auf dem einst erträumten Gipfel, und sie nahm sich schön aus, die Welt, die da unten zu seinen Füßen lag.

Da wurde die Thür des Saales geöffnet; Elmhorst wandte sich um und that einige Schritte dorthin, blieb aber plötzlich stehen; denn statt seiner Braut, die erwartet wurde, trat Erna von Thurgau ein. Sie sah jetzt freilich anders aus, als damals, wo sie mit dem verirrten Bergwanderer an den Abhängen des Wolkenstein zusammentraf. Das ungestüme Kind, das in seinen Bergen so frei und fessellos aufgewachsen war, hatte nicht umsonst drei Jahre in dem vornehmen Hause des Onkels gelebt und die „Dressur“ der Frau von Lasberg über sich ergehen lassen.

Die kleine Alpenrose hatte sich in eine junge Dame verwandelt, die mit vollendeter Grazie, aber auch mit vollendeter Förmlichkeit, die Verneigung Wolfgangs erwiderte; aber schön war sie geworden, blendend schön!

Die einst so kindlichen Züge hatten sich zur vollsten Regelmäßigkeit entwickelt; sie blühten auch jetzt noch in rosiger Frische; aber es lag ein Hauch von Ernst und Kälte darauf, den das frohe, übermüthige Kind des Freiherrn von Thurgau nie gekannt hatte, und auch die Augen leuchteten nicht mehr in unbekümmerter, lachender Jugendlust. Jetzt barg sich etwas anderes in diesen feuchten schimmernden Tiefen, rätselhaft wie die Fluthen der heimischen Bergseen, von denen sie ihre Farbe entlehnten, und geheimnißvoll und mächtig anziehend wie diese Fluth selbst. Jedenfalls war es eine hohe stolze Erscheinung, die da im blendenden Glanze des Kronleuchters stand, in dem duftigen weißen Gewande, das nur einzelne Seerosen schmückten. Den gleichen Schmuck trug das Haar, das freilich nicht mehr in wilden Locken um die Stirn flatterte; aber die Mode erlaubte ihm doch, seine ganze Fülle zu zeigen, und die mattschimmernde weiße Blume lag wie hingestreut in den blonden Haarwellen.

„Alice und Frau von Lasberg werden sogleich erscheinen,“ sagte sie, vollends in den Saal tretend. „Ich glaubte, der Onkel sei schon hier.“

„Er ist augenblicklich im Speisesaale,“ versetzte Elmhorst, dessen Begrüßung ebenso förmlich gewesen war wie die ihrige.

Erna machte eine Bewegung, als wolle sie dem Präsidenten dorthin folgen; es schien ihr aber doch einzufallen, daß dies eine Unhöflichkeit gegen den nunmehrigen Verwandten sei; sie blieb stehen und sandte einen prüfenden Blick durch die lange Zimmerreihe.

„Sie sehen die Festräume ja wohl zum ersten Male in ihrem vollen Glanze, Herr Elmhorst? Sie sind schön, nicht wahr?“

„Sehr schön! Und wenn man, wie ich, aus der winterlichen Einsamkeit der Berge kommt, machen sie einen geradezu blendenden Eindruck.“

„Mich hat es auch geblendet, als ich hierherkam,“ sagte die junge Dame gleichgültig; „aber man gewöhnt sich sehr leicht an derartige Umgebungen; die Erfahrung werden Sie auch machen, wenn Sie Ihren künftigen Wohnsitz hier nehmen. Es bleibt also dabei, daß Ihre Vermählung mit Alice erst in einem Jahre gefeiert wird?“

„Allerdings – im nächsten Frühjahr.“

„Das ist ein etwas langer Termin. Sind Sie wirklich damit einverstanden?“

Dem Bräutigam schien merkwürdigerweise dies Gespräch über seine Vermählung lästig zu sein. Er betrachtete angelegentlich eine große Majolikavase, die in seiner Nähe stand, und erwiderte, offenbar bestrebt, auf ein anderes Thema überzugehen:

„Ich muß es wohl sein, da ich vorläufig weder über meine Zeit, noch über meinen Aufenthalt frei verfügen kann. Es handelt sich zunächst um die Vollendung der Gebirgsbahn, deren Oberingenieur ich bin.“

[472] „Sind Sie denn so fest gebunden?“ fragte Erna mit leisem Spott. „Ich sollte meinen, es könnte Ihnen nicht schwer werden, sich frei zu machen.“

„Frei zu machen – wovon?“

„Von einem Berufe, den Sie später doch jedenfalls aufgeben werden.“

„Nehmen Sie das als so selbstverständlich an, gnädiges Fräulein?“ sagte Wolfgang, gereizt durch ihren Ton. „Ich wüßte in der That nicht, was mich dazu veranlassen sollte.“

„Nun, einfach die Stellung, die Sie in Zukunft einnehmen – als Gemahl von Alice Nordheim.“

Die Stirn des Oberingenieurs färbte sich dunkelroth und ein drohender Blick traf die junge Dame, die es wagte, ihn daran zu erinnern, daß er eine Geldheirath machte. Sie lächelte zwar und ihre Bemerkung klang scherzhaft; aber ihre Augen redeten eine andere, verächtlichere Sprache, die er nur zu gut verstand. Doch Wolfgang Elmhorst war nicht ein Mann, den man so ohne weiteres mit der Verachtung des Glücksritterthums abfertigen konnte; er lächelte gleichfalls und erwiderte mit kühler Artigkeit:

„Ich bedaure sehr, mein Fräulein, aber da befinden Sie sich doch im Irrthum. Mir ist der Beruf, die Arbeit ein Lebensbedürfniß; zum thatenlosen trägen Genuß des Lebens bin ich nicht geschaffen. Das scheint Sie allerdings zu befremden –“

„Durchaus nicht,“ fiel Erna ein. „Ich begreife es vollkommen, daß ein echter Mann sich einzig und allein auf die eigene Kraft stellt.“

Wolfgang biß sich auf die Lippen, aber er parirte auch diesen Schlag.

„Ich darf das wohl als ein Kompliment nehmen. Ich habe mich allerdings ganz auf meine eigene Kraft gestellt, als ich den Plan zu der Wolkensteiner Brücke entwarf, und ich hoffe, mit meinem Werke Ehre einzulegen, selbst als ‚Gemahl von Alice Nordheim‘. Doch Verzeihung, das sind Dinge, die eine Dame nicht interessiren können.“

„Mich interessiren sie,“ sagte Erna herb. „Es war ja mein Vaterhaus, das dieser Brücke weichen mußte, und Ihr Werk hat noch ein anderes, schwereres Opfer von mir gefordert.“

„Das mir nie verziehen worden ist, ich weiß es,“ ergänzte Wolfgang. „Sie lassen mich noch immer einen unseligen Zufall büßen und Ihr Gerechtigkeitsgefühl mußte Ihnen doch sagen, daß ich den Vorwurf nicht verdiene.“

„Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Herr Elmhorst.“

„Sie haben ihn mir gemacht, in jener verhängnißvollen Stunde, und Sie thun es noch heute.“

Erna gab keine Antwort, aber ihr Schweigen war beredt genug. Elmhorst schien doch eine, wenn auch nur formelle Abwehr erwartet zu haben; denn in seiner Stimme verrieth sich eine aufquellende Bitterkeit, als er fortfuhr:

„Ich habe es selbst am meisten beklagt, daß grade ich dazu ausersehen wurde, die letzte Verhandlung mit Baron Thurgau zu führen. Geführt mußte sie unter allen Umständen werden, und ihr trauriger Schluß lag außerhalb jeder menschlichen Berechnung. Nicht ich, mein Fräulein, die eiserne Nothwendigkeit verlangte das Opfer Ihres Vaterhauses; die Wolkensteiner Brücke ist daran ebenso unschuldig wie ich selbst.“

„Ich weiß es,“ erklärte Erna kalt; „aber es giebt Fälle, in denen man nun einmal nicht gerecht sein kann; das sollten Sie einsehen, Herr Elmhorst. Sie sind jetzt ein Glied unserer Familie geworden und dürfen überzeugt sein, daß ich Ihnen keine einzige der Rücksichten verweigern werde, die der nunmehrige Verwandte fordern darf – über meine Gefühle habe ich niemand Rechenschaft zu geben.“

Wolfgang richtete den Blick voll und finster aus ihr Gesicht.

„Das heißt mit andern Worten: Sie hassen mein Werk und – mich?“

Erna schwieg; sie hatte längst den Kindertrotz abgelegt, mit dem sie einst dem fremden Manne ins Gesicht sagte, daß sie ihn nicht leiden mochte, mit dem sie voll Empörung seinen Spott über ihre Bergsagen zurückwies. Die junge Dame wußte jetzt sehr genau, daß sich das nicht schicke, und sie stand auch in vollkommen ruhiger Haltung vor ihm, mit unbewegten Zügen. Aber ihre Augen hatten es noch nicht verlernt, aufzuflammen, und was in diesem Moment daraus hervorbrach, verrieth, daß die stürmische Natur des Mädchens nur äußerlich gebändigt war, daß sie noch unberührt in der Tiefe schlummerte. Sie flammten wie Blitze, diese Augen, und sprachen ein glühendes, energisches Ja zu der letzten Frage, wenn auch die Lippen stumm blieben.

Wolfgang konnte das unmöglich mißverstehen, und doch hing sein Blick an diesen feindseligen, dunkelblauen Tiefen, als hätten sie die Macht, ihn festzuhalten, freilich nur einige Sekunden; dann wandte sich Erna ab und sagte in leichtem Tone.

„Wir sind wahrhaftig in ein seltsames Gespräch gerathen! Wir reden von Opfern, von Haß und Vorwürfen, und das alles an Ihrem Verlobungstage!“

Wolfgang trat mit einer raschen, beinahe heftigen Bewegung zurück.

„Sie haben recht, gnädiges Fräulein – reden wir von anderen Dingen!“

Sie redeten gleichwohl nicht; es trat vielmehr ein Schweigen ein, das drückend war für beide. Die junge Dame hatte sich niedergelassen und studirte angelegentlich die Zeichnung ihres Fächers, während ihr Gefährte auf die Schwelle des nächsten Gemaches trat und noch einmal die Prachträume zu mustern schien; aber seine Züge verriethen jetzt nichts mehr von der stolzen Genugthuung, die er eine Viertelstunde vorher bei dieser Musterung empfunden hatte; es lag ein tief gereizter Ausdruck auf denselben.

Da öffnete sich die Thür des Empfangssaales von neuem; Alice und Frau von Lasberg traten ein.

(Fortsetzung folgt.)




Der Hypnotismus, sein Nutzen und seine Gefahren.
2. Schädigung der Gesundheit durch Mißbrauch der Hypnose.

Als im Beginn der achtziger Jahre der Magnetiseur Hansen die europäischen Großstädte durchzog und die Demonstrationen hypnotischer Erscheinungen die Gemüther der gelehrten und ungelehrten Welt erhitzten, waren es nur einige wenige, welche in den Schaustellungen des abenteuernden Dänen nicht den mit bezahlten Subjekten getriebenen unheimlichen Unfug, sondern höchst reale Vorgänge sahen, deren Wesen und Tragweite der englische Chirurg James Braid bereits vor vier Decennien in einer Reihe trefflicher Schilderungen beschrieben hatte. Es konnte dann auch bei der Unkenntniß der Braidschen Werke geschehen, daß Physiker und Physiologen ausgedehnte hypnotische Versuche anstellten, deren Resultate als Neuentdeckungen gepriesen wurden; es konnte geschehen, daß die deutschen Polizeibehörden dem gefährlichen Treiben Hansens und seiner Nachahmer geduldig zusahen.

Je mehr sich aber dann die Berufenen mit dem Studium der hypnotischen Phänomene beschäftigten, je eifriger die Publikationen der älteren ärztlichen Hypnotiseure aus dem Dunkel der Bibliotheken herausgesucht wurden; um so mehr stellte sich die Gefährlichkeit der hypnotischen Laienexperimente heraus, erwiesen sich die öffentlichen Vorstellungen als nicht nur die Gesundheit gefährdend, sondern in gleicher Weise das Rechtsbewußtsein, die Moral und die Sittlichkeit aufs allerempfindlichste verletzend.

Der Unfug blühte trotzdem weiter; aller Orten thaten sich Hypnotiseure und Heilmagnetiseure auf, die bei dem Hange der Menschen zum Mysteriösen stets gläubige Seelen und offene Geldbeutel finden; ja das Unglaubliche geschah: der todtgesagte Hansen, den die Lorbeeren und die pekuniären Erfolge seines ehemaligen Unternehmers, des früheren Theaterdirektors „Theo“ Böckert nicht ruhen ließen, tauchte wieder auf, und Beide, welche sich ehedem in heftiger Fehde getrennt, weil sie sich von einander übervortheilt wähnten, hypnotisirten in kollegialer Eintracht die wundersüchtigen Einwohner der deutschen Metropole.

Die Behörde schritt auch im Jahre 1887 nicht ein, wie sie im Jahre 1880 geduldig abwartend bei Seite gestanden hatte; sie ließ es zu, daß Hansen öffentlich bekannt machte, er unterrichte jeden seine Vorstellungen Besuchenden, so daß der solcher Art Eingeweihte fortan als Hypnotiseur thätig sein könne, und erst erneute Skandale während der Hansen-Böllertschen Schaustellungen

[473]

Das Maria-Theresia-Denkmal in Wien.
Nach einer Photographie von M. Frankenstein u. Komp. in Wien.

[474] zeitigten das Verbot der öffentlichen Demonstrationen, ein Verbot, welches seit Jahren in Oesterreich, Italien und Frankreich besteht.

Ebenso waren es Skandale schlimmster Art, welche einen Erlaß des Großherzoglich badischen Ministeriums nöthig machten, nach welchem jede öffentliche hypnotische Schaustellung, jedes Hypnotisiren in geschlossen Gesellschaften und an solchen Orten, die dem Publikum zugänglich sind, bei Strafandrohung untersagt ist. Diese Skandale sind für die Geschichte der hypnotischen Mißbräuche in Deutschland so charakteristisch, daß sie in einem nachfolgenden Artikel ausführlich geschildert werden sollen.

Für den badischen und den preußischen Erlaß waren vornehmlich der mit den Hypnotisirten getriebene Unfug, das öffentliche Aergerniß, maßgebend; man übersah oder verkannte die bei weitem größeren Gefahren, welche die Hypnose in civil- und strafrechtlicher Beziehung, vor allem aber für Leib und Leben der Versuchspersonen im Gefolge haben kann.

Ungleich wichtiger als die juristischen Beziehungen erscheint den Aerzten die Gesundheitsschädigung durch die laienhafte Anwendung der Hypnose. Hier bergen sich Gefahren, die uns in ihrer ganzen Größe bis jetzt noch unbekannt sind. Die Aerzte stehen von einer Durchführung der Hypnose ab, sobald Athmung und Pulsfrequenz unregelmäßiger werden, sobald irgend welche abweichenden Erscheinungen in den sog. Primär-Symptomen ein Bedenken wegen übler Folgen aufkommen lassen.

Anders die Laienhypnotiseure. Ohne Wahl werden die sich zu den Versuchen meldenden Individuen, deren Gesundheitszustand dem Experimentator völlig unbekannt, den Manipulationen unterworfen, allen möglichen Rohheiten ausgesetzt und in so jäher Weise dehypnotisirt, d. h. aus dem hypnotischen Schlaf geweckt, daß tagelang die übeln Nachwirkungen mit Kopfschmerz, Muskelzittern etc. zu verspüren sind. So in den günstigen Fällen. Schlimmer da, wo eine vorher verborgene Krankheit durch die Beeinflussung des Centralnervensystems, welches bekanntlich den Angriffspunkt für die den hypnotischen Zustand erzeugenden Reize abgiebt, zum jähen Ausbruch kommt, oder wo organische Fehler die Ursache eines tödlichen Ausganges abgeben können.

In einem berühmten deutschen Kurorte wirken seit einigen Jahren zwei „Magnetopathen“, der eine von ihnen war ehedem Feldwebel, der andere Volksschullehrer. Beide erfreuen sich eines großen Zulaufes, und da es an präcisen gesetzlichen Bestimmungen fehlt, kann, obwohl Amtmann und Bezirksarzt den besten Willen dazu haben, dem Schwindel nicht gesteuert werden, weil die Wunderdoktoren schlau genug sind, keinerlei Handhabe zum Einschreiten zu bieten. Skandalöserweise bediente sich der eine Magnetopath zu seinen Kuren eines kleinen Mädchens, welches er kataleptisch machte, als Medium für die auf den Patienten auszuströmenden Kräfte.

Wiederholt ist ärztlicherseits auf die nachtheiligen Folgen der Laienhypnose hingewiesen, aber die Warnungen verhallen nutzlos; die Herren Hypnotiseure und Heilmagnetiseure üben nach wie vor ihr strafwürdiges Handwerk ohne jede Einschränkung.

So trieb beispielsweise noch vor kurzem ein ehemaliger Barbier in einer norddeutschen Stadt als „Anti-Magnetiseur“ sein Unwesen, und nach einem vorliegenden Berichte „ist bei der Auswahl der geeigneten Medien der bedauernswerthe Fall eingetreten, daß einer der Herren, welche sich freiwillig gemeldet, in Krämpfe verfallen war und fortgetragen werden mußte.“

Ein französisches Tribunal verurtheilte im vorigen Jahre einen Laien, der einen Knaben hypnotisirt hatte, da infolge dessen Krämpfe bei demselben auftraten, zu einer Geldbuße von 1200 Franken. Auch die Strafkammer des Landgerichts Karlsruhe verurtheilte einen Hypnotiseur zu 14 Tagen Gefängniß, weil er einen 19 Jahre alten Burschen, ohne dessen Einwilligung, in Hypnose versetzt hatte. Das Bezirksamt hatte den Hypnotiseur wegen „groben Unfugs“ zu 20 Mark verurteilt, wogegen der Angeklagte Berufung einlegte. Das Schöffengericht erblickte jedoch in dieser neuen Kunst eine Freiheitsberaubung und fahrlässige Körperverletzung, weswegen die Angelegenheit an die Strafkammer verwiesen und wie oben angegeben erkannt wurde.

Von einem andern Hypnotiseur, der, seines Zeichens Lithograph, im vorigen Sommer öffentliche Vorstellungen gab, schrieb unlängst eine hochangesehene Zeitung: „Er betreibt diesen neuen Sport als Liebhaberei!“

Ein sonderbarer Sport, bei dem die Gesundheit der Mitmenschen leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird!

Eine junge Künstlerin unterzog sich wiederholten Versuchen mit einem der reisenden Hypnotiseure, und auch hier blieben die Folgen nicht aus. Das beklagenswerthe Opfer kränkelte, wurde bleichsüchtig, und da von Stund an eine hochgradige Gedächtnisschwäche Platz gegriffen hatte, mußte die zu den schönsten Hoffnungen berechtigte junge Dame ihre fernere Bühnenthätigkeit aufgeben.

Eine fast konstante Erscheinung bestimmter Grade der Hypnose ist infolge der gesteigerten Reflexerregbarkeit aller quergestreiften Muskeln die totale Katalepsie, ein pathologischer Zustand, der in allen Fällen zur äußersten Vorsicht zwingt und zur schnellen Dehypnose nötigt, will man sich nicht der Leichtfertigkeit oder gar einer fahrlässigen Tödtung schuldig machen.

Der Kaufmann Fr. in R–burg ließ sich vor Jahren „des Ulkes wegen“ von einem Laien in Hypnose versetzen. Nach kaum vier Minuten war der Körper ganz steif, die bekannten Kunststückchen wurden demonstrirt, indem Fr., nur mit Fersen und Hinterhaupt auf zwei Stühlen aufliegend, die ganze auf Bauch und Oberschenkel ruhende Last seines Experimentators minutenlang ertrug etc., und als dieser nun sein „Medium“ dehypnotisiren wollte, ließen ihn seine Künste im Stich, Herr Fr. erwachte einfach nicht. Der hinzugerufene Arzt verbrachte das Medium in einen Nebenraum, leitete eine künstliche Respiration ein, während welcher der Kataleptische plötzlich und mit einem Tobsuchtsanfall erwachte. Am folgenden Tage berichtete Herr Fr., er sei erst vor kurzer Zeit aus dem Militärlazareth als untauglich zum Weiterdienen bei den schweren Reitern entlassen worden. Fr. war bei einer Uebung gestürzt, hatte einen Hufschlag auf die Brust erhalten und innere Verletzungen davongetragen, diese Umstände aber dem Hypnotiseur verschwiegen.[1]

Der Nachahmungstrieb und die Lust, für einen Wundermann gehalten zu werden, verführt die meisten Laien, ihren ehrlichen Beruf mit dem eines Heilmagnetiseurs oder Hypnotiseurs zu vertauschen, sofern nicht der lockende und leichte Gewinn den wesentlichen Trieb abgiebt, sich zum Retter der leidenden Menschheit aufzuwerfen.

Wie Hansen als achtjähriger Knabe zufällig Zeuge eines magnetischen Einschläferungsversuches war und er seit dieser Zeit, die Manipulationen, die er mitangesehen, nachahmend, die Goldgräber Australiens, die Zulukaffern wie die civilisirten Nationen in Hypnose versetzte, so wurde die Schuljugend Pforzheims, die Bauern im Dorfe Toloz, so wurden jene Kinder, die in der Charcotschen Klinik behandelt werden mußten, zum hypnotischen Unfug verleitet.

Im November 1886 hatte in Chaumont ein Magnetiseur Zaubervorstellungen gegeben, welche eine Art von aktiver hypnotischer Manie zur Folge hatten, die sogar bis in die Schule der Stadt eindrang. Mehrere Schüler hypnotisirten ihre Kameraden, trieben allerhand Albernheiten, und es traten bei den Burschen verschiedene Nervenleiden auf, die eine ärztliche Behandlung nothwendig machten. So bei einem zwölfjährigen Knaben, der, ohne erblich belastet zu sein und obwohl er auch niemals vordem irgend welche nervöse Störungen erkennen ließ, in das Hospital gebracht werden mußte, da er jetzt plötzlich streng formulirten hypnotischen Anfällen, die sich täglich wiederholten, unterworfen war. Auch bei dem jüngeren vierjährigen Bruder desselben traten die gleichen Erscheinungen mit Kopfschmerz, Hämmern in den Schläfen, Ohrensausen, Verdrehungen und Verkrümmungen auf, und die Sorge der armen Eltern nahm erst ein Ende, als am letzten April des vorigen Jahres beide Kinder genesen aus der Charcotschen Behandlung entlassen wurden.

Die „Gartenlaube“ wird in dem nächsten Artikel ein Bild hypnotischen Unfugs in einer deutschen Stadt aufrollen, wie es lehrreicher wohl nicht zu finden wäre und aus welchem unsere Leser noch deutlicher als aus den vorhergegangenen Artikeln die Unzulässigkeit der von Laien betriebenen hypnotischen Versuche und Spielereien erkennen werden. [475]

Mein Kind.


Schnell sind die Jahre vergangen –
Doch denk’ ich der bangen Nacht,
Als Du, jubelnd empfangen,
Zum Leben einst erwacht;

5
Mit freudezitterndem Munde

Küßt’ ich Dich inniglich
Und sprach aus Herzensgrunde:
Mein Kind, Gott segne Dich!

Festlich die Glocken erklangen,

10
Es schmückte Dein Haupt der Kranz;

Hoch glühten Deine Wangen,
Feucht war des Auges Glanz.
Eng hielt ich Dich noch umschlungen,
Und Wehmut mich beschlich;

15
Schwer hat sich’s mir entrungen:

Mein Kind, Gott segne Dich!


Schon lange bist Du geschieden,
Und ich blieb sehnend zurück;
In Deines Hauses Frieden

20
Wiegst Du Dein schönstes Glück;

Doch ob Dein Leben und Lieben
Sucht neue Bahnen sich,
Du bist mir doch geblieben:
Mein Kind, Gott segne Dich!

Albert Traeger




Wilhelm Raabe.
Von Wilhelm Goldbaum.


Das ist nun auch wieder schon dreißig Jahre her, seitdem ich die „Chronik der Sperlingsgasse“ gelesen. Man kommt sich so alt vor, wenn die Erinnerung bereits mit solchen Ziffern arbeitet, und der Dichter erscheint einem beinahe wie ein Rübezahl mit wallendem weißen Barte und bemoostem Stabe in der Hand, obwohl er ganz und gar noch zu den modernsten Erzählern gehört, ungeschwächt an Kraft der Erfindung und Darstellung. Damals – vor dreißig Jahren – nannte er sich Jakob Corvinus, vermuthlich, weil er als Neuling erst ungekannt seine Flügel erproben wollte, und als ihm der erste, der zweite, der dritte Flug vortrefflich gelungen war, da kam allmählich sein wahrer, nicht latinisirter Name Wilhelm Raabe zu Tage. Ich weiß nicht genau, wann es zum ersten Male geschah, daß der Poet seine Maske lüftete; aber ich weiß, daß es lange dauerte, bis ich Wilhelm Raabe und Jakob Corvinus als die nämliche Person zu betrachten mich gewöhnte, weil es mir schier als ein zu großer Reichthum in Eines Besitzers Hand bedünkte, der funkelnd und blitzend durch diese Geschichten rollte. Als bartloser Knabe trug ich verstohlen die „Chronik der Sperlingsgasse“ aus der Leihbibliothek nach Hause – es war nicht lange nach dem Krimkriege – und heute, nachdem inzwischen unter dem dröhnenden Tritte der Geschichte die Welt und die Menschen ein anderes Gesicht bekommen haben, finde ich es fast wunderlich, daß der alte, treue Johannes Wachholder von der Sperlingsgasse noch immer lebendig und leibhaftig vor mir dasteht, als gäbe es für ihn kein Sterben. Oder sollte er wirklich unvergeßlich sein für diejenigen, denen er einmal begegnete, obgleich sein erstes Wort, mit dem er sich überall vorstellte, eine wehmüthige Klage über sein Alter war: „Ich bin ein einsamer alter Mann geworden“?

Ach Gott, mit dem Alter ist es ein seltsames Ding; das graue Haar ist es nicht, in dem es sich offenbart, und unter denen, die immer jung bleiben, sind die Humoristen am unverwüstlichsten.

Nichts Müßigeres giebt es, als tiefsinnig über das Wesen des Humors zu grübeln. Witz, Satire, Sarkasmus haben wenig mit dem Humor zu schaffen, so wenig wie der Verstand mit dem Herzen, der Kritiker mit dem Poeten etwas zu schaffen hat. Aber befreie dich, du mühseliges Menschenkind, von aller Schwere und allem Elend des Daseins, steige fessellos in den Aether empor, um vom da oben herab mit ungetrübtem Blick, gleich theilnehmend am Glück wie am Unglück, die Welt zu betrachten, lache den Traurigen das Leid aus der Seele, den Uebermüthigen die Wehmuth in den Sinn, und du bist der wahre Humorist, wie man dies Wort auch definiren mag. Keine Form darf dich beengen, kein Bedenken dich hindern – du weinst, wo andere lachen, du lachst, wo andere weinen. Das ist die Freiheit, die du voraus hast vor den Millionen Sklaven, den Sklaven des Berufes, der Leidenschaft, der Sitte. Was ist’s denn mit diesem Wilhelm Raabe, daß sich ihm die Herzen erschließen, als besäße er einen Zauberstab, sie zu öffnen? Hat er große Abenteuer zu bestehen gehabt, ist das Schicksal launenhaft mit ihm umgesprungen? Nein, es handelt sich um eines der anspruchslosesten und einfachsten deutschen Poetenleben, ohne Stromschnellen und Katarakte in seinem stillen Laufe.

Ein braunschweigischer Beamtensohn absolvirt das Gymnasium in Wolfenbüttel, versucht es dann mit dem Buchhandel, findet aber an dem Studium größeres Gefallen, heirathet seine Base, wohnt acht Jahre in Stuttgart, um hierauf nach der Hauptstadt seines Heimathlandes zurückzukehren, wo er bis heute – ein siebenundfünfzigjähriger Mann – zufrieden und emsig schaffend lebt. Das ist doch wahrlich kein vollgerüttelt Maß von odysseischen Erlebnissen und Erfahrungen, und dennoch – wie viel lachende Weisheit und mitleidsvoller Zuspruch sind der Phantasie und dem Geiste dieses dichtenden Menschenkindes schon entquollen, seitdem ihm in der Berliner Spreestraße vor etlichen dreißig Jahren die Gestalt des Johannes Wachholder erschien!

„Seid gegrüßt,“ rief damals der alte gelehrte Hagestolz am Ende der Geschichte, die ihn Raabe erzählen ließ, „alle ihr Herzen bei Tag und bei Nacht; sei gegrüßt, du großes träumendes Vaterland; sei gegrüßt, du kleine, enge, dunkle Gasse; sei gegrüßt, du große, schaffende Gewalt, welche du die ewige Liebe bist! Amen!“

Und der Gruß ward vernommen und erwidert, von den Herzen, vom Vaterland, von der Gasse, von der Liebe. Wo unterdessen auch der Dichter seinen Stab niedergesetzt hat, immer fand sich eine liebevolle Gemeinde, die nach ihm ausschaute, die sich lauschend um ihn scharte; denn Thränen zu trocknen giebt es ach! so viele auf der Welt und ein befreiendes Lächeln sich abstehlen zu lassen, dazu sind gottlob alle guten Menschen gern bereit. Freilich, das große träumende Vaterland hat längst zu träumen ausgehört; die kleine, enge, dunkle Gasse ist umbraust von dem betäubenden Lärm der Weltstadt, und mitunter will es mürrische Zweifler bedünken, als ob die große schaffende Gewalt, welche die ewige Liebe ist, gar nicht mehr ihres Amtes walte. Aber sagt nur nicht etwas derartiges dem Humoristen auf der Wolfenbüttelerstraße in Braunschweig! Er ist der nämliche geblieben, und was auch um ihn her sich verändert hat, er sieht es und grüßt es mit seinem weiten Herzen, mit seinem sinnvollen Blicke, mit seinem überschauenden Geiste auch in der veränderten Welt: das große Vaterland, das nicht mehr träumt, aber auch nicht mehr das „Land der Vaterländer“ ist; die Liebe, die nicht gestorben, obgleich sie nicht mehr am Arme des Philisters einherschreitet; die Gasse, in die der Strahl einer neuen Sonne hineingefluthet. Jedoch die großen Wandlungen, welche sich in der äußeren Gestaltung der Völkerschicksale vollziehen, lassen den wahren Humoristen unberührt; ihm ist das Menschenherz der Mittelpunkt und Inbegriff der Welt und eine weltumformende Völkerschlacht lockt seinen Blick weniger mächtig an als der verborgene Liebeskampf eines einfachen Menschenkindes. Das liebe Ich, das eigene wie dasjenige des anderen, dieses geheimnißvolle, wunderliche Ding inmitten des Weltgetriebes, das gehorcht und gebietet, schafft und leidet, bedeutet ihm mehr als der gesammte Globus, und als echter Humorist schreibt Wilhelm Raabe in einem Briefe an einen Freund nach dem Erscheinen der „Krähenfelder Geschichten“, zu dem ihn der Freund beglückwünscht hat:

„Ja, ja, so springt man in Krähenfeld mit den erlauchtesten Damen des höchsten Adels um! Aber die verw. Gräfin Fredegunde zum Stuhle ist bereits gerächt; Müller hat uns die Wohnung gekündigt und ich schreibe keine Krähenfelder Geschichten mehr. Vom ersten Oktober dieses Jahres an (1882) wird die Salzdahlumerstraße meinen Schritt nicht mehr vernehmen, meinen Schatten nicht mehr an ihren Mauern hingleiten sehen! Nur in [476] der deutschen Literaturgeschichte wird einige Zeit hindurch der Vermerk haften, daß einmal in jener Straße Nr. 5 ein Mann wohnte, der zwölf Jahre hindurch von dort aus allerlei Absonderliches in Druck gehen ließ; aber auch das Gerücht wird verhallen und Eine Nacht einmal uns alle bedecken.“

Man hat Wilhelm Raabe oft mit Jean Paul verglichen und in seiner Weltanschauung die Spuren der Schopenhauerschen Philosophie gesucht. Dies wie jenes zeigt, welch hoher Maßstab an den Dichter gelegt wird; sonst aber zeigt es nur, wie unverwüstlich unsere gute deutsche Art ist, alles mit allem zu vergleichen, jedes aus jedem herzuleiten. Es giebt kaum etwas, das unserem heutigen Schauen und Empfinden fremder wäre als der unkünstlerische Geist des Bayreuther Humoristen, und wiederum kaum etwas, das so bis in die geheimste Ader modern wäre wie die Muse Raabes.

Jean Paul kompilirt, Raabe komponirt; Jean Paul sperrt seinen Zettelkasten auf, fügt despotisch zusammen, was er bei verschiedenen Anlässen, in verschiedenen Stimmungen, an Beobachtungen, an Einfällen, an Reflexionen und Eindrücken aufgespeichert, und läßt diese wundersame Mosaik hinausfliegen, wie der Knabe den Drachen, in alle Lüfte, in alle Weiten. Wilhelm Raabe modellirt seine Gestalten, schafft bedächtig an seinen Charakteren, versucht sogar seine bildnerische Kraft, wie meines Wissens niemand vor ihm, an einer Roman-Trilogie – „Der Hungerpastor“, „Abu Telfan“, „Schüdderump“ – welcher nicht ein Charakter, sondern eine Idee als Mittel- und Bindepunkt dient. Bei Jean Paul komponirt der Zufall, bei Raabe das künstlerische Bewußtsein.

„Wir sind am Schlusse,“ sagt er, indem er die Trilogie beendet, „und es war ein langer und mühseliger Weg von der Hungerpfarre an der Ostsee über Abu Telfan im Tumurkinlande und im Schatten des Mondgebirges bis in das Siechenhaus zu Krodebeck am Fuße des alten germanischen Zauberberges.“

So systematisch ist Jean Paul niemals einer künstlerischen Absicht nachgegangen. Nur darin könnte man allenfalls eine Aehnlichkeit erblicken, daß beiden, dem älteren Franken wie dem neueren Niederdeutschen, die Sprache gewaltsam überquillt und bei dem Jüngeren empfindlicher als bei dem Aelteren sich gleichsam neben dem Laufe des Hauptstromes ein Nebenbett gräbt. Das wäre ein Defekt, wenn es nicht ein Humorist wäre, mit dem wir es zu thun haben, so eigenwillig, so frei in seiner Laune, so regellos ist ja nichts wie der Humor, und er muß es sein; wie wollte er sich sonst in jedem Augenblicke zu allem und jedem in jenen wunderlichen Gegensatz stellen können, der sein Wesen ausmacht? Das am meisten Humoristische, was von Börne übriggeblieben, ist eine Trauerrede, diejenige aus Jean Paul; besagt diese Thatsache nicht zur Genüge, daß es keine Gesetze für den Humor giebt außer jenen, die er sich selbst auferlegt? Damit wäre denn freilich ausgesprochen, daß der Humorist sich der Beurtheilung mit festen Maßstäben und nach allgemein recipirten Grundsätzen entziehe, und das könnte leicht als unkritische Ketzerei betrachtet werden. Aber auf alle Gefahr hin bleibt es dabei, daß man den Humoristen nur auf den Eindruck prüfen darf, den man von ihm empfangen, und was mich betrifft, so weiß ich fast nicht zu unterscheiden, was ich in verschiedenen Zeiten bei der Lektüre der verschiedenen Erzählungen Raabes empfunden habe; denn durch einander lag es dabei wie nächtliches Düster und wie heller Sonnenschein über meiner Seele. Nur soviel war mir als klare Wirkung gegenwärtig, daß, um mit Raabes eigenen Worten zu reden, "über den Feldern und Wiesen jenes Flimmern und Zittern lag, welches auch über den Werken der grossen Dichter liegt und überall die Sonne zur Mutter hat.“

Wie aber nur ganz äußerlich von einer Aehnlichkeit zwischen Jean Paul und Wilhelm Raabe gesprochen werden kann, so ist es auch höchst bedenklich, dem Dichter des Hungerpastors die Schopenhauersche Weltanschauung aufzudisputiren. Mehr oder minder ist seit dreißig Jahren jeder gebildete Deutsche ein Schopenhauerianer, der eine bewußt, der andere unbewußt. Es ergeht uns, wie es der Generation vor uns mit Hegel erging. Aber damit ist noch lange nicht gesagt, daß nun auch jeder heutige Dichter von tieferer Weltanschauung auf die Verneinung des Willens zum Leben schwöre, daß er sich ihr als einer bestimmenden Wirkung auf sein künstlerisches Schaffen nicht zu entziehen vermöge. Ganz im Gegentheile, es wäre der Tod aller Poesie, wenn der Frankfurter Philosoph das Orakel unserer Dichter wäre. Es mag sein, daß Wilhelm Raabe, dem von dem Wissen und Denken unserer Zeit nichts fremd geblieben, in die Werke Schopenhauers sich mit Vorliebe vertieft hat, wenn er sein Bedürfniß nach einer systematischen Zusammenfassung seiner philosophischen Anschauungen befriedigen wollte; aber der Humorist wäre er sicherlich nicht geworden, wenn er zugleich sein dichterisches Schaffen an den Abgrund der Verzweiflung gerückt hätte, den der Frankfurter Lebens- und Weltverächter für alle diejenigen eröffnete, denen aus irgend einem Grunde das Unglück sympathischer ist als das Glück. Oder hätte man deshalb, weil einige Novellen und die Roman-Trilogie einer düsteren Lebensanschauung entquollen zu sein scheinen, ein Recht, den Dichter Raabe schlankweg unter die Pessimisten zu weisen? Ist nicht dagegen die überwiegende Mehrzahl seiner Schöpfungen, sind nicht „Horacker“, „Die Gänse von Bützow“, „Keltische Knochen“, „Der Dräumling“ von einer ergreifenden Heiterkeit, die „Krähenfelder Geschichten“ und „Wunnigel“ sogar von einem barock lustigen Ueberschwang, gegen den man bisweilen zu protestiren sich versucht fühlt? Nein, mit der Schablone kommt man diesem Poeten nicht bei; man kann seine Erzählung in der Apotheke „Zum wilden Mann“, einen Stoßseufzer der bittersten Menschenverachtung, als eine Verirrung des Humoristen ablehnen, kann manche seiner Geschichten wegen der überwuchernden Fülle ungehörigen Nebenwerks nach Gebühr tadeln; aber man darf ihm nicht eine kritische Marke anheften, auf der das Wort Pessimist zu lesen, weil er, wie es des Humoristen Amt und Sendung ist, neben den Wonnen des Daseins auch das Elend dieser Welt an seinen Gestalten demonstrirt.

Wir Deutschen können uns nicht beschweren, daß es uns an Humoristen fehle; nur die Engländer besitzen ihrer mehr als wir. Es scheint doch, als ob – von Cervantes und Rabelais abgesehen – der Humor eine specifisch germanische Geistesanlage sei. Aber um so dankbarer und pietätvoller haben wir die köstlichen Gaben derer hinzunehmen, die uns in der langen Reihe von Fischart bis Raabe ihre Reichthümer in den Schoß geschüttet haben. Und wie unerschöpflich sind diese Reichthümer! So fruchtbar wie der Humorist ist ja naturgemäß kein anderer Schriftsteller, schon deshalb, weil nichts so klein und nichts so groß ist, daß es der Humorist nicht in sein Kaleidoskop einfügen dürfte. Vergangenheit und Gegenwart, Weisheit und Narrheit, Gemüth und Geist – wo ein Parallelismus, wo ein Kontrast vorhanden, der Humorist darf sich ohne Rücksicht auf erstarrte oder übliche poetische Formen ihrer bemächtigen; er ist der Nabob auf dem Parnaß. Soviel hat Wilhelm Raabe in dreißig Jahren geschrieben, daß es einen kleinen Katalog ausfüllen würde, wollten wir alle seine Schöpfungen verzeichnen. Und nicht leicht ist es ihm geworden, den Punkt zu erklimmen, von dem aus das deutsche Volk zum ersten Male ihn zu erblicken vermochte. In fünfter Auflage liegt die „Chronik der Sperlingsgasse“, sein Erstlingswerk, vor. Als sie vollendet war, wanderte sie von Verleger zu Verleger; keiner nahm sie an, bis der junge Poet sie für den Preis von fünfzig Thalern auf seine eigenen Kosten drucken ließ. Bücher haben eben ihre Schicksale. Freilich war damals die Nation nicht aufgelegt, dem Humoristen Gehör zu schenken; denn es war eine böse Zeit, die Zeit der Reaktion.

„Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist theuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil“ – mit diesen Worten beginnt Johannes Wachholder seine Erzählung. Aber zehn Jahre später klang es doch ganz anders, selbstbewußter und hoffnungsvoller von Raabes Lippen, als er dasselbige Büchlein in neuer Auflage mit dem Begleitscheine aussendete: “Es soll niemand sein Handwerksgeräth, die Waffen, mit welchen er das Leben bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen lassen.“ Seitdem sind wiederum zwanzig Jahre dahingegangen; das deutsche Volk ist so mächtig, so gebietend, so glücklich geworden, daß es fast den Neid der Götter fürchten müßte, wenn es nicht bescheiden in aller Macht das Kleine wie das Große achtete und bei seinen Dichtern, bei seinen Humoristen vor allen andern, täglich lernte sich fern zu halten von dem Uebermuthe, der das Menschenherz verödet wie der Samum die Wüste.

[477]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Am Leuchtthurm.
Novelle von Gerhard Walter.
(Fortsetzung.)


Acht Tage nach Absendung meiner Anfrage hielt ich einen etwas unbehilflich geschriebenen Brief in Händen, laut dessen ich für die Dauer von vier Wochen im Juli und der ersten Augustwoche unbeschränkter Herr eines Zimmers war, wie ich mir’s gewünscht. Und nun packte mich plötzlich eine wahre Ungeduld. Ich konnte den Zeitpunkt des beginnenden Urlaubes kaum abwarten. Endlich war der Tag gekommen; und vierundzwanzig Stunden später saß ich vor dem schmalen Fensterchen meiner Thurm- und Burgkammer, hundert und einige Stufen über dem Spiegel des Meeres, das sich prächtig blaufunkelnd im Sonnenlicht vor mir dehnte, grünlich und weiß am Fuße des Felsens in ewiger Brandung schäumte, die murmelnd oder brausend zu mir in meiner luftigen Höhe hinauftönte. Ich streckte die Arme vor Behagen: hier war’s gut sein! Nach dem Herings- und Flunderdorf dort an der Landseite in den Dünen warf ich keinen Blick. Wohl aber mußte ich ihn unwillkürlich auf dem bildhübschen Mädchen ruhen lassen in seiner kleidsamen Volkstracht – mit den Kettlein und silbernen Spangen und Rosetten, das jetzt gerade eintrat und mir den ersten Kaffee meines hiesigen Aufenthaltes brachte. Blond, schlank, voll, von zarten Farben und mit einem reizend schelmischen Licht in den Augen stand sie vor mir und hielt mir das Kaffeebrett dar.

„Sind Sie die Tochter vom Hause, oder vielmehr vom Thurm?“ fragte ich sie, während ich mir den Rahm zugoß.

Sie bejahte mit einer Stimme, deren weicher Wohllaut angenehm berührte.

„Ist es denn nicht sehr einsam hier für ein so junges“ – fast hätte ich gesagt „und so hübsches – Mädchen?“

Im Winter wäre es arg gewesen, meinte sie; im Sommer käme doch ab und zu mal ein Mensch in Sicht; aber daß sie einen Logiergast gehabt hätten, das wäre ihnen noch gar nicht vorgekommen, und sie hätten sich auch nicht wenig gefreut, setzte sie hinzu. Und dabei spielten die etwas arbeitsharten, aber zierlich kleinen Hände mit dem Schürzenband, und nur ein halber Blick unter den langen Wimpern stieg bis zu meinem Gesicht.

„Sind denn da drüben im Fischerdorf gar keine Badegäste?“ fragte ich weiter.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf und sah an mir vorbei durch das Fenster.

„Eine einzige Familie wohnte diesen Sommer bis jetzt da; Leute, die kein Geld haben. Sehen Sie – da das Haus mit dem rothen Dach, halb hinter der Düne!“

Ich mußte dicht neben sie treten, um aus Höflichkeit der Richtung ihres Fingers mit dem Blick zu folgen. Im Grunde war mir’s einerlei. Aber sie war gar zu niedlich.

„Ja, wie kommt denn das?“ fragte ich, eigentlich nur, um sie noch ein bißchen zurückzuhalten; „Stagersand, das große Modebad, ist doch nur reichlich eine Meile entfernt.“

„Das ist’s ja eben!“ lachte sie, daß man ihre tadellosen Zähne bewundern mußte, „das drüben ist kein Modebad! Der Strand ist gerade so gut und das Wasser genau so frisch und salzig und der Wellenschlag noch etwas stärker, und die Luft bekommt einem hier auch nicht schlechter“ – ich mußte unwillkürlich auf ihre blühenden Wangen blicken – „Sie meinen, ich sähe auch nicht krank aus? Warten Sie nur, wie Sie nach fünf Wochen roth und braun sein werden! Können Sie segeln?“

Ich sagte ihr, ich sei von Geburt eigentlich an der Wasserkante zu Hause und von klein auf gewohnt, mit Hals und Schoten umzugehen.

„Unser Boot da unten können Sie immer benutzen,“ plauderte sie weiter; „für uns ist das etwas Altes, aber Ihnen wird’s Freude machen und Ihnen wohlthun.“

„Sagen Sie –“ ich wußte nicht recht, wie ich sie anreden sollte – „Fräulein“ wollte mir nicht heraus, das klang mir zu kellnerinnenmäßig –

„Ich heiße Wiebke!“ sagte sie und lachte leise auf, „haben Sie den Namen schon früher gehört?“

Ich mußte es verneinen. „Sagen Sie, Wiebke, Sie sind nicht immer hier im Thurme gewesen?“

Ein schneller Augenblitz traf mich wieder von der Seite.

„Ich bin drüben zwei Jahre auf dem Festlande als junges Mädchen bei einem Arzt im Hause gewesen, und bei meiner Großmutter in der Stadt bin ich zur Schule gegangen; nun muß ich Haus halten für den Vater und den Knecht – aber ich verplaudere mich hier; seien Sie nicht böse, daß ich Sie aufgehalten habe!“ Und hinaus war sie.

„Wann soll ich Ihnen das Abendessen bringen?“ fragte sie, noch einmal den hübschen Kopf durch die viertelgeöffnete Thür steckend; „um sieben? Schön!“

„Eine bedenkliche Leuchtthurmwirthin!“ mußte ich halblaut hinter ihr hersagen. „Wer hier nicht sattelfest ist, verliebt sich in dieser Einsamkeit sicher in sie. Und das wäre doch ein gefährlich dummer Streich. Ihr selbst wäre es scheinbar nicht ganz unangenehm.“

Da unten, fern, ging die Sonne unter. Rothes, glühendes Gewölk im Westen. Weinfarben, jetzt ganz still, leise gegen die Klippen rauschend lag die See da. Immer dunkler wurde das Feuer, das dort am Horizont seinen blutigen Schein in die Wolken warf – dunkler die See, nur hier und da glänzte ein weißes Segel auf dem Wasser. Unten, am Rand der Klippe stand Wiebke, auch ihre Gestalt lichtumflossen. Die Dünen drüben am Land hatten Glanz über ihren weißlichen Sand gedeckt, und wie mochten die Laternengläser des Leuchtthurms in diesem Augenblick im rothen Feuer über die See hinausgleißen! – Aber es ist alles falscher Glanz – bald kommt die Nacht! – Nun, laß sie kommen! Da ist sie schon. Die Wolken erblassen – über der See liegt noch blinkende Spiegelung; aber die Dünen und das Mädchen stehen nicht mehr da, vom Märchenglanz übergossen. Ueber mir leuchtet jetzt klar und ruhig das gelbe Licht des Thurmes hinaus über die schlummernde See; dort unten seh’ ich


Ausflug in den Ferien.
Originalzeichnung von J. R. Wehle.

[478] allmählich, wie’s dunkler wird, den klaren Wiederschein im Wasser – und über mir taucht nach und nach ungezählter Sterne Flimmern aus der dunkelblauen Himmelstiefe auf; und auch die Sterne werfen zitternde Spiegelbilder in die kaum gewellte Fluth. Die Brandung spült mit lockendem Murmeln zwischen den Klippen. Nur von drüben her schallt ununterbrochen dumpfes Rauschen herüber: die Dünung, die auf den Strand läuft, und die nie, nie stille sein kann. Da klopft es bei mir an, ich fahre herum; Wiebke steht in der Thür und hält hoch in der Rechten die Lampe, daß der Schein voll auf ihr lächelndes Gesicht und auf ihre Schultern fällt, ein Bild zum malen. „Wünschen Sie Licht? Dann müssen Sie aber die Läden vorm Fenster schließen, daß kein zweites Licht neben oder unter dem Reflektor sichtbar ist! Oder möchten Sie zu uns auf ein Stündchen herunterkommen?“

„Nein, Wiebke, nehmen Sie Ihre Lampe nur wieder mit; die prächtige Nachtluft will ich nicht ausschließen, ich komme gleich hinunter. Hier, nehmen Sie meinen Schoppen auch mit; ich trinke nur aus ihm, und er darf keinem andern vorgesetzt werden.“

Wiebke faßt ihn mit der andern Hand und geht; ich trete noch einmal ans Fenster und lehne weit hinaus. Im Westen glüht noch ein schmaler, gelber Streif, tief unten über dem Meer; der hält sich lange. – Glänzt nicht so durch jedes Menschenleben noch eine Hoffnung, ob auch mit schwachem Schein, im Dunkel des einsamen Herzens? Die Hoffnung auf ein Glück, das einst hell über unserem Leben gestrahlt, und das unterging – aber um wieder aufzugehen in neuem, blendendem Glanz? Ob ich dich doch noch einmal treffe, finde, halte, du Glück? Ob mir deiner Augen Schein doch noch einmal leuchtet – Hildegard?

Ich hob das Haupt: „Es soll und muß jetzt anders werden. Kommt das Glück, dann das Herz auf mit all seinen Fenstern und Thüren; aber dies Hängen am Alten, das macht alt. Nordseeluft stärkt – nun laß Dir auch die Seele stärken!“ –

So ging ich tastend die schmale, dunkle, gewundene Treppe hinab. Auf den einen Absatz unter mir schien helles Licht durch eine Thürspalte – die Thür that sich auf, ich sah in Wiebkes Zimmer. Nett und mit einer gewissen Zierlichkeit war’s ausgestattet. „Wir sind Nachbarn,“ sagte sie; „ich bekam eben ordentlich einen Schreck, als ich Ihren tastenden Schritt hörte und dachte nicht an Sie. Unsere Leute gehen mit schweren und sicheren Füßen. Es ist ihnen gewohnter Weg in der Nacht. Gehen Sie voran, ich leuchte Ihnen!“

Sie steckte eine lange, gelöste Flechte auf und schloß den letzten Haken ihres enganliegenden Mieders oben an dem weißen Halse; – der Silberschmuck lag in einem offenen Kästchen aus geschnitztem Sandelholz unter dem Spiegel.

„Wenn Sie meinen Vater aus seiner Ruhe aufrütteln können, dann kann er Ihnen viel Wunderbares und Interessantes aus der Zeit seiner Seefahrten erzählen, das er zu Wasser und zu Land erlebt hat. Sonst ist’s recht still bei uns unten.“

Der Alte, ein biederer, schwerer Obersteuermann, reichte mir mit kurzem, wie ein Knurren klingendem Gruß die ungeheure Flosse. Wie kam sein Töchterlein doch zu so kleinen Händen?

Er ließ sich dann, aus der kurzen Shagpfeife rauchend, in seinem großen Lederlehnstuhl nieder. Die Fenster standen offen, und frische Seeluft strich durch den behaglichen Raum.

Auf einem Regal an der einen Wand stand eine Reihe buntbeklebter Flaschen.

„Wir haben das Recht, an Fremde und Badegäste, wenn sie herüberkommen, auszuschenken,“ erklärte Wiebke. Sie blickte fragend auf den Vater. Er nickte. Sie nahm eine der Portweinflaschen und zwei Gläser und schenkte den bernsteingelben Trank ein. Dann bot sie mir mit freundlichem Blick und Lächeln das eine, das andere dem Vater: „Zum Willkommen!“ sagte sie.

Der Alte hob sein Glas und hielt es ans Licht. „Prost!“ rief er mit tiefer Stimme.

Hell klangen die Gläser zusammen.

Das war lange Zeit das einzige Wort, das Brar Volkers sprach. Nachdenklich und behaglich rauchte er weiter. Wiebke trug mir einen Stuhl herbei, weit genug entfernt von dem Sitz ihres Vaters, daß mir die scharfduftenden Wolken seines Tabaks nicht unmittelbar ins Gesicht wehten, und dann stellte sie meinen Schoppen voll schäumenden Bieres vor mich auf den Tisch. Alles stand ihr so nett an; jede Bewegung war so flink und anmuthig, daß ich ihr mit wahrem Vergnügen folgte. „Nun, und Sie?“ fragte ich, als sie mir sogar eine brennende Kohle auf die Pfeife gelegt hatte.

„Ich spinne!“ sagte sie.

Und sie holte ihr Rad und setzte sich mir gegenüber inmitten des Zimmers. Ich schaute auf den zierlichen Fuß, wie er unter dem kurzen Ruck rastlos das Brettchen trat. Ab und zu hob sie die Augen und sah mit schnellem Blick zu mir hinüber, und derselbe Blick streifte den Vater. Was waren das für lebhafte, klare, feuchte Augensterne! Ein flüchtiges Lächeln spielte dann und wann um den weichen Mund.

Keines von uns sagte etwas. Nur das Rad schnurrte, und der Alte blies von Zeit zu Zeit hörbar Dampf ab. Ich hatte kein Bedürfniß, die schöne, behagliche Stille zu unterbrechen. Jetzt fing Wiebke an, ganz leise vor sich herzusummen, eine einfache Melodie ohne Worte.

„Wie heißt der Text?“ fragte ich.

„Et wassen twee Königskinner
De hadden eenanner so leef!
Se kunnen tosåmen nich kåmen,
Dat Water weer veel to deep!“

sang sie mit klarer Stimme. – Nun war das Eis gebrochen.

„Ja, Wiebke kann schön singen!“ dröhnte der Baß des Alten nach dem ersten Verse dazwischen. „Sing’ weiter!“ Und sie sang bis zum Schluß:

„Se nehm em in ehre Arme,
Dat Hart ded ehr so weh;
Un länger kunn se nich lewen,
Se sprung mit em in de See.“

„Huh, nein!“ rief sie, indem sie lachend aufsprang, „das Lied endet so traurig. Geben Sie mir Ihren Schoppen, er ist leer!“

„Trinken Sie ihn an, Wiebke!“ bat ich, als sie ihn wieder gefüllt hatte. Sie hob ihn und netzte die Lippen, über den Rand hin mich mit den muthwillig schillernden Augen anblickend. Wie stand ihr alles gut! Aber war sie ein Kind, das unbewußt alle Anmuth des blühenden Mädchens entfaltete in unwillkürlichem Thun – oder wußte sie, daß sie schön war, und wollte sie ihre Augen werben lassen und wollte sie gefallen? – In solchen Gedanken sah ich sie wieder an, ohne es zu beabsichtigen, meinen Blick tief in ihren tauchend; da überflog dunkle Gluth plötzlich das frische Gesicht, und sie setzte sich schnell an das Rad, den Krug vor mich niederstellend. Hatte ich ihr weh gethan mit dem Anstarren?

„Wie oft ist Verkehr mit dem Lande?“ wandte ich mich schnell an Brar Volkers.

„So oft Sie wollen, Sie können jeder Zeit das kleine Boot bekommen,“ lautete die Antwort. „Wiebke kann Sie immer hinüberpullen; können auch segeln, wenn Sie Lust haben. Auf die können Sie sich verlassen.“

Wiebke nickte munter.

„Ist drüben im Dorf etwas zu bekommen?“ fragte ich. „Ich muß noch allerlei haben!“

Er schüttelte den Kopf. „Nichts was Sie gebrauchen können. Aber wenn Sie morgen mit Wiebke nach Stagersand segeln wollen, da giebt’s alles!“

„Segeln Sie denn morgen hin?“ fragte ich erfreut.

„Muß einkaufen für unsern Haushalt!“ sagte sie wichtig.

„Schön,“ rief ich, „wann geht’s los?“

„Um acht Uhr; wollen Sie wirklich mit? Das ist herrlich; da will ich gleich sehen, wie Sie mit einem Segelboot umzugehen wissen!“

Draußen war das Brausen lauter und tiefer geworden, als wenn größere Wassermassen sich gegen das Gestein und den Fuß des Thurmes drängten.

„Die Fluth kommt!“ sagte Wiebke. „Die kennen Sie nicht aus Ihrer Heimath. Wenn sie mit Nord-West einsetzt, müssen wir oft die eisernen Laden schließen; sonst schlägt die See uns die Fenster ein!“

Ich stand auf. „Also auf morgen!“

Wiebke stellte ihr Spinnrad in den Winkel. „Ich leuchte Ihnen hinauf und gehe auch zu Bett! Gute Nacht, Vater!“

„Gute Nacht!“ sagte er bedächtig und klopfte das Pfeifchen an der Tischkante aus.

„Erschrecken Sie nur nicht, wenn’s über Ihnen ’mal laut wird; es geht nicht immer leise zu bei den Lichtern und wenn die Wache wechselt.“

[479] Wir gingen hinauf, Wiebke vor mir her. Hier, in dem engen Treppengang hörte man das Rauschen und Rollen der steigenden See noch viel deutlicher, dumpfer, klatschender. Und dazu das über die gerundeten Wände fahrende Licht, vor und hinter uns alles im tiefsten Dunkel. „Hören Sie,“ sagte Wiebke, sich zu mir wendend, daß ihr halbes Gesicht vom Lichtschein übergossen war und die andere Hälfte vom Schatten bedeckt: „Hören Sie das Brausen! Sie werden gut dabei schlafen! Es ist wie Gesang!“

Ich war allein hier; fern von allem und allen Bekannten mitten im Nordmeer, allein mit dem verführerischen Kinde in dunkler schweigender, einsamer Nacht; über uns das strahlende, warnende Licht, das seinen Glanz hinauswarf in die weite Finsterniß; unter uns jener Gesang der Nacht und der Fluthen – es lag ein Hauch wahrhaft lockender Poesie über dieser Stunde.

Wir standen vor ihrer Kammer. „Gute Nacht, Wiebke.“ Ich reichte ihr die Hand. „Gute Nacht!“ – „Gute Nacht!“

Ihr Auge sprach mit. Ich trat in mein Zimmer und lehnte hinaus.

„Ja, Luftveränderung!“ sagte ich zu mir. „es ist merkwürdig, was die thut; ich kenne mich selbst nicht mehr; ich bin heute schon ein ganz anderer Mensch!“

Ich schlief köstlichen, traumlosen Schlaf. Eine frische Stimme weckte mich, die mich durchs Schlüsselloch mit munterem Klang anrief: „Herr Amtsrichter, es ist Zeit!“

Was für ein Morgen lächelte über der See! Prächtige Luft umwehte uns; der Duft des Salzwassers fächelte belebend um meine Stirn und ich sog ihn ein wie ein Genesender. Wir saßen dicht an einander hinten im Boot, das vor frischer Brise mit halbem Wind, wie man so sagt pfeilschnell, durch die grünliche, schillernde Fluth schoß. Wiebke steuerte; ich hielt die Schot. „Immer klar zum Loswerfen!“ mahnte Wiebke, die in all ihrem Silberschmuck glänzte. Ich ließ eines der silbernen Kettchen durch die Finger laufen.

„Schöne, feine Arbeit – und Sie tragen gern Schmuck?“

„Furchtbar gern! Wenn ich mich ’mal verlobe, dann muß mein Bräutigam mir viel, viel schenken! Ich bin gar nicht so sehr für schöne Kleider; man kann in einfachem Zeug, wenn’s nur gut sitzt, ebenso nett aussehen; aber alles, was Geschmeide heißt, das lockt mich, ich hab’s von klein auf so gern gehabt. Geben Sie Acht, wir drehen etwas in den Wind, sonst laufen wir auf den Stein da auf!“

Ein einsamer großer Felsblock ragte um einige Fuß aus dem Wasser, und silberne Tropfen spritzten um ihn. „Bei Ebbe liegt er trocken; gerade soweit geht das Wasser zurück,“ erklärte Wiebke. „Ist einmal ein Kind hier ertrunken, das vom Hochwasser überrascht wurde und zu spät ein Herz faßte zurückzugehen, wie’s Wasser schon tief war. Keiner hatte es bemerkt. Die Dünen liegen zwischen dem Dorf und dem Stein. Es soll noch da spuken und die Schiffer warnen bei schlechtem Wetter.“

Heute morgen saßen weiße Möven auf ihm und flogen, wie das Boot eilig vorüberschoß, schreiend in die Höhe. Das Boot stampfte leicht vor dem Seegang; im Sonnenlicht glitzernde Spritzer übersprühten den eintauchenden Bug mit Perlenschaum; langgestreckt, langsam anwachsend, rauschten die niedrigen Seen quer gegen uns an, selten nur einen kleinen klatschenden Guß über den Dollbord werfend, wenn die Brise nachließ und das Boot sich nach luvart ausrichtete.

„Fürchten Sie sich?“ fragte Wiebke. Sie saß mit der Ruhe alter Gewöhnung und regierte die Ruderpinne mit sicherer Hand. Ich fürchtete mich nicht. Sie nickte mir vergnügt zu und zeigte voraus. „Da sehen Sie schon den langen Steg, den sie ins Wasser hinausgebaut haben; da legen wir an und machen das Boot fest. Dann weise ich Sie erst zurecht und mache meine Einkäufe. Ich esse bei meiner Tante –“

Ein lustiger Gedanke durchfuhr mich.

„Nein, Wiebke, möchten Sie nicht ’mal an der großen Gasttafel mitessen? Ich lade Sie ein; bitte, kommen Sie mit!“

Freudig leuchtete es in ihrem Auge auf.

„Ist das Ihr Ernst, Herr Amtsrichter? Ja, das möchte ich schrecklich gern einmal; o, das ist reizend von Ihnen!“ rief sie dankbaren Tons.

„Abgemacht!“ Und ich freute mich darauf, mit dem schönen Friesenkinde zusammen hier, ein Fremder, den keiner kannte, zu Tisch zu sitzen und ihr einen Gefallen damit zu thun. Ich war ja sicher, daß sie mir keine Verlegenheiten bereitete. Sicher aber auch war ich manchen Neiders. Sie mußte auffallen, und das war mir gerade recht in der fast übermüthigen Stimmung, in die ich seit gestern gerathen war. Und heute im frischen Morgenwind schwoll mir das Herz ordentlich in neuer Lebenslust. Als ich auf der Brücke ihr die Hand reichte, um ihr aus dem Boot zu helfen, da war mir der Gedanke, wieder unter so vielen Menschen zu sein, gar nicht mehr unbehaglich; ich fühlte mit einem Male, wie jung ich noch war.

So gingen wir Seite an Seite über den Steg, und ich hatte meine Freude daran, wie sicher und zierlich ihre Füße in den kurzen Schuhen und weißen Zwickelstrümpfen auf den hallenden Planken auftraten.

Ich ging mit ihr in allerlei Läden umher, und es machte mir Vergnügen, zu sehen, wie das reizende junge Ding mit frischer Thatkraft ihres Amtes waltete als Führerin und Anwalt in all den Sachen, von denen ich nichts verstand, und ebenso ihre eigenen Angelegenheiten bestimmt und umsichtig ordnete.

„So, nun möchte ich nur noch in den Handschuhladen da drüben, und dann gehen wir zum Essen! Sind Sie nicht auch hungrig, Wiebke?“

„Nein, ich freue mich viel zu sehr!“ sagte sie kindlich. Und das glühende Roth der Ueberraschung und des Glücks, das ihre Wangen färbte, als ich ihr sagte: „Jetzt suchen Sie sich ein Paar helle Handschuhe aus zu unserem Diner!“ war allerliebst.

So traten wir ein in den großen Saal mit seinen langen, üppig gedeckten Tafeln. „O wie wunderschön!“ flüsterte sie befangen und schmiegte sich ist unwillkürlicher Scheu an mich, den einzig bekannten Menschen unter den vielen, die theils schon längs der Tische saßen, theils noch fluthartig durch alle Thüren geputzt herein strömten.

„Kommen Sie, Wiebke, legen Sie Ihren Arm in den meinigen! So – nur die Finger!“

Die Hand, die leicht in ihrem hellgrauen Handschuh auf meinem Arm lag, sah jetzt sehr zierlich aus. Wir gingen die lange Reihe entlang. Wie sie nun festen Halt an mir hatte, da richtete sie ihre schlanke Gestalt auf, und den Kopf ein wenig zurück und zur Seite gelegt, ließ sie die Blicke schnell musternd über die Leute hinwandern, ohne Verlegenheit, mit einem wirklich allerliebsten Ausdruck von kindlichem Stolz. Manches Auge folgte uns.

„Sehen Sie nur,“ flüsterte sie zu mir aufschauend, „wie die Leute uns nachsehen; das thut gewiß meine Kleidung! Ist Ihnen das nicht unangenehm?“

Ich wollte widersprechen, doch ich besann mich noch zu rechter Zeit. Wozu das Mädchen eitel machen!

Ziemlich weit unten an der Tafel fanden wir Platz. Ich ließ einen Stuhl frei zwischen der zunächst sitzenden, die Speisekarte musternden Dame und mir, den bald darauf ein Herr mit blondem Vollbart einnahm, welcher sich ihr sehr eifrig zu widmen schien.

Sie antwortete ihm mit einer Stimme, deren Klang mir bekannt vorkam; aber als ich selbst von der Speisekarte aufblickte nach ihr hin, konnte ich nur ihren Nacken sehen. Sie sprach eifrig mit einem älteren Herrn an ihrer rechten Seite; ich wandte mich Wiebke zu, die strahlenden Blickes die Reihen hinauf und hinunter sah.

„Soll ich die Handschuhe ausziehen?“ fragte sie leise, sich dicht zu mir beugend und mir mit einem wirklich süßen Blick ins Gesicht sehend.

„Nein!“ erwiderte ich ebenso leise; „sehen Sie, viele Damen behalten sie an!“ Sie nickte. – Und nun kam die Zahl der Gerichte.

„Das kenne ich ja kaum!“ bewunderte sie eins ums andere; aber sie saß trotzdem mit einem Anstand zu Tisch, der meine letzte Besorgniß um das Wagestück unterdrückte. Mir selbst that die gesellige Luft hier jetzt wohl und ich wurde heiterer und heiterer. Sie plauderte so frisch und natürlich und so vertrauend, als wäre ich ein alter guter Bekannter; jetzt schwirrte über die ganze Tafel das Gespräch, und noch dazu spielte nicht fern von uns rauschende Tafelmusik; da that kein Flüstern mehr noth und war auch nicht mehr möglich, wenn man sich verständlich machen wollte. Auch Wiebke sprach jetzt laut und lachte wohl einmal silberhell dazwischen ein wenig auf. Die Musik spielte eben die Ouvertüre zu einer [480] bekannten kleinen Oper: es war ein Potpourri von Studentenliedern, und ich sang innerlich die bekannten flotten Melodien mit.

„Vivant omnes virgines
Faciles, formosae!“

klang es gerade jetzt zu den Flöten und Fagotts in meinen zum Leben erwachenden Herzen nach. Jetzt fingen hier und da die Schaumweinpfropfen an zu knallen. Ich winkte dem Kellner – er stellte eine halbe Flasche kühlen Sekt vor mich hin und zwei Gläser. Wiebke schrie beinahe leise auf vor Freude:

„Champagner?“ sagte sie und legte die Hand auf meinen Arm – „nein, wie soll ich Ihnen so viel Freundlichkeit danken? Den habe ich noch nie getrunken!“

Der Trank brauste auf in den Kelchen. „Nun schnell, Wiebke, eh der Geist noch verduftet!“ Klingend neigten sie sich gegen einander; sie sah mir tief in die Augen; dann den blonden Kopf in den Nacken beugend, schlürfte sie auf einen Zug den schäumenden Wein, und, ein wenig seitlich im Stuhl gelehnt, das glückliche Gesicht mir voll zugekehrt, hielt sie mit berückendem Lächeln das leere Glas gegen mich hin, ein wahres Bild von Jugendlust. – Mein Herz schwoll, wie ich meinen Blick tief in ihren senkte – (Du siehst, Fritz, ich bin ehrlich!) „Noch fünf Wochen mit dem reizenden, gefährlichen Geschöpf zusammen“ zog es mir durch den Sinn mit bethörendem Klang –

„Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus, ade –
Feinsliebchen, die schaute zum Fenster hinaus – ade!“

schallte es da von oben plötzlich, kräftig, im alten, herrlichen, unvergessenen Ton in meinen Traum hinein mit Zinken und Trompeten. – Ich senkte den Kopf und stützte ihn in die Hand – welche Fluth von Erinnerungen strömte bei der Weise mit einem Male auf mich ein!

„Was ist Ihnen?“ hörte ich Wiebke fragen, und wieder fühlte ich ihre Hand auf meinem Arm. Das Haus an der Marktecke – das flatternde Tuch – etwas wie brennendes Heimweh glomm in meinem Herzen auf – seufzend hob ich das Gesicht; neben mir hatte mein blondbärtiger Nachbar sein Glas umgestoßen; ich blickte zur Seite und – sah in Hildegards Gesicht! – Ich sah und sah und sah – das war sie! Und sie sah mich an, blaß, ernst, aus großen blauen Augen – kannte sie auch mich? kannte sie mich nicht? Kein Lächeln auf ihren Lippen, kein Gruß in ihrem Blick – jetzt schaute sie fremd und kalt weg und sagte ein Wort zu ihrem Nachbar; er stand auf, bot ihr den Arm, und sie gingen; der alte Herr und eine weißhaarige Frau folgten ihnen und ich starrte ihnen nach.

„Aber, Herr Amtsrichter!“ sprach Wiebkes weiche Stimme, bittend, ängstlich, bestürzt, und ihre Fingerspitzen berührten meine Hand – ich fuhr herum. „Was ist Ihnen? Um Himmelswillen, Sie sind ja weiß wie die Wand!“

Ich griff willenlos nach der Flasche; was spielten sie jetzt da oben? War das nicht „Es steht ein Baum im Odenwald? Jawohl:

„Und als ich wied’rum kam zu ihr,
Verdorret war der Baum;
Ein and’rer Liebster saß bei ihr –
Jawohl, es war ein Traum!“

Ich goß uns ein und stieß mit ihr an und sah sie an, ohne zu trinken; wunderbar, hatte ich die so hübsch gefunden? Nimm das bißchen Jugend aus ihrem Gesicht fort, und was bleibt ihr? Sie setzte das Glas nieder: „Sie denken schlecht von mir!“ sagte sie leise.

Mir that das Herz weh.

„Wiebke – wie kommen Sie auf solchen Gedanken? Ich habe Sie sehr lieb!“

Vor fünf Minuten hätte uns das Wort zusammengeführt. Jetzt stand sie auf und sagte mit zuckenden Lippen:

„Herr Amtsrichter, wollen wir gehen? Ich glaube, die Leute sehen uns an!“

Ich hatte nicht den Muth, ihr den Arm zu reichen. Stumm ging sie neben mir her.

„Wann müssen wir fort?“ fragte ich.

„In einer guten Stunde. Bitte, erwarten Sie mich dort in der Glasveranda; ich muß noch zu meiner Tante!“ Ich reichte ihr die Hand. Sie legte die ihre hinein, aber ohne Druck, und es glomm etwas auf in ihrem Auge, wofür ich keinen Namen fand – und doch war kein Leben in diesem Blick, wie’s sonst daraus gelacht hatte. „Ich danke Ihnen!“ sagte sie und gab sich Mühe zu lächeln. – Sie that die Lippen von einander, als wolle sie etwas hinzufügen – aber sie sagte nichts und wandte sich zum Gehen.

(Fortsetzung folgt.)

Herz-Ober.

Der Mai war gekommen. Alles Leben fing an sich zu regen. Die Bäume, der Wald, Wiese und Berg hatten sich in junges durchsichtiges Grün gehüllt, der Flieder zeigte die ersten duftenden Blüthen, an den Hecken barg sich hinter Dornen das zarte Röslein, indeß unten im Thale die Obstbäume schon in voller Blüthe standen.

Auch die Spaliersprößlinge an des Tannenbauern Haus auf der Südseite wetteiferten mit ihren freien Vettern drunten im Thal und zeigten Blüthe an Blüthe, und selbst die alten Tannen zur Seite des stattlichen Hofes hatten ein neu Gewand über das alte angezogen. Vor den schmalen Fenstern prangten Geranien und Fuchsien in brennendem Roth, so daß der Bauernhof im wunderhellen Sonnenglanz aussah wie ein geschmückter Bräutigam, der zur Brautschau bereit ist. Drin in der Küche schaltete das jüngste Töchterlein, die blonde Marei, am Herd, indeß die Resei und Vreni mit dem Abwaschen des Geschirres vom Mittagessen sich beeilten.

„So gut wie heut’ treffen wir’s nimmer,“ hatte die älteste und klügste (wie sie glaubte), die Resei gesagt, nachdem die Eltern zu einem Besuche in die Stadt vom Hof gefahren waren. „Der Knecht ist auf die Kirchweih ’nüber und die zwei Mägd’ dürfen auf des Leimbauern Elis ihre Hochzeit – heut’ muß die alte Urschel her und uns Karten legen.“ Das hatte die Resei gesagt und war selbst vor Tisch hinüber geeilt zur halbzerfallenen Hütte der alten Urschel, die ihren Besuch bis um zwei Uhr zugesagt. „Sie soll aber ja die Karten nicht vergessen,“ hatte ihr Vreni noch nachgerufen.

Ein guter Kaffee ist unerläßlich zur Erzielung glücklicher Prophezeiung, und so nahm denn Marei zu dem Gebräu etwas mehr Kaffeebohnen, als die Bäuerin selbst an Festtagen je genommen, in der Meinung, die wohlthuende Wirkung des guten Kaffees müsse einen ebenso wohlthätigen Einfluß auf das nachfolgende Orakel ausüben.

Marei war jetzt so still, ganz gegen ihre Art, und erst vor Tisch hatte sie noch ihre Schwestern ausgelacht und gespottet über ihre Neugierde, einen Blick in die verhüllte Zukunft zu wagen. Wie oft hatte sie gelacht über Resei, die (ein öffentliches Geheimniß) mit dem Müllerfranz auf gutem Fuße stund, und wie viel mußte ’s Vreni unter ihrem Spotte leiden, wenn sie in Verzweiflung gerieth, so oft der Vetter Seppl ein ander Mädel anguckte. „Ich bin froh und frei,“ sagte die Marei, „und kümmere mich den Kuckuck um eure Mannsbilder, die einem nur den Kopf verdrehen und uns hinterher auslachen.“

Jetzt stand sie am Herde und schaute in die brausende schäumende Pfanne und tausend Gedanken flogen ihr durchs kleine Köpfchen, und alle drehten sich um einen blonden Lockenkopf mit grünem Jägerhut. Ja, der Mai ist gekommen und alles fängt an, sich zu regen und zu blühen, und tief innen im keuschen Mädchenherz ruht der Keim der Liebe und harrt der warmen Sonnenstrahlen aus dem Auge des Rechten, um aufzublühen und zu wachsen zum Baume der wahren Treue und Ergebenheit, oder jäh abzuknicken, wenn ein rauher Sturm oder ein Blitz aus dunklem Himmel die noch zarte Pflanze vernichten soll.

Daran dachte ’s Marei nicht. Wohl aber des herrlichen Sonnenunterganges von gestern, als es am Waldrande entlang schritt, den Schwestern entgegen, die oben auf der Wengeralp die Hütte für den sommerlichen Aufenthalt eingerichtet hatten. Sie guckte der scheidenden Sonne nach, ein Kuckuck rief von ferne und sie zählte die Rufe, um zu erfahren, wie lange Jahre sie noch leben werde – patsch, trat sie bis über den Knöchel in eine sumpfige Stelle und zog mit einem erschreckten Schrei den Fuß heftig zurück, so daß der Schuh in dem Schmutze zurückblieb. Als sie noch überlegte, auf welche Weise sie ihn wieder erlange, ohne die Hände zu beschmutzen, kam nebenan aus dem Gebüsch ein braungefleckter Jagdhund schnuppernd, gefolgt von seinem Herrn. Es mußte der neue Jagdgehilfe sein, ein rosig Gesicht und dichtes braunes Gelock mit grünem Hut, hohe Gestalt und Joppe und Flinte – auf mehr konnte sich Marei nicht besinnen.

Doch ja, als er sagte: „Was ist denn, Jungfer?“ und sie zu ihm aufschaute, sah ein Paar so recht gute (wie sie glaubte) blaue Augen auf sie herunter. Dann lachte er über ihre komische Situation, zeigte dem Hund das untergehende Bekleidungsstück im Sumpf. „Apport, Tiras“ und der treue Begleiter legte ihm den wassertriefenden Schuh vor die Füße. Sie hätte weinen können, wie sie so kläglich vor dem Fremden stund, mit dem einen bloßen Strumpf, und sich anschickte, nach Hause zu gehen mit dem nassen Schuh in der Hand.

„Ach, so geht man nit fort,“ sagte der Jäger, „erst muß ich meinen Dank haben“, und damit legte er den Arm um ihre Taille und neigte sein Gesicht zu ihr nieder. Sie aber schlug ihm mit dem nassen Schuh auf die Hand und entlief, verfolgt von dem fröhlichen Lachen des Burschen.

„Aber Marei, das Wasser siedet ja schon lange,“ rief die Vreni und weckte ihre kleine Schwester aus den Träumen. So wurde der Kaffee fertig, gerade als die alte Urschel, auf ihren Stock gestützt, hüstelnd zur Stube eintrat.

Man konnte sie sonst nicht recht leiden und sie ward gefürchtet, denn sie wußte allerhand Mittel und Zaubersprüche gegen verhextes Vieh, und

[481]

Herz-Ober.
Nach dem Oelgemälde von M. Scholz.

[482] man hätte sie im Verdacht, etwan da und dort gegen gut Geld und heiliges Versprechen des Schweigens manch Liebestränklein abgegeben zu haben. Der Nimbus einer Hexe umgab ihr Thun und Treiben; aber zur Erforschung der Zukunft wagt man alles und fürchtet weder Hexen, noch böse Geister.

Der Kaffee war getrunken; die Kaffeetasse und das Gebäck waren abgetragen und der Tisch abgewischt, da zog die Alte ihre Karten aus der Tasche, setzte ihre in Messing gefaßte Brille auf die Nase und guckte darüber weg mit ihren kleinen unruhigen Aeuglein die drei blühenden Mädchen im Kreise herum an.

„Wem soll ich kartenschlagen?“

„Mir, mir,“ riefen die älteren Zwei.

„Wen’s trifft, wir wollen mal sehen,“ sagte die Alte und legte die Karten; ’s Resei mit rothem Gesicht konnte den weisen Spruch nicht erwarten und ’s Vreni stellte sich neben Marei, um von oben besser in die Karten schauen zu können. ’s Marei aber machte ein spöttisch Gesicht, denn sie ging’s doch nichts an.

„Ich seh’ ihn schon,“ sagte die Wahrsagerin „da ist er.“

„Wie schaut er denn aus?“ rief vorlaut ’s Marei.

„Das kommt zuletzt, nur hübsch Geduld. Eichel, Eichel, viel Verdruß; hier kommt ein Grafen, das bringt Hoffnung dem Herz-Unter; schau, schau, der Graszehner, also ein Brief scheint die Sache zu vermitteln, nachdem die Alten nichts davon wissen wollen – Schellen-Ober, aha, er hat Geld; Eichel-Aß, ein großer Verdruß trennt sie noch immer – aber Herz-Ober – sie finden sich und kriegen sich und die Alten sagen Ja und Amen.“

„Ach,“ rief Therese, und ’s Vreni – „wer ist’s denn, wie schaut er aus?“

„Und wer ist der Herz-Ober?“ sagte ’s Marei.

„Wie schaut er aus?“ sagte die Alte; „er ist groß und schön gewachsen, hat blonde Locken und blaue Augen, eine Joppen und ein’ grünen Hut und den Stutzen zur Seiten, (’s Marei war wie verhext – im Herzen drin fing es an zu pochen und das Blut stieg ihr hinauf und weiter in die Wangen, daß sie dunkelroth wurden) und der Herz-Ober – (die Alte nahm ihn in die Hand und sah ihn prüfend an) das bist Du,“ platzte sie heraus, mit dem Zeigefinger auf das verwirrte Marei deutend, die lieber in den Boden versunken wäre, zum Erstaunen ihrer beiden Schwestern.

Diesen Moment hat unser Künstler erfaßt und mit liebevoller Treue auf die Leinwand gebannt. Es ist ein Bildchen aus dem Leben genommen und der Moment erfaßt, wie er wirklich war; denn auch die Geschichte ist wahr und noch nicht zu Ende, und der Maler hat die Stube und die Töchter und die Alte oft gesehen und sie nicht vergessen, wie die treue Wiedergabe in seinem Bilde uns zeigt; und wenn Ihr wissen wollt, wie die Geschichte weiter ging, so weiß es niemand besser als unser Maler, und der wird euch gerne erzählen, daß die Karten der alten Urschel diesmal recht behielten und daß die blonde Marei und der Jägerfranz sich wirklich kriegten.
G. Kunkler.

Zur Geschichte der Namen in Deutschland.

Die Zutheilung eines Namens an einen Menschen ist eine der wichtigsten Thatsachen im Leben desselben: durch sie hört er gewissermaßen auf, ein bloßer Gattungsbegriff zu sein und gewinnt individuellen Werth und persönliche Bedeutung, die ihn von vornherein von anderen seinesgleichen unterscheiden.

Alle Namen haben eine bestimmte Bedeutung, wenn diese auch im Laufe der Zeit vielfach verloren oder doch verdunkelt worden ist, und darum ist die Erkenntniß derselben für die Kulturgeschichte von hohem Werthe; in ihnen spiegelt sich aufs treueste der Kulturzustand und die Anschauungsweise eines ganzen Volkes wieder.

Im Hinblick auf die Wichtigkeit der Beilegung eines Namens fand und findet dieselbe bei allen Kulturvölkern unter Beobachtung gewisser Feierlichkeiten statt, die durch Tradition oder Kultus festgestellt worden sind und der Eigenart derselben entsprechen.

Bei den germanischen Völkern bestand dieser Akt darin, daß das neugeborene Kind in Gegenwart eigens dazu geladener Zeugen gebadet, hierauf von dem angesehensten derselben, gewöhnlich dem Bruder der Mutter oder vom Großvater, mit Wasser übergossen und dabei mit einem einzigen Namen belegt wurde.

Zergliedert man die ältesten deutschen Namen genau, so findet man, daß darin immer große, edle, entweder geistige oder körperliche Eigenschaften, Erinnerungen oder Wünsche ausgesprochen wurden, und man kann sagen, daß dem Kinde sofort bei seiner Geburt, wie in allen Dingen, so auch in dieser Beziehung eine edle Anregung und Richtung gegeben wurde. Alles was dem Germanen werth und theuer war, was er hochschätzte, finden wir in den einzelnen Bestandtheilen seiner Eigennamen zusammengefaßt. Sie sind hervorgegangen aus den Idealen, welche der Kreis nationaler Anschauung geschaffen; sie sagen dem Kundigen heute noch, wie der alte Germane lebte, dachte und handelte und wie er wollte, daß seine Kinder leben, denken und handeln sollten.

Fassen wir einzelne solche Bestandtheile ins Auge.

So bedeutet amal unbefleckt, adal edel, reich, karl starker Mann, ram kräftig, handfest, win gewinnen, überwinden, er hohe Art, Ehre, leot, liut lauter, bret prächtig, drut traut, bald kühn, gewaltig, brand hervorleuchtend, gunt edles Weib, ric, rich reich, mächtig, vig Kampf, Kämpfer etc.

Hiernach ist es vielfach der Sinn für Mannhaftigkeit, Kampf, Sieg und Waffenruhm, aber auch für weises, gesetzliches und friedliches Walten, für ein geregeltes öffentliches und Privatleben, der in den Namen sich ausspricht, und zwar nicht nur in denen der Männer, sondern auch der Frauen.

Die Namen der letzteren wurden meist aus den Männernamen gebildet, indem man diesen eine weibliche Endung anhing. Einigen Vorzug hatten dabei diejenigen Stammsilben, deren Bedeutung für das weibliche Geschlecht besonders angemessen war, wie namentlich amal, trut und gunt entweder in Zusammenstellungen mit einander, z. B. Amaltrut, Amalgunt oder mit anderen Silben z. B. Amalsuintha, Gertrud, Hildegunt etc.

Abgesehen von denen der Götter sind die Namen vielfach durch römische Endsilben wie us und um sowie durch Umbildung des deutschen ric (reich) in rix entstellt. Beispiele hierfür geben Tacitus, Caesar, Strabo etc. in den Männernamen Alpin, Alfenus, Ambiorix, Ariovist, Malorix, Teutomad, Brinno, Segest, Segimer, Cesorix, Teutobod, Marbod, Mallovendus etc. und in den Frauennamen Aurinia, Epponina, Rhamis, Veleda, Thusnelda, Gauna.

In der Zeit der Merowinger, vom Ende des 5. bis um die Mitte des 8. Jahrhunderts, herrschen noch die althergebrachten germanischen Personennamen weitaus vor und verschwinden neben denselben die lateinischen Heiligennamen fast ganz und gar. Da finden wir bei Gregor von Tours: Alarich, Childebert, Agin, Audo, Berthramm, Dagobert, Charinwald, Attila, Baddo, Agnes, Fredegunde, Chlodosinda etc., im Leben des heiligen Gallus: Columban, Chlotar, Audomar, Meginald, Brunhilde, Fridisurga etc., im Leben der heiligen Balthilde: Waldalen, Chrodowald, Ado, Dado, Theudemanda, Aiga etc., in der Chronik des Fredegar: Sigismund, Guntram, Gundoald, Arnulf, Adalulf, Agilulf, Crodobert, Fredegunde, Gomatrud, Chlotilde etc., im Leben des Abtes Otmar: Waltram, Pippin, Gogbert, Marie etc.

Eben dasselbe Verhältniß zwischen den alten heidnischen und den neuen christlichen Namen besteht auch in den folgenden Jahrhunderten unter den Karolingern und den sächsischen Kaisern fort.

Bis in die Zeit der fränkischen Kaiser (11. und 12. Jahrhundert) gab es in Deutschland keine Stamm- oder Geschlechtsnamen, sondern nur Eigennahmen (unsere Vornamen). Und auch jetzt gab es eigentlich nur solche, doch fing man an, aus verschiedenen Gründen, insbesondere zur Unterscheidung von Personen gleichen Namens wie schon früher im gewöhnlichen Leben, so jetzt auch in Urkunden etc. gewisse Beinamen hinzuzufügen, welche zwar bei der Benutzung der lateinischen Sprache als Schriftsprache ebenfalls latinisirt zu werden pflegten, aber von Hause aus deutsch waren. Solche Beinamen bezeichneten nicht bloß eine körperliche oder geistige persönliche Eigenschaft, wie groß, klein, sondern auch eine Aehnlichkeit, wie Wolf (lupus) , oder ein Amt oder eine Beschäftigung wie Markwart (Marquardus, Schenke), oder die Herkunft vom Vater durch Anhängen eines a, sen (Sohn), er, ing oder ling, wie z. B. Harringa der Sohn des Harring, oder sie bezeichneten den heimatlichen Besitz, wie: der Sachse, der Franke, der Staufe etc.

Aber noch immer wurden solche Beinamen nur einzelnen Personen zugetheilt, und erst seit Söhne, Enkel etc. anfingen, den Eigen- oder Beinamen des Vaters resp. Großvaters fortzuführen und auf ihre Nachkommen zu vererben, kann von eigentlichen Stamm- oder Geschlechtsnamen die Rede sein. Der Adel namentlich zog es vor, sich nach dem Besitze zu nennen, z. B. von Habsburg, von Zähringen, von Babensberg etc., daher so oft die Endungen: berg, burg, thal, feld, wald, dach, dorf. Dabei ist jedoch wohl zu bemerken, daß selbst Brüder, ja Sohn und Vater trotz ihrer Beinamen nach dem Besitze noch gar oft ganz verschiedene Namen haben, weil sie eben ganz verschiedene Besitzungen hatten, nach denen sie sich nannten. Das dauert bis ins 15., ja 16. Jahrhundert hinein fort und bis dahin blieben die Geschlechtsnamen immer noch selten.

[483] Von großer Bedeutung für diese Verhältnisse ward eine Verordnung Kaiser Konrads II., wonach die Söhne, Enkel und auch Brüder des unbeerbt verstorbenen Vasallen das Lehen erben konnten, wenn das Lehngut von ihrem Vater herrührte. Nun konnten erst alle Söhne des Vasallen und deren Nachkommen im Hinblick auf die Hoffnung zur Succession den Namen des Gutes und den davon abgeleiteten Beinamen annehmen. So wurde aus dem ursprünglichen Gutsnamen ein Geschlechtsname. Das galt aber vorerst nur vom unmittelbaren, unter Kaiser und Reich stehenden, das heißt hohen Adel. Die mittelbaren Lehengüter jedoch, die hinwiederum vom hohen Adel ausgingen, waren nicht erblich und wurden es erst im 14. Jahrhundert, so daß unter dem niederen Adel erst von dieser Zeit an Geschlechtsnamen auskommen. Die Uebung verbreitete sich aber auch beim hohen Adel so langsam, daß noch im 13. Jahrhundert in Urkunden neben den bereits einen Geschlechtsnamen führenden noch mehrere Zeugen bloß unter ihrem Taufnamen erscheinen.

Eine andere wichtige Neuerung vollzog sich zur Zeit der Hohenstaufen im 12. bis 13. Jahrhundert.

Vor dem 12. Jahrhundert sind nichtdeutsche Taufnamen in Urkunden ungemein selten. Erst von da an und namentlich gegen dessen Ende kommen hin und wieder die Namen Johannes, Peter, Paul, Philipp, Thomas, Martin, Joseph, Bonifaz und die Namen einiger anderer Heiliger der christlichen Kirche vor. Zu Anfang des 13. Jahrhunderts, als man anfing, Heilige zu Schutzpatronen zu wählen, fügte man deren Namen den altherkömmlichen als zweiten an, während der alte blieb und nach wie vor zur Benennung im gewöhnlichen Leben diente.

Unter den fremden Heiligennamen war in dieser Zeit keiner so allgemein wie Johannes, Hans, daher auch die Redensarten: Hans an allen Enden, an allen Ecken, in allen Gassen.

Was die bürgerlichen Familien- oder Zunamen betrifft, so bildeten sie sich zunächst zur näheren Bezeichnung des Vornamens. Material dafür lieferten körperliche Eigenschaften mehr oder minder auffälliger Natur, wohl auch Spitznamen, und so entstanden die Lang, Kurz, Schwarz, Noth etc.; Heimath und Beschäftigung wie bei Frank, Baier, Sachs, Nürnberger, Müller, Schneider, Schuster etc.; Eigentümlichkeiten des Grundbesitzes wie bei Baumgarten, Winkler etc.; Bezeichnung des Wohnhauses nach altem Herkommen wie bei Zumbusch, Kranz etc.; woraus erhellt, daß die Hausnamen älter sind als die Personennamen.

Im 15. Jahrhundert wurden die alten echtdeutschen Namen immer mehr zurückgedrängt, um denen von Heiligen Platz zu machen. Auch Taufnamen aus dem alten Testament werden nun häufiger, so Adam, Abraham, David, Samuel, Benjamin, Joachim, Isaak, Tobias, Salomo, Josias, Elias, Sarah, Judith etc.

In dieselbe Zeit fällt auch die Unsitte, die Geschlechtsnamen zu gräzisiren oder zu latinisiren, sei es durch Anhängen einer lateinischen Endung oder, was noch schlimmer war, durch Uebersetzung des ganzen Namens ins Griechische oder Lateinische. So entstanden die Namen Martini, Pauli, Petri, Neander, Xylander, Agricola, Faber, Textor, Sartorius, Pistorius, da es ihren Trägern nicht vornehm genug gedünkt, Martin, Paul, Peter, Naumann, Holzmann, Bauer, Schmied, Weber, Schneider, Bäcker zu heißen.

Namentlich die Gelehrten konnten dem Kitzel nicht widerstehen, wie z. B. auch Melanchthon nicht, der ursprünglich Schwarzerd geheißen haben dürfte. Dafür mußten sie sich’s auch gefallen lassen, daß sich der Volkswitz gegen sie wendete und z. B. Osiander in Hofenanderle umbildete. Nebenbei hatte die Neubelebung der klassischen Studien auch die Folge, daß, wer irgend etwas im Leben gelten sollte – und das wünschten ja gar viele Eltern – auf den Namen Achill, Hektor, Cicero etc. getauft werden mußte.

Im 18. Jahrhundert tauchen auf einmal neue Taufnamen auf, wie Fürchtegott, Lebrecht, Gottlieb, Gottlob, Traugott etc. Dieselben wurden seit 1722 durch die Sekte der Herrnhuter eingeführt und gingen bald nach England und Nordamerika hinüber, und etwas später werden wieder andere der damaligen Romanlitteratur entlehnt.

Was endlich die Juden anlangt, so führten sie in einzelnen Theilen von Deutschland bis in unser Jahrhundert keine Geschlechtsnamen und wurden zur Annahme von solchen erst durch staatliche Verfügungen genöthigt, wobei vielfach Ortsnamen zu Grunde gelegt wurden. So entstanden die Nürnberger, Fürther, Pappenheimer, Wertheimer etc.

Von den heut üblichen Vornamen reichen nur sehr wenige bis in die Zeit der Karolinger zurück wie z. B. Anton, Andreas, Adalbert, Eberhard, Jakob, Karl, Johann, Otto, Ulrich, Otmar, Ludwig (Hludowig), Reinhard (Reginhard), Reiner (Reginher), Robert, Paul, Walther, Werner (Werinheri), Bernhart, Willibalt, Friedrich, Dietrich, Heinrich, Hermann (Heriman), Gebhard, Gotthart (Godehart) und Thekla.

Unter den Merowingern kommen schon vor Adolf (Ataulf), Ottmar (Audomar), Berthold (Berthoald), Theodor (Theodorich), Konrad (Gunro) und Bertha.

Noch weiter zurück, bis ins 5. Jahrhundert, reicht der einzige Name Sigmund (Sigemunt).

Auffällig ist, daß von den ältesten Frauennamen sich nur die zwei genannten Bertha und Thekla bis auf unsere Tage herab erhalten haben; als eine gute Vorbedeutung für die Zukunft aber wollen wir es betrachten, daß Sigemunt, der Siegesmächtige, seit unser Volk eine Geschichte hat, in seinen Heerscharen nie gefehlt hat.


Blätter und Blüthen.


Das Maria-Theresia-Denkmal in Wien. (Mit Illustration S. 473.) Der Monat Mai dieses Jahres brachte der österreichischen Kaiserstadt erhebende Festtage aus Anlass der Enthüllung des Maria-Theresia-Denkmales. Diese Enthüllung reihte sich als Glied in die Kette von Feierlichkeiten, welche das vierzigjährige Regierungsjubiläum Franz Joseph I. bezeichnen; aber in dieser Kette darf sie wohl das glänzendste Glied genannt werden. Mehr als sechzig Mitglieder der kaiserlichen Familie und alle Spitzen der Armee hatten sich zusammengefunden, um den Manen der großen Herrscherin eine Huldigung darzubringen; die ganze Bevölkerung Wiens, verstärkt durch tausend Gäste aus den Provinzen, nahm enthusiastisch theil an den verschiedenen Festakten. Die moderne bildende Kunst hat in dem Maria-Theresia-Denkmale einen ihrer besten Siege errungen. Der Schöpfer des Werkes, Kaspar v. Zumbusch, mag mit freudiger Genugthuung auf die Frucht fünfzehnjähriger Arbeit blicken; er hat einen vollen Erfolg eingeheimst. Aus der diesen Zeilen beigegebenen Abbildung des Maria-Theresia-Denkmals können die Leser sich einen Begriff von der Gesammtwirkung des herrlichen Werkes machen. Zumbusch, der in seinem vor dem Akademischen Gymnasium aufgestellte Beethoven nur sein Talent für die zielbewußte Durchbildung einer einzelnen Figur erwiesen hatte, legte nunmehr unzweideutig dar, daß seine Begabung viel weiter und viel höher reicht. Er verstand es, ein plastisches Zeit- und Geschichtsbild in großem Stil zu liefern, und wenn er auch gewiß manche Anregung von dem Berliner Denkmale Friedrichs des Großen empfangen hat, so bekundete er doch eine bedeutende Selbständigkeit der Auffassung und Ausführung. Das neue Monument in seiner Ganzheit bringt einen ebenso schönen wie starken Effekt hervor, obwohl erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden waren, denn Zumbusch hatte sich gerade in wichtigsten Zügen an gegebene Vorschriften zu halten. So sollte auf die Anbringung hervorragender historischer Persönlichkeiten an dem Monumente ein besonderes Gewicht gelegt werden. Aber noch andere wichtige Momente waren für ihn gründlich zu erwägen. Dem Denkmale war sein Platz angewiesen zwischen den mächtigen, langgestreckten Bauten des naturhistorischen und des Kunstmuseums, gegenüber der im Entstehen begriffenen Hofburg. Von dieser grandiosen Umgebung und Nachbarschaft nicht erdrückt zu werden, galt als eine nicht geringe Aufgabe für den Bildner. Er hat sie in bewundernswerther Weise gelöst; heute klingt das Denkmal mit den Hafenauerschen Prachtgebäuden harmonisch zu einem herrlichen Accord zusammen.

Die Schönheit des Werkes läßt den Gedanken an dessen riesige Dimensionen kaum aufkommen. Letztere mögen damit angedeutet sein, daß die Porträtstandbilder 3,63 Meter, die Reiterstandbilder 4,50 Meter hoch find, aber an Höhe noch gewaltig überragt werden von der Kolossalfigur der Kaiserin, welche in erhabener Majestät den obersten Platz einnimmt.

Ein Postament aus Mauthausener Granit trägt einen Aufbau aus grauem, rothgesprenkeltem Pilsener Syenit und von diesem baut sich der Kern des Monumentes aus, der aus jeder seiner vier Seiten eine Art von Triumphbogen – gestützt von Säulen aus grünem Tiroler Syenit – enthält. Auf vier vorspringenden Sockelflügeln erscheinen die Heerführer Daun, Laudon, Traun und Khevenhüller zu Pferde, ebenso wie alle übrigen Figuren in Bronze ausgeführt. Die Wände des Hauptsockels sind mit Nischen versehen; in letzteren sieht man Hautreliefs, vor ihnen aber freistehende Figuren Rathgeber und Zeitgenossen der Kaiserin. Die beistehenden Figuren sind: Fürst Kaunitz, Fürst Wenzel Liechtenstein, Van Swieten, der treffliche Leibarzt Maria Theresiens, und Haugwitz, einer der tapfersten Generale der Monarchin. In den Reliefgruppen finden sich: der berühmte Staatsmann Bartenstein, die Feldmarschälle und Generale Starhemberg, Mercy, Lacy, Hadik und Radasdy; die bedeutenden Numismatiker Eckhel und Pray, die Musiker Gluck, Haydn und Mozart (als Kind); Grassalkovich, ungarischer Magnat, Bruckenthal, siebenbürgischer Landesgouverneur, Riegger, Rechtsgelehrter, Martini, Feldzeugmeister, und Sonnenfels, der Mann ohne Vorurtheil.

[484] Eine mächtige Leistung ist die Figur der Kaiserin. Dem Künstler war die Richtschnur gegeben, sie „zwischen dem 30. und 35. Lebensjahre“ zu zeigen, „das Antlitz der Burg zugewendet“. Es mochte nicht leicht sein, eine sitzende Frau – Zumbusch hatte sich freiwillig entschieden, sie thronend anzubringen – mit imposanter Feierlichkeit und doch mit weiblicher Grazie auszustatten. Ein eigener Sockel dient dem Throne zur Grundlage, er ist mit den Inschriften geschmückt. „Maria Theresia“ und „Errichtet von Franz Joseph I. 1888“. Die Kaiserin streckt die Rechte aus wie zur Begrüßung, die Linke hält das Scepter; auf dem Schoße liegt eine Rolle, die pragmatische Sanktion, das berühmte Dokument, mit welchem Kaiser Karl VI. die Erbfolge zu Gunsten seiner Tochter umgestaltete und regelte. Macht und Liebreiz zugleich umstrahlen die Stirn der hohen Frau. Ihr Name erweckt Erinnerung an ihre Tugenden, an ihre edlen Eigenschaften, um diese aber doppelt sicher in das Gedächtnis der Nachwelt zurückzurufen, hat Zumbusch zu Füßen der Kaiserin, an den vier Ecken des Hauptaufbaues entsprechende Allegorien einen Platz finden lassen: Milde, Gerechtigkeit, Weisheit und Kraft.

Die angeführten Persönlichkeiten sind mit Porträttreue wiedergegeben; aber eine solche lag nicht in dem eigentlichen Zwecke des Denkmals, das namentlich auf einige Entfernung zu wirken hat und dieser Bestimmung in tadelloser Weise entspricht.

Ein Lob der Aerzte. Sehr viel haben sich die Aerzte und Mediziner von den Satirikern und Lustspieldichtern aller Zeiten gefallen lassen müssen, und Molière ist noch nicht der schlimmste, der ihnen am Zeuge geflickt hat. Bis in die neueste Zeit hinein sind die Meister und Jünger der Heilkunde ein Stichblatt der Satire geworden. Da macht es einen überraschenden Eindruck wenn wir das begeisterte Lob der Aerzte lesen, das eine namhafte Schriftstellerin ihnen spendet:

„Ich meine, wir können im allgemeinen die heldenhafte Hingebung der Aerzte nicht hoch genug veranschlagen, und in der großen Masse sieht man darüber, wie über die großen täglichen Wunder, viel zu achtlos weg. Man ist’s gewöhnt, so vieler Größe zu begegnen; man denkt, es muß so sein. mir aber kommen die Aerzte immer wie die größten Helden, wie die modernen Heiligen vor; denn was that der herrliche edle Carlo Borromeo, was wahre Aerzte nicht thäten wie er?

Gewiß, es setzt Todesverachtung, es setzt sittlichen Idealismus und Vaterlandsliebe voraus, seine Brust dem Feinde darzubieten und unter klingendem Spiel in der Mitte von Tausenden den todbringenden Batterien, dem Ansturm der Regimenter muthig zu begegnen, aber es ist nicht an allen Tagen jedes Jahres Krieg, und die Gemeinschaft mit anderen ist eine erhebende Kraft. Es werden auch im Kriege schweigend Heldenthaten verrichtet, bei denen der einzelne still seinem wahrscheinlichen Untergang ins Auge zu blicken hat, und ich bin weit davon entfernt, den Werth des kriegerischen Heldenthums zu unterschätzen. Indeß, wenn der Soldat sich auch beständig vorzubereiten hat für seinen kriegerischen Beruf, er hat ihn nicht lebenslang, nicht alltäglich auszuüben; er hat Jahre und Jahre unangefochten sicheren Lebensgenusses für sich und mit den Seinen.

Aber jahraus, jahrein bei Tag und bei Nacht bereit zu sein für fremde Hilfe, mitten aus dem Kreise von Frau und Kindern, mitten aus dem oft so nöthigen und so ersehnten Schlafe der Nacht hinausgerufen zu werden und hinzugehen durch die schweigenden Straßen in die entlegensten Quartiere und sich nicht fragen zu dürfen: welche Art von Vergiftung ist es, die Dir dort droht? Welch ein Elend trägst Du vielleicht in der nächsten Stunde, nicht für Dich allein hinweg, sondern hinüber zu denen, die Dir werther sind, als Du Dir selbst? Nicht zurückzuschrecken vor der Berührung dessen, was alle andern, wenn sie’s können, fliehen: das ist mir immer als das Höchste erschienen, was die menschliche Selbstverleugnung zu leisten vermag – und unsere Aerzte leisten es mit der Unbefangenheit des Selbstverständlichen. Ja, ihre Familien werden in diesem Sinne heroisch mit ihnen. Sie gewöhnen sich daran, die Kranken als die Hauptsache zu betrachten, sie gewöhnen sich daran, zu sehen, wie die schwere Sorge um die Kranken den Gatten, den Vater hinnimmt; sie gewöhnen sich, ihn zu theilen mit seinem Beruf und diesem den Löwenantheil zufallen zu sehen.

‚Was aus uns wird, ist Fritz ganz gleichgültig, wenn’s seinen Kranken nur gut geht,‘ sagte einmal scherzend die Frau eines unserer ersten Aerzte zu mir, dessen Familienleben als ein Muster gelten kann. Aber es war ein Korn von Wahrheit in dem Scherze.

Wenn ich sie so vorüberfahren sehe, die kleinen Kabriolets der älteren Aerzte, wenn ich die jungen Aerzte eifrig in jedem Wetter, ihrer selbst nicht achtend, durch die Straßen eilen sehe, Schmerzen zu lindern und wenigstens Trost zu bringen durch ihr Kommen, wo sie mit bitterem Schmerze fühlen, daß sie nicht helfen können, so blicke ich mit der größten Verehrung zu den Alten wie zu den Jungen hin, und oftmals frage ich mich, wenn ich ihnen begegne: von welchem Elend kommen sie jetzt? Der Beruf des Arztes, wenn er recht erfaßt und ergriffen wird, dünkt mir der schwerste und höchste. Es ist ein Beruf, der das Wesen des Menschen über sich selbst hinaushebt; es ist ein erhabener Beruf!“

So schreibt Fanny Lewald in ihren „Zwölf Bildern nach dem Leben“.

Ein merkwürdiger Telegraph im 18. Jahrhundert. Im Jahre 1744 erschien bei Phil. Wilhelm Stock in Frankfurt am Main und Leipzig ein Werkchen „Eröffnung unterschiedlicher Heimlichkeiten der Natur, Worbey Viel scharfsinnige, kluge, wohlerwogene Reden von nützlichen und Jedermann dienlichen Dingen … beygefüget“ etc., das eine Menge wunderlicher Geschichten enthält, die theils Fabeln sind, theils auf Thatsachen beruhen, welche die Zeitgenossen in großes Staunen versetzten. Zu den letzteren gehört ein auf S. 134 des Werkchens beschriebener Apparat. Er bestand aus zwei runden Büchsen, „darauf das ABC abgetheile und mit solcher Kunst gemacht gewesen, daß wann man den einen Zeiger aus dem Mittelpunkt auf das A oder B gerücket, sich zugleich auch der Zeiger der anderen Büchse so an einem davon entlegenen Ort ebenso künstlich zugerichtet gewesen, auf eben diese Buchstaben von sich selbst gewendet, also daß man mit einen. Abwesenden ohne Wort oder Schrift reden könne.“ Leider ist nicht angegeben, wer der Erfinder dieses Telegraphenapparates war und ebenso der Mechanismus nicht erklärt. Man betrachtete denselben, wie es scheint, lediglich als Kuriosität, dem keinerlei praktische Bedeutung zukomme, da er so gänzlich wieder in Vergessenheit gerieth.

Ein Schädelthurm. Ein Bauwerk aus so eigenthümlichem Material, erinnernd an die von dem grimmen Timur aufgerichtete Schädelpyramide, befindet sich in Serbien unweit der Stadt Nisch. In seinem großen, mit Illustrationen reich ausgestatteten Werke „Serbien und die Serben“ (Leipzig, Elischer) welches überdem eine Fälle statistischen Materials enthält, berichtet Spiridion Gopcevic, daß dieser Schädelthurm sich eine Viertelstunde vor der Stadt auf der Straße nach Pirot befinde. Er ist viereckig, heute etwa 5 Meter hoch und bestand aus Reihen eingemauerter Todtenköpfe, jede Reihe zu 17 Schädeln, so daß sich deren Gesammtzahl aus 952 belief. Die Köpfe rührten von den unglücklichen Gefährten des serbischen Helden Singjelic her, der sich bei Verteidigung der Schanze Cegar unweit Kamenica am 31. Mai 1809 mit den Türken in die Luft sprengte. Der Pascha von Nisch ließ aus den Köpfen der gefallenen Serben diesen Thurm, die Cele-Kula genannt, errichten. schon vor 1877 hatten fromme Serben, wenn sie es heimlich thun konnten, den einen oder den andern der eingemauerten Schädel herausgekratzt und begraben. Nach der Eroberung von Nisch durch die Serben trieb man die vermeintliche Vaterlandsliebe soweit, alle Schädel herauszulösen und als Reliquien im Hause aufzustellen. Dadurch ist die Kula ihres Hauptschmuckes beraubt und Serbien um ein Denkmal ärmer geworben, welches den Nachkommen stets in Erinnerung gebracht hätte, was ihre Väter für die Freiheit gethan und ihre Vorfahren unter der türkischen Fremdherrschaft gelitten hatten.

Schach-Aufgabe Nr. 10.
Von W. Steinmann in Parchim.

Weiß zieht an und setzt mit dem vierten Zuge matt.


Auflösung der Schach-Aufgabe Nr. 9 auf S. 452:
Weiß:   Schwarz:   Weiß:   Schwarz:
1. S g 3 – e 2 S h 6 – f 5! a) 1. . . . . . L e 1 – b 6:
2. S f 2 – e 4 beliebig. 2. D c 8 – b 7: † beliebig.
3. D, S, B setzt matt. 3. D resp. S setzt matt.

a)Dieser Zug widerlegt die beiden Drohspiele (2. D b 7: † oder 2. D d 7 †) und ermöglicht das Springeropfer auf e 4. Recht fein pointiert!


Kleiner Briefkasten
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

F. in Frankfurt a. M. Witwe W. in Rauenthal theilt uns eine Anekdote aus dem Leben des seligen Kaisers Friedrich mit, welche einen neuen Beleg für seine volksfreundliche Jovialität giebt. Im Jahre 1872 sah sie den Kronprinzen und die Kronprinzessin in ihrem Hotel und bereitete den hohen Gästen ein Mittagessen. Der Kronprinz war bei heiterster Laune und lachte oft herzlich. Als zum Dessert als Mehlspeise eine große gutgerathene Omelette servirt wurde, sagte er: „Geht einmal, da kommt ein großer Landauflauf!“ Kurz vorher waren für das Speisezimmer die Bilder des Kaisers Wilhelm und des Kronprinzen Friedrich Wilhelm in wohlgetroffenem Oeldruck ziemlich groß mit schönem breiten Goldrahmen angeschafft worden. Der Kronprinz stellte sich vor sein Bild, legte der Kellnerin, einem jungen hübschen Mädchen, echt Rauenthaler Berg, seine Hand auf die Schulter und sagte: „Da schauen Sie einmal, sehe ich denn dem da ähnlich?“ Settchen betrachtete die vor ihr stehende herrliche Männergestalt von oben bis unten, dann antwortete sie: „Herr Kronprinz, so gefallen Sie mir viel besser, als auf dem Bild; so sind Sie viel schöner.” Da wendete sich der Prinz heiter an seine Gemahlin und sagte: „Siehst Du, liebe Frau, daß ich den jungen Mädchen noch sehr gut gefalle!“ Diese Züge von Leutseligkeit und Herzensgüte bestätigen in hübscher Weise Ihre Auffassung des Charakters unseres verewigten Kaisers.


  1. Sallis, „Der thierische Magnetismus und seine Genese“. Darwinische Schriften. Band XVI. 1887.